Inhalt

  1. Cover
  2. Einführung
  3. Der Einsatz von Gedankenexperimenten im Philosophie- und Ethikunterricht
  4. 1 Gedankenexperimente im Philosophie- und Ethikunterricht
  5. Gedankenexperimente
  6. Das Gedankenexperiment
  7. „Was wäre, wenn …?“
  8. Arten und Funktionen von Gedankenexperimenten
  9. Was ist ein philosophisches Gedankenexperiment?
  10. Gedankenexperimente und Sokratisches Gespräch – ein Vergleich
  11. 2 Beispiele aus der Praxis
  12. Der Ring des Gyges auf dem Prüfstand
  13. Stell’ dir vor, es wäre Krieg …
  14. Wenn ich ein Tier wäre – Gedankenexperimente zu tierethischen Fragen
  15. 3 Auswahl ethischer und philosophischer Gedankenexperimente
  16. Auswahlbibliographie

Die Reihe Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht ist auf neun Themenbände angelegt, die bis 2023 erscheinen werden:

1 Philosophieren mit Filmen im Unterricht

2 Philosophieren mit Gedankenexperimenten

3 Philosophieren mit Dilemmata

4 Philosophieren mit Bildern und Comics

5 Vom Umgang mit philosophischen Texten

6 Der Einsatz von Spielen im Philosophie- und Ethikunterricht

7 Literatur und Jugendliteratur im Philosophie- und Ethikunterricht

8 Das Sokratische Gespräch im Philosophie- und Ethikunterricht

9 Theatrales Philosophieren, Musik und Videoclips im Philosophie- und Ethikunterricht

▶ Ausführliche Informationen unter: www.philosophie-didaktik.de

Martina und Jörg Peters

Philosophieren mit Gedankenexperimenten

Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht

Meiner

  Einführung

Der Einsatz von Gedankenexperimenten im Philosophie- und Ethikunterricht

Martina Peters und Jörg Peters

Neben dem Besprechen philosophischer Texte im Philosophie- und Ethikunterricht zählen im Bereich der diskursiven Methoden Gedankenexperimente und Dilemmata zu den populärsten Vorgehensweisen. Das vorliegende Buch konzentriert sich ausschließlich auf Gedankenexperimente, da dem Einsatz von Dilemmata ein eigener Band innerhalb dieser Methodenreihe1 gewidmet ist.

Warum ist der Einsatz von Gedankenexperimenten im Schulunterricht so beliebt? Weder die Fachphilosophie noch der Philosophie- bzw. Ethikunterricht kann auf das Gedankenexperiment verzichten, weil es ein essentielles Instrumentarium darstellt, um zu philosophischen Einsichten zu gelangen.2 Das Gedankenexperiment stellt nämlich – wie noch zu zeigen sein wird – im Bereich der Philosophie genauso ein Mittel zum Erkenntnisgewinn dar wie das reale Experiment in den Naturwissenschaften. Denkt man beispielsweise an den Naturzustand in der Staatsphilosophie von Thomas Hobbes oder an das „Gehirn im Tank“ in der Erkenntnistheorie von Hilary Putnam, so ahnt man schnell, wie herausfordernd und motivierend es sein kann, mit Gedanken zu experimentieren.

Was ist ein Gedankenexperiment?

Um es formal auszudrücken: Gedankenexperimente sind gedankliche Hilfsmittel, um Theorien

 

zu entwickeln,
zu untermauern,
zu widerlegen,
zu veranschaulichen oder
weiterzudenken.

 

Dabei wird rein gedanklich eine Situation konstruiert, die real in der Regel nicht oder zumindest nur sehr schwer herzustellen ist. Ebenfalls spielt man rein gedanklich durch, welche Konsequenzen sich – bezogen auf eine bestimmte philosophische Frage – daraus ableiten lassen. Zwei Arten von Gedankenexperimenten sind zu unterscheiden, nämlich das kontrafaktische oder irreale Gedankenexperiment und das fiktive Gedankenexperiment mit Bezug zur Realität:

1) Ein philosophisches Gedankenexperiment zeichnet sich durch Kontrafaktizität aus3, also durch die Annahme von Irrealem. Diese Annahme wird aber nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft, so dass sie keine zu untersuchende Hypothese darstellt. Was damit gemeint ist, veranschaulicht folgendes Beispiel: „Stellen Sie sich vor, ein Mensch könne sich unsichtbar machen …“ Das Kontrafaktische, das Irreale, ja das Unmögliche an diesem Beispiel besteht darin, dass sich ein Mensch nun einmal nicht unsichtbar machen kann. Es besteht aber durchaus die Möglichkeit, gedanklich durchzuspielen, was alles passieren könnte, wenn ein unsichtbarer Mensch sich unter uns bewegen würde. Aufgrund dieses Gedankenexperiments stellt sich beispielsweise die Frage, ob der Mensch, der die Fähigkeit besitzt, sich unsichtbar zu machen, künftig gerecht oder ungerecht, ethisch oder unethisch handeln wird, weil er keine Konsequenzen seines Handelns zu fürchten hat. Genau dieser Frage gehen etwa Platon im Ring des Gyges oder J. R. R. Tolkien in seinem Monumentalwerk Der Herr der Ringe nach. Beide untersuchen dabei aber nicht den Wahrheitsgehalt der Annahme, sich unsichtbar machen zu können, sondern die sich aus dem Gedankenexperiment ergebende philosophische Fragestellung nach dem gerechten bzw. ethischen Handeln.

2) Ein Gedankenexperiment kann auch aus Prämissen bestehen, die zwar fiktiv sind, aber einen Bezug zur Realität haben, „insofern sie sich auf etwas beziehen, das in der Wirklichkeit tatsächlich möglich ist“.4 Fallbeispiele gehören in diese Kategorie ebenso wie Utopien. In Klassikern wie Utopia von Thomas Morus, Nova Atlantis von Francis Bacon oder La città del Sole von Tommaso Campanella werden (noch) nicht existierende Wunschbilder von Gemeinschaften mit realitätsnahen Facetten wie Arbeit, Wissenschaft oder soziale Gerechtigkeit thematisiert. Diese können Schülerinnen und Schülern etwa als Grundlage für eine fundierte Auseinandersetzung mit erstrebenswerten Prinzipien gesellschaftlichen Zusammenlebens dienen, indem die jeweiligen Konsequenzen überprüft und weitergedacht werden.

Neben diesen beiden Formen „echter“ Gedankenexperimente gibt es auch Überlegungen, die zwar von kontrafaktischen Prämissen ausgehen, aber nicht unter den Begriff des Gedankenexperiments subsumiert werden dürfen: „Ein Beispiel: ‚Wenn ich eine Million im Lotto gewonnen hätte, ja dann hätte ich das und das getan.‘ Diese gedankliche Spielerei verdient den Ehrentitel Gedankenexperiment nicht, da der größere Rahmen fehlt, durch den die Ergebnisse dazu dienen könnten, grundsätzliche Fragen zu klären. Tagträumereien sind keine Experimente. Eine tiefgreifende Erkenntnis dürfte durch diese Spielerei nicht zustande kommen.“5

Der Unterschied zwischen Real- und Gedankenexperimenten

Wenn man sich vor Augen hält, dass sich der Begriff Gedankenexperiment aus den beiden Wörtern ›Gedanken‹ und ›Experiment‹ zusammensetzt, so macht die Separation der Begriffe nicht nur deutlich, dass es sich hierbei um ein Experiment handelt, das in Gedanken durchgeführt wird, sondern verweist zugleich auch darauf, dass es sich im Unterschied zum Realexperiment nicht auf etwas Konkretes oder auf etwas real Existierendes bezieht. Ein Gedankenexperiment ist kein Experiment im eigentlichen Sinne, weil es einen gravierenden Unterschied zwischen beiden gibt: Während ein reales Experiment Theorien durch empirische Anschauung von außen untersucht, bleibt ein Gedankenexperiment grundsätzlich rational. Es nimmt in der Philosophie jene Rolle ein, die das Realexperiment in den Naturwissenschaften innehat. Dementsprechend folgen Gedankenexperimente dem fünf-phasigen Aufbau eines naturwissenschaftlichen Versuchsprotokolls, wie insbesondere die Ausführungen von Engels6 und Muhr7 deutlich machen. Dies gilt aber auch für den Aufbau eines Gedankenexperiments nach Bertram8, wenn man seine drei-phasige Darstellung dahingehend interpretiert, dass er die erste und zweite sowie die vierte und fünfte Phase zu je einer zusammenfasst:

Aufbau eines Experiments in den Naturwissenschaften

Aufbau eines Gedankenexperiments nach
Engels

Aufbau eines Gedankenexperiments nach
Muhr

Aufbau eines Gedankenexperiments nach
Bertram

1. Thema

1. Kontext

1. Präsentation der
fiktiven Annahme

1. philosophische
Fragestellung

2. Versuchsaufbau

2. Versuchsanordnung

2. Rekonstruktion der
fiktiven Annahme

3. Versuchsdurchführung

3. Versuchsanleitung

3. Experimentier- bzw.
Erprobungsphase

2. kontrafaktisches
Szenario

4. Beobachtungen

4. Das eigentliche
Experiment

4. Ergebnisaustausch

3. Auswertung des Szenarios in Bezug auf die Fragestellung

5. Deutung (Erklärung) und
Auswertung

5. Offenes Ende

5. Ursachenforschung und Problematisierung

Im Schulunterricht wird primär der Ansatz von Helmut Engels verfolgt, dessen Konzeption sehr eng an den Aufbau eines naturwissenschaftlichen Versuchs angelehnt ist. Soll beispielsweise die Frage der persönlichen Lebensgestaltung besprochen werden, könnte die Abfolge des Gedankenexperimentes folgendermaßen aussehen:

 

1.Kontext: Was ist mir im Leben wirklich wichtig?
2.Versuchsanordnung: Stell dir vor, du könntest jetzt dein Leben noch einmal von vorne anfangen …
3.Versuchsanleitung: Was würdest du anders machen?
4.Das eigentliche Experiment: Ich würde mir überlegen, ob ich …
5.Offenes Ende: Ich nehme mir vor, in Zukunft …
zu tun/zu beobachten/zu überprüfen etc.

Die Funktion von Gedankenexperimenten im Philosophie- und Ethikunterricht

Wenn Gedankenexperimente auf diese Weise angelegt sind, bieten sie die Chance, dass alle Schülerinnen und Schüler an der Durchführung teilnehmen können. Das liegt unter anderem daran, dass durch das prinzipiell offene Ende von Gedankenexperimenten Schülerinnen und Schülern viel Raum für Phantasie gegeben ist. Schon aus diesem Grund weisen Gedankenexperimente einen hohen motivationalen Charakter auf; zugleich tragen sie auf spielerische Weise dazu bei, zu philosophischen Erkenntnissen bzw. Einsichten zu gelangen.

Dadurch, dass Schülerinnen und Schüler ihre Gedanken zu einem philosophischen Problem frei und ungezwungen äußern können, tragen sie nicht nur dem unter anderem von Markus Tiedemann vertretenen Prinzip der Problemorientierung9, sondern auch dem kantischen Prinzip des Selberdenkens10 Rechnung. Der Philosophieunterricht darf allerdings nicht beim Selberdenken der Schülerinnen und Schüler stehen bleiben, wenn er nicht in einem oberflächlichen Meinungsaustausch verharren will. Deshalb bietet es sich an, im Anschluss an die durchgeführten Gedankenexperimente philosophische Texte zu lesen, um die aufgeworfenen Fragen und Probleme genauer zu entfalten, zu untersuchen und auszuwerten. Damit ist auch schon gesagt, dass die Durchführung eines Gedankenexperimentes im Unterricht niemals nur Zweck sein darf, sondern als „Mittel zu etwas“ verstanden werden sollte. Insofern ist der Einsatz von Gedankenexperimenten als philosophische Methode immer abhängig von dem angestrebten Ziel der Unterrichtsstunde oder sogar der gesamten Sequenz.11

Der Aufbau des Buches

Da das vorliegende Buch als ein Leitfaden für den Einsatz von Gedankenexperimenten im Unterricht an Schulen konzipiert worden ist, richtet es sich primär an Studierende, Referendarinnen und Referendare sowie Lehrerinnen und Lehrer der Fächer Philosophie, Ethik, Praktische Philosophie, Werte und Normen und L-E-R. Daraus ergibt sich für den vorliegenden Band eine logische Dreiteilung in einen Theorie-‍, einen Praxis- und einen Materialteil.

