JÜDISCHER ALMANACH

der Leo Baeck Institute

Freundschaften Feindschaften

Essays

Herausgegeben von Gisela Dachs im Auftrag des Leo Baeck Instituts Jerusalem

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Zu diesem Almanach

Die Zugehörigkeit zu und der Umgang mit dem Judentum lässt selten gleichgültig. Dieser Almanach beschäftigt sich mit Freundschaften und Feindschaften. Dabei geht es nicht nur um Zuneigung und/oder Hass, sondern oft auch um die in den Zwischenräumen angesiedelten Zwiespältigkeiten. Beleuchtet werden Außenwahrnehmungen und Eigenbetrachtungen. Grenzüberschreitende Verbundenheit steht ebenso im Fokus wie innere Trennlinien. Die Zugänge der Autoren sind biblisch, literarisch, religiös, historisch, politisch, philosophisch und metaphorisch.

Zum Auftakt setzt sich Philipp Lenhard ganz grundsätzlich mit dem Freundschaftsbegriff auseinander, dem in der Bibel eine vergleichsweise geringe Bedeutung zugemessen wird. Die Rede ist vielmehr vom Weggefährten, mit dem man gemeinsam lernt und studiert. Unter dem Einfluss der Debatten über die Frage nach der Definition von Judentum hat sich der Diskurs im Laufe der Zeit aber auch verändert und erweitert. Ob Seelen- oder Gelehrtenfreundschaft, ob mystische Vereinigung, politischer Bundesschluss oder familiäre Vertrautheit, entpuppt sich die Geschichte der Freundschaft beim näheren Hinsehen als ebenso vielfältig wie komplex.

Bleiben wir aber erst einmal noch in der fernen Vergangenheit, was uns zu einer antiken Beschreibung jüdischer Wirklichkeit bringt, die bis heute nicht an Faszination verloren hat: Flavius Josephus' Chronik als wichtigste Quelle zum Verlauf des Jüdischen Kriegs gegen die Römer (66-70 nach unserer Zeitrechnung). In seinem Beitrag beschäftigt sich Fabian Wilhelmi mit der Rezeptionsgeschichte dieses Werks in historischen Romanen und den Freund- und Feindbildern, die darin nachhaltig geprägt wurden.

Um die Verflechtung von Freundschaft und Feindschaft geht es in einem der berühmtesten Literaturskandale des 19. Jahrhunderts, der sogenannten »Heine-Platen-Affäre«. Für Andree Michaelis-König handelt es sich dabei nicht nur um ein besonders prägnantes Beispiel eines sich normalisierenden Antisemitismus deutscher nicht-jüdischer Intellektueller zur Zeit der Restauration, sondern auch um ein mustergültiges Schauspiel der Freundschaft im Angesicht erbitterter Feinde. Tatsächlich gab es im Kampf zwischen Heinrich Heine und August Graf von Platen-Hallermünde dann aber eigentlich nur Verlierer. Für beide, den diskriminierten jüdischen und den verhöhnten homosexuellen Dichter, folgte bald auf den Streit ein lebenslanges Exil.

Die historische Erfahrung von Ausgrenzung führte Juden aber auch oft dazu, anderen Minderheiten zur Seite zu stehen. Während einer der eindrucksvollsten Demonstrationen für die Bürgerrechte in den Vereinigten Staaten marschierten der Rabbiner Abraham Joshua Heschel und Martin Luther King jr. am 21. März 1965 in Alabama Arm in Arm in erster Reihe. Susannah Heschel, die Tochter Abraham Heschels, schreibt darüber, was diese beiden Männer verbunden hat.

Auf die Frage, inwieweit Staatsmänner in der Lage sind, sich auf echte Freundschaften einzulassen, oder was Freundschaft für sie bedeuten mag, gehen die nächsten beiden Beiträge ein. Martin Kramer beschreibt die Annäherung zwischen Israels Ministerpräsident Menachem Begin und Ägyptens Präsident Anwar as-Sadat, bevor sie 1979 das bahnbrechende Friedensabkommen zwischen ihren Ländern unterzeichneten. Drei Jahrzehnte zuvor hatte ein anderes politisches Paar es geschafft, sich über die unüberbrückbaren Gräben zwischen Deutschland und Israel nach der Shoah hinwegzusetzen und die Grundlage für die spätere Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu schaffen. Michael Borchard schreibt über das Verhältnis zwischen Konrad Adenauer und David Ben-Gurion, die sich persönlich nur zweimal begegnet sind, aber ihre gegenseitige Freundschaft explizit betonten.

