Manfred Spitzer Wulf Bertram

Hirngespinste

Die besten Geschichten über unser wichtigstes Organ

Impressum

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer

Universität Ulm
Psychiatrische Klinik

Leimgrubenweg 12 – 14

89075 Ulm

manfred.spitzer@uni-ulm.de

Dr. med. Dipl.-Psych.
Wulf Bertram

Arminstraße 25

70178 Stuttgart

w.bertram@klett-cotta.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Schattauer

www.schattauer.de

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © shutterstock/Anita Ponne

Gesetzt von Kösel Media GmbH, Krugzell

Lektorat: Ruth Becker, Tübingen

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani, Stuttgart

ISBN 978-3-608-40042-7

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-40042-7

E-Book: ISBN 978-3-608-11624-3

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20466-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Unseren Lehrern

Thure von Uexküll
Ursula Plog
Klaus Dörner
Michael von Cranach
W. B.

Peter Clarenbach
Brendan Maher
Manfred Neumann
Friedrich Uehlein
M. S.

Vorwort

Der Duden definiert »Hirngespinst« als »Produkt einer fehlgeleiteten oder überhitzten Einbildungskraft; fantastische, abwegige, absurde Idee«. Damit scheint das Wort als Titel für unsere kleine Anthologie zunächst wenig geeignet zu sein, präsentieren hier doch seriöse und vernünftige Wissenschaftler Forschungsergebnisse, Gedanken und Erkenntnisse über unser wichtigstes Organ. Nehmen wir allerdings das zusammengesetzte Substantiv einmal wörtlich, dann sieht die Sache schon besser aus: Das Bestimmungswort, also das was »vorne steht«, braucht keine nähere Erläuterung. Was ein Hirn ist, wissen wir alle oder meinen wenigstens, es zu wissen. Das sogenannte Grundwort, das ist das, was entsprechend »hinten steht«, also »Gespinst«, hat gemäß Duden eine respektablere Konnotation als es in der Zusammensetzung mit »Hirn« nahelegt: »zartes Gewebe« oder »Netzwerk«; in der Fachsprache der Textilindustrie: »endloser Faden«, heißt es da.

Und so möchten wir unseren Titel auch verstanden wissen: Das Buch bildet ein mehr oder weniger zartes Netzwerk ab, aus dem bunten endlosen Faden unserer bisherigen Kenntnisse und Forschungen gewebt, die sich mit dem Gehirn befassen. Endlos deshalb, weil jede neue Erkenntnis über das Gehirn zehn neue Fragen aufwirft. Daraus wiederum folgt, dass unser Nicht-Wissen schneller zunimmt als unser Wissen – und das macht es so spannend.

Unsere Erkenntnisse und Schlussfolgerungen über das Gehirn und seine Funktionen fußen auf wissenschaftlichen Studien, Analysen und statistisch abgesicherten Untersuchungen, die in Büchern und Zeitschriftenbeiträgen veröffentlicht wurden. Man sollte meinen, dass ihnen das eine ultimative Autorität verleiht. Leider eine schöne Illusion. Denn die Wissenschaft ist immer auch der gegenwärtige Stand unseres Nicht-Wissens. Dies trifft auf die Gehirnforschung genauso zu wie auf jede andere Wissenschaft, nur fällt es in der Ägyptologie beispielsweise nicht so auf, weil dort alles etwas langsamer geht.

Wie schnell sich ein Feld entwickelt, kann man an der Bedeutung des Wortes »kürzlich« in Publikationen aus diesem Feld leicht ablesen: Eine »kürzlich« entdeckte Mumie wurde vor 10 Jahren gefunden, in der Genetik hingegen bedeutet »kürzlich« etwa »vor 10 Tagen«. Manchmal ändert sich die Geschwindigkeit des Erkenntnisfortschritts und damit auch die Bedeutung des genannten relativen Zeitbestimmungsadverbs. In der Paläoanthropologie beispielsweise ging es Jahrzehnte lang sehr gemütlich zu: Eine im Neandertal im Jahr 1856 gefundene Schädelkalotte wurde zunächst ungläubig bestaunt, und erst nach dem Tode des damals bekanntesten deutschen Pathologen, Rudolf Virchow (der den Schädel einfach als krankhaft deformiert betrachtete), im Jahr 1902 fiel der Widerstand weg, den Knochenfund als zu einem Urmenschen gehörig zu betrachten. Nachgrabungen in den Jahren 1996 bis 2000 – 150 Jahre nach dem ersten Fund (!) – brachten weitere 400 Knochen und Zähne ans Tageslicht, die teilweise zu genau dem alten Schädel passten. Nicht viel anders erging es einem Unterkiefer aus dem Dorf Mauer bei Heidelberg, der 1907 gefunden wurde, und zu dem Knochen aus anderen Gebieten dieser Welt zwar nicht genau, aber doch so gut passen, dass sowohl der Name H. heidelbergensis als auch die Klassifikation als eigene Art lange umstritten waren.

