Unziemliches Verhalten

Über Rebecca Solnit

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Rebecca Solnit, Jahrgang 1961, ist eine der bedeutendsten Essayistinnen und Aktivistinnen der USA. Sie ist Herausgeberin des Magazins Harper's und schreibt regelmäßig Essays für den Guardian. Für ihre Werke erhielt sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Bei Hoffmann und Campe erschienen von ihr unter anderem Wenn Männer mir die Welt erklären (2015), Die Mutter aller Fragen (2017), Die Dinge beim Namen nennen (2019) und Nonstop Metropolis (2019). Rebecca Solnit lebt in San Francisco.

 

Kathrin Razum, geb. 1964, arbeitet seit 1992 als freiberufliche Übersetzerin; sie lebt bei Heidelberg. Zu den von ihr übersetzten Autor*innen gehören Susan Sontag, V.S, Naipaul, HiIary Mantel, Dorothy Baker, Laird Hunt und Amy Bloom.

Fußnoten

Die Überzeugung, dass Männer vom Rande der Gesellschaft für Sexualverbrechen, insbesondere solche an weißen Frauen, bestraft werden sollten, mächtige, privilegierte Männer dagegen nicht, bestärkt eine Hierarchie des relativen Werts. Diese Hierarchie dient nicht dem Schutz der Frauen, sondern sie schreibt fest, wer Besitzrechte an welchen Frauen hat – das kam in früheren Gesetzen noch ganz unverhohlen zum Ausdruck, wenn die Vergewaltigung als Besitzrechtsverletzung oder Sachbeschädigung gegenüber einem anderen Mann behandelt wurde; es hielt sich im US-amerikanischen Recht bis in die achtziger Jahre insofern, als es einem Mann erlaubt war, seine Frau zu vergewaltigen, und weiße Männer fast nie für die Vergewaltigung von Women of Color bestraft wurden.

Im Deutschen vergleichbar mit dem durchgehenden Gebrauch einer maskulin gegenderten Sprache, z.B. der Patient (Anmerkung der Übersetzerin).

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Vor vielen Jahren stand ich einmal vor einem hohen Spiegel, betrachtete mich und sah, wie mein Spiegelbild dunkler und weicher wurde und sich dann zurückzuziehen schien, als verschwände ich aus der Welt, wo ich doch vielmehr die Welt aus meiner Wahrnehmung aussperrte. Ich hielt mich an dem Türrahmen auf der anderen Seite des Flurs fest, dann gaben meine Beine unter mir nach. Mein Spiegelbild entschwand in die Dunkelheit, als wäre ich nur ein Geist und entzöge mich sogar meinem eigenen Blick.

Damals wurde ich ab und zu ohnmächtig und hatte häufig Schwindelanfälle, aber diese Episode prägte sich mir eben deshalb besonders ein, weil es schien, als verschwände nicht die Welt aus meinem Bewusstsein, sondern ich aus der Welt. Ich war sowohl die Person, die verschwand, als auch die entkörperlichte Person, die sie aus der Ferne betrachtete, und zugleich war ich keine von beiden. Ich versuchte damals, sowohl unbemerkt zu bleiben als auch wahrgenommen zu werden, wollte sowohl Sicherheit als auch Sichtbarkeit, und diese Bestrebungen kamen einander oft in die Quere. Ich beobachtete mich, versuchte, dem Spiegel zu entnehmen, was ich sein könnte und ob ich gut genug war und ob all das, was man mir über mich gesagt hatte, stimmte.

Die mühsame Suche nach einer Dichtung, in der das eigene Überleben statt der Unterwerfung gefeiert wird, vielleicht auch nach einer eigenen Stimme, um ebendies zu fordern, zumindest aber nach einer Möglichkeit, innerhalb eines Wertesystems zu überleben, in dem man sich an der Auslöschung und dem Versagen von Frauen weidet, ist eine Arbeit, die viele junge Frauen, vielleicht fast alle, leisten müssen. Ich selbst tat das in jenen frühen Jahren nicht besonders gut oder klar erkennbar, dafür aber wild entschlossen.