Fünf Jahre vor dem offiziellen Austausch von Botschaftern war eine deutsche Diva in Israel bejubelt worden, die den Nazis auf ihre Weise die Stirn geboten hatte: Marlene Dietrich war schon 1930 nach Hollywood gegangen, hatte sich an der Seite der Alliierten engagiert und erlag auch nicht den verlockenden Angeboten von Goebbels, in ihre Heimat zurückzukehren. Eva Gesine Baur beschreibt, wie ein schon früh geknüpftes Netz aus oftmals sehr engen Verbindungen zu Juden die Biografie Marlene Dietrichs geprägt hat.

Wie sehr sich nicht nur das Vergangene, sondern auch der gegenwärtige Umgang damit auf diplomatische Beziehungen auswirken kann, zeigt Konstanty Gebert in seinem Essay über das angespannte Verhältnis zwischen Polen und Israel. Um die äußerst wechselhaften Beziehungen zwischen Juden und Muslimen in Frankreich geht es dann im darauffolgenden Beitrag. Ethan Katz legt dar, wie dieses Verhältnis während eines Jahrhunderts immer wieder von politischen wie gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst und beeinträchtigt wurde.

Im Anschluss daran erzählt der Rabbiner Alon Goshen-Gottstein von seiner mittlerweile fast vierzig Jahre dauernden Begegnung mit dem Hinduismus, dessen spirituelle Realität ihn – im Unterschied zu anderen Religionen – bis heute anzieht.

Antisemitismus gehört zu den Konstanten in der Geschichte des Alten Kontinents. Spätestens seit der Flüchtlingswelle von 2015 wurde nun auch die Frage nach muslimischem Judenhass breit thematisiert. Natan Sznaider beschreibt, wie beim Antisemitismusvorwurf niemand gerne vor seiner eigenen Tür kehrt, und versucht, diese uralte Feindschaft, die in immer wieder anderen Gewändern daherkommt, zu begreifen.

Als ein Gegenpart zum Antisemitismus gilt der Philosemitismus, der eine grundsätzliche Zuneigung zu Juden beschreibt. Marc Grimm setzt sich mit der Genese dieses Begriffs auseinander und legt dar, wie sich gerade in der deutschsprachigen Forschung ein Verständnis etabliert hat, das diesen letztlich in die Nähe des Antisemitismus rückt, weil auch Philosemitismus mit Stereotypen über Juden operiert. So wurde daraus ein Kampfbegriff. In diesem Zusammenhang ist oftmals die Rede von einer ganz besonderen Gruppierung, die unter dem Namen »Antideutsche« für heftige Kontroversen unter den Linken sorgt. Ralf Balke beschreibt, wie deren Anhänger mit ihrer Liebe zu Israel längst zu einem Stachel im Fleisch des linken Milieus geworden sind. Danach geht es um eine sehr persönliche, grenzüberschreitende Freundschaft zwischen einer aus Wien nach Israel ausgewanderten Tochter von Überlebenden und einem christlichen Deutschen. Es war ein Film über die zweite Generation, der Anita Haviv und Christian Staffa ursprünglich zusammengebracht hat. Im Gespräch erzählen sie davon, was sie verbindet – und zuweilen auch trennt.

Eine ungewöhnliche Begegnungsstätte, die Juden und Arabern in Israel – etwas abseits von aller Öffentlichkeit – seit Jahrzehnten einen Raum für Brüderlichkeit auf Augenhöhe bietet, sind die Freimaurerlogen. In seinem Beitrag beschreibt Danny Kaplan die Beziehungen zwischen den Mitgliedern sowie ihre Vorstellungen von Staatsbürgertum und Nationalgefühl.

Im Gegensatz dazu ist die Welt der israelischen Fernsehserien geprägt von Gegnerschaft und Feindseligkeiten. Allerdings hat sich deren Gestalt mit der Zeit durchaus verändert, so argumentiert Yael Munk. In ihrem Text reflektiert sie über die Evolution des Feindbegriffs, der sich zunehmend an den Opfern orientiert und sich dabei über nationale Kategorien hinwegsetzt.