Fortschritte in einem ganz anderen Bereich der Wissenschaft, der Molekulargenetik, sorgten dann plötzlich dafür, dass die Menschheitsgeschichte in den vergangenen 20 Jahren gefühlt mindestens jährlich völlig neu geschrieben werden musste, mit völlig neuer Verwandtschaft, wiederholtem Sex zwischen den Arten (deren Status und Zusammenhang bis heute debattiert wird), einem Mädchen, das einen Vater aus der einen und eine Mutter aus der anderen Art hatte, und sehr viel Mord und Totschlag – man könnte eine Netflix-Serie daraus machen, wenn nicht der Ausgang bislang so offen wäre.

Nicht anders, nur noch wesentlich turbulenter, ging es in der Neurowissenschaft zu: Schon im letzten Jahrtausend waren viele Wissenschaften mit dem Gehirn befasst. Die Anatomie und die Physiologie, die klinische Medizin und Pharmakologie, die Psychologie und die Philosophie; später kamen die Mathematik, Physik und (Bio-)Chemie, die Neuropsychologie und die (Evolutions-)Biologie hinzu; noch später dann die Molekulargenetik und schließlich Informatik, Computer Science und in lebenswissenschaftlich-methodischer Hinsicht nahezu alles, was man heute weltweit in den Labors mit Zellen, Organoiden, Organen und Organsystem über Tiermodelle bis zu Untersuchungen am Menschen an Methoden einsetzen kann.

Man sagt, dass in den letzten 20 Jahren im Bereich der Gehirnforschung etwa so viel entdeckt wurde wie in den 2000 Jahren davor. Wahrscheinlich ist das eher eine Untertreibung. Betrachten wir einige Beispiele:

Im Tierversuch kann man die Mechanismen von Meditation oder Psychotherapie bei der Maus auf Systemebene des Gehirns untersuchen, und damit bis hin zur praktischen Anwendung beim Menschen wichtige Erkenntnisse gewinnen. Oder man kann – im Mausmodell – Körperkraft gegen Willensanstrengung ausspielen und nachsehen, wie viel mehr Willenskraft die Maus braucht, um ein geringeres Ausmaß an körperlicher Stärke auszugleichen.

Man kann aus den funktionellen Gehirnbildern des Sehsystems eines Menschen rekonstruieren, was er gerade sieht. – Ja, Sie lesen richtig: Man analysiert die Gehirnaktivität und kann dann sagen: »Der Proband sieht den Buchstaben A« oder »der Proband sieht, wie ein Mann mit weißem Hemd von links nach rechts läuft«. Im Grunde ist das so bahnbrechend, dass man sich wundert, warum nicht mehr darüber geschrieben wird.

Beim Hören ist man noch weiter: Seit Jahrzehnten gibt es künstliche Innenohren (Cochlea-Implantate), d. h. Prothesen, die das Übersetzen von Schwingungen in Nervenimpulse leisten und bei ertaubten Menschen das Hören wieder ermöglichen. Sie funktionieren zwar (noch) nicht wie das natürliche Innenohr, erlauben aber in vielen Fällen beispielsweise das Telefonieren, d. h. das Verstehen von Sprache ohne Lippenlesen. Auch das ist eine unglaubliche Entwicklung. Obwohl man seit Jahren an einer künstlichen Netzhaut arbeitet, um Erblindung bei Erkrankungen der Netzhaut durch eine Prothese zu beheben, ist man beim Sehen noch nicht bei der routinemäßigen Anwendung solcher Prothesen. Beim Hören schon.

Beim Riechen ist es wieder anders: Man wusste lange nicht einmal um die simpelsten Zusammenhänge, die man beim Sehen und Hören seit dem vorletzten Jahrhundert kennt. Wie die Physik der Reize (die Wellenlänge und Amplitude von Licht oder Schallwellen) mit dem Sinneseindruck (Farbe und Helligkeit bzw. Tonhöhe und Lautstärke) zusammenhängt, war damals schon Gegenstand der Sinnesphysiologie. Wie aber die Eigenschaften chemischer Verbindungen mit dem Riecheindruck zusammenhängen, war bis vor wenigen Jahren völlig unklar: Manches riecht sehr ähnlich, ist aber chemisch völlig anders, und manches ist chemisch sehr ähnlich, riecht aber völlig anders. Erst der Einsatz von Machine Learning, also die Anwendung von Erkenntnissen aus der Gehirnforschung zu Lernprozessen und Implementierung dieses Wissens in einer lernenden Maschine, die mit etwa einer Million Sinnesdaten (»wie riecht was?«) einerseits und einer chemischen Datenbank mit etwa 2,5 Millionen Angaben zur Beschreibung chemischer Stoffe andererseits »gefüttert« wurde, brachte den Durchbruch: Diese Maschine kann mit ziemlich hoher Verlässlichkeit sagen, wie ein bestimmter Stoff riecht.