Mir war oft nicht bewusst, wogegen oder warum ich mich wehrte, und so war mein Widerstand vage, sporadisch, planlos. Jene Jahre, in denen ich darum kämpfte, nicht unterzugehen, wenn auch allzu oft wie jemand, die in einem Sumpf versinkt und dann heftig mit den Armen rudert, um sich zu retten, kommen mir heute in den Sinn, wenn ich sehe, wie um mich herum junge Frauen die gleichen Kämpfe austragen. Es ging nicht nur ums physische Überleben, wobei das oft schwierig genug war, sondern auch darum, als Person mit gewissen Rechten zu überleben, einschließlich des Rechts auf Teilhabe, Würde und

Die Regisseurin, Autorin und Schauspielerin Brit Marlin sagte kürzlich: »Dass du auf diesem Stuhl in diesem Zimmer sitzen bleibst und dich von einem mächtigen Mann belästigen oder missbrauchen lässt, liegt nicht zuletzt daran, dass uns Frauen kaum je ein anderes Ende gezeigt wurde. In den Romanen, die wir gelesen, den Filmen, die wir gesehen, den Geschichten, die uns von Kindesbeinen an erzählt wurden, nehmen Frauen sehr oft ein schreckliches Ende.«

Der Spiegel, in dem ich mich selbst verschwinden sah, hing in der Wohnung, in der ich ein Vierteljahrhundert lang gewohnt habe, von den letzten Monaten meines zwanzigsten Lebensjahrs an. Die ersten paar Jahre dort waren die Zeit meiner heftigsten Kämpfe, von denen ich manche gewann, andere Narben hinterlassen haben, die mich bis heute begleiten, und viele mich in einer Weise geprägt haben, dass ich nicht sagen könnte, ich wünschte, es wäre alles anders gelaufen, denn dann wäre ich eine ganz andere geworden, und diese andere gibt es nicht. Mich hingegen gibt es. Doch ich kann mir wünschen, dass den jungen Frauen, die nach mir kommen, einige der alten Hindernisse erspart bleiben, und nicht zuletzt dazu will ich mit meinen Texten beitragen, indem ich die Hindernisse zumindest benenne.

Eine andere Spiegelgeschichte: Als ich ungefähr elf war, gab es einen Schuhladen, in dem mir meine Mutter die Engineerstiefel kaufte, die ich damals unbedingt haben wollte, denn ich versuchte, nicht dieses verabscheute Wesen, ein Mädchen, zu sein, sondern etwas, das mir wie etwas ganz Eigenes erschien, robust, einsatzbereit; in Erinnerung geblieben ist mir der Laden jedoch aus einem anderen Grund. Wenn man vor die Spiegel trat, die auf beiden Seiten des Mittelgangs angebracht waren, sah man ein Spiegelbild des Spiegelbilds des Spiegelbilds des Spiegelbilds von sich selbst oder den Schemeln oder was auch immer, jedes weitere Abbild blasser, verschwommener und ferner als das vorige, eine Reihung, die sich endlos fortzusetzen schien, als läge in diesen Spiegeln ein Ozean, in dessen meergrüne Tiefen der Blick immer weiter vordrang. Damals hielt ich nicht nach meinem Selbst Ausschau, sondern nach dem, was jenseits davon lag.

Jenseits jeden Anfangs liegt ein weiterer Anfang und noch einer und noch einer, aber meine erste Fahrt mit dem Bus der Linie fünf Fulton könnte ein Startpunkt sein, jene Buslinie, die die Stadt in zwei Teile teilt, von Downtown an der San Francisco Bay über die Fulton Street bis zum Pazifik ganz im Westen. Das Hauptgeschehen dieser Geschichte spielt sich in der Mitte dieser Strecke ab, in der Mitte der Stadt, aber bleiben wir einen Moment lang in diesem Bus sitzen, der sich den Hügel

Manchmal sieht das Meer aus wie ein Spiegel aus Silber, aus Silber mit Hammerschlag, nicht glatt genug für wirkliche Spiegelungen – es ist die Bay, die den gespiegelten Himmel auf der Wasseroberfläche trägt. An den schönsten Tagen gibt es für die Farben der San Francisco Bay und des Himmels darüber keine passenden Worte. Manchmal spiegelt sich im Wasser ein Himmel, der sowohl grau als auch golden ist, und das Wasser ist blau, ist grün, ist silbern, ist ein Abbild von diesem Grau und Gold, fängt die Wärme und Kälte der Farben in seinen kleinen Wellen ein, ist sie alle und zugleich keine davon, ist etwas Subtileres als die Sprache, die wir dafür haben. Manchmal taucht ein Vogel in diesen Spiegel aus Wasser ein, verschwindet in seinem eigenen Abbild, und die spiegelnde Oberfläche macht es unmöglich zu erkennen, was darunterliegt.