Mit innerjüdischen Bruchlinien geht es weiter in dem Beitrag von Yair Ettinger. Er rückt die religiösen Zionisten in den Fokus. Während deren Rolle in der politischen Auseinandersetzung um die Siedlungen im Westjordanland weitgehend bekannt ist, wird hier auf die vielen ethischen und rabbinisch-rechtlichen Debatten verwiesen, die das Lager zu zerreißen drohen.

Mit Bezug auf Norbert Elias' bedeutendstes Werk Über den Prozess der Zivilisation erinnert Moshe Zimmermann an die Funktion des Sports in der Neuzeit, der für das Austragen von Rivalitäten steht. Im Zionismus entstand ein sonderbarer Prototyp dieser Zivilisierung – die Schaffung zweier Sportverbände, jeweils unter einer Dachorganisation, die zwei gegenüberstehende Parteien bzw. politische Strömungen repräsentieren: Makkabi versus Hapoel.

Manchmal kann es auch ein und dieselbe Person sein, die vom Freund zum Feind mutiert. So geschehen mit Günter Grass in Israel. Na'ama Sheffi zeigt, wie sich die Wahrnehmung von Günter Grass in Israel vom einst geschätzten Autor zur Persona non grata gewandelt hat. War der Schriftsteller und spätere Friedensnobelpreisträger in den sechziger Jahren wegen seiner klaren antinazistischen Haltung zunächst begeistert aufgenommen worden, bekam sein Image einen tiefen Riss, als er später zugab, selber in der Waffen-SS gedient zu haben.

Der Freund- und Feindschaftsreigen schließt mit einer Kurzgeschichte, die uns nach Argentinien führt. In Ich suche Don Riccardo erzählt Ioram Melcer von einer Erkundung der Spuren von Adolf Eichmann in Buenos Aires und kommt zu einem überraschenden Ergebnis.

Gisela Dachs

Jerusalem/Tel Aviv

Philipp Lenhard

Freundschaft in der jüdischen Tradition – ein Streifzug von der Bibel bis ins 20. Jahrhundert

In der biblischen Hiob-Geschichte kommen dessen Freunde nicht gut weg. Zwar spenden sie dem von schweren Schicksalsschlägen gebeutelten Hiob zunächst Trost, dann aber wollen sie ihm partout einreden, er sei selbst schuld an seiner Lage. Wer solche Freunde hat, mag sich der verzweifelte Hiob gedacht haben, der braucht keine Feinde mehr. Anstatt ihn zu unterstützen und ihm Mut zuzusprechen, suchen die Freunde nach Gründen, warum Hiob sich sein Leid selbst eingebrockt habe. Damit maßen sie sich an, Gottes Handeln verstehen zu können. Der will sie folglich am Ende der Geschichte für ihre Hybris bestrafen und lässt nur auf Hiobs Bitten hin Milde walten.

Dass eine der zentralen biblischen Passagen über die Freundschaft eher skeptisch im Ton ist, erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass ihr im Tanach eine vergleichsweise geringe Bedeutung zugemessen wird. Die entscheidenden sozialen Zusammenhänge sind Familie, Stamm und Volk, während Freundschaften eher eine Nebenrolle spielen. Dies zeigen ausgerechnet die klassischen Beispiele biblischer Freundschaft: David und Jonathan sowie Ruth und Naomi.

Im Schatten der bevorstehenden Übertragung des Königtums auf David legt dessen Schwager Jonathan, der als Sohn Sauls der eigentliche Thronfolger gewesen wäre, symbolisch alle Waffen vor ihm ab und schließt gegen den eigenen Vater einen Bund mit seinem »Knecht« (1 Sam 20:8). Der Bundesschluss, der durch eine Unterwerfungsgeste vollzogen wird, bezieht sich explizit nicht nur auf Jonathan und David, sondern auch auf alle Nachkommen (1 Sam 20:16). Dementsprechend ist er, trotz aller emotionalen Bindung zwischen den Freunden, vor allem als politischer Vertragsschluss mit dem von Gott bestimmten neuen Herrscher gedeutet worden.

Das andere Beispiel, Ruths Beziehung zu ihrer Schwiegermutter Naomi, erzählt uns hingegen die Geschichte eines Übertritts zum Judentum. Nur vordergründig handelt es sich um eine Solidargemeinschaft oder gar um eine Freundschaft; die Entscheidung der Moabiterin Ruth, an Naomis Seite nach Israel zu ziehen, wird von ihr mit einem klaren Bekenntnis zum Judentum begründet: »Dein Volk soll mein Volk sein, und dein Gott mein Gott« (Rut 1:16). Die Rabbinen interpretieren folglich Ruths Treue zu Naomi als Konversion (Jevamot 47b), die mit der Auslösung durch Boaz ihren Abschluss findet.