Auch zu Denken, Bewerten und Entscheiden gibt es Erkenntnisse, die man vor 20 Jahren noch als ziemlich übertriebene Science Fiction abgetan hätte: So konnte man nachweisen, dass Bilder der Gehirnaktivität bestimmter Gehirnzentren eine bessere Aussage darüber erlauben, wie gut mir etwas gefällt, als ich selbst dazu in der Lage bin. Früher galt der Spruch des bekannten Psychologen George Kelly: »Wenn Sie etwas von einem Menschen wissen wollen, fragen Sie ihn doch.« Das stimmt heute nicht mehr uneingeschränkt.

Auch die Messung der Aktivität von Gehirnzentren, die beim Schmerzerleben eine Rolle spielen, sagt mitunter mehr über das subjektive Erleben aus als das Erleben selber.

Die politische Einstellung eines Menschen lässt sich an Mandelkern und anteriorem Gyrus cinguli ablesen, und wo die Inbrunst beim Beten steckt, kann man dadurch untersuchen, dass man Probanden Psalm 23 beten lässt, mit und ohne Inbrunst, im Scanner, und dann die Unterschiede analysiert.

Man sieht an diesen wenigen Beispielen (von denen es sehr viel mehr gibt), dass die Erkenntnisse der Gehirnforschung heute vor allem von der Fantasie der Gehirnforscher abhängen und weniger (wie früher) von den zur Verfügung stehenden Methoden. Von allen Anwendungen – nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Psychologie oder der Wirtschaftswissenschaft – solcher Erkenntnisse einmal abgesehen, liefern sie auch Puzzleteile für die »alten Fragen«, die Menschen seit Jahrtausenden stellen: nach unserer Herkunft, unserer Zukunft und nach dem Sinn von alldem.

Neu gewebt wurden die Hirn-Gespinste aus Stoffen, mit denen unseren beiden Anthologien »Braintertainment« (2007) und »Hirnforschung für Neu(ro)gierige« (2010) bereits ausstaffiert waren und die für dieses neue Textil gründlich aufgefrischt und aufgearbeitet wurden. Ein Best-of-Buch aus bereits veröffentlichen Geschichten zu unserem wichtigsten Organ wäre aber ohne eine solche Überarbeitung und Aktualisierung wie die Neuinszenierung eines Dramas mit verstaubten Kostümen aus einem historischen Theaterfundus. Dabei erhebt das Buch natürlich nicht den Anspruch, eine Synopse tagesaktueller Forschungsergebnisse aus den Neurowissenschaften zu sein, dann wären die Geschichten bei der Drucklegung bereits veraltet. Vielmehr war es unser Anliegen, aus den beiden Büchern eine Auswahl von möglichst anregenden und unterhaltsamen Essays aus verschiedenen Bereichen der Hirnforschung zusammenzustellen, deren Haltbarkeitsdatum nach der Überarbeitung um einen für dieses Genre akzeptablen weiteren Zeitraum verlängert wird.

Unser Dank gilt in erster Linie den Autorinnen und Autoren, die ihre Stoffe in die Werkstatt zurückgeholt, noch einmal Hand angelegt, aufgebürstet, mit neuen Applikationen versehen, eventuelle Webfehler beseitigt und damit für einen weiteren Zeitraum solide haltbar gemacht haben. Der Lektorin Frau Ruth Becker, die uns beide bei unseren jeweiligen Projekten schon lange mit hoher sprachlicher Kompetenz, großer Geduld bei den (wie wir gerne behaupten: unvermeidlichen) Verzögerungen begleitet, freundlich und bestimmt auf die Einhaltung von Terminen und Zeitplänen achtet und all das bei stets guter Laune bewältigt, danken wir ganz besonders für ihren erneuten tatkräftigen Einsatz. Wenn der Eindruck entsteht, dass eine Lektorin sich gern und nachdrücklich mit einem Publikationsunterfangen identifiziert, motiviert das alle daran Beteiligten sehr, dafür und für ihr bewährtes verlagsinternes Projektmanagement danken wir Frau Dr. Nadja Urbani herzlich. Frau Sabine Sulz hat den technischen Teil trotz erheblicher Divergenzen zwischen offiziellem Zeitplan und dem Eintreffen unserer Lieferungen mit Ausdauer kompetent betreut, herzlichen Dank dafür! Nicht zuletzt gebührt unser Dank dem Marketingleiter des Klett-Cotta- und Schattauer-Programmes Herrn Ralf Tornow, der uns auf die Idee gebracht hat, dieses Best-of-Buch in Angriff zu nehmen.

Nun wünschen wir Ihrem Gehirn eine erfolgreiche Beschäftigung mit sich selber, auf dass Sie als seine Besitzerin oder sein Besitzer dabei spannende Erkenntnisse und anregende Inspirationen erleben.

