De Fontenelle (16871757)

Zu der Zeit guckte ich alles. Während die Abende mit dem Korrigieren von Klassenarbeiten verstrichen, zeichnete der Videorecorder die Sendungen auf, die ich mir nachts ansah. Ich hockte vor dem Fernseher, bis sich das Unwetter hinter meinen Augen ausgetobt hatte, worauf ich, auf dem Sofa liegend, ein paar Stunden durch lautlose Träume lief.

Obwohl das Gegenteil näherliegend erscheint, verminderte sich dank des Videorecorders die Anspannung in der Schule. Die Bilder und Geräusche, die ich nachts im Fernsehen gesehen und gehört hatte und morgens, wenn ich mit dem Fahrrad zu dem verfallenen neoklassizistischen Gebäude im Stadtzentrum fuhr, in meiner Stirn vorfand (seltsamerweise schienen sie sich dort aufzuhalten – nicht im Hinterkopf, nicht irgendwo im Innern, sondern in der Region über meinen Augenbrauen, die schwer und massig auf meine Augäpfel drückte), verblaßten im Laufe des Tages und lösten sich

Diese Phase, die zeitlich nicht sehr weit hinter mir liegt und doch längst vergangen scheint, dauerte ungefähr sechs Monate, das zweite Schulhalbjahr lang. Unaufhörlich drohte mir damals blinde Panik (ein jeden Gegenstand anfressendes Beben, ein fundamentaler Zweifel, der Wände aufreißt und Fußböden spaltet), die meinen Kopf immer tiefer höhlte, ohne daß ich imstande gewesen wäre, sie auszuräuchern: Zischelnd fraß sie sich weiter, nagend, quälend.

Den letzten Schultag feierte ich mit einer ununterbrochenen Fernsehsession bis weit in den Vormittag des nächsten Tages hinein. Meine beiden Töchter krabbelten morgens zu mir auf den Schoß und guckten mit, bis Mieke, meine Frau, sie wütend wegschickte. Sie habe mich nachts wieder mit

Ich erwachte am späten Nachmittag. Der tiefe, traumlose Schlaf hatte meinen Kopf gereinigt, und ich schaute gedankenlos zu den Balkontüren, die Mieke geöffnet hatte (denn ich konnte mich nicht entsinnen, daß ich selbst dorthin gegangen war, bevor ich mich ins Bett gelegt hatte). Sie gewährten einen harmonischen Ausblick, der mir so noch nie aufgefallen war. Der zufällige Stand der Türen und der Sonne, dazu die große Ulme in einem der hinteren Gärten und meine eigene Position – ich lag seltsamerweise mit dem Kopf zum Fußende – bewirkten eine Bildkomposition, die ich als harmonisch empfand: Der Abstand zwischen den Falten der reglos herabhängenden Gardinen schien genauso groß zu sein wie der zwischen den weißen Eisenstäben des Balkongeländers, so daß ein bestimmter Rhythmus von der Gardine links auf das Geländer übersprang, sich dort fortsetzte und dann in der Gardine rechts seinen Abschluß fand.

Ich stand auf und ging ins Wohnzimmer. Der große, helle Raum mit seinen selbstverständlichen

Ich flüchtete in mein Arbeitszimmer, denn ich wollte nicht, daß Mieke mich erneut vor dem Fernseher antreffen würde. Auf den leeren Schreibtisch (der unentwirrbare Papierwust befand sich in den

»Bin mit Hanna und Mirjam zu meiner Mutter. Werden wohl zum Essen bei ihr bleiben. Sind gegen halb neun wieder zu Hause. Überleg dir, was du tust. Schreib bitte dein Buch fertig, auch wenn es nicht das ist, was dich eigentlich beschäftigt. Ich weiß, daß es um deine Eltern geht. Vielleicht nicht nur um sie als Personen, sondern auch um ihre Abstraktion, aber das Buch leitet sich davon ab. Wenn du das Buch fertig hast, wenn du diese Aufgabe vollbracht hast, wird sich hoffentlich auch dein Hang legen, dich langsam, aber sicher zu verflüchtigen. Fehlen dir noch Informationen? Vielleicht mußt du noch einmal nach Paris. Nimm dir alle Zeit. Notfalls fahre ich allein mit den Mädchen nach Zeeland, und du bleibst zu Hause, um zu arbeiten. Bitte denk darüber nach. Mieke.«

Abends, nach ihrer Rückkehr und der Gutenachtgeschichte im Kinderzimmer, sagte ich Mieke, daß ich gern noch mal nach Paris wolle. Sie nickte schweigend und wartete auf weitere Erklärungen, die ich jedoch unterließ. Die Lüge mit dem Buch und die Leichtigkeit, mit der sie mir über die Lippen

Komischerweise begann ich selbst an die Geschichte zu glauben, daß ich des Buches wegen nach Paris fuhr. Am nächsten Tag, Sonntag, zog ich aus den verborgensten Tiefen meines Schreibtischs das Manuskript hervor; ich las mir den letzten Teil noch einmal durch, machte Anmerkungen und versuchte zu sondieren, welche Originale ich einsehen mußte, um meine Probleme zu lösen. Ich schien frischen Mut aus dem Gedanken zu schöpfen, daß ich mich binnen kurzem erneut über das historische Material beugen und die aus dem vergilbten Papier aufsteigende Zeit schnuppern konnte. Das war jedoch reinste Heuchelei, denn es lag auf der Hand, daß ich in Paris lediglich die Auspuffgase vom lebhaften Urlaubsverkehr einatmen, aber keine Bibliothek von innen sehen würde. Meiner Gemütsruhe zuliebe spielte ich den eifrigen Quellenforscher, der aufgeregt vom einen Archiv zum nächsten rannte und beim Anblick verstaubter Bücher und Handschriften, die bei ihrer Berührung auseinanderfallen konnten, in Verzückung geriet.