In der rabbinischen Literatur setzt sich der Fokus auf Familien- und Stammesverbände im Wesentlichen fort. Allerdings entwickeln die Rabbinen im Kontext ihrer Akademien in Sura und Pumbedita auch eine spezifisch jüdische Konzeption von Freundschaft, die bis heute fortdauert und mit dem aramäischen Begriff chevruta verbunden ist. Die Encyklopedia Talmudit definiert den chaver (Freund; Genosse) im Unterschied zum re'a (Freund; Verwandter; Nächster), ohev (Freund; Liebender) oder jadid (Freund; Geliebter) auf Basis der verschiedenen Stellen im Talmud »im weitesten Sinne als weisen Studenten«.1 Noch heute findet in den Jeschiwot das Lernen in chevrutot statt, also in kleinen Lerngemeinschaften, die aus zumeist zwei eng miteinander arbeitenden Studenten bestehen. Die chevruta steht aber nicht nur für ein effektives didaktisches Konzept, sondern in viel grundsätzlicherer Weise für das Verhältnis des Selbst zum anderen. Die beiden Partner sind nicht strikt voneinander getrennt, sondern bilden eine Einheit. Erst in der gemeinsam geführten Diskussion kommt die richtige Auslegung ans Licht: »Eisen wird an Eisen geschärft; so schärft einer den Charakter des andern«, heißt es in den Sprüchen Salomos (27:17). Und der Talmud legt aus: »Wenn Torastudenten zusammen lernen, schärfen sie aneinander die Halacha.« (Ta'anit 7a:8). Die wichtigste Grundlage für dieses Verständnis von Freundschaft aber findet sich im Traktat Pirkej Avot (1:6), wo es heißt: »Mach dir einen Mentor [rav] und erwirb dir einen Freund [chaver].« Diese Schlüsselstelle wird in dem viel gelesenen frühmittelalterlichen Kommentar Avot de-Rabbi Natan folgendermaßen erklärt: »Wie erwirbt man einen Freund? Ein Mensch sollte sich einen Freund erwerben, indem er mit ihm trinkt und isst, mit ihm liest [d. ‌h. die Tora studiert] und wiederholt [diskutiert], ihn bei sich schlafen und wohnen lässt, seine privatesten Gedanken mit ihm teilt – Gedanken über die Tora und über das Leben.«2 Die Freunde könnten sich, heißt es in dem Kommentar, gegenseitig korrigieren, wenn sie Fehler machten oder unabsichtlich gegen ein Gebot verstießen.

Das Urbeispiel für eine enge Gelehrtenfreundschaft, die bis heute gleichsam als Muster für das rabbinische Ideal der chevruta gilt, findet sich im Talmud, wo die Beziehung zwischen den Amoräern R. Shimon »Reish« Lakish (ca. 200-275) und R. Jochanan bar Nafcha (ca. 180-279) ausführlich beschrieben wird (Bava Metsia 84a). Der kräftige Reish Lakish war einst ein Gladiator und Räuberhauptmann gewesen und hatte erst durch den als klug und außergewöhnlich schön beschriebenen Jochanan zum Torastudium gefunden. Nachdem Reish Lakish sich selbst zum Gelehrten entwickelt hat, treten beide als gleichberechtigte Mitglieder des Lehrhauses auf und sind in den pilpulistischen Diskussionen zumeist Opponenten. Sie bilden als Paar gerade durch ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten und Standpunkte eine dialektische Einheit. Dabei war ihre Beziehung freilich nicht nur durch gegenseitige Sympathie gekennzeichnet, sondern auch durch unterschiedliche soziale Rollen – zum einen war R. Jochanan deutlich älter, womit er zugleich als Lehrer und Mentor fungierte, zum Zweiten war Reish Lakish mit dessen Schwester verheiratet und als Schwager somit Teil der Familie. Nach einem heftigen Streit kommt es am Ende zum Bruch der Freundschaft, der infolge des Todes Reish Lakishs unversöhnt bleibt.