Manchmal wenn ein Tag geboren wird oder erlischt, ist der opalene Himmel von einer Farbe, für die wir keine Worte haben, einem Gold, das ins Blau verblasst ohne das vermittelnde Grün, das auf halbem Weg zwischen diesen Farben liegt, den feurig-warmen Farben, die nicht Apricot oder Purpur oder Gold sind, das Licht wandelt sich von einer Sekunde zur nächsten, sodass der Himmel, von der Sonne bis zur gegenüberliegenden Seite hin betrachtet, wo andere Farben in Bewegung sind, mehr Schattierungen von Blau aufweist, als man zählen kann. Wenn man nur einen Augenblick lang wegschaut, verpasst man einen Farbton, für den es niemals einen Namen geben wird und der sich wiederum zu einem anderen und einem wieder anderen

Manchmal wird ein Geschenk gemacht, und weder Schenker*in noch Beschenkte*r erkennen seine wahre Tragweite, es entpuppt sich letztlich als etwas anderes als das, was es zunächst zu sein scheint. Wie vor jedem Anfang ein anderer Anfang liegt, so liegt auch hinter jedem Ende ein weiteres Ende, eines überlagert das andere, und die Auswirkungen breiten sich in kleinen Wellen aus. Eines Wintersonntags, als ich noch jung, unwissend, mittellos und fast ohne Freund*innen war, machte ich mich auf den Weg zu einer Wohnungsbesichtigung. Ich hatte das Angebot unter den Suchanzeigen in der Zeitung gefunden, ein paar winzige Zeilen der Information in diesem dichten grauen Raster, in dem hauptsächlich Wohnungen beschrieben wurden, die ich mir nicht leisten konnte. Man hatte mich ausgelacht, als ich verkündete, dass ich eine Wohnung für zweihundert Dollar im Monat suchte, was selbst damals extrem wenig war, aber mehr konnte ich als junge Studentin – im dritten Jahr meiner finanziellen Unabhängigkeit – nicht aufbringen.

Als ich auf Wohnungssuche ging, wohnte ich in einem winzigen Zimmer mit Fenster zum Lichtschacht, das insofern luxuriös war, als es über ein eigenes Badezimmer verfügte – in einer Pension für Dauergäste, deren übrige Zimmer nur Etagenbäder hatten. Für das gesamte Gebäude gab es eine einzige, schlecht beleuchtete Gemeinschaftsküche, wo einem das Essen

Ich stieg an der City Hall in den 5-Fulton-Bus ein und fuhr an den Blocks mit Sozialwohnungen vorbei, an einer Kirche in der Fillmore Street, wo eine Gruppe ernst dreinblickender Schwarzer in Anzügen sich zu einer Beerdigung versammelt hatte, an reichverzierten alten Holzhäusern und kleinen Spirituosenläden, dann ging es den Hügel hinauf zur Lyon Street, wo ich ausstieg, während der Bus Richtung Pazifik weiterrumpelte. Ich fand das Haus, ein Gebäude mit zurückgesetzter Eingangstür, die wie viele andere in der Gegend durch ein schmiedeeisernes Tor zusätzlich gesichert wurde. Die Fußmatte im Innern war mit einer rostigen Kette am Briefkastenschlitz angeschlossen. Ich klingelte beim Hausmeister und stapfte, nachdem er mich eingelassen hatte, in den ersten Stock hoch, wo er mich vor seiner eigenen Wohnungstür erwartete und gleich in den zweiten Stock weiterschickte, damit ich mir die Einzimmerwohnung über seiner ansah.

Ihre Schönheit erstaunte mich. Eine Eckwohnung, deren Hauptzimmer zwei Erkerfenster hatte, eins nach Süden und eins nach Westen, durch die das Licht hereinflutete. Goldene Eichenholzböden, hohe Decken mit abgerundeten Ecken,

Er war ein stattlicher Schwarzer, um die sechzig, hochgewachsen, stämmig, unverkennbar früher einmal sehr gutaussehend und auch jetzt noch eine beeindruckende Gestalt mit einer tiefen, polternden Stimme, und wenn er an diesem Tag so gekleidet war wie fast immer, dann trug er wohl eine Latzhose. Er bat mich in sein Wohnzimmer. An diesem Super Bowl Sunday, an dem eine örtliche Football-Mannschaft im Finale spielte und aus den Häusern ringsum bei jedem Punktgewinn tosender Jubel aufstieg, sah er im Fernsehen schwarzen Männern beim Blues-Spielen zu; das große Gerät stand auf einem eigenen Tischchen neben dem sechseckigen, mit grünem Filz bezogenen Pokertisch, und das Nachmittagslicht wurde durch die breiten Lamellen der altmodischen Jalousien an seinen Erkerfenstern gefiltert. Als er mir den Bewerbungsbogen reichte, wurde mir schwer ums Herz. Ich sagte ihm, die Miethai-Immobilienverwaltung, deren Name oben auf dem Formular stand, habe mich schon abgelehnt. Einer der Angestellten hatte meine Bewerbung vor meinen Augen verächtlich in den Papierkorb