Für den Theorieteil ist der Versuch unternommen worden, möglichst alle zentralen Positionen der deutschsprachigen Philosophiedidaktik zum Gedankenexperiment zu Wort kommen zu lassen. Sofern die Rezipientin bzw. der Rezipient dieses Buches noch keine Erfahrungen im Umgang mit Gedankenexperimenten haben sollte, kann sie bzw. er auf diese Weise die theoretischen Grundlagen kennenlernen oder – falls schon Kenntnisse vorhanden sein sollten – diese vertiefen.

Im anschließenden Praxisteil wird eine Auswahl von Gedankenexperimenten und ihre Durchführung im schulischen Kontext vorgestellt. Anhand der Beispiele kann man sich einen Eindruck davon verschaffen, wie eine konkrete Umsetzung erfolgen kann, mit welchen Schwierigkeiten zu rechnen ist und wie man diese meistern kann.

Der letzte Teil des Buches enthält eine umfangreiche Sammlung an nicht (allzu) bekannten Gedankenexperimenten, die alle relevanten Themen, die im Philosophie- und Ethikunterricht eine Rolle spielen, berücksichtigen. Dafür sind Gedankenexperimente aus den folgenden Inhaltsfeldern berücksichtigt worden:

1. Der Mensch und sein Handeln (Unterthemen: „Die Sonderstellung des Menschen“, „Formen des Handelns im interkulturellen Kontext“ und „Umfang und Grenzen staatlichen Handelns“)
2. Menschliche Erkenntnis und ihre Grenzen (Unterthemen: „Eigenart des philosophischen Fragens und Denkens“, „Metaphysische Probleme als Herausforderung für die Vernunfterkenntnis“ und „Prinzipien und Reichweite menschlicher Erkenntnis“)
3. Das Selbstverständnis des Menschen (Unterthemen: „Der Mensch als Natur- und Kulturwesen“, „Das Verhältnis von Leib und Seele“, „Der Mensch als freies, selbstbestimmtes Wesen“ und „Das Menschenbild der Neurowissenschaften und der Forschungen zur künstlichen Intelligenz“)
4. Werte und Normen des Handelns (Unterthemen: „Grundsätze eines gelingenden Lebens“, „Nützlichkeit und Pflicht als ethische Prinzipien“, „Verantwortung in ethischen Anwendungskontexten“ und „Unterschiedliche Grundlagen moralischer Orientierungen)
5. Zusammenleben in Staat und Gesellschaft (Unterthemen: „Gemeinschaft als Prinzip staatsphilosophischer Legitimation“, „Individualinteresse und Gesellschaftsvertrag als Prinzip staatsphilosophischer Legitimation“, „Konzepte von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit“ und „Bedingungen einer dauerhaften Friedensordnung in einer globalisierten Welt“)
6. Geltungsansprüche der Wissenschaften (Unterthemen: „Erkenntnistheoretische Grundlagen der Wissenschaften“ und „Der Anspruch der Naturwissenschaften auf Objektivität“)

Das Buch schließt mit einer ausführlichen Bibliographie zum Gedankenexperiment aus didaktischer Perspektive. Da das Gedankenexperiment primär im deutschsprachigen Raum in Schulen eingesetzt wird, ist auch nur die deutschsprachige Literatur berücksichtigt worden. Generelle Studien zum Gedankenexperiment finden nur bedingt Berücksichtigung aufgrund der in den Blick genommenen Zielgruppe dieser Reihe und dem damit verbundenen Fokus auf die zu reflektierende Praxis.

Endnoten

1Vgl. Peters, Martina; Peters, Jörg (Hrsg.): Philosophieren mit Dilemmata, Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht, Bd. 3, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2019.

2Das war nicht immer so. Der französische Physiker und Philosoph Pierre Duhem urteilt über das Gedankenexperiment zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgendermaßen: „[Ein Schüler] wird diese Worte [gemeint ist ein Gedankenexperiment, M. u. J. Peters] mit ungenauem Sinn, diese Beschreibungen unrealisierter und unrealisierbarer Experimente, diese Überlegungen, die nur Taschenspielerkünste sind, auswendig lernen, indem er bei dieser unvernünftigen Gedächtnisarbeit das wenige, das er an gesundem Sinn und kritischem Denken besaß, verliert“ (Duhem, Pierre: Ziel und Struktur der physikalischen Theorie, übers. von Adler, Friedrich, Vorwort von Mach, Ernst, eingl., bibliogr. und hrsg. von Schäfer, Lothar, PhB 477, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1978, S. 274). Diese Äußerung von 1908 zeigt deutlich, wie groß Duhems Ablehnung gegenüber dem Gedankenexperiment war. Wahrscheinlich wäre er entrüstet, wenn er sehen könnte, wie erfolgreich Gedankenexperimente heute in der wissenschaftlichen Diskussion, in anspruchsvollen Lehrbüchern und vor allen Dingen als methodisches Mittel im Unterricht eingesetzt werden (Vgl. Buschlinger, Wolfgang: Denk-Kapriolen? Gedankenexperimente in Naturwissenschaften, Ethik und Philosophy of Mind, Könighausen & Neumann, Würzburg 1993, S. 9).