Insgesamt also liegt bei den Rabbinen, genauso wie im Tanach, trotz der immensen Bedeutung der chevruta der Fokus auf der Familie und dem Volk, während der »Freund« eine untergeordnete Stellung einnimmt. Raschi (1040-1105), der bedeutendste aschkenasische Gelehrte des Mittelalters, ging so weit zu behaupten, die besten Freunde eines frommen Juden seien die Bücher, da sie alle Interpretationsmöglichkeiten der Tora enthielten. Die chevruta ist in diesem Sinne eher eine Hilfskonstruktion, um die Tora in ihrer Vielfalt zum Sprechen zu bringen.

Die ausführlichste jüdische Quelle zum Wesen der Freundschaft ist bezeichnenderweise das apokryphe Buch Jesus Sirach aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert, das stark durch die hellenistische Leitkultur im damaligen Judäa geprägt ist. Der Autor warnt vor falschen Freunden, entwickelt aber auch das Ideal eines wahrhaften »Freundes der Treue« (ohev emunah). Das nicht zum Tanach gehörende Buch geriet in der Spätantike weitgehend in Vergessenheit, floss aber als Bestandteil der Septuaginta, also der griechischen Bibelübersetzung, ins Christentum ein.

Auch im Judentum ist es dann nicht zufällig wieder die griechische Tradition – vor allem Aristoteles –, die das Thema Freundschaft in die rabbinischen Diskussionen des Mittelalters hineinträgt, allerdings zunächst vor allem im islamischen Herrschaftsbereich. In der mussar-Literatur, ethischen Werken, die stark von der arabischen mu'tazila und deren Rezeption griechischer Philosophie beeinflusst waren, wird Freundschaft zu einem wichtigen Thema. Bachja Ibn Pakudas bedeutendes Werk Chovot ha-Levavot (Herzenspflichten) aus dem 12. Jahrhundert unterscheidet zwischen drei Typen von Freunden (ohevim) und übernimmt damit das aristotelische Modell, wonach die tugendhafte Freundschaft »um ihrer selbst willen« die höchste Form der zwischenmenschlichen Beziehung sei.

In der mittelalterlichen Philosophie, allen voran in Maimonides' Führer der Verwirrten, wird intensiv über Freundschaft nachgedacht. Die Bezüge, die dort hergestellt werden, sind auch hier nicht etwa rabbinischer Natur, sondern griechischen Ursprungs: »Es ist bekannt, dass der Mensch sein ganzes Leben lang Freunde [ohevim] braucht«, führt Maimonides aus, nur um so fortzufahren: »Aristoteles erklärt dies im neunten Buch der Nikomachischen Ethik.«3 Es folgt eine präzise Darstellung des aristotelischen Freundschaftsmodells, worauf schließlich der Versuch folgt, wieder den Bogen zur jüdischen Tradition zu spannen. Maimonides tut dies, wie zu erwarten, indem er Freundschaft und Familie miteinander verbindet: »Vollständige Liebe, Brüderlichkeit und wechselseitige Hilfe ist nur zwischen Verwandten [jachasim] zu finden. Die Mitglieder einer Familie, die durch eine gemeinsame Abstammung vom selben Großvater oder sogar von einem weit entfernteren Vorfahren vereint sind, verspüren untereinander ein bestimmtes Gefühl der Liebe, sie helfen sich gegenseitig und sympathisieren miteinander. Dies hervorzubringen ist eines der Hauptanliegen der Tora.« Indem Maimonides den griechischen Ausdruck philía – unterschieden vom liebenden Begehren (érōs) und vom göttlichen Wohlwollen (agápē) – im judäo-arabischen Original als maˈhabba übersetzt (in hebräischer Übersetzung durch Ibn Tibbon deshalb: ahavah), deutet er Freundschaft in Liebe um. Statt den arabischen Begriff saˈdaqa zu verwenden, interpretiert Maimonides den aristotelischen Freundschaftsbegriff im Sinne väterlicher Gefühle und familiärer Verbundenheit, deren Grundlage die gemeinsame Abstammung ist. Damit wird der griechische Freundschaftsbegriff von Maimonides nachhaltig wieder in den rabbinischen Kontext übersetzt.