Der Hausmeister sagte, wenn ich eine seriöse ältere Frau dazu bewegen könnte, den Mietvertrag für mich zu unterzeichnen, würde er dieses Täuschungsmanöver decken. Ich nahm sein Angebot an und fragte meine Mutter, die es schon öfter abgelehnt hatte, irgendein Risiko für mich einzugehen. Diesmal jedoch ließ sie sich darauf ein und unterschrieb das Formular. Der Immobilienverwaltung kam es nicht komisch vor, dass eine weiße Hausbesitzerin, die auf der anderen Seite der Golden Gate Bridge wohnte, diese Wohnung haben wollte – ich glaube, sie schrieb, sie wolle näher bei ihrer Arbeit sein, denn sie machte bei einer Künstleragentur die Buchhaltung. Wahrscheinlich bekam sie den Zuschlag ganz automatisch, weil sie für diese kleine Wohnung in einem schwarzen Viertel die finanzkräftigste Bewerberin war.

Acht Jahre lang bezahlte ich meine Miete jeden Monat, indem ich das Geld bar anwies und das Formular mit dem Namen meiner Mutter unterschrieb. Im Mietvertrag stand, dass Unterzeichner*in und Mieter*in identisch sein mussten, sodass ich in meiner Wohnung, die offiziell gar nicht meine war, offiziell nicht existierte. Obwohl ich dann letztlich so viele Jahre dort lebte, hatte ich lange das Gefühl, ich könnte jederzeit rausgeschmissen werden und müsste mich deshalb möglichst unsichtbar machen, was meine in der Kindheit entwickelte Neigung zur Verstohlenheit, mein Bestreben, unbemerkt zu bleiben, noch verstärkte. Irgendwann fand die Hausverwaltung heraus, dass Unterzeichnerin und Mieterin nicht identisch waren, und fragte beim Hausmeister nach, was das zu bedeuten habe. Er verbürgte sich dafür, dass ich eine ruhige, verantwortungsvolle Mieterin sei, und es geschah nichts weiter, trotzdem hatte ich nach wie vor ein unsicheres Gefühl.

Auch ich hatte mich verändert; die Person, die im einundzwanzigsten Jahrhundert dort auszog, war nicht mehr die Person, die all die Jahre zuvor eingezogen war. Natürlich gibt es eine gewisse Kontinuität. Aus dem Kind ist die Frau hervorgegangen, aber seither ist so viel geschehen, hat sich so viel verändert, dass ich an diese spindeldürre, angestrengt bemühte junge Frau denke wie an eine, die ich einmal sehr gut kannte, für die ich gern mehr getan hätte, mit der ich mitfühle, so wie ich mit den Frauen ihres Alters, denen ich heute begegne, oft mitfühle; diese Person damals war nicht ganz ich, war in entscheidenden Bereichen sogar völlig anders, und doch war ich sie: eine linkische Außenseiterin, eine Tagträumerin, eine ruhelose Wanderin.

Das Wort Erwachsene impliziert, dass alle Menschen, die die Volljährigkeit erlangt haben, eine einheitliche Kategorie bilden, doch wir sind Reisende, die sich wandeln, und unser Weg führt uns durch eine sich wandelnde Landschaft. Dieser Weg ist holprig und gewunden. In mancher Hinsicht klingt die Kindheit nach und nach aus, in anderer endet sie nie; das Erwachsensein kommt, wenn überhaupt, in kleinen, unregelmäßigen Schüben, und jede von uns folgt ihrem eigenen Zeitplan, oder vielmehr gibt es keinen Zeitplan für die vielen Übergänge. Wenn man von zu Hause fortgeht – sofern man ein Zuhause hat –, sich auf eigene Füße stellt, tut man das als jemand, die den größten Teil ihres Lebens ein Kind war, wobei nicht einmal eindeutig definiert ist, was es heißt, ein Kind zu sein.Manche Menschen haben andere, die sich um sie kümmern, sie finanziell unterstützen und unter Umständen ihr Leben lang in ihrer Freiheit einschränken, manche nabeln sich allmählich ab, manche werden jäh in die Welt gestoßen und müssen sich allein durchschlagen, manche haben das von Anfang an getan. In jedem Fall aber ist man neu zugewandert im Land der Erwachsenen, wo seltsame Sitten und Gebräuche herrschen: Man lernt, die verschiedenen Stränge des eigenen Lebens zusammenzuhalten, versucht herauszufinden, wie dieses Leben aussehen, wer Teil davon sein und was man mit der neugewonnenen Selbstbestimmung anfangen wird.