3Vgl. Engels, Helmut: „Nehmen wir an ...“. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2004, S. 14 – 17 und vgl. Bertram, Georg W.: „Was ist ein philosophisches Gedankenexperiment?“, in: Bertram, Georg W. (Hrsg.): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch, Reclam TB 20414, Philipp Reclam jun., Stuttgart 22016, S. 19 – 22.

4Engels, Helmut: „Nehmen wir an ...“. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, a.a.O., S. 40.

5Engels, Helmut: „Nehmen wir an ...“. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, a.a.O., S. 17.

6Engels, Helmut: „Die Struktur von Gedankenexperimenten“, in: Brockamp, Peter; Draken, Klaus; Hamacher, Wolfram; Maeger, Stefan; Reuber, Rudolf; Schalk, Helge; Strobel, Johannes: Philosophieren, 2 Bde., Bd. 2: Ethik – Staatsphilosophie – Geschichtsphilosophie, C. C. Buchner Verlag, Bamberg 2006, S. 311.

7Muhr, Daniela: Das Gedankenexperiment als Methode des Philosophierens: Einsatzmöglichkeiten im Philosophieunterricht der Sekundarstufe II, Staatsarbeit am Studienseminar für das Lehramt für die Sekundarstufe II, Krefeld 1996, S. 81 – 83.

8Bertram, Georg W.: „Was ist ein philosophisches Gedankenexperiment?“, in: Bertram, Georg W. (Hrsg.): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch, a.a.O., S. 15 – 22.

9Tiedemann, Markus: „Der problemorientierte Ansatz“, in: Peters, Martina; Peters, Jörg (Hrsg.): Moderne Philosophiedidaktik. Basistexte, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2019, S. 213 – 230 (der Aufsatz erschien zuerst unter: Tiedemann, Markus: „Problemorientierte Philosophiedidaktik“, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 35, 2013, Heft 1: Außerschulische Lernorte, S. 85 – 96).

10Kant, Immanuel: „Der ‚Selber-denken‘ Ansatz“, in: Peters, Martina; Peters, Jörg (Hrsg.): Moderne Philosophiedidaktik. Basistexte, a.a.O., S. 19 – 22 (der Aufsatz ist auch enthalten in: Kant, Immanuel: „Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre, von 1765 – 1766“, in: Kant, Immanuel: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung: Werke, Bd. 2: Vorkritische Schriften II (1757 – 1777), Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1912, S. 303 – 113, S. 305 – 308).

11Vgl. dazu Muhr, Daniela: Das Gedankenexperiment als Methode des Philosophierens: Einsatzmöglichkeiten im Philosophieunterricht der Sekundarstufe II, a.a.O., S. 83.

1 Gedankenexperimente
im Philosophie- und
Ethikunterricht

Gedankenexperimente

Helmut Engels

Adressaten

Jugendlichen und vor allem auch Kindern fällt es nicht schwer, sich auf Gedankenexperimente einzulassen. Sie sind noch nicht wie viele Erwachsene auf das Faktische fixiert. Sie können Gedankenreisen machen und sich eine Welt ausdenken, die mit der Realität nicht viel gemeinsam hat. Fantasy und Science-Fiction tun ein Übriges, dass sie sich mit dem bloß Möglichen, mit dem Unwahrscheinlichen oder sogar mit dem Unmöglichen beschäftigen, und dies mit Lust. Gedankenexperimente sind aber nicht bloß luftige Gedankengebilde, erst recht keine eskapistischen Spielereien, vielmehr haben sie einen harten Kern, der mit bloßem Tagträumen nichts zu tun hat.