Im aschkenasischen Kulturraum war die Wirkung des Führers der Verwirrten im späten Mittelalter und auch noch in der Frühen Neuzeit jedoch äußerst begrenzt, Maimonides wurde fast ausschließlich als Autor des halachischen Kompendiums Mishneh Tora rezipiert. Seine philosophische Auseinandersetzung mit dem Thema Freundschaft blieb somit letztlich eine Episode, die für die rabbinische Diskussion der Frühen Neuzeit ohne Belang war. Lediglich im Italien der Renaissance wurde der Diskurs über Freundschaft wieder aufgenommen, etwa in der 1589 in Venedig erschienenen Predigtsammlung Sefer Nefutsot Jehudah des Rabbiners und Schriftstellers Judah Moscato aus Mantua.4 Hier ist es nicht mehr die arabische Überlieferung griechischer Quellen, sondern bereits die europäische – also lateinische – Übersetzung von Aristoteles' Ethik sowie Senecas Epistulae morales, die als Vorlagen dienen. Ein ähnlich gelagerter Fall ist der sefardische Kabbalist Abraham Cohen de Herrera, dessen Familie auf der Flucht vor der Inquisition von der iberischen Halbinsel nach Norditalien gezogen war und der sich später in Amsterdam niederließ. Auch er greift in seiner Auseinandersetzung mit dem Thema Freundschaft auf die römisch-griechische Tradition zurück.5 Doch Cohen de Herreras Schriften konnten in der jüdischen Welt keine größere Wirkung entfalten.

Anders verhält es sich mit der im 18. Jahrhundert in Polen und der Ukraine entstehenden Bewegung des Chassidismus, die die jüdischen Massen anzog und das religiöse wie soziale Leben Osteuropas nachhaltig prägte. Im Chassidismus entwickelte sich eine eigene Freundschaftskonzeption, die im Anschluss an das mystische und theosophische Buch Sohar – dem Hauptwerk der Kabbala – das rabbinische Konzept der Gelehrtengemeinschaft auf die angestrebte unio mystica übertrug: »Freunde sind jene, welche zusammensitzen und nicht voneinander getrennt sind«, heißt es im Sohar (Acharej Mot 59b). »Zunächst sehen sie aus wie ein Haufen Streitsüchtiger, die sich gegenseitig umbringen möchten, aber später kehren sie zur Liebe und Brüderlichkeit zurück.« Der Psalm 133:1, auf den sich der Sohar hier bezieht, spricht nur von Brüdern; erst der kabbalistische Kommentar fügt dem Bruder (ach) den Freund (re'a) hinzu. Dies ist insofern von Bedeutung, als es in der Kabbala eine Gemeinsamkeit zwischen Verwandtschaft und Freundschaft gibt, die dem Alltagsgebrauch der Wörter widerspricht: Auch Freunde suchen sich demnach nämlich nicht aus freien Stücken gegenseitig aus, sondern sind von Gott füreinander bestimmt, um als Zusammenschluss (chavraja) ekstatisch in die göttlichen Sphären aufzusteigen. Diese besondere Form der chevruta hat nur noch bedingt mit dem ursprünglich von den Rabbinen beabsichtigten gemeinsamen Studium der Tora zu tun. Vielmehr ist dieser mystische Zusammenschluss eng mit einem anderen Konzept verbunden, für das das aramäische Wort ri'ut (hebräisch: re'ut) steht, das ebenfalls eine Form von Freundschaft bezeichnet. In der Kabbala, etwa bei Moses Cordovero, bezeichnet ri'ut eine Anziehungskraft zwischen den sefirot (Emanationen des Göttlichen), besonders zwischen chochmah (Weisheit) und binah (Verstand), welche jeweils als re'in (Freunde) bezeichnet werden.6 Freundschaft meint in diesem mystischen Sinne die fruchtbare Dialektik von Anhaftung (d'vekut) und Abstoßung (dechijah), eine sich durch die Spannung der Gegensätze herstellende höhere Einheit.

In dem bedeutenden chassidischen Werk Jesod ha-Avodah (Grundlage der Gottesverehrung) des ersten Rebbe von Slonim, Abraham Weinberg (1804-1883), ist dieses Konzept als spirituelle Lebensform weiterentwickelt, die für den Chassidismus bis heute elementar ist: »Wie großartig und wunderbar ist die Tugend der Liebe zwischen Freunden [chaverim], die zusammengehören und von Herz zu Herz miteinander sprechen«, heißt es da, »und jeder liebt seinen Freund wie seine eigene Seele.« Durch diese Liebe, so Weinberg weiter, »erreichen sie beide Welten, diese Welt und die kommende Welt, und das Erwachen des Herzens mit der Liebe und Ehrfurcht Gottes«.7 Weinbergs Ausführungen sind Ausdruck einer großen Tradition der Freundschaft im chassidischen Judentum – allerdings einer Form von Freundschaft, die sich signifikant von ihrem alltagssprachlichen Sinn unterscheidet und auf die mystische Vereinigung mit dem Göttlichen abzielt.