Manche Vögel kehren in ihren Käfig zurück, wenn die Tür offen steht, und manche Menschen entscheiden sich, ihre Selbstbestimmung aufzugeben. Für den Hauch eines Moments spürte ich in diesem Einkaufszentrum sehr deutlich, geradezu körperlich, was mir angeboten wurde und warum das auf Leute meines Alters verlockend wirken konnte: die Möglichkeit, die mit dem Erwachsendasein einhergehende Last der Verantwortung wieder abzugeben, nicht jeden Tag Entscheidungen treffen oder sich mit den Folgen dieser Entscheidungen auseinandersetzen zu müssen, die Möglichkeit, zu einer Art Kindheit zurückkehren zu können und einen Anschein von Gewissheit zu erlangen, der nicht hart erkämpft war, sondern gleichsam ausgehändigt

Ich habe Menschen kennengelernt, die aus glücklichen Familien kamen und als Erwachsene offenbar kaum an sich arbeiten mussten, sie machten einfach so weiter, wie sie es gelernt hatten, sie waren die Äpfel, die nicht weit vom Stamm fielen, beschritten einen Weg, der sich nicht verzweigte, oder bewegten sich überhaupt nicht vom Fleck, weil sie schon angekommen, bevor sie überhaupt aufgebrochen waren. Als ich noch jung war, beneidete ich sie um ihre bequemen Gewissheiten. Doch als ich älter wurde, änderte ich meine Meinung über ein solches Leben, in dem Suche und Selbsterschaffung kaum eine Rolle spielen, von Grund auf. Es lag echte Freiheit darin, auf mich selbst gestellt zu sein, und ein gewisser Frieden in der Tatsache, dass ich niemandem außer mir selbst Rechenschaft schuldete.

Heute begegne ich jungen Menschen, die sich auf eine, wie mir scheint, erstaunlich weit entwickelte Weise über ihre Bedürfnisse und das eigene Ich im klaren sind, über ihre eigenen Emotionen und die Gefühle anderer. Ich wanderte damals als Fremde durch die Landschaft meines Innern, ein wayfaring stranger, und meine Versuche, mich zu orientieren und eine Sprache zu finden, mit der ich beschreiben konnte, was in mir vorging, waren unbeholfen, langwierig und schmerzhaft. Wenn ich bei alldem Glück hatte, so bestand es darin, dass ich mich weiterentwickelte, dass ich mich allmählich, unmerklich veränderte, manchmal beabsichtigt, manchmal durch Impulse oder kleine Schritte, die ich selbst nicht bemerkte. Dass ich ein Apfel war, der immer weiterrollte. In dieser kleinen Wohnung fand ich ein Zuhause, in dem ich meine Metamorphose vollziehen

Die Schwierigkeiten liegen ja nicht nur in der Adoleszenz als solcher, vielmehr ist auch das Erwachsenendasein, eine Kategorie, der wir alle zuordnen, die keine Kinder mehr sind, ein sich ständig wandelnder Zustand; es ist gerade so, als würden wir nicht bemerken, dass die langen Schatten bei Sonnenuntergang und der Tau am Morgen anders sind als das direkte, klare Licht am Mittag, und einfach alles Tag nennen. Wenn man Glück hat, verändert man sich, stärkt mit der Zeit die eigene Identität und Entschlusskraft; bestenfalls gewinnt man an Orientierung und Klarheit, und an die Stelle der Naivität und Dringlichkeit der Jugend, die langsam schwinden, treten Ruhe und etwas, das womöglich Reife ist. Heute, im fortgeschrittenen Alter, kommen mir selbst Leute in ihren Zwanzigern wie Kinder vor, nicht im Sinne von Unwissenheit, sondern von Neuheit: Man sieht oder erlebt vieles zum ersten Mal, hat das ganze Leben noch vor sich und ist vor allem mit der heroischen Aufgabe des Werdens beschäftigt.

