Der Corona-Schock: In der Krise zeigt sich der Charakter

Eigentlich hätten wir gewarnt sein müssen. Über Wochen konnten wir beobachten, wie sich das Coronavirus in China immer weiter ausbreitete, wie die Zahl der Infizierten in die Zehntausende stieg und Tausende starben. Aber es schien uns als etwas, das weit weg war von Europa, von Deutschland. Als würde diese Epidemie auf einem anderen Planeten wüten. Und als wären die Grenzen Chinas auch die Grenzen für dieses Virus. Die Covid-19-Erkrankungen betrafen andere weit weg in Fernost, nicht uns in Deutschland. Inzwischen wissen wir, dass das ein schwerer Fehler war – und dass er uns nicht zum ersten Mal unterlaufen ist. Mir ist in meiner Zeit als Chinakorrespondent oft aufgefallen, dass wir zu glauben meinen, was in Fernost passiert, gehe uns nichts an. Das Problem ist also noch größer als das Virus. Es betrifft die Art, wie wir auf China schauen, und die Frage, was China mit uns und unserer Zukunft macht.

In der Krise zeigt sich der wahre Charakter, heißt es. Was also sagt uns der Corona-Schock über uns selbst und China? Was zeigt sich darin, das über den Kampf gegen die Pandemie hinaus in der Zukunft für uns alle bedeutsam sein wird?

Chinas Behörden haben das Virus über Wochen verharmlost, seine Ausbreitung und Gefährlichkeit sogar verheimlicht. Sie haben dabei die Chance vertan, das Virus einzudämmen. Denn schon Mitte Dezember 2019 erkrankten in Chinas Elf-Millionen-Metropole Wuhan Menschen an einer rätselhaften Infektionskrankheit, die die Lungen befällt. Kurz darauf warnten Ärzte in Chatgruppen, dass eine Epidemie die Stadt bedrohe. Doch die städtischen Behörden spielten die Gefahr herunter, die Polizei ging sogar gegen Ärzte vor, weil sie Gerüchte verbreitet hätten. Erst nach dem Neujahrsfest, mehr als einen Monat nach dem Auftreten der ersten Fälle, wurden in Wuhan und überall in China einschneidende Schutz- und Quarantänemaßnahmen verhängt. Das Virus aber hatte sich da schon verbreitet. Die Fehler und Vertuschungen von Chinas Staats- und Parteiführung sorgten mit dafür, dass ein Unglück in Wuhan zu einer globalen Katastrophe wurde.

Deutschland hätte die Chance gehabt, zu beobachten und zu lernen, es also von Anfang an besser zu machen als China. Aber auch bei uns haben Regierung und Behörden viel zu langsam reagiert und wertvolle Zeit verstreichen lassen. Noch Anfang März 2020, als längst klar war, dass das Virus auch Europa erreicht hatte, vermittelten sie den Eindruck, als genüge es, die Hände regelmäßig zu waschen und in die Armbeuge zu husten. Unser Gesundheitsminister war über Wochen vor allem damit beschäftigt, die Gefahr des Virus herunterzuspielen und vor Verschwörungstheorien zu warnen, statt dafür zu sorgen, dass Ärzte, Praxen und Krankenhäuser ausreichend mit Schutzanzügen und Atemmasken auf die bevorstehende Pandemie vorbereitet waren. Deutschland erlaubte sich selbst zunächst eine Mischung aus Arroganz und Behäbigkeit, als würde ein hoch ansteckendes Virus, das in China Tausende getötet und ein ganzes Land lahmgelegt hatte, bei uns nur in der Form einer saisonalen Grippe auftreten.