In den deutschen Ländern blieb der chassidische Einfluss stark begrenzt. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts sollte Martin Buber mit seinen äußerst populären Geschichten des Rabbi Nachman unter jungen Juden für einen regelrechten Hype sorgen – aber dies war freilich bereits eine durch den Prozess der Säkularisierung gebrochene Faszination für das vermeintlich authentische Judentum des Ostens. Zur Zeit seiner Blüte im 18. und 19. Jahrhundert dagegen konnte der Chassidismus in den deutschen Ländern kaum eine Wirkung entfalten, und damit auch die ihm inhärente Idee der mystischen Freundschaft. In den Jeschiwot in Frankfurt, Metz oder Fürth lag der Fokus eindeutig auf der Halacha und somit auf dem Konzept der klassischen Lerngemeinschaft.

Doch darf auch der Einfluss des an den Talmud-Akademien eingeübten Lebensstils des Toragelehrten nicht übertrieben werden. Letztlich war es doch eine Minderheit der Juden, die mit den Sozialformen der Jeschiwot vertraut war. Die große Masse der Juden in Deutschland hat wohl von den gelehrten Diskursen über die Ideale des Lernens wenig mitbekommen. Für das alltägliche Leben waren die halachischen Entscheidungen der Rabbiner, die meistens einfach auf Basis gesetzlicher Kompendien wie des Shulchan Aruch gefällt wurden, viel bedeutsamer, wie sich an den mit sehr konkreten Problemen beschäftigten Responsen ablesen lässt. Ob Freundschaften – die es freilich immer gab – einem jüdischen oder gar griechischen Ideal entsprachen und wie eine solche Freundschaft beschaffen sein müsste, um den höchsten ethischen Maßstäben zu genügen, spielte dagegen keine Rolle. Außerhalb der Jeschiwot war die einzige anerkannte Form des sozialen Zusammenlebens die Familie, welche wiederum die Grundlage der lokalen Gemeinde als Ganzes darstellte. Und so kann es nicht verwundern, dass auch der Freundschaftsbegriff in der Frühen Neuzeit sehr häufig auf die Familie bezogen war. Neben Onkeln und Tanten, Neffen und Kusinen galten auch die Ehepartner und Eltern als Freunde. Die berühmte Hamburger Kauffrau Glikl bas Judah Leib, besser bekannt als »Glückel von Hameln«, schreibt in ihren an die Kinder gerichteten Memoiren über den Tod ihres ersten Mannes: »Er war euer Hirt, euer Freund. Nun, liebe Kinder, denkt nun ein jeder an sich selbst; denn ihr habt jetzt keinen Menschen, keinen Freund, auf den ihr euch verlassen könnt, und wenn ihr auch viele Freunde hättet und sie in der Not brauchtet, so könntet ihr euch doch nicht auf sie verlassen; denn wenn man die Freunde nicht braucht, dann will einem ein jeder gern Freund sein; wenn man sie aber nötig hat, dann [sind sie nicht zu finden].«8 Glikl riet also ihren Kindern, niemandem außerhalb der Familie zu vertrauen. Wahre, belastbare Freundschaft sei nur innerhalb der Familie möglich.

Erst mit der Auflösung der Ghettos und Judengassen und dem Aufkommen der neuen Ideen von individueller Freiheit und Selbstbestimmung begann sich nicht nur die Lebensrealität vieler Juden im Alten Reich langsam zu ändern, sondern auch die damit verbundenen sozial-ethischen Normen. Das Judentum wurde von Seiten des Staates immer mehr auf eine reine Konfession reduziert, da der ethnische Zusammenhalt als bedrohlicher Ausdruck eines nicht tolerierbaren »Staates im Staate« betrachtet wurde. In den Gemeinden selbst gab es lautstarke Befürworter dieser »Religionisierung des Judentums«, zugleich aber entspannen sich kontroverse Diskussionen über den ethnischen Charakter des Judentums als »Volk«, »Nation« oder »Stamm«. Fast unbemerkt wurden diese Debatten über die Frage, was das Judentum ist, von einem neuen Diskurs über Freundschaft begleitet. Vor allem in der Haskala des 18. Jahrhunderts gewann der jüdische Freundschaftsdiskurs unter dem Einfluss von Aufklärung und Romantik an Intensität, geradezu symbolisch verkörpert in der Brief- und Gelehrtenfreundschaft zwischen Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing.