Manchmal beneide ich Menschen, die noch am Anfang ihres langen Lebenswegs stehen, die noch so viele Entscheidungen vor sich haben, so viele Abzweigungen. Wenn ich mir ihren Weg vorstelle, sehe ich immer eine richtige Straße vor mir, die sich wieder und wieder gabelt, spüre sie, schattig, von Wald gesäumt, erfüllt von der Ängstlichkeit und Aufregung des Entscheidens, der ersten Schritte in die neue Richtung, ohne zu wissen, wo man landen wird.

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Die New Strangers Home Baptist Church lag zwei Blocks östlich von meiner Wohnung in einem dreistöckigen viktorianischen Gebäude mit zwei an Getreidesilos erinnernden, von Kreuzen gekrönten Türmchen an den Seiten und – eine Besonderheit in diesem Viertel von direkt an den Gehweg grenzenden Häusern – einem kleinen Rasenstück vor dem Haus, auf dem inmitten einiger kümmerlicher Rosen ein Holzschild mit dem Namen der Kirche stand. Jahr um Jahr ging ich daran vorbei und überlegte, was diese new strangers, diese neuen Fremden, wohl sein mochten. Die Solid Rock Baptist Church ein Stück weiter oben, wo die Lyon Street steil anstieg, war eines von mehreren Gotteshäusern, vor denen ich manchmal stehen blieb, um dem Gospelgesang drinnen zuzuhören. Ich war eine Außenseiterin, eine neue Fremde in diesem Stadtviertel, das doch selbst eine Gemeinschaft von Außenseitern innerhalb der weißen Gesellschaft war, in der ich mich frei bewegen konnte und zu der ich dazugehörte.

Es war ein kleines Stadtviertel, fünf Blocks breit und sechs Blocks lang, von breiten Boulevards im Osten und Westen, dem grünen Streifen des Golden Gate Park im Süden und einem steilen Hügel im Norden begrenzt, der wie eine Art Mauer wirkte.

Die Kirche befand sich in einem hübschen Gebäude, das in einer weißeren Zeit eine Mormonenkirche gewesen war, und die Trauerfeier war aufwühlend, voller Musik und mit tief beeindruckenden Reden. Die gepflegte eckige Kirche, verputzt und in Pastellfarben gestrichen, sah aus, als wäre sie aus einem Renaissance-Heiligenbild gefallen. Ihr gegenüber befand sich eine kleine Ladenkirche, in der ich in meinen Anfangsjahren einmal einen Gottesdienst besuchte; das Kruzifix über dem Altar bestand aus Eierkartons, die mit den Ausbeulungen nach außen zusammengefügt worden waren. Es gab noch weitere schwarze Kirchen im diesem kleinen Viertel. Man war nie sehr weit von der Frömmigkeit entfernt.

Eine schöne, in reinem Weiß gestrichene Villa beherbergte das Brahma Kumaris Meditation Center, und als einige Jahre später Aids zur weltweiten Geißel wurde, eröffneten Mutter Teresas Missionarinnen der Nächstenliebe ein Aids-Hospiz in einem großen viktorianischen Holzhaus gegenüber von meiner Wohnung; die Nonnen in ihren dünnen weißen Baumwollsaris mit den blauen Streifen wurden ein vertrauter Anblick in der Nachbarschaft. Ein paarmal erschien Mutter Teresa auch persönlich, und die Nonnen zeigten mir einmal ein Foto von ihr, auf dem sie vor unserem in arabischem Besitz befindlichen und

Womit ich sagen will, dass ich in einem kleinen Viertel von großer und vielfältiger Spiritualität wohnte, in dem hingebungsvoll der Himmel und verschiedene Versionen von Gott angerufen wurden. In meinen ersten Jahren dort gingen die Leute zu Fuß zu ihren kleinen Kirchen, prächtig herausgeputzt, die Männer und Jungen trugen Anzüge in den verschiedensten Farben, die Frauen und Mädchen Kleider, die älteren Frauen dazu oft Kopfbedeckungen aus Satin, Tüll oder Samt, der gefaltet, gerafft, gerüscht, beschleiert, mit Stoffblumen, Federn oder Schmucksteinen verziert war. Das Viertel war auf eine Weise lebendig, die die Vororte, in denen ich aufgewachsen war, tot und entleert erscheinen ließ, jene Wohngebiete, deren räumliche und gedankliche Konzeption den Rückzug aus dem öffentlichen Raum und ein Minimum an zwischenmenschlichem Kontakt vorsah; in denen die Erwachsenen nur im Auto unterwegs waren, die Leute für sich blieben und die Zäune unsere Köpfe überragten.

Manchmal sah ich aus meinen Erkerfenstern auf die Kirchgänger*innen hinunter, die in verschiedene Richtungen schlenderten, manchmal schlenderte ich auch selbst durch das Gewühl von Menschen, die einander vor oder nach dem Gottesdienst begrüßten. Die Nachbarschaft war von quirligem Leben erfüllt in jenen Tagen, als die Gläubigen zu Fuß zu ihren jeweiligen Gebetshäusern und danach wieder nach Hause gingen, durch

Die älteren Leute dort waren während der großen Wanderungsbewegung von Schwarzen aus den Südstaaten hierhergekommen, und ihre Lebensweise in diesem Viertel war mindestens genauso sehr von den Südstaaten und einem kleinstädtischen oder ländlichen Leben geprägt wie von der Vitalität der Großstadt. Wenn ich ihre Geschichten hörte, spürte ich schemenhaft die Gegenwart jener anderen Orte, die in ihren Erinnerungen, ihren Lebenswegen, ihren Verhaltensmustern lebendig blieben. Die schwarze Bevölkerung von San Francisco hatte sich in den vierziger Jahren fast verzehnfacht, und die Neuankömmlinge hatten sich an zwei Orten konzentriert, zum einen in dieser Gegend nicht weit vom geographischen Mittelpunkt der Stadt, zum anderen in Hunter’s Point im äußersten Südosten, wo die Werften Arbeit boten.

Diese älteren Leute hatten es nicht eilig, darin blieben sie Landmenschen. Sie schauten, wer des Weges kam, grüßten, wen sie kannten, riefen auch mal einem Kind etwas zu, das sich danebennahm. Von ihnen lernte ich, dass eine Plauderei, auch mit Unbekannten, ein Geschenk sein kann, sogar eine unterhaltsame Herausforderung, eine Gelegenheit für Herzlichkeit, Neckereien, gute Wünsche, Humor, ich lernte, dass gesprochene Worte ein kleines Feuer sein können, an dem man sich wärmen

Mr. Young war im ländlichen Oklahoma aufgewachsen, und Mr. Ernest P. Teal, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite wohnte, aber in einer der Garagen bei uns im Haus einen langen, luxuriösen Wagen aus den Siebzigern stehen hatte, stammte aus Texas. Mr. Teal war stets elegant gekleidet, trug Variationen von Sakko mit Filzhut, oft Tweed und andere Stoffe mit Textur. Er war ein stilbewusster Mann, der mir Geschichten über die Blütezeit des Jazz im Fillmore District erzählte, und zugleich war er ein frommer Mensch, der eine ungemeine Güte und Herzlichkeit ausstrahlte, der lebende Beweis, dass Coolness und Wärme kein Widerspruch sein müssen.

Um die Ecke wohnte Mrs. Veobie Moss, in einem Haus, das ihre Schwester mit den Ersparnissen aus ihrer Arbeit als Hausangestellte gekauft und ihr vererbt hatte. Als Mrs. Moss alt und vergesslich wurde, saß sie oft auf ihren hölzernen Türstufen mit Blick nach Süden, und wenn ich stehen blieb, um mit ihr zu plaudern, erzählte sie mir gern von der Obstplantage in Georgia, auf der sie aufgewachsen war, und den wunderschönen Obstbäumen dort. Es war, als säße sie auf ihrer Treppe an zwei Orten und zu zwei Zeiten zugleich, sie beschwor in unseren Unterhaltungen ihre verlorengegangene Welt herauf, bis wir beide im Schatten ihrer geliebten Obstbäume saßen. Manchmal stellte ich mir nachts vor, dass all die alten Leute, die in den Häusern

Mr. Young hatte im Zweiten Weltkrieg gekämpft, und der Krieg war es auch gewesen, der ihn seinem ländlichen Umfeld entrissen und hierhergebracht hatte. Seiner Militärakte zufolge war er Farmarbeiter und ledig, als er mit zweiundzwanzig Jahren in Choctaw County, Oklahoma, eingezogen wurde. Er war bei der Army geblieben, hatte lang genug gedient, um eine Pension zu beziehen. Er sagte mir, er sei einer jener schwarzen Soldaten gewesen, an denen man Giftgas testete. Er sprach von einer Lagerhalle oder einem Hangar voller Gas, durch das die Männer ohne Gasmasken hindurchrennen mussten. Einige seien dabei umgekommen.

Er fuhr einen großen braunen Pick-up mit Wohnkabine, der in der Garage gleich links neben unserem Hauseingang geparkt war. Oft stand er in der Garagentür, an den Torpfosten oder seinen Pick-up gelehnt, grüßte Passanten, plauderte mit dem einen oder der anderen, wies ein Kind zurecht, das Unfug trieb; im Sommer fuhr er häufig nach Vallejo, um eine Ladung Melonen zu besorgen, die er dann bei uns verkaufte. Manchmal erhaschte ich einen Blick auf eine Pistole, die er seitlich in seiner Latzhose stecken hatte. Er rauchte Pfeife, und der Geruch des süßen Tabaks stieg manchmal durch die Lüftungsschlitze in meine Küche auf, die über seinem Schlafzimmer lag. Wenn ich ihm begegnete, unterhielten wir uns immer ein bisschen oder tauschten zumindest ein paar Nettigkeiten aus, weshalb ich mich, wenn ich es eilig hatte, regelrecht davor fürchtete, ihm im Flur zu begegnen, denn alles unter fünf Minuten Plauderei erschien mir unhöflich.

Er erzählte mir, wie es gewesen war, im Südosten von

So viele Jahre nachdem ich diese Geschichte erzählt bekam, sehe ich immer noch das Bild vor mir, das in meinem Kopf entstand, während ich Mr. Young zuhörte, ein Holzhaus irgendwo auf dem Land, ein Tisch, eine Anrichte, vielleicht eine Veranda, ringsum vielleicht Maisfelder. Davor vielleicht eins der gestohlenen schnellen Autos, mit denen die Barrow Gang unterwegs war, Weiße im Lebensbereich einer schwarzen Familie. Und so etwas war auch ich in diesem Mietshaus, in das Mr. Young mich eingeladen hatte, in diesem Viertel, in das viele Schwarze gezogen waren, nachdem man sie – im Namen der Stadterneuerung, des urban renewal, damals spöttisch negro removal, Negerentfernung, genannt – aus dem Fillmore District vertrieben hatte, dieselben Familien, die gekommen waren, um den Südstaaten zu entfliehen, nun ein weiteres Mal verdrängt,

Menschen werden auf so vielfältige Art und Weise gezwungen zu verschwinden, werden entwurzelt, ausgelöscht, der Erzählung und des Orts verwiesen. Diese Vorgänge überlagern einander wie geologische Schichten: Das Volk der Ohlone hatte jahrtausendelang auf der San-Francisco-Halbinsel gewohnt, bevor die Spanier einfielen und die ganze Küste in Besitz nahmen, später wurde sie zur dünnbesiedelten Randzone eines unabhängigen Mexiko. Nachdem die Vereinigten Staaten Kalifornien und den Südwesten erobert hatten, wurden die mexikanischen Einwohner ihrer weitläufigen ranchos beraubt und fortan als unterprivilegierte Klasse oder als Eindringlinge oder beides behandelt, auch wenn ihre Namen an vielen Orten überdauert haben, die Namen von Heiligen und Ranchern.

Gleich nördlich und westlich unseres Viertels hatte sich im neunzehnten Jahrhundert ein riesiger Friedhofsbezirk befunden, aus dem in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Toten zu Zehntausenden hatten weichen müssen, damit man das Land profitabler nutzen konnte. Die Skelette wurden in Massengräbern zusammengeworfen, die Grabsteine als Baumaterial oder zur Geländeauffüllung verwendet; in einer kleinen Parkanlage südlich von uns gab es Rinnsteine, die mit Bruchstücken von Grabsteinen eingefasst waren, auf denen die Inschriften zum Teil noch lesbar waren. Einen kurzen Spaziergang Richtung Osten entfernt lag Japantown, dessen japanischstämmige Bewohner*innen im Krieg fast alle in Internierungslager zwangsumgesiedelt worden waren; ihre leerstehenden Wohnungen wurden bald von schwarzen Arbeitern und Familien belegt, die wegen der Arbeitsplätze in den Werften und der Kriegsindustrie zugewandert waren. Dies alles gehörte zur Vergangenheit des Viertels, als ich dort hinzog, doch ich erfuhr erst viel später davon.

Die schönen Holzhäuser waren Ende des neunzehnten und