Es wird Zeit, dass wir beides ablegen: die Arroganz und die Behäbigkeit. Denn Corona ist zum Stresstest für jede Gesellschaft geworden, zum Ausweis dafür, wie gut jedes einzelne Land auf existenzielle Krisen vorbereitet ist. Wie gut sein Gesundheitssystem, seine Institutionen, Behörden und Regierungen und am Ende auch seine Bürgerinnen und Bürger funktionieren und in der Lage sind, mit Extremsituationen umzugehen. Erfolg oder Misserfolg entscheiden am Ende auch über das moralische Kapital, mit dem Staaten aus dieser Bewährungsprobe hervorgehen. Die Pandemie ist deshalb auch ein tiefer Einschnitt in unser aller Geschichte. Die Machtverhältnisse in der Welt werden neu sortiert. Es wird eine internationale Ordnung vor und nach der Corona-Pandemie geben.

Jeder Staat gewinnt Gefolgschaft und Legitimität, indem er zentrale Aufgaben für seine Bürgerinnen und Bürger erfüllt. Dazu gehören Gesundheit, Sicherheit nach innen und nach außen und Mobilität oder die Möglichkeit aufzusteigen, vielleicht sogar reich zu werden. Was mir auffällt, ist, dass Bekannte hier in Deutschland den Eindruck haben, dass unser Land in all diesen Bereichen nicht vorankommt, dass Politik und Unternehmen bei wichtigen Aufgaben und zentralen Zukunftsfragen versagen. Umgekehrt räumen Bekannte in China, selbst die, die für die staatliche Parteipropaganda nur Hohn übrig haben, ein, dass sich in diesen Bereichen in ihrem Land viel verbessert habe. Diese Diskrepanz ist gefährlich, denn so wächst in Deutschland wie in China ein Misstrauen gegenüber der Demokratie. Wenn Demokratie es nicht schafft, zentrale Lebensfragen zu lösen, dann verliert sie ihre Stärke und ihren Reiz. Dann wächst der fatale Eindruck, dass die Diktatur möglicherweise die überlegene Staatsform sei.

Ich bin ein paar Monate vor Ausbruch der Corona-Pandemie mit meiner Familie aus Peking zurückgekehrt. Fünf Jahre habe ich in China das ZDF-Studio geleitet und fast jede Provinz dieses riesigen und rätselhaften Landes bereist. In dieser Zeit habe ich das irre Tempo und die rücksichtslose Wucht von Abriss und Aufbau erlebt. Habe gestaunt, wie hart die Menschen für ihren Aufstieg arbeiten, wie viel sie ihren Kindern abverlangen, welche enormen technologischen Fortschritte China gemacht hat und uns, dem Land der Ingenieure, in vielem inzwischen weit voraus ist. Ich musste auch erleben, welcher Machtapparat dahintersteckt. Die Diktatur der Partei, die eiskalt jeden verfolgt, der ihr verdächtig erscheint. Ich habe in China den Aufstieg einer neuen Weltmacht erlebt, die unsere Zukunft im Guten wie im Schlechten prägen wird.

China schärft den Blick auch auf mein Zuhause, auf das, was mir, zurück in Deutschland, wichtig und wertvoll ist. Saubere Luft, sichere Lebensmittel, Wasser, das man aus dem Wasserhahn trinken kann, darüber habe ich früher nicht viel nachgedacht, aber ich weiß es nun zu schätzen, weil es mir in China lange gefehlt hat. Genauso ist es mit unseren Freiheiten. Niemand zensiert das Internet, blockiert Inhalte, hört meine Wohnung und mein Büro ab, liest Mails und Chatnachrichten mit. Meine Kinder staunten über die vielen Wahlplakate und dass man für das Klima demonstrieren kann, ohne verhaftet zu werden. Das kannten sie aus China nicht.

Aber mich treibt auch eine Sorge um, die größer wird, je länger ich wieder zurück bin. Mir fällt bei uns in Deutschland eine aufreizende Selbstgefälligkeit auf, verbunden mit dem selbstverständlichen Glauben, dass es genau richtig ist, wie wir die Dinge so machen. Wir ruhen uns aus auf den Erfolgen der letzten Jahrzehnte und nehmen nicht wahr, dass sich die Welt um uns herum grundlegend verändert hat.

China scheint im Moment auf der Überholspur der Nationen vorne zu liegen, geradewegs dabei, ehemalige Spitzenreiter abzuhängen. Aber ist das wirklich so? Ist Chinas Diktatur unserer Demokratie überlegen? Ist es effizienter, von oben herab durchzuregieren als in manchmal endlosen Debatten und Verhandlungen um die bessere Lösung zu ringen? Oder bedeutet das Fehlen von Gewaltenteilung und von Korrektiven, dass nicht nur Entscheidungen schneller passieren, sondern damit auch folgenschwere Fehler?

Als Covid-19 kam, witzelten viele: »Endlich etwas aus China, das länger als zehn Tage hält.« Deutschland schwankt hin und her zwischen einer vorurteilsbeladenen Arroganz gegenüber China und einer diffusen Angststarre. Beides hilft uns nicht weiter. Vor allem sollten wir unterscheiden zwischen den Menschen und dem Regime, das sie beherrscht. Das ist ein großer Unterschied. Über Chinesen habe ich mich gewundert und sie bewundert. Die Herrschaft der allmächtigen Partei ist etwas ganz anderes: Es ist ein eiskalter Unterdrückungsapparat, der uns herausfordert und auf den wir nicht vorbereitet sind.

Wenn bei uns in Deutschland etwas als besonders nebensächlich erscheint, sagen wir: Das ist so interessant, wie wenn in China ein Sack Reis umfällt. Hinter diesem Sprichwort steckt die Haltung, dass China möglicherweise wichtig, aber eigentlich doch sehr weit weg ist. So weit, dass es uns nicht betrifft. Und tatsächlich war es ja auch so, dass die umwälzenden Veränderungen, die China in den vergangenen 40 Jahren erlebte, Prozesse und Ereignisse waren, die vor allem in China passierten und auf China beschränkt waren. China war noch keine globale Macht, die das Schicksal der ganzen Welt hätte mitbestimmen können. Das ist nun anders. China ist mittlerweile eine Weltmacht, und was dort geschieht, das betrifft uns in Europa und in Deutschland unmittelbar. China überschreitet seine Grenzen, es greift aus in die Welt und kommt mit all seiner Macht auch zu uns nach Deutschland.

Es ist eben nicht nur ein Virus, das aus Wuhan die ganze Welt befällt. Das Virus ist nur die Krise, die uns zwingt, die viel größeren Veränderungen wahrzunehmen, die in den letzten Jahren schleichend, aber eigentlich rasend schnell vonstatten gegangen sind. Denn China steht nicht vor unserer Haustür, es ist schon längst da. Und es wird höchste Zeit, zu verstehen, was das für uns bedeutet. Wie wir damit umgehen, wovon wir profitieren und wovor wir uns hüten sollten. Umgekehrt ist es ja auch längst so, dass Chinesen sich für uns interessieren. Und dass sie uns viel besser kennen als wir sie.

Dieses Buch ist eigentlich eine Anmaßung. Ich habe in meiner Zeit als Korrespondent in Peking gelernt: Nicht nur der Unterricht in chinesischer Sprache ist zuallererst eine Übung in Demut, das gilt auch für die Berichterstattung über dieses Land. Wann immer ich glaubte, etwas über China verstanden zu haben, kamen mir kurz darauf Zweifel, ob ich damit wirklich richtig lag. Es war ein ständiger Kreislauf. Bei den vielen Recherchen, Reisen, Interviews gewann ich tiefe Einblicke, nur um kurz darauf wieder den Eindruck zu haben, dass das nur ein Ausschnitt war. Dass China noch viel größer und unberechenbarer ist. Das lag auch daran, dass hier Dinge nebeneinander existieren, die sich eigentlich widersprechen: Kommunismus und Kapitalismus, Diktatur und Anarchie, Effizienz und Chaos, Hypermodernität und Rückständigkeit. Wie bei einem Kamerabild entscheidet der Fokus, was scharf hervortritt und was in der Unschärfe des Hintergrunds bleibt. Dieses Buch ist deshalb auch keines, das den Anspruch erhebt, China oder die Chinesen zu erklären. Es ist mein Blick auf China und auf Deutschland. Aber weil ich versuche, immer wieder den Fokus zu verändern, hoffe ich, am Ende doch ein möglichst breites und tiefes Bild von dem zu zeichnen, was wichtig und bedeutsam ist für China und damit am Ende auch für uns in Deutschland.

Das chinesische Wort für Krise ist wēijī. Es besteht aus zwei Schriftzeichen, das eine, wēi, steht für Gefahr. Das andere, jī, steht für Chance. Chinas Partei und Regierung behaupten, dass das Land in der existenziellen Gefahr, die durch das Virus entstanden ist, seine Chance genutzt habe. China habe damit eine Erfolgsgeschichte geschrieben. Stimmt die Propaganda? Oder versucht Peking mit aller Macht, der Welt seine Version dieser Jahrhundertseuche aufzudrücken?

Schon jetzt ist es so, dass China seine Art, das Virus zu bekämpfen, als Ausweis dafür sieht, dass die Herrschaft der Kommunistischen Partei ein den westlichen Demokratien überlegenes System sei. Ein System, das Vorbild sein soll für die Welt. Corona wirkt hier wie ein Brandbeschleuniger für eine Auseinandersetzung, die sich lange vorher schon angekündigt hat. Die aber im Angesicht dieser lebensbedrohlichen Herausforderung eine neue, dramatische Brisanz bekommen hat. Beide Systeme, das diktatorische und das demokratische, treten in Konkurrenz zueinander, und es ist längst nicht ausgemacht, wer dabei obsiegen wird. Sicher ist nur, dass es für uns dabei um viel mehr geht als um unseren Wohlstand, um das Überleben von Säulen der deutschen Wirtschaft. Es geht um den Kern unseres Zusammenlebens, die Grundlagen unserer Demokratie, um das, was uns ausmacht und uns wichtig ist.

Sunzi, der große chinesische Philosoph und Militärstratege, schrieb vor rund 2500 Jahren: »Wer den Gegner kennt und sich selbst, wird in hundert Schlachten nicht in Not geraten.« Wie wäre es also, wenn wir einmal den Spieß umdrehten. Wenn wir selbst die Krise als Chance begriffen und diesmal von China lernten und abkupferten. Der Anfang dafür wäre eigentlich ganz leicht. Wir müssten nur versuchen, China besser zu verstehen.

Dieses Buch ist ein Systemvergleich, geschrieben aus der Perspektive eines Heimkehrers, der nach Jahren in Peking zwischen beiden Welten steht. Vertrautes in Deutschland erscheint mir als fremd, während mir umgekehrt viel Fremdes in China vertraut ist. Ich will in diesem Buch von diesen Unterschieden erzählen. In den ersten Kapiteln wird es dabei vor allem um Alltägliches gehen, um Werte, die Chinesen wichtig sind, Fähigkeiten, die sie stark machen, um das, was mich an ihnen beeindruckt, fasziniert und manchmal auch verstört hat. In anderen Kapiteln treten Staat und Partei nach vorne, Chinas innere Verfasstheit, der Systemwettstreit zwischen Demokratie und Diktatur sowie die Frage, wer technologisch die Nase vorn haben wird, und ob wir uns bald an Chefs aus China gewöhnen müssen. Ich denke, dass das Stadium des »Dazwischenseins« kein schlechter Ausgangspunkt ist, um beide Welten zu vergleichen. Und um zu erklären, welche Herausforderung uns in Deutschland bevorsteht. Warum das Feuer des Drachen uns einheizen wird.