Doch über dieses Stadium war ich längst hinaus.

Alter Krempel, verstaubter Mist, muffiges dummes Zeug bist du, schrie ich durch den Gang (in Gedanken), mich kriegst du nicht, sieh doch, wie ich hier gehe und wandele und mich nicht um deine Wendigkeit schere, sieh, wie ich dir den Rücken zukehre und auf deine Macht pfeife!

In heller Panik verließ ich das Archiv, und ich beruhigte mich erst nach einem mehrstündigen Spaziergang entlang der Seine, der mich in den Außenbezirk Villeneuve-le-Roi führte, wo die Flugzeuge im Landeanflug auf Orly die Dächer berührten. In einem Restaurant an der Avenue de la République, kaum einen Kilometer von der Landebahn entfernt, aß ich zum erstenmal in den dreiundzwanzig Jahren, die ich damals alt war, ein Stück Schweinefleisch. Ich mußte eine Tat vollbringen, hatte ich mir unterwegs überlegt, ich mußte mir beweisen, daß ich frei war und von dem scheußlichen Gewicht, das ich mit mir herumgeschleppt hatte, nichts als einen leichten Muskelkater

So also schmeckte Fleisch, das trejfe war, wie Kalbfleisch, aber weniger fade, würziger vielleicht, schärfer. Meine Zunge schickte das Stückchen Fleisch durch meinen Mund, führte es den Bakkenzähnen

Ich genoß die Rache am Archiv. Was kümmerten mich die Gebräuche eines Nomadenvolkes, das vor Jahrtausenden in unwirtlichen Gebieten umhergezogen war und sein Verhalten den allmählich erworbenen Kenntnissen in Hygiene angepaßt hatte. 1966 noch nach Hygienevorschriften von vor dreitausend Jahren zu leben war unsinnig. Ich gehörte zu nichts und niemandem und konnte, wenn mir danach war, an einem Tisch in einem Restaurant Platz nehmen und etwas bestellen, das trejfe war. Geschichte existierte nicht. Archive waren Sammelstellen für nutzloses Altpapier.

Doch mein Magen reagierte mechanisch. Im Vorstadtzug, der mich zur Gare d’Austerlitz brachte, mußte ich mich eine Viertelstunde nach dem Essen übergeben. Mit rachsüchtiger Heftigkeit drehte sich mir der Magen um, und der Salat und die Tomaten und die faserigen Stückchen Fleisch schwappten über meine Zunge auf den blitzsauberen Gangboden. Ich genierte mich, schob das Erbrochene ungeschickt auf eine von einer mitfühlenden älteren Dame angereichte Zeitung und machte mir in der

Tagelang redete ich mir ein, daß dieser Vorfall keine Bedeutung habe. Mein Magen sei solches Fleisch nicht gewöhnt und habe lediglich auf unbekannte Nahrung reagiert. Ich streifte durch die Stadt, während ich in der Bibliothèque Nationale nach Dokumenten und Handschriften hätte spähen müssen. Das wenige Geld, das ich hatte, ging mir bald aus, ohne daß mein Parisaufenthalt den geringsten Fortschritt für meine Hausarbeit erbracht hatte. Kurz bevor ich mein Hotelzimmer in der Nähe der Place de Clichy räumen mußte, weil ich es nicht mehr bezahlen konnte, stattete ich dem Archiv noch einen kurzen Besuch ab. Ich behielt die Nerven unter Kontrolle, schlug nach, was ich benötigte, und notierte in fieberhafter Eile Besonderheiten für meine Hausarbeit über die Flucht Ludwigs XVI. nach Varennes zu Beginn der Französischen Revolution.

Im Zug nach Amsterdam stieg aus der sonnenüberfluteten Landschaft in ersten vagen Umrissen auf, was sich elf Jahre später zum Konzept für ein Buch verdichten sollte. Draußen hinter dem Fenster, in der heißen Luft zwischen den gelben Hügeln,

 

Ich arbeitete nun schon drei Jahre an dem Buch, das ich mich damals nicht zu schreiben getraut hatte. Es umfaßte Hunderte dicht beschriebener Seiten und stellte meine Gegenstudie zur Flucht der französischen Königsfamilie aus den Tuilerien dar, die hoffnungslos mißglückt war, in meinem Buch jedoch gelang.

Schon während meines Studiums hatte ich eine Vorliebe für hypothetische Fälle gehabt, für die sogenannte Modellbildung, wie der Fachterminus lautete. Sie begann mit dem magischen Wörtchen wenn; wenn nun aber …, und dann entwickelte sich ein atemberaubendes Spiel mit unberechenbaren Ergebnissen.

Elf Jahre