Was sind Gedankenexperimente?

Vorläufiges

Das Gedankenexperiment besteht in dem Versuch, auf der Grundlage kontrafaktischer Vorstellungen philosophisch relevante Erkenntnisse zu gewinnen oder zu vermitteln. Hiermit kompatibel ist die Formulierung: Gedankenexperimente sind wohldurchdachte Was-wäre-wenn-Überlegungen, die dem Erkenntnisgewinn im Zusammenhang mit philosophischen Fragen dienen.

Solche mentalen Experimente gibt es in der Philosophie seit der Antike. Eine besondere Bedeutung haben sie in der analytischen Philosophie der Gegenwart gewonnen. Entsprechend modifiziert kommen sie auch in der Physik und in der Geschichtswissenschaft vor, man denke – was Letztere angeht – an die kontrafaktische oder experimentelle Geschichte. Die Fragen, zu deren Beantwortung Gedankenexperimente beitragen sollen, sind im Philosophieunterricht solche, die den Disziplinen der Philosophie zuzuordnen sind, aber auch der Philosophie als Lebensform. Hin und wieder sind sie ein Mittel, um Staunen zu erzeugen, etwa bei der Betrachtung von scheinbar Selbstverständlichem, das durch das Experiment seiner Selbstverständlichkeit entkleidet wird.

Im Folgenden wird die akademische Diskussion über Wert und Reichweite des Gedankenexperiments ausgeklammert. Vielmehr geht es ausschließlich um einen für den Philosophie- und Ethikunterricht relevanten Begriff dieses Verfahrens und seine Anwendung und Vermittlung im Unterricht.

Strukturmomente des Gedankenexperiments

Idealtypisch dargestellt haben Gedankenexperimente folgende Strukturmomente:1

1) Zum Gedankenexperiment gehört eine Versuchsanordnung. Sie besteht aus ei- ner oder mehreren Annahmen. „Annahme“ bedeutet hier nicht Vermutung oder Hypothese, sondern eine bloße Vorstellung wie in dem Satz „Nehmen wir einmal an, dass morgen die Welt untergeht“. Die sprachlichen Einleitungen solcher Annahmen sind variabel, sie lauten z. B.: – Angenommen, man könnte ..., – Gesetzt, man habe ..., – Gehen wir einmal davon aus, dass ... oder – Stellt euch vor, X wollte ... Diese Annahmen könnten stets auch in einem Wenn-Satz ausgedrückt werden: – Wenn X nun die Eigenschaften c, d und e hätte, ... Die Annahmen des Gedankenexperiments werden nicht, wie das bei Vermutungen oder Hypothesen der Fall ist, auf ihre Berechtigung oder Gültigkeit hin befragt. Sie sind vielmehr Katalysatoren, die bestimmte Gedanken in Gang setzen. Sie werden nur verändert, wenn sie als Katalysatoren nicht taugen.

Die Versuchsanordnung kann aus einem einzigen Satz bestehen. Beispiel: „Nehmen wir einmal an, ein Wissenschaftler hätte eine Substanz erfunden, die irdische Unsterblichkeit verleiht.“ Sie kann auch höchst komplex sein. Searles Das Chinesische Zimmer etwa enthält eine ganze Liste von Prämissen.2 Es heißt da: Nehmen wir an, dass …, Nehmen wir weiter an, …, Nehmen wir nun weiterhin an, dass …, Nehmen wir nun auch noch an …, Nun stellen wir uns vor, dass … und so weiter. Man kann solche Annahmen auch als die „Prämissen“ des Gedankenexperiments oder als seine „Basis“ bezeichnen. Sinnvoll ist oft auch die Bezeichnung „hypothetisches Szenario“. Der Begriff „Versuchsanordnung“ macht deutlich, dass es um ein Experiment geht, mit dem man etwas herausfinden möchte. Dass es sich beim Gedankenexperiment um ein Experiment handelt, ist umstritten, insofern es lediglich als besondere Form der Argumentation aufgefasst wird. Für den Philosophie- und Ethikunterricht ist aber gerade der Experimentcharakter von Bedeutung, da die Schülerinnen und Schüler so zu Eigenaktivität und Selbstdenken angeregt werden.