Ulm und Stuttgart, im März 2020

Manfred Spitzer und Wulf Bertram

1 Über den Inhalt des Kopfes

Sinn und Zweck des Gehirns

Valentin Braitenberg

Ganzheitliche Aspekte des Gehirns

Ich gebe zu, dass Kalbshirn, paniert und in Butter gebraten, gut schmeckt. Stierhoden auch. Aber ich will kein Hirn essen. Einmal musste ich, wohl oder übel, um die Hausfrau nicht zu beleidigen, eine Scheibe Hirn auf meinem Teller anschneiden, mit der Gabel aufspießen und meinem Munde nähern. Zu meinem Entsetzen, auf der Schnittfläche – nicht zu übersehen – die S-förmige Zeichnung des Hippocampus(1). Das ist ein spezialisiertes Stück der Großhirnrinde, das die Alten schon so benannt haben, weil es sie an die Seitenansicht eines Seepferdchens (»Hippocampus«) erinnerte. Da es mein Hobby ist, Geformtes zu deuten, hatte ich schon vorher über dieses Seepferdchen im Hirn gegrübelt und hatte mir meine eigene Theorie gemacht, warum es so merkwürdig gestaltet ist. Die Theorie stimmt wahrscheinlich, oder anders ausgedrückt, ich glaube immer noch daran. Die beiden Enden des Seepferdchens sind durch Fasern miteinander verbunden, und entlang dem S verlaufen auch Fasern, größtenteils in einer Richtung, sodass das Ganze in sich geschlossen ist, wunderbar geeignet, um dort Signale längere Zeit im Kreis laufen zu lassen. Möglicherweise als Gedächtnisspeicher.

Das Seepferdchen im Hirn mit den derart verlaufenden Fasern war für mich zu einem Stück geistiger Nahrung auf dem Wege zum Verständnis der Gehirnfunktion geworden. Kann man, soll man, darf man geistige Nahrung essen? Schulbücher, Musikalben, Liebesbriefe?

Eins ist sicher: Wenn man geistige Nahrung(1) isst und verdaut, ist das Geistige daran verloren. Ähnlich wie der geistige Inhalt der Schulbücher in Rauch aufgeht und sich verflüchtigt, wenn man sie zum Heizen des Ofens im Schulzimmer verwendet.

Auch hat es mit dem geistigen Inhalt nichts zu tun, wenn man das Schulbuch ganzheitlich dem anderen Lausbub an den Kopf wirft. »Ganzheitlich« heißt in vielen Zusammenhängen dasselbe wie »geistlos«. Bei einem Ding, das Geist enthält, kommt es nicht darauf an, wieviel es wiegt, wie es riecht, wie dick es ist. Eher schon, wie es gestaltet ist, wie die Bestandteile angeordnet sind, aus denen es besteht.

Gehirngewicht(1) und -größe(1)

Spatzenhirn, Elefantenhirn, Frauenhirn, Walfischhirn. Ich halte es für möglich, dass ein Spatz mehr kann als ein Wal. Ein Äffchen sehr wahrscheinlich. Ein Mensch sowieso. Aber das größte Gehirn hat doch der Wal. Wird die Rolle des Gehirns überschätzt, jedenfalls was sein Gewicht und seine Größe anbelangt?

Ein bisschen, ganz grob, scheint es zu stimmen, dass ein größeres Gehirn mehr leistet als ein kleineres. Aber nur im Vergleich verschiedener, unterschiedlich großer verwandter Tierarten. Zum Beispiel innerhalb der Familie der katzenartigen Raubtiere. Es gibt zoologische Intelligenztests, bei denen die Hauskatze schlechter abschneidet als der Puma, dieser schlechter als der Leopard und der Löwe am besten, immer schön der Größe nach.

Lokalisationslehre

Kann man das Bewusstsein im Hirn suchen? Das Besoffensein? Das Beleibtsein? Das Ausländersein? Das Eingeschlafensein? Das Dummsein? Jeder sollte sich das überlegen, das bringt uns weiter.

Wo ist das Pünktlichsein in der Uhr zu finden? Auf den Zeigern oder im Uhrwerk? Und wo die Verlässlichkeit im Mercedes?

Wo sitzt das Bewusstsein im Hirn? Einige meiner Kollegen sind nahe dran, dies zu entdecken, jedenfalls schreiben sie darüber in der Zeitung. Und die anderen, die Genetiker, sind schon einen Schritt weiter, sie halten bereits das Gen des Bewusstseins in Händen, es geht nur noch um die Frage, ob die Affen dieses Gen auch besitzen, oder gar die Kaninchen.

Auch von der Geilheit ist die Rede, denn diese lässt sich besonders gut im Hirn lokalisieren. Wo sitzt die Geilheit im Gehirn? Irgendwo in der Mitte unten. Hätte man wohl auch erwartet.

Man schämt sich ein bisschen, wenn die Kollegen so reden. Haben die nicht gelernt, welches Unheil der Glaube an Geister seit Urzeiten über die Menschheit gebracht hat? Und jetzt fotografieren sie den Geist der Frömmigkeit, den Geist der Liebe und den des Pflichtbewusstseins im Gehirn mithilfe von Magnetresonanztomografen oder Positronenemissionstomografen (was das für Apparate sind, ist mittlerweile ebenfalls jedem Zeitungsleser bekannt). Dann tragen sie die Orte dieser verschiedenen Geister in verschiedenen Farben auf Fotos des Gehirns ein, von der Seite, von oben, von vorne und von hinten aufgenommen.

