Die Autoren

Markus Gürne, geboren1970, ist Leiter der ARD-Börsenredaktion und Moderator der Sendungen "boerse vor acht", "Plusminus" sowie "Forum Wirtschaft" auf phoenix. Er war während des Golfkrieges ARD-Sonderkorrespondent im Irak und später Auslandskorrespondent für Südasien.
Bettina Seidl, geboren 1969, ist Redakteurin und Moderatorin in der ARD-Börsenredaktion. Seit 25 Jahren Finanz- und Börsenjournalistin mit Stationen bei n-tv, FTD und als Redaktionsleiterin beim Startup und Börseninformationsdienst gatrixx/Finanztreff. Bei allen großen Krisen in Redaktion live dabei: DotCom-Krise, 9/11, Lehman-Pleite. Sie arbeitete zunächst als Bankkauffrau, bevor sie ins Lager der Journalisten wechselte. Abschluss als Diplom-Journalistin an der Universität Dortmund.

Das Buch

Der Coronavirus war bloß der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Unsere Wirtschaft war schon vorher krank und brauchte Infusionen von Staat und Notenbank. Jetzt liegt Deutschlands Wirtschaft auf der Intensivstation. Werden wir das überleben und was ist jetzt zu tun? Markus Gürne und Bettina Seidl zeichnen ein großes, weltumspannendes Krankheitsbild der Wirtschaft und ihres Virenbefalls. Vernetzte Lieferketten und Exportstärke werden zur Schwäche, wenn global Grenzen und Fabriken dichtgemacht werden. Deutschland profitiert davon, wenn es jetzt in der Krise anderen hilft und sich solidarisch zeigt. Europa muss gestärkt aus der Krise hervorgehen – und Deutschland seine Hausaufgaben machen in punkto Digitalisierung, Umwelttechnologien, demografischem Wandel und Bildungsoffensive. Corona ist eine Chance, sich jetzt gut aufzustellen für eine nachhaltige, faire Zukunft für alle ohne Turbo-Kapitalismus und nationale Alleingänge. Gürne und Seidl erklären die Herausforderungen der aktuellen Krise und skizzieren Lösungsmöglichkeiten für Politik, Wirtschaft und jeden einzelnen Bürger – von Aktien über Eurobonds, Konjunkturprogrammen und Kurzarbeitergeld bis zu Zinsen.

Markus Gürne und Bettina Seidl

Der Wirtschafts-Virus

Wie Corona die Welt verändert und was das für Sie bedeutet

Ullstein

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Redaktionsschluss: 20. Mai 2020

Econ ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH

ISBN 978-3-8437-2432-6

© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Umschlaggestaltung: FHCM® Designagentur, Berlin
Umschlagmotiv: © Rüdiger Jürgensen
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Vorwort

In unserer Heißwasser-Stunde, wie wir den Moment des wohlverdienten Kaffees nach unserer Redaktionskonferenz nennen, wenn das Thema der abendlichen Sendung »boerse vor acht« finalisiert und die Grafiken in Auftrag gegeben sind, diskutierten wir lebhaft über ein Virus.

Das war am Mittwoch, den 12. Februar 2020. An diesem Tag lag das Zentrum der mit dem Coronavirus Infizierten zwar immer noch in China, aber es gab bereits außerhalb der Volksrepublik erste Fälle von Menschen, die nachweislich an Covid-19 erkrankt waren. In Europa und auch in Deutschland. Die Behörden gaben an diesem Tag die Zahl der in Deutschland positiv Getesteten mit 16 an. Das Robert-Koch-Institut ging einem Vermerk auf der Internetseite des Bundesgesundheitsministeriums zufolge davon aus, dass all diese Infizierten isoliert und in Behandlung seien. Die Gefahr für die Bevölkerung wurde noch als gering eingestuft.

Der Fernsehsender Phoenix, der gemeinsame Ereignis-Kanal von ARD und ZDF, übertrug eine Stellungnahme des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn (CDU): »Es ist aktuell noch nicht absehbar, ob sich aus einer regional begrenzten Epidemie in China eine weltweite Pandemie entwickelt oder nicht. Die Situation, wie wir sie heute in Deutschland haben, zeigt aber, dass wir gut vorbereitet sind und dass wir aufmerksam mit dem Thema umgehen. Wir haben die Dinge unter Kontrolle, befinden uns aber gleichzeitig in einer dynamischen Lage.« Dynamische Lage, aber unter Kontrolle. Das klingt nach Sicherheit.

Unsere Fernsehwand in der Redaktion zeigt neben Phoenix und mehreren anderen TV-Sendern auf einem Bildschirm immer nur ein einziges, ebenso dynamisches Bild. Eingefangen von einer unserer Kameras, die auf eine ganz bestimmte Anzeigetafel gerichtet ist. Darauf die wohl bekannteste Kurve Deutschlands, die jeden Tag anders aussieht und allabendlich über unsere kleine Sendung auf vielen Fernsehbildschirmen zu sehen ist: der Verlauf des Deutschen Aktienindex mit dem kurzen Namen DAX. Der elektronische Handel schloss an diesem Tag bei bis dahin unübertroffenen 13 750 Punkten.

Wir diskutierten, wie es sein könne, dass sich ein Virus weltweit ausbreitet und zugleich die Börsenkurse von einem Rekordwert zum nächsten eilen. Unser Schluss war, dass die Erfahrung der Finanzmärkte mit vergangenen Viren wie SARS, Ebola und MERS, die seit 2002 aufgetaucht und vergleichsweise entspannt verlaufen waren, alle wieder darauf setzen ließ, dass dieser Coronavirus mit dem neuen Namen SARS-CoV-2 sich in dieser Kette einreihen würde. Und offenbar sah ja auch die Politik am 12. Februar 2020 noch keinen Anlass, sich selbst und auch der Bevölkerung Sorgen zu machen. Ein paar Tage später, am 17. Februar, erreichte das Leitbarometer der deutschen Börse 13 795 Punkte – der nächste Höchststand. Wie sich erst später herausstellen sollte, war die Rekordserie an den Börsen damit beendet. In den Nachrichten wurde berichtet, dass einige von der Bundeswehr aus China zurückgeholte Deutsche ihre vierzehn Tage währende Quarantäne in einer Kaserne der Bundeswehr im rheinland-pfälzischen Germersheim beenden konnten. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn kommentierte das diesmal so: »Eine Quarantäne ist für alle Beteiligten keine einfache Situation. Aber sie war notwendig, um die Rückkehrer selbst, ihr Umfeld und die gesamte Bevölkerung zu schützen. So konnten gleich zu Beginn zwei Infizierte entdeckt und separat klinisch behandelt werden. Das zeigt einmal mehr: Diese Epidemie bekommen wir nur in den Griff, wenn wir vorsichtig, aber angemessen reagieren.« Das klang schon etwas ernster, aber noch nicht besorgniserregend.

Am darauffolgenden Wochenende wurde klar, dass mit der Ausbreitung des Virus in Norditalien eine neue Lage entstanden ist, deren Ernst und Folgen noch nicht abzusehen waren. Eines aber war offensichtlich: Dieser Virus wird sich in sehr kurzer Zeit nicht nur in Italien, sondern überall in Europa ausbreiten.

Am Montag, den 24. Februar, war es mit der guten Börsenstimmung vorbei. An diesem Tag diskutierten wir, Bettina Seidl als Chefin vom Dienst und Markus Gürne als Moderator der Sendung, in unserer Heißwasser-Stunde, welche Folgen auf uns alle zukommen würden. Dass es in einem hoch entwickelten und führenden Industrieland der Welt zu Engpässen und großen Sorgen wegen fehlender Atemschutzmasken kommen könnte, die Cent-Beträge ausmachen, dass in einem Land wie Deutschland ausgerechnet Toilettenpapier gehortet werden könnte, das hatte niemand von uns geahnt. Ich hatte eine leise Vorstellung von den Hygiene-Maßnahmen, die kommen könnten. Maßnahmen, wie ich sie in meiner Auslands-Korrespondentenzeit im Nahen Osten kennengelernt hatte, bevor es für einige Jahre nach Südasien mit festem Wohnsitz in Neu-Delhi ging: wenig anfassen, oft Hände waschen, Abstand halten, Toilette desinfizieren. Und nicht in Panik geraten.

Was uns Sorgen machte, waren die Auswirkungen auf einen ganz wichtigen Teil unserer Gesellschaft, an den viele nicht immer denken, der uns aber das Leben in Wohlstand ermöglicht, das die allermeisten führen können: unsere Wirtschaft. Wir diskutierten über unterbrochene Lieferketten und Lieferengpässe, über die Möglichkeit einer Rezession und welchen Effekt das auf die Arbeitsplätze hat. Bei allen zu erwartenden Negativwirkungen schlussfolgerten wir dennoch, dass wir mit unserem Wirtschaftssystem, der sozialen Marktwirtschaft, trotz aller Unkenrufe und Kritik doch besser dastehen als viele andere Industriestaaten. Es erinnerte uns an ein Zitat, das dem früheren britischen Premierminister Winston Churchill zugesprochen wird: »Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.« In diesem Sinne mag unsere soziale Marktwirtschaft mehr schlecht als recht funktionieren. Aber sie hat sich als vorteilhafter herausgestellt als das marktliberale System der USA oder der Sozialismus.

Politik, Wirtschaft und Finanzen – die Zusammenhänge zwischen diesen drei Bereichen und dazu noch die Auswirkungen auf die Gesellschaft und auch auf die einzelnen Bürger*innen zu erklären, das setzen wir uns bei unserer Sendung abends um kurz vor acht jedes Mal zum Ziel. »Wir erklären Zusammenhänge« ist unser Motto seit 2012. Ab sofort erweiterten wir es um einen Virus namens SARS-CoV-2 und seine Auswirkungen, deren Ausmaß uns an diesem Tag noch nicht klar war.

Danach überschlugen sich die Ereignisse. Pausenlos gab es eine neue Lage. Nicht nur nachrichtlich, sondern auch gesellschaftlich, wirtschaftlich, politisch. Der Virus und die Schutzmaßnahmen stellten Gesellschaften auf den Kopf, bremsten Wirtschaften, die unter Volldampf liefen, aus, teilweise bis zum Erliegen. Das Leben stand im wahrsten Sinne des Wortes still, und wir alle erlebten unwirkliche Situationen, die sich später in den Geschichtsbüchern wiederfinden werden. Wenn wir gerade wieder Weltgeschichte live erleben, dann in einem dunklen Kapitel und in der Hoffnung, dass diese Krise, ausgelöst durch einen kleinen Virus, am Ende zumindest glimpflich ausgehen wird.

Was kommt da auf uns zu, können wir das bewältigen, was bedeutet das für Deutschland, für Europa, am Ende für die ganze Welt? Was bedeutet es für uns als Gesellschaft, für uns alle, die einzelnen Bürger? Die Antworten sind nicht nur komplex, sie müssen in Zusammenhänge gebracht, sie müssen erklärt werden, damit ein klares Bild entsteht. Am besten in einer Sprache, die möglichst viele verstehen. Um zu verstehen, was ist, müssen wir begreifen, was war, damit wir eine Chance haben zu wissen, was werden kann. Begreifen – das kommt im wahrsten Sinne des Wortes von greifen, anfassen. Der Virus aber ist unsichtbar, die Gefahr ist daher nicht wirklich begreiflich, die weiteren Auswirkungen sind nicht fassbar. Das hat die meisten von uns kalt erwischt, Politiker, Experten, uns alle – selbst viele Virologen haben den Virus zunächst unterschätzt.

Wir versuchen, durch unsere journalistische Arbeit Wirtschaft verständlich zu machen mit anschaulichen Beispielen. Das ist unser Anliegen jeden Tag: unsere immer komplexere Welt ein Stück weit zu vereinfachen und damit begreifbarer zu machen. Die Komplexität der Coronakrise braucht mehr Platz, als eine kurze Sendung bieten kann. Mehr Platz bietet uns dieses Buch.

Daher waren wir hocherfreut, als der Econ Verlag mit der Frage an uns herantrat, ob wir ein erklärendes Buch über den Coronavirus und die Auswirkungen für die Wirtschaft schreiben könnten. Seither schreiben wir gegen die Zeit.

Inmitten eines breiten Nachrichtenstroms, der gerade Geschriebenes ein paar Tage später schon wieder veraltet erschienen ließ. Allein die Zahl der weltweit Infizierten: 300 000, 600 000, anfangs verdoppelte sich die Zahl alle drei Tage. Dann in etwas langsamerem Tempo, aber in beängstigenden Dimensionen: eine, zwei, drei, vier Millionen. So ging es weiter: mit der Zuspitzung der Lage in vielen Ländern, mit dem verzweifelten Kampf der Ärzt*innen, der Regierungen, mit Rettungspaketen, mit den Nöten von Unternehmen und Selbstständigen, mit der steigenden Zahl von Hilfesuchenden und Arbeitslosen. Gleichwohl aber hoffen wir, indem wir beschreiben und erklären, was der Virus mit unserer Gesellschaft macht, wie er Wohlstand und Wirtschaft bedroht, mehr als einen Zwischenstand zu liefern. Wir wollen zeigen, wie diese Pandemie mit all ihren Auswirkungen die Welt verändern wird, nicht nur kurzfristig, sondern nachhaltig. Diese Pandemie zeigt uns schonungslos auf, welche Teile unserer Gesellschaft und Wirtschaft schon lange krank sind und warum verabreichte Mittel der Politik und der Notenbanken in früheren Krisen zwar die Schmerzen weggedrückt, aber nie die zugrunde liegenden Ursachen geheilt haben. Wir erklären, an welchen Stellen unser Wirtschaftssystem Schwächeanfälle erlitten und Geschwüre bekommen hat, wodurch es anfällig für Krankheiten wurde, auch für SARS-CoV-2.

Dabei gibt es gesunde Medizin. Die ist zwar bitter, in mancher Hinsicht auch gefährlich, sie hat zudem ihren Preis. Nicht nur in Geld, sondern auch in anderen Währungen: Disziplin, Verzicht, Achtsamkeit. Ein Patentrezept zu finden ist schwierig. Dazu muss man viel suchen und genau verstehen, was schiefgelaufen ist, wo Fehler begangen wurden. Aber dann kann auch die Genesung gelingen, mit einem Heil- und Kostenplan, der unser Gemeinwesen, unsere Wirtschaft wieder flottmacht. Das gilt genauso für unsere Nachbarn in Europa und unsere Partner in der Welt. Ohne deren Gesundung wird es nicht gehen. Das ist kein nationales Projekt. Es ist ein gemeinsames Projekt. Dazu braucht es einen starken Staat. Ebenso Solidarität. Wir müssen auch berücksichtigen und anerkennen, dass Teile der Gesellschaft eine andere Wirtschaft vehement fordern, wie die Bewegung Fridays for Future, während nach wie vor andere Nationen vor allem damit beschäftigt sind, unter Einsatz aller Mittel, auch Waffen, ihre Interessen zu verteidigen. Manches wird aufhören, vieles anders sein müssen, wenn wir erhalten wollen, was uns wichtig ist. Alles hat auch – und vor allem – mit Wirtschaft zu tun. Wir werden viel investieren müssen, um unseren Wohlstand zu erhalten, wir werden teilen müssen, um wirtschaftlich gesund zu bleiben. Wir werden vieles anders machen und einiges endlich lassen müssen, um Wirtschaft und Gesellschaft und damit allen Bürgern eine gute Zukunft zu ermöglichen in einem besseren Wirtschaftssystem.

Mit diesem Buch wollen wir die Fehler der Vergangenheit vor allem deshalb aufzeigen, damit wir sie nicht noch einmal wiederholen. Wir wollen bestehende Errungenschaften herausstellen, die bisher unter Wert erachtet wurden. Ins eigene Land blicken und auch über den Tellerrand hinaus, schauen, wie es die anderen machen – ob sie es vielleicht besser machen. Vor allem aber wollen wir Lösungen mit den vorhandenen Werkzeugen und den nötigen Ideen entstehen lassen. Wir verbinden damit die Hoffnung, dass in der nahen Zukunft unser Wirtschaftssystem ein besseres, widerstandsfähigeres ist, das Frieden, Freiheit und Sicherheit ermöglicht – und Wohlstand für mehr Menschen als heute.

Einleitung

Der Coronavirus hat uns schwer getroffen. Mehr als vier Millionen Menschen wurden bis Mitte Mai infiziert. Rund 300 000 Menschen starben. Weltweit.

Shutdown für Millionen Menschen. Shutdown für Tausende Unternehmen. Jetzt ist die Wirtschaft infiziert. Sie ist es nicht erst seit Corona. Handelskriege, Zölle und vorherige Krisen haben ihr bereits schwere Vorerkrankungen zugefügt, Covid-19 gab ihr den Rest. Ab auf die Intensivstation. Infusionen von Staat und Notenbank, altbekannte Notfallmedizin. Man ist ja krisenerprobt. Corona ist nicht der erste Wirtschaftsvirus, der uns zeigt, wie verletzlich unsere globalisierte Welt geworden ist. Die deutsche Wirtschaft war schon auf Du und Du mit diversen Krisen, beginnend mit der Ölkrise in den 1970ern, der DotCom-Krise im Jahr 2000 sowie zuletzt der Finanzkrise 2008/2009 und der darauf folgenden Eurokrise. Allesamt Krisen, die ihre Spuren hinterlassen haben, schmerzhafte wie heilsame. Krisen, die über Länder und Kontinente hinweg bis nach Deutschland reichten. Die zu Einschnitten bei international tätigen Großkonzernen und Banken genauso führten wie bei mittelständischen Firmen oder Handwerksbetrieben. Sogar bei uns allen, bei uns Verbrauchern und Durchschnittsmenschen, ist jede dieser Krisen angekommen. Sei es in der Ölkrise durch explodierende Spritpreise oder durch steigende Arbeitslosenzahlen nach DotCom-, Finanz- und Eurokrise.

Und mit jeder Krise wurde deutlicher, dass die Errungenschaften unserer Wirtschaft, unsere Stärken, längst Schwachstellen geworden sind: die Exportkraft der deutschen Wirtschaft. Unsere internationalisierte, voll vernetzte Welt ist anfälliger geworden für Schocks auch in anderen Teilen der Welt. Ist irgendwo auch nur etwas Sand im Weltwirtschaftsgetriebe, knirscht es auch bei uns. Weil wir die Welt zum Dorf gemacht haben, mutiert ein Virus zum Weltvirus, eine Krise zur Weltkrise. Und so konnte der Coronavirus in Siebenmeilenstiefeln den Erdball umrunden, im Rekordtempo Millionen Menschen infizieren und im Vorbeieilen die Wirtschaft gleich mit.

Der Coronavirus und seine wirtschaftlichen Folgen mit den vielen ausgelösten Kettenreaktionen sind für uns alle innerhalb weniger Wochen im Alltag sichtbar geworden. Anfangs nur in Form von leer gekauften Supermarktregalen, wo sonst Toilettenpapier, Mehl oder Spaghetti lagerten. Dann in Form von Flugverboten, Kontaktverboten und Homeoffice. Plötzlich war der Virus überall, ganz nah, in der Lebenswirklichkeit eines jeden Einzelnen. Gesprächsthema Nummer eins.

Die Heftigkeit und schnelle Zuspitzung dieser Krise hat Panik geschürt: Werden Medikamente jetzt knapp, wenn doch fast alles aus China kommt? Ist unsere Firma stark genug, das durchzustehen? Reicht das Kurzarbeitergeld eigentlich zum Leben? Wie zahle ich als Student jetzt meine Miete, wenn ich nicht mehr kellnern kann? Verliere ich meinen Arbeitsplatz? Ist mein Erspartes in Gefahr, meine Altersvorsorge? Wie hilft uns eigentlich die EZB – oder hilft die nur den Banken? Wie viel Geld hat unser Staat – und wie lange reicht das? Wenn die Angst immer mehr Raum einnimmt, nicht nur wegen der eigenen Gesundheit, sondern auch aus Sorge vor einer Infektion der Wirtschaft, fragen wir uns schon beim Aufstehen am Morgen: Werden wir das überleben – sowohl wörtlich als auch wirtschaftlich? Wird uns diese Krise so lange nachhängen wie schon die Finanzkrise? Oder gar länger? Diese Verletzlichkeit der deutschen Wirtschaft stellt unser Erfolgsmodell der Exportwirtschaft auf den Prüfstand. Sie stellt damit unser ganzes Wirtschaftssystem infrage. Müssen wir vielleicht komplett neu denken? Wenn das Gröbste dieser Pandemie überstanden ist, wird sich die Welt die Gewissensfrage stellen müssen: Macht sie weiter mit der Doktrin des größer, schneller, globalisierter? Oder findet sie einen neuen Weg mit neuen Stärken, um für künftige Krisen besser gewappnet zu sein?

Es besteht die große Gefahr, dass Europa als Einheit diese Krise nicht überleben wird. Der Coronavirus hat den solidarischen Gedanken auf eine harte Probe gestellt. Deutschland zeigte sich in der Unterstützung Italiens anfangs so gar nicht europäisch, verhängte ein Exportverbot für Atemmasken und Schutzbrillen, als dort schon Massen von Menschen starben. Wenig solidarisch auch die ablehnende Haltung gegenüber Corona-Bonds. Dabei muss Europa inmitten des Zollwettrüstens zwischen den USA und China klar werden, dass es Solidarität zum Überleben braucht. Deutschland allein wird untergehen. Nur in einem geeinten Europa hat es eine Chance, zu bestehen. Nur welche Rolle wird es darin spielen?

Die medizinischen Langfristfolgen des Coronavirus sind noch nicht bekannt – ebenso wenig die Langfristfolgen für Wirtschaft und Gesellschaft. Was bedeutet der Virus für unser angezähltes Europa? Wie kann sich unser geschwächtes Wirtschaftssystem immunisieren? Wie wird es mit den irrsinnigen Schulden, die wir zur Krisenbewältigung machen müssen, fertig? Manch einer glaubt, es wird schlimmer als nach Lehman. Dabei hatte uns bereits die Pleite der amerikanischen Investmentbank an den Rand des finanziellen Kollaps gebracht. Daher muss man fragen: Wird unsere Wirtschaftswelt das überstehen? Sie wird sich auf jeden Fall neu erfinden müssen. Nur wie?

Corona – Ein Virus infiziert die Welt

Der Coronavirus kam schleichend. Das ist die Natur eines Virus. Er nistet sich unbemerkt in den Körper ein und entfaltet erst nach einer Inkubationszeit seine ganze Kraft. Wie wir heute wissen, fing sich ein Händler Anfang Dezember 2019 auf einem Markt in Wuhan den Virus ein, eine Übertragung von Tier zu Mensch. Wuhan? Immerhin eine 11-Millionen-Metropole, doch die Wenigsten in Deutschland hatten zuvor von dieser Stadt gehört. Ende Dezember berichten chinesische Ärzte von einer ungewöhnlichen Häufung einer SARS-ähnlichen Lungenkrankheit. In den sozialen Medien tauchen Warnungen auf. Doch die Behörden in Peking beschwichtigen: Es gebe keine Mensch-zu-Mensch-Übertragung.

In dieser Ignoranz geht der Flugverkehr weiter. Kommen Geschäftsleute aus China nach Deutschland. Kehren italienische Touristen von Reisen aus China zurück, deutsche Urlauber aus Italien heim. Und mit dabei ein gefährliches Handgepäck: In ihrem Körper haben sie einen Virus namens Corona. Bis dahin noch immer unentdeckt.

Am 11. Januar 2020 gibt es in China den ersten Todesfall. Bis zum 20. Januar haben sich schon mehr als 200 Menschen in der Volksrepublik infiziert, erstmals auch jemand im Ausland. Zumindest sind das die bekannten, die offiziellen Zahlen. Doch noch immer ist der Standpunkt der Regierung in Peking: Der Virus sei nicht hochansteckend, bislang sei kein Mensch durch einen anderen infiziert worden.

Das Gefährliche eines Virus ist: Er dringt in Körperzellen ein und programmiert sie so um, dass sie selbst Viren herstellen. Explosionsartig vermehren sich dann die Viren im Körper. Wenn der Organismus sie bemerkt, bildet er Antikörper. Dann erst kommt es zu ersten Krankheitssymptomen, mit einer Verzögerung von mehreren Tagen. Doch schon in der Inkubationszeit ist der Mensch hochansteckend und verbreitet den Virus.

Die Infektionswelle nimmt in China weiter zu. Am 23. Januar sieht sich die Volksrepublik gezwungen, Wuhan abzuriegeln. Die zentralistische Regierung in Peking muss eingestehen, dass sie keine Kontrolle über den Virus hat. Die folgenden Wochen zeigen stattdessen: kompletten Kontrollverlust.

Am Anfang war Ignoranz

Zu der Zeit kommen in einem kleinen Bergdorf in der Schweiz gerade die Mächtigsten der Mächtigen zusammen: zum jährlichen Weltwirtschaftsforum in Davos. Es sind die einflussreichsten Politiker und Wirtschaftsbosse der Welt. Noch ahnt kaum jemand, wie dramatisch schnell sie durch Corona ihrer Macht beraubt werden. In dem Risikobericht, den das Forum traditionell jedes Jahr veröffentlicht und dort vor den großen Gefahren der Welt warnt, ist von der Gefahr einer Pandemie wie Corona noch nichts zu lesen. Auch die Bundesregierung sieht zu dieser Zeit nur ein sehr geringes Gesundheitsrisiko für die Menschen in Deutschland. Gesundheitsminister Jens Spahn sagt, falls der Virus in Europa auftauche, gebe es entsprechende Pläne. Wichtig sei dann, schnell die Infektionskette ausfindig zu machen und alle Betroffenen rasch zu informieren. »Dazu ist unser Gesundheitssystem in Europa inzwischen in der Lage«, sagt Spahn damals. Eine Erkrankung wie diese sei damit schnell unter Kontrolle zu bekommen.

Ein Trugschluss. Es gelingt weder am Ursprungsort in China, obwohl innerhalb kürzester Zeit mehr und mehr Städte abgeriegelt werden. Schon am 25. Januar wird die ganze Provinz Hubei dicht gemacht, womit knapp 60 Millionen Einwohner unter Quarantäne stehen. Die größte Quarantäne der Menschheitsgeschichte. Es gelingt auch in vielen anderen Ländern nicht. Alle unterschätzen die Wirkkraft und Gefährlichkeit des Virus weiterhin, selbst dann noch, als China Mitte Februar über 1000 Tote meldet. Der Virus wird immer noch als etwas weit Entferntes wahrgenommen, das für den Rest der Welt keine echte Gefahr darstellt. Es gab ja bereits einige Epidemien. Aber SARS blieb weitgehend auf Asien beschränkt, Ebola auf Afrika. Oft hörte man in den Anfängen der Corona-Epidemie: Der Erreger stammt ja von einem Fischmarkt, auf dem auch Wildtiere illegal verkauft werden. Zum Verzehr. Fledermäuse, Schlangen, Gürteltiere. Tiere, die wir nie essen würden. Dabei schwingt mit: China – das ist eine andere Welt; so etwas kann es bei uns nicht geben, nicht in unserer hoch entwickelten Welt, in der alles hygienisch sauber und medizinisch auf dem neuesten Stand ist; so etwas gibt es höchstens in Entwicklungsländern. Dass Länder wie China oder Südkorea, wo die Zahl der Erkrankten auch sehr früh in die Höhe schnellte, technologisch teils viel weiter sind als wir, das blenden viele aus oder sie wissen es vielleicht gar nicht. Es ist eine Mischung aus Selbstüberschätzung und Ignoranz oder positiv ausgedrückt Naivität, die bis Mitte Februar noch vorherrscht. In Europa, der Wiege des Penicillins und der Impfstoffe, wähnt man sich immun und in Sicherheit. Aufgrund dieser Illusion der Psyche kann der Virus weiter seiner Wege gehen.

Sprung in die Wirtschaft

Auch der Infektionssprung zur Wirtschaft ist extrem kurz und schnell. Doch wird auch hier die wirtschaftliche Schlagkraft des Coronavirus zunächst kaum wahrgenommen – jedenfalls in der westlichen Welt. Es wird ausgeblendet, dass in den betroffenen chinesischen Millionenstädten auch viele deutsche, französische, amerikanische Firmen tätig sind. Hubei ist ein Zentrum der Autoindustrie, hier laufen fast zwei Millionen Pkw pro Jahr vom Band. Entsprechend viele Autokonzerne – auch ausländische – sind betroffen von der Quarantäne. Tesla muss eine Fabrik schließen. Volkswagen unterbricht die Produktion. Die Elektronikbranche gerät in den Sog. Hersteller von Smartphones fürchten Beeinträchtigungen, weil die Lieferketten unterbrochen werden. Analysten warnen, die Auswirkungen der Corona-Infektion könnten die weltweite Mobiltelefon-Produktion 2020 um zehn Prozent drücken. Wichtige Zulieferer von Apple warnen vor Engpässen. Jeden Tag findet der Coronavirus neue Infektionswege in die Wirtschaft. Täglich gibt es neue Hiobsbotschaften. Für den Moment bleiben sie noch beschränkt auf einzelne Hersteller, deren Aktien einbrechen. Die von Tesla zum Beispiel oder die der Lufthansa. Aber insgesamt ist die Stimmung an den Börsen weiterhin gut. Sogar sehr gut. Das wichtigste Börsenbarometer in Deutschland stand noch nie so hoch seit seinem Start vor mehr als dreißig Jahren. Der Virus hat auch an den Finanzmärkten eine gewisse Inkubationszeit, bis er sich zeigt. Zwar gilt die Börse gemeinhin als ein guter Indikator für künftige Entwicklungen, als eine Art Frühwarnsystem. Aber das versagt. Die Gefahr der vielfältigen und verzweigten Kettenreaktionen, die vom Coronavirus ausgehen, haben zu der Zeit nur wenige auf dem Radar. Wie bei der medizinischen Verbreitung des Virus, der nach und nach alle Organe angreift, wenn er nicht durch Antikörper gestoppt wird, so bleibt auch der Wirtschaftsvirus für die Wirtschafts- und Finanzwelt zunächst unsichtbar. So war es in China. So war es in jedem Land, in dem sich der Virus erst einnistete und dann ausbreitete. Wegen langer Lieferketten tauchen die Probleme, die Corona den vielen Unternehmen verschiedenster Branchen bereitet, verspätet auf. Punktuell werden Produkte und Vorprodukte knapp, der Nachschub für die Weltwirtschaft kommt ins Stottern. Aber es scheint alles zu bewältigen zu sein. Lediglich die Pharmabranche wird früh nervös. Auch einige Verbraucher, weil schnell publik wird, dass 90 Prozent der Wirkstoffe für Generika, also Nachahmerpräparate von Medikamenten, aus China kommen. Zwei bis drei chinesische Hersteller beliefern die ganze Welt mit Arznei.

Italien – Der Crash geht los

Panik kommt erst auf, als der Virus in Italien ausbricht und Regionen im Norden des Landes abgeriegelt werden. Ab da ist klar: Auch wir sind verwundbar. Italien ist nah, ein beliebtes Urlaubsland für viele Deutsche. Und mit Italien sind wir auch wirtschaftlich stark verbandelt. Ab diesem Zeitpunkt brechen die Kurse an den Börsen ein. Tag für Tag. Woche für Woche. Binnen vier Wochen verliert der DAX fast 40 Prozent an Wert. Der schnellste Crash aller Zeiten. Nicht einmal in der globalen Finanzkrise 2008/2009 ging es so schnell bergab. Einen vergleichbar schnellen Absturz gab es nur 1929 beim sogenannten »Schwarzen Freitag«, auf den eine schwere Weltwirtschaftskrise folgte, die »große Depression«. Auch die Nervosität ist auf einem Rekordstand. Messbar an der Schwankungsbreite der Aktienkurse, der Volatilität. Sie ist ein Risikobarometer für die Börsen. Und an dem ist deutlich abzulesen: Die Unsicherheit war noch nie so groß.

Unterdessen rast der Coronavirus weiter um die Welt – Iran, USA, Australien. Vielleicht ist er schon da in jedem hintersten Winkel der Erde angekommen, ohne dass wir es wissen. Er rast auch durch die Weltwirtschaft: Als Erstes sind Airlines und Touristikkonzerne betroffen, weil massenhaft Flüge gestrichen und Reisen abgesagt werden. Technologiefirmen, weil ihre Lieferketten sich in Nichts auflösen. Alle Konzerne mit starkem China-Geschäft, wie die Autobranche. In China brechen die Autoverkäufe im Februar 2020 um 80 Prozent ein. Die Maschinen- und Anlagenbauer geben sich anfangs noch zuversichtlich, weil ihre Vorprodukte auf dem Seeweg aus China angeliefert werden – und die Schiffe sind rund sechs Wochen unterwegs. Probleme würde es daher nur mit Verzögerung geben, wiegelt der Branchenverband VDMA im Februar ab. Nach und nach aber verhängen mehr und mehr Länder Quarantäne oder Kontaktverbote, verbieten Großveranstaltungen. Fußballspiele finden ohne Zuschauer statt. Messen werden erst verschoben, dann abgesagt. Die internationale Touristikmesse ITB in Berlin ist die Erste. Das hat man noch mit Fassung getragen. Wer mag sich schon über Urlaub informieren in Zeiten von Corona? Dann aber folgt die Hannover-Messe. Ein schwerer Schlag für die Industrie. Es ist die größte Industriemesse der Welt, mit mehr als 220 000 Besuchern und über 6000 Ausstellern. Hier werden normalerweise die wichtigen Großaufträge für die nächsten Monate abgeschlossen. Umsatz, der in Zukunft fehlt.

Eine abgesagte Messe zieht viele weitere Branchen in Mitleidenschaft. Hotels, die normalerweise Messebesucher beherbergen. Messebauer. Gastronomie. Allen geht Umsatz verloren. Und mit jeder neuen Krankmeldung aus der Wirtschaft geht es mit den Börsenkursen weiter bergab. Es gibt ein erstes Rettungsangebot der EZB – doch die Wirkung verpufft zunächst. Zu klein im Umfang, nach dem Dafürhalten der Börse, und in dieser Art Krise nicht angemessen. Dazu bedarf es flankierender Konjunkturprogramme des Staates.

Die Zahl der Neuinfektionen wird nun von der Welt genau verfolgt, wie der tägliche Blick morgens und abends aufs Fieberthermometer: Wie krank sind wir schon? Wie krank ist China noch? Immer getragen von der Hoffnung, dass die Zahl der Infizierten sinkt. Doch das Fieber steigt und steigt, exponentiell. Die Zahl der Infizierten geht in die Tausende und Hunderttausende. Steigt die Körpertemperatur über 42 Grad, droht der Tod – gibt es eine solch kritische Temperatur eigentlich auch für diesen Wirtschaftsvirus?

Inmitten der Unsicherheit reißen die wirtschaftlichen Kettenreaktionen nicht ab, und sie werden auch für jeden im Alltag sichtbar. Als die Schulen schließen, stellt sich vielen Eltern die Frage: Wohin mit meinen kleinen Kindern? Viele müssen unbezahlten Urlaub nehmen – was nicht ohne Folgen fürs Konto bleibt. Mit Einführung der Kontaktsperre in Deutschland am 22. März heißt es: alle auf Abstand. Jeder kann jetzt vor der eigenen Haustür sehen, was zuvor China und Italien und viele andere Länder erlebt haben: Restaurants und Cafés, Kaufhäuser und Boutiquen, Friseure und Physiotherapie-Praxen – alles geschlossen. Alle Geschäfte, die nicht dringend zum Leben notwendig sind. Deutschland im Lockdown. Einen offenkundigeren Beweis, dass die deutsche Wirtschaft leidet, gibt es nicht. Nur wenige Läden wie Lebensmittelgeschäfte, Apotheken und Drogerien dürfen noch verkaufen, in Berlin auch Buchhandlungen und Fahrradläden, in Hessen Baumärkte. Was lebensnotwendig ist, davon hat jedes Bundesland eine etwas andere Vorstellung.

Unser Alltag verändert sich radikal. In Supermärkten werden Einkaufswagen rationiert. Eine Art Ampelsystem für den Einlass. Nachrichten verfolgen ist jetzt eine Dauerbeschäftigung. Selbst das Radiohören fühlt sich anders an. Gibt es eigentlich keine Verkehrsnachrichten mehr? Der ADAC zieht eine positive Bilanz aus der Corona-Kontaktsperre: Das erste staufreie Osterwochenende seit Jahrzehnten. Das meiste Leben läuft jetzt digital und online. Arbeiten im Homeoffice. Einkaufen im Onlineshop. Freunde treffen im Netz. Schulaufgaben per E-Mail. Fernsehen gegen die Langeweile. Deshalb hat die Krise wie jede Krise auch Gewinner. Sie heißen Netflix und Co. Profiteure sind auch Social-Media-Plattformen, IT-Firmen mit Software für Videokonferenzen, Biotech- und Pharmafirmen mit der Aussicht auf die Entwicklung eines Super-Impfstoffs. Nicht alles ist down in der Wirtschaft. Amazon stellt 100 000 Mitarbeiter zusätzlich ein. Viele sind jetzt im Internet auf der Suche nach dem, was knapp ist: Desinfektionsmittel, Atemschutzmasken, Fieberthermometer, WC-Papier. Erstaunlicherweise steigen nicht bei allen Onlineshops die Verkaufszahlen. Bei Modehändler Zalando geht die Nachfrage zunächst zurück. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Der Chef des schwäbischen Freizeitmodeherstellers Trigema, Wolfgang Grupp, glaubt: »Wenn ich nur noch zu Hause bin, kann ich aus dem Kleiderschrank leben.« Da brauche man keine neue Mode. Die Menschen dürften sich aber auch aus psychologischen Gründen zurückhalten beim Online-Kauf: aus Angst vor der wirtschaftlichen Zukunft. Aus Sorge, in der Coronakrise den Job zu verlieren. Eine ungewisse Zukunft lähmt Konsumlust, erst recht bei eher verzichtbaren neuen Kleidungsstücken.

Wirtschaftsexperten und Politiker sprechen es jetzt klar aus: Die Rezession ist unvermeidbar. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) rechnet mit einem Wirtschaftsabschwung, der mindestens so stark ist wie 2009. Damals wütete die Finanzkrise und fraß sich in viele Bereiche unseres Wirtschaftssystems. Es könnte sogar noch düsterer werden, errechnen die Wirtschaftsforscher des Münchener ifo-Instituts. Die Wirtschaftsleistung könnte sogar bis zu 20 Prozent zurückgehen, wenn die Wirtschaft drei Monate stillstehen muss. Jede Woche Stillstand koste die deutsche Wirtschaft 42 Milliarden Euro, errechnen die ifo-Wirtschaftsforscher. Wenn sich ein Virus im Körper ausbreitet, über die Blutbahnen, entzündet sich alles und es besteht die Gefahr einer Blutvergiftung. Ohne Beatmungsmaschine, ohne Intensivstation droht der Exodus. Das Gleiche droht der deutschen Wirtschaft: gefährliche Kettenreaktionen bis hin zu Pleiten. Deshalb feuern Europäische Zentralbank (EZB) und Bundesregierung jetzt auch aus allen Rohren, um gegen die Auswirkungen des Virus vorzugehen. Die EZB mit einem 750 Milliarden Euro schweren Notfallprogramm. Die Regierung schnürt ebenfalls 750 Milliarden Euro zu einem Hilfspaket – das größte in der deutschen Geschichte. Der Inhalt: Schutz für Mieter, Kredite für Unternehmen, Zuschüsse für Selbstständige. In vielen Ländern gibt es jetzt solche wirtschaftlichen Anti-Corona-Medikamente von Regierungen und Notenbanken. Das gibt den Börsen wieder Auftrieb.

Zwar verschulden sich die Staaten dafür erheblich. Aber eine Konkurswelle hinzunehmen, wäre lebensbedrohlich für den Wirtschaftspuls. Banken müssten Kreditausfälle abschreiben und könnten selbst in Not geraten. Dadurch könnte sich die ohnehin extreme Lage weiter zuspitzen zu einer Finanzkrise. Die südlichen Euroländer leiden in Sachen Corona noch weit mehr als Deutschland. Daher schwebt auch eine neue Eurokrise wie ein Damoklesschwert über uns. Das gilt es, um jeden Preis zu verhindern. Doch trotz des gigantischen Rettungspakets ist die Gefahr noch nicht gebannt. Es verhält sich genauso wie bei den medizinischen Schäden durch den Coronavirus. Die Langfristschäden für die Wirtschaft sind noch nicht absehbar. Sie werden noch lange auf uns lasten. Ebenso die Schulden. Es ist durchaus möglich, dass es am Ende heißt: OP gelungen, Patient tot.