2) Der Versuchsanordnung folgt die Versuchsanweisung. Denn eine bloße Versuchsanordnung sagt noch nichts Genaues über ihre Verwendung. Ich muss wissen, was ich mit dem Vorgestellten tun muss, welche Operationen ich durchzuführen habe. Die Experimentieranweisung kann als Imperativ auftreten, sie hat aber meist die Form einer Frage. Die Frage ist allerdings auch eine Art der Aufforderung.

Mit Blick auf die Prämisse „Nehmen wir einmal an, ein Wissenschaftler hätte eine Substanz erfunden, die irdische Unsterblichkeit verleiht“ könnte die Anweisung lauten: „Schildere, was in dem Kopf des Wissenschaftlers vor sich gehen könnte!“ Als Frage formuliert kann die Anweisung lauten: „Sollte der Wissenschaftler seine Erfindung geheim halten?“ Darüber ließe sich nachdenken oder diskutieren. Die Frage könnte aber auch lauten: „Sollte der Wissenschaftler diese Substanz nur besonderen Menschen wie Nobelpreisträgern oder großen Künstlern zugutekommen lassen?“ Oder auch: „Würdest du diese Substanz nehmen? Wenn ja, warum, wenn nein, warum nicht?“ Die Fragestellung zu ein und derselben Annahme kann recht unterschiedlich sein. Die Fruchtbarkeit bestimmter Szenarien kommt genau daher, dass sie unterschiedliche Operationen ermöglichen. In der Darstellung von Gedankenexperimenten fehlt zuweilen die auf das Szenario unmittelbar bezogene didaktische Experimentieranweisung.3 Die explizite Nennung einer solchen Anweisung ist jedoch sinnvoll, ja notwendig, wenn es darauf ankommt, dass die Schülerinnen und Schüler selbst Gedankenexperimente auf der Grundlage vorgegebener Prämissen durchführen. Denn dann müssen sie genau wissen, was zu tun ist. In literarischen Texten und Filmen, die man als die anschauliche Durchführung von Gedankenexperimenten auffassen kann, fehlt natürlich die Nennung der beiden genannten Strukturmomente. Um Gedankenexperimente handelt es sich allerdings nur, wenn sich die beiden Strukturmomente aus dem Text selbst erschließen lassen. So liegt dem bekannten Film Und täglich grüßt das Murmeltier von 1993 etwa die folgende Prämisse zugrunde:

Stell dir vor, dass ein Mensch mit einer negativen Lebenseinstellung gezwungen wird, ein und denselben Tag immer wieder zu erleben, bis er schließlich herausgefunden hat, worin ein erfülltes Leben besteht. Verleihe diesem Menschen die Erinnerung an die Tage, die sich wiederholt haben, betraue ihn mit einer beruflichen Tätigkeit und statte seine Welt mit Personen aus, die ihm mehr oder minder nahestehen und die auf sein Verhalten reagieren.

Die sich hierauf beziehende Anweisung könnte lauten:

Schildere anschaulich, welche Phasen dieser Mensch durchlaufen dürfte, bis er endlich aus der Zeitfalle erlöst wird.

3) Das eigentliche Experiment, die Durchführung, besteht in den Überlegungen und Vorstellungen, die zur Realisierung der Anweisung bzw. zur Beantwortung der gestellten Frage führen. In diese Überlegungen können noch weitere Voraussetzungen einbezogen werden, etwa moralische Normen, Wertentscheidungen, Erkenntnisse der Einzelwissenschaften, Einsichten aus der Lebenserfahrung, lebensweltliches Wissen usw. Je nach Aufgabe können die Schüler und Schülerinnen das Experiment in Form eines diskursiven Textes oder einer anschaulichen Geschichte durchführen. Üblich jedoch sind Unterrichtsgespräche und Diskussionen.

Der Ausgang des Experiments sollte nicht von vornherein feststehen, da andernfalls gar nicht von einem Experiment die Rede sein könnte. Bei der Lektüre von Gedankenexperimenten muss man allerdings immer wieder feststellen, dass von der geforderten experimentellen Offenheit nicht die Rede sein kann. Der Autor weiß genau – und er zeigt dies auch dem Leser –, was bei seinen Überlegungen herauskommen soll. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass die Ergebnisse der Autoren keineswegs immer identisch sind mit dem, was der selbständig denkende Leser herausbringt. Die Prämissen der Experimente enthalten oft ein größeres Potential, als von den Autoren realisiert wird. Im Unterricht käme es jedenfalls darauf an, geschlossene Gedankenexperimente in echte, also resultatsoffene Experimente zu verwandeln.