Ich kann nichts dafür. Ein einzelner kann den Unrat nicht wegräumen, der sich eine halbe Million Jahre lang, seit Menschen miteinander quatschen, im Volksglauben angesammelt hat (ein anderer Name dafür ist Dualismus, Animismus oder Seelenglaube).

Feinstruktur des Gehirns, 1000-fach vergrößert

Ein Blick ins Mikroskop genügt, um sich zu fragen: Wozu wäre ein Gehirn so prachtvoll komplex aufgebaut, und von Ort zu Ort so verschieden strukturiert, wenn es nur darum ginge, verschiedene Stücke der Psyche an verschiedenen Orten dort zu befestigen?

Weil nicht jeder über ein Mikroskop verfügt, will ich jetzt ein Menschenhirn tausendfach vergrößern (das ist die Vergrößerung, bei der sich ein Mikroskopiker am wohlsten fühlt) und dem Publikum zur Besichtigung freigeben.

Wir betreten freudetrunken das Heiligtum. Das ganze Gebilde füllt eine riesige Kuppel ungefähr von der Größe einer Kathedrale, 150 Meter lang, 70 Meter hoch und 90 Meter breit. Wir fühlen uns beengt angesichts der gewaltigen Masse von undurchsichtigem, feucht schwabbeligem Material und suchen nach Möglichkeiten, es in seinem Inneren zu erkunden. Dabei entdecken wir an einem Ende eine flache Höhle und treten in sie ein. Merkwürdige barocke Voluten bilden ihre Decke, ihr Boden ist relativ eben. Weiter geht es, an einem Ende der Höhle, dem Eingang gegenüber, in einen Kanal mit nicht viel mehr als ein Meter im Durchmesser. Die Neugier treibt uns weiter, etwa 30 Meter in gebückter Haltung, es lohnt sich, denn am Ende öffnet sich der Kanal in eine weitere Höhle, auch diese abgeflacht, aber im Unterschied zu der anderen, die breit und niedrig war, sehr schmal und unheimlich hoch zwischen vorgewölbten Wänden rechts und links. Wir entdecken zwei runde Öffnungen, eine rechts, eine links, und siehe da, durch sie gelangen wir in zwei noch viel größere Höhlen, die sich unübersehbar weit nach vorne und nach hinten erstrecken. Man fragt sich, wozu diese Leerräume gut sind, denn wo nichts ist, kann nichts passieren. Oder doch?

Von der Decke der hohen Höhle in der Mitte baumeln große, lappige Gebilde, wie Blumenkohl gekräuselt, von denen unentwegt eine farblose, geruchlose Flüssigkeit heruntertropft, die sie offenbar ausschwitzen. Ähnliche Gebilde, ebenfalls Wasser ausschwitzend, entdecken wir am Boden der beiden seitlichen, noch größeren Hohlräume. Es wird uns ungemütlich da drinnen, in den Höhlen, von denen wir (mit Recht) vermuten, dass sie eigentlich ganz von Flüssigkeit erfüllt sein sollten, und wir entfernen uns wieder.

Wir möchten wissen, wie das riesige, schwabbelige Ding, von dem wir bisher nur die Hohlräume gesehen haben, in seinem Innersten zusammengesetzt ist. Es kann ja nicht sein, dass es seine einzige Bestimmung ist, Hohlräume mit Wasser zu füllen.

Vorsicht: Hochspannung!

Wir betrachten die große feucht-schwabblige Masse von ihrer Oberfläche her, dort wo sie sich an das umgebende knöcherne Gewölbe anschmiegt, nicht ganz eng zwar, immerhin einen Zwischenraum frei lassend, durch den wir uns bewegen können.

Einer von uns möchte wissen, wie sich das Ding anfühlt. Er bohrt mit dem Finger ein Loch in die ledrige Hülle, die es ganz umgibt. Darunter kommt er in eine zweite, locker geflochtene Hülle und dann zu einer zarten Haut, die er mit Leichtigkeit zerreißt.

Dann kommt die Überraschung. Der Finger dringt ganz leicht ein in ein Geflecht von unzähligen zarten häutigen Röhrchen, die in allen Richtungen durcheinander verlaufen, ungefähr einen Millimeter, manche auch ein paar Millimeter dick, oder auch bloß einen halben. Das ganze Gebilde, der ganze Inhalt der Kathedrale scheint nichts anderes zu sein als ein riesiger Filz von solchen Röhrchen. Allerdings ertastet man zwischen all den zarten Röhrchen auch eine Menge von Knöllchen, so groß wie Haselnüsse oder Walnüsse, an denen jeweils viele Röhrchen festgemacht sind. (Wer sich im Gehirn auskennt, hat trotz tausendfacher Vergrößerung alles schon erkannt: die Gehirnhäute oder Meningen, die Röhrchen als Axone und Dendriten, die Knöllchen als die Nervenzellkörper.)

Und dann kommt die zweite Überraschung. Der Freund, der seinen Finger da hineingesteckt hat, fährt plötzlich mit einem Schrei zurück: ein elektrischer Schlag(1), und kein geringer! Und dann gleich noch ein paar weitere Schläge in rascher Folge. Schätzungsweise 100 Volt, oder gar mehr.

Diese elektrischen Schläge gibt es tatsächlich im Gehirn, aber keine Angst, in Wirklichkeit geht es dabei um kaum mehr als ein Zehntel Volt. In Volt misst man die elektrische Spannung, und diese entsteht, wo elektrische Ladungen, positive und negative, voneinander getrennt sind. Je weiter getrennt, desto höher die Spannung. Allerdings, wenn man das Gehirn tausendfach vergrößert, wie wir das getan haben, die Ladungen also tausendmal weiter als im Original voneinander entfernt, dann steigt die Spannung auch aufs Tausendfache, und dann sind das eben tausend mal ein Zehntel Volt = hundert Volt, und da kriegt man schon ganz ordentlich einen gewischt.

Offenbar lebt das Gehirn. Seine Tätigkeit äußert sich irgendwie in diesen Spannungsstößen. Nehmen wir an, unsere Neugier ist größer als die Angst vor dem Elektrisiertwerden und einer von uns geht gar mit zwei Fingern an das Ding heran. Interessant: Nur selten kriegen die beiden Finger gleichzeitig einen Schlag. Der erste Eindruck ist eher, dass die Schläge ganz regellos kommen, bald da, bald dort, manchmal in ganz langsamer Folge, manchmal schnell wie das Geknatter eines Maschinengewehrs.

Nur manchmal – selten, bei bestimmten Positionen der beiden Finger – scheint ein Schlag an einer Stelle immer nach ganz kurzer Zeit einen Schlag an der anderen zur Folge zu haben, auch wenn die Finger weit auseinanderliegende Gebiete betasten, und sogar wenn zwei von uns an entgegengesetzten Stellen der Kathedrale die Finger ins Gehirn stecken. Es gibt offenbar eine große Zahl kurzer und langer Verbindungen zwischen verschiedenen Stellen innerhalb des Gehirns.

Das Experiment

Aber, was bedeuten diese elektrischen Spannungsstöße? Wir vermuten, dass sie irgendwie mit Vorgängen außerhalb des Gehirns zusammenhängen. Um das zu untersuchen, verlassen wir die Kathedrale und begeben uns in die Nähe der Sinnesorgane, die über meterdicke Stränge mit dem Gehirn in Verbindung stehen. (Nicht zu vergessen: Wir haben das Gehirn tausendfach vergrößert und das ganze Zubehör ebenfalls. Die Augen werden dabei zu monumentalen Kugeln, 25 Meter im Durchmesser, der Sehnerv, von dem wir wissen, dass er eine Million Nervenfasern enthält, zu einem 4 Meter dicken Strick.)

Unser Team teilt sich in den Aufgaben, die das nun folgende Experiment mit sich bringt. Einer bleibt draußen und fuchtelt mit seinem Spazierstock vor der riesigen Pupille eines der beiden Augen. Die anderen klettern in der Kathedrale herum, verteilen sich über die Oberfläche des Gehirns und betasten sie mit ihren Fingern. Das Übliche, nichts Besonderes: Da und dort meldet einer Spannungsstöße, manchmal spärlich, manchmal in kurzen Salven. Nur einer, der ganz hinten im Gehirn am Rand einer tiefen Furche herumtastet, schreit plötzlich auf, und dann noch einmal und immer wieder. Wo er seinen Finger hineingesteckt hat, verspürt er ein ganzes Donnerwetter von Spannungsstößen, und weil er jedes Mal schreit, wenn es schlimm wird, bemerkt der Mann, der vor dem Auge fuchtelt, dass das immer dann passiert, wenn er an einer ganz bestimmten Stelle steht und seinen Stock aufrecht hält und hin und her bewegt. Wenn er den Stock waagrecht hält und auf und ab bewegt, geschieht offenbar nichts Besonderes. Aber siehe da, wenn der Mann hinten am Hirn seine Hand um einen halben Meter bewegt und wieder hineinlangt, ist es jetzt ausgerechnet der waagrechte Stock, der das Donnerwetter auslöst, und an einer Stelle daneben gar der Stock, wenn er um 45 Grad geneigt ist.

Nicht genug: Wenn der Mann, der mit dem Stock vor dem Auge steht, ein paar Schritt zur Seite tritt und wieder fuchtelt, ist es ein anderer von den Herren, die auf dem Gehirn herumkriechen, der an einem anderen Ort das Donnerwetter abkriegt.

Wir versammeln uns im Schatten des Gehirns, um die Ergebnisse zu besprechen. Eins scheint sicher: Die Welt ist irgendwie im Gehirn dargestellt – verschiedene Orte der Welt, sofern sie von den Augen gesehen werden, an verschiedenen Orten des Gehirns, und verschiedene Ereignisse, wie das Fuchteln so oder anders, ebenfalls räumlich getrennt. Wir fragen uns, ob das reicht, das hohe Ansehen zu rechtfertigen, das das Gehirn bei vielen Leuten genießt.

Was das Gehirn kann

Wir verlassen unser Riesenhirn und denken lieber an die anderthalb Kilo Gehirnsubstanz, die jeder von uns, in natürlicher Größe, in seinem Schädel mit sich herumträgt. Die Frage ist immer noch: Wozu diese vielen elektrischen Zuckungen, die wir da beobachtet haben? Viel interessanter noch als die elektrischen Entladungen, die man beobachtet, wenn sich vor dem Auge etwas bewegt, sind die, die ohne ersichtlichen äußeren Grund die ganze Zeit überall im Gehirn anscheinend in wirrem Durcheinander stattfinden. Nur wenn man schläft, herrscht dort einigermaßen Ruhe, und wenn beim besten Willen im Gehirn überhaupt keine elektrische Aktivität mehr festzustellen ist, schreibt der Amtsarzt »Hirntod«, d. h. Ende des Lebens. Ist denn dieser elektrische Nieselregen im Inneren des Gehirns gleichzusetzen mit dem Leben, oder doch mit dem Bewusstsein oder etwa mit dem Denken?

Möglich. Man kann sich das so vorstellen. Alles was um uns herum passiert und von uns wahrgenommen wird, erzeugt über die Sinnesorgane und ihre Sinnesnerven elektrische Aktivität im Gehirn. Jedes Ereignis auf seine Weise, keine zwei verschiedenen Ereignisse erzeugen im Gehirn genau die gleiche Aktivität, jedes Menschengesicht, jede Bewegung, jeder gesprochene Satz anders. Warum nicht, es stehen dafür genug Nervenzellen (Neuronen) zur Verfügung, in jedem einzelnen Gehirn mehr als es Menschen auf der ganzen Erde gibt.

Jetzt kommt das Entscheidende. Was sich in einem Gehirn oft genug zugetragen hat, wird zur gehirninternen Gewohnheit, läuft immer leichter auf die immer selbe Weise ab. Was man oft genug gehört hat, kann man auswendig. Eine oft wiederholte komplizierte Bewegung läuft irgendwann sozusagen automatisch ab. So leicht stellen sich diese gelernten Gehirnzustände ein, dass sie sich jetzt oft von selbst ergeben, ohne dass irgendwas gehört wird oder irgendeine Bewegung ausgeführt wird. Und siehe da, das nennt man Denken, und das ist es wahrscheinlich, was das ständige Knistern der elektrischen Spannungsstöße im Gehirn bedeutet, solange der Mensch (oder das Tier) nicht schläft (oder gestorben ist).

Es lohnt sich im Leben, auf dieses innere Kasperltheater zu achten, anstatt das eigene Verhalten immer auf direktem Wege von den Sinneseindrücken bestimmen zu lassen. Auf diese Weise erfährt man nämlich durch einen Blick nach innen, ehe es zu spät ist, was auf uns zukommt, was das Tier uns gegenüber im Sinn hat, wo der Stein ankommen wird, der eben vom Himmel fällt, oder was der Herr Kollege demnächst in der Diskussion sagen wird. Natürlich funktioniert das nur, wenn man oft genug beobachtet hat, nach welchen Gesetzen Steine fliegen, Tiere sich verhalten, Kollegen diskutieren. Und nur, wenn die Gesetzmäßigkeiten, die sich aus den Beobachtungen ergeben, als Denkgewohnheiten in die Gehirnfunktion eingeschliffen wurden, sodass sich die Welt in dem inneren Kasperltheater so darstellt, wie sie ist.

Die Darstellung der Regeln, nach denen die Welt funktioniert, im Gehirn ist das, was man gewöhnlich »Wissen(1)« nennt. Allerdings: Die Welt ist viel größer als jedes Gehirn und voll von unberechenbaren Überraschungen. Das im Gehirn enthaltene Wissen ist notwendig unvollständig und man darf sich deshalb nicht wundern, wenn das gehirninterne Mitdenken und Vorausdenken oft in die Irre geht. Das Herstellen von Zusammenhängen aufgrund von ungenügendem Wissen nennt man in seiner harmlosen Form Fantasie, Wahn und Halluzination in der pathologischen Variante.

Man kann das vielleicht so sagen: Wichtigste Aufgabe des Gehirns ist es, Halluzinationen zu erzeugen, aber nur solche, die dem wirklichen Zustand der Welt möglichst ähnlich sind.

2 Wo bitte geht es hier zum Hippocampus?

Ein kurzer Wegweiser durch die Hirnlandschaft

Wulf Bertram

Wenn Sie dieses Buch mit dem Anspruch lesen, etwas mehr über Ihr Gehirn zu verstehen und zu behalten, verändert sich selbiges dabei, ob Sie wollen oder nicht. Alles was man lernt, verändert Strukturen im Gehirn, es entstehen neue Synapsen, die Verbindungen zwischen bereits bestehenden festigen sich – oder schwächen sich ab, wenn wir etwas vergessen oder verdrängen. Wenn Sie dieses Buch nicht lesen oder zur Seite legen, etwas anderes lesen oder beobachten, verändert sich die Struktur Ihres Gehirns auch. Nur anders. Unser Gehirn hat (neben der Steuerung lebenswichtiger Funktionen) keine andere Aufgabe als zu lernen(1), um die bestmögliche Reaktion auf gegenwärtige Bedingungen und zukünftige Erwartungen zu gewährleisten. Dabei verändert es seine Mikrostruktur.

Wollte man also einen plakativen »Hauptsatz der Neurodynamik« formulieren, so müsste er lauten: Das Gehirn lernt pausenlos, es kann gar nicht anders. Würden wir allerdings behaupten, dass wir selbst in der Hand haben, was es lernt, wäre dies eindeutig falsch. Jede Sekunde schicken unsere Sinne Millionen von Reizen an das Gehirn. Müssten wir diese Informationen alle bewusst auswerten, würden wir im wahrsten Sinne »durchdrehen«. Man geht davon aus, dass das Gehirn nach etwa 40 Sinneseindrücken, die es erreichen, auf »Autopilot« umschaltet und die Informationen erst einmal im Unterbewusstsein hortet.

Andererseits müssen wir diesem automatischen Selektionsprozess nicht tatenlos zusehen. Wir können entscheiden, welche Quellen wir lesen, woher wir unsere Informationen beziehen, auf welche Personen, Parteien oder Influencer wir uns verlassen. Es liegt an uns, ob wir uns dann mit den Meinungen oder vermeintlichen Erkenntnissen auseinandersetzen, darüber nachdenken, mit anderen diskutieren und versuchen, selbst eine Antwort zu finden. Oder vielleicht nur mal schnell in Google klicken – und gut ist’s. Dann halten wir unser Lernen in Grenzen und setzen auf das, was wir immer schon zu wissen meinten. Irgendwelche Mikrostrukturen werden sich dadurch kaum nachhaltig verändern. Im »postfaktischen Zeitalter«, in dem Fake News Hochkonjunktur haben, haben wir es allerdings zunehmend schwieriger. Um auf Lügen und Falschmeldungen nicht hereinzufallen, sich seine eigene Meinung zu bilden und Nachrichten zu hinterfragen, braucht es einen soliden Fundus an Wissen und den lernt man weniger im Internet als hoffentlich schon sehr früh in Schule und Familie.

Die Veränderungen der Mikrostrukturen beim Lernen zu untersuchen ist kompliziert und in »Realtime« praktisch unmöglich. Wir beschränken uns bei diesem Rundgang daher auf die makroskopischen Hirnstrukturen, die von den Nervenzellen in maximaler Vernetzung gebildet werden und in denen diese ihre Arbeit verrichten, um die unglaubliche Vielfalt der Hirnfunktionen und -leistungen zu ermöglichen. Dazu braucht es dann natürlich eine ungeheure Menge von Hirnzellen(1). Lange Zeit war es eine wissenschaftliche Übereinkunft, dass es sich um unvorstellbare 100 Milliarden Zellen handele, die im Gehirn am Werk seien. An dieser magischen Zahl hat allerdings vor wenigen Jahren die brasilianische Neurowissenschaftlerin Suzana Herculano-Houzel(1) deutlich gekratzt, sie kommt anhand einer neuen Zählmethode auf »nur« 86 Milliarden (Herculano-Houzel 2012). Die sind offensichtlich völlig ausreichend für alles das, was bisher mit dem Gehirn angestellt wurde und was es uns an Möglichkeiten bietet. Aber es ist eine interessante Überlegung, was wäre, wenn wir tatsächlich die 100 Milliarden Nervenzellen besäßen, von denen uns Frau Herculano-Houzel jetzt 14 % abspricht. Gäbe es dann mehr Empathie, wäre mehr Vernunft im Umlauf, gäbe es weniger Kriege? Wäre unter solchen Bedingungen vielleicht gar kein Klimawandel zu befürchten und die »Fridays for Future«-Demonstrationen überflüssig? Oder wären wegen der größeren Varianz noch mehr Zwist, Wettbewerb, Ausbeutung zu erwarten? Wir wissen es nicht, müssen aus unseren 86 Milliarden Hirnzellen das Bestmögliche machen, damit auskommen und sie intra- und interindividuell so gut wie möglich nutzen.

Grob makroskopisch lässt sich das Gehirn in vier Strukturen einteilen: in Großhirn(1), Kleinhirn(1), Hirnstamm(1) und Rückenmark(1) (Abb. 2-1