Zugleich wurde in der Aufklärung auch erstmals die Idee formuliert, dass sich Freunde zu Gesellschaften oder Kreisen zusammenschließen, um soziale Reformen und »Verbesserungen« anzustoßen. Im ersten maskilischen Schullehrbuch, das 1778 von David Friedländer herausgegeben wurde, zählte die Freundschaft zu den zentralen Tugenden des aufgeklärten Bürgers. Auch hier ist es wieder die griechische Tradition, dieses Mal die pythagoreische, die als Vorbild dienen muss: »Damon und Pythias«, heißt es da, »durch das geheiligte Band einer zärtlichen Freundschaft miteinander verbunden, hatten sich eine unverletzliche Treue geschworen.«9 Die Aneignung des bürgerlichen Bildungskanons hatte zur Folge, dass die Idee der Freundschaft als soziales Band, das »alle Blutsverwandtschaft an Treue übertrifft«10, für einige Jahrzehnte als Mittel zur Überwindung gesellschaftlicher Gräben diskutiert wurde. Mit dem Ende von Aufklärung und Romantik aber verblasste das Ideal interreligiöser Freundschaft, nicht zuletzt aufgrund enttäuschter Erwartungen an deren emanzipatorische Kraft. Als prominentes Thema wurde Freundschaft erst mit Einsetzen der gesellschaftlichen Krisenprozesse seit Ende des 19. Jahrhunderts, und dann vor allem in der Weimarer Republik, wiederentdeckt. Die großen Essays von Siegfried Kracauer oder Martin Bubers dialogische Philosophie waren Ausdruck dieser Neuaneignung, die in vielfacher Weise auch an jüdische Traditionen anknüpfte. Wahre Freundschaft sei »Seelenfreundschaft«, heißt es bei Kracauer. Das hatten nicht nur Aristoteles und Montaigne behauptet, sondern auch schon die Bibel: Jonathan habe David geliebt »wie seine eigene Seele [ke-nafsho]«, heißt es im Buch Samuel (1 Sam 18:1). Ob Seelen- oder Gelehrtenfreundschaft, ob mystische Vereinigung, politischer Bundesschluss oder familiäre Vertrautheit – auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht, als spiele Freundschaft in der jüdischen Tradition keine große Rolle, entpuppt sich ihre Geschichte bei näherem Hinsehen als ebenso vielfältig wie komplex.

1Encyklopedia Talmudit (hebr.), Bd. 12, Sp. 509.

2Masechet Avot de-Rabbi Natan (hebr.). Herausgegeben von Solomon Schechter. London 1887, Textvariante A, S. 36.

3Moshe benMaimon (Maimonides): Moreh Nevuchim (hebr.), Buch 3, Kapitel 49.

4Judah Moscato: Nefutsot Jehudah (hebr.). Venedig 1589.

5Siehe Gerold Necker: Humanistische Kabbala im Barock. Leben und Werk des Abraham Cohen de Herrera. Berlin, Boston 2011, S. 132.

6Moses Cordovero: Or Ne'erav (hebr.). Venedig 1587, Teil 4, Kap. 2 (S. 26).

7Avraham Weinberg: Jesod ha-Avodah (hebr.). Warschau 1892, Buch 2, Kap. 10, Abschnitt 10 (S. 186).

8Denkwürdigkeiten der Glückel von Hameln [1690/91]. Aus dem Jüdisch-Deutschen übersetzt und herausgegeben von Alfred Feilchenfeldt. Berlin 41923, S. 181f.

9David Friedländer (Hg.): Lesebuch für Jüdische Kinder. Zum Besten der jüdischen Freyschule. Berlin 1779, S. 40.

10Gefälligkeit. In: Sammlung aus den besten prosaischen und poetischen Schriften zur Uebung im emphatischen Lesen und Deklamiren. Frankfurt am Main 41812, S. 10.

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David und Jonathan