Zur Terminologie: In einer verkürzenden Redeweise wird auch die Kombination der Momente 1 und 2 schon als Gedankenexperiment bezeichnet, obwohl die Durchführung das eigentliche Experiment darstellt.

4) Das Gedankenexperiment sollte in einen größeren Zusammenhang eingebettet sein, in dem eine Frage aufgetaucht ist, zu deren Beantwortung das Experiment einen Beitrag liefern kann. So kann das oben angeführte Experiment zur Einnahme einer unsterblich machenden Substanz Anlass sein, über die Verantwortung des Wissenschaftlers oder über den Sinn des Todes nachzudenken. Und der Groundhog Day mag Antwort geben zu Fragen nach einem gelingenden Leben oder nach der Verbindlichkeit sittlicher Gebote und Verbote.

Das Gedankenexperiment im engen und im erweiterten Sinn

Den Begriff Gedankenexperiment kann man in einem engen, strengen und in einem weiteren Sinne gebrauchen. Im Unterschied zu einer Alltagsfrage wie „Was würdest du tun, wenn du eine Million im Lotto gewonnen hättest?“ besteht das Eigentümliche eines strengen Gedankenexperiments darin, dass die Irrealität, die in solchen Sätzen mit „wäre“, „würde“, „hätte“ ausgedrückt wird, sozusagen potenziert ist: „Wenn du dich unsichtbar machen könntest, was würdest du dann alles tun?“ In diesem Wenn-Satz haben wir nicht nur den Irrealis, sondern zugleich eine Irrealität, die außerhalb des wirklich Möglichen liegt. Wir bewegen uns im Bereich einer bloßen Denkmöglichkeit. Dieser potenzierte Irrealis wird zuweilen als befremdlich empfunden, macht aber gerade den Reiz und auch die Fruchtbarkeit von strengen Gedankenexperimenten aus. Ihre heuristische Kraft verdanken solche Experimente dem Umstand, dass sich hier die kindliche Freude an der Aufhebung des Realitätsprinzips mit strenger Rationalität verbindet. Sie faszinieren, weil sie in uns eine Seite ansprechen, die einer früheren Entwicklungsstufe angehört, und zugleich unseren wachen Verstand herausfordern. Oft stammen die Elemente der Versuchsanordnung sozusagen aus einer Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat: zahllos sind Motive aus Märchen, Mythen, Fantasiegeschichten und Science-Fiction. Die – vorübergehende – Suspendierung der Wirklichkeit und ihrer Ansprüche hat ihren guten Sinn. Er kommt in der Redensart „Reculer pour mieux sauter“ zum Ausdruck, „Zurücktreten, um weiter springen zu können“.4 Indem ich in einen früheren Zustand, in dem die Gesetze der Realität nicht gelten, regrediere, werden Problemlösungen möglich, die der bloßen Ratio nicht vergönnt sind. Aber: Die Aufkündigung des Realitätsprinzips geschieht beim Gedankenexperiment durchaus bewusst; ich weiß, dass es sich hier um bloße Annahmen handelt. Das Experiment selbst ist der Realität verpflichtet. Es bedarf neben schon genannter Voraussetzungen des Möglichkeitssinns als eines Sinnes nicht nur für das bloß Denkbare, sondern für das real Mögliche. Zu den Gedankenexperimenten im engen Sinn gehören bekannte Beispiele wie Der Seelentausch, Der unsichtbar machende Ring, Die Erlebnismaschine, Reise in die Vergangenheit und Flächenland. Sie gelten als typische Gedankenexperimente.

Weniger befremdlich, vielleicht auch weniger faszinierend sind Gedankenexperimente, deren Annahmen im Bereich des real Möglichen liegen. Zu einem erweiterten Begriff des Gedankenexperiments gehören u. a. folgende Formen:

Das Gedankenexperiment fungiert als Ersatz für ein Realexperiment, das nicht durchgeführt werden kann oder darf, sei es aus technischen Gründen, aus Kostengründen oder aus moralischen Gründen. Der Film Das Experiment spielt ein Experiment durch, in dem eine Gruppe von Studenten in Gefangene und GefäääüDie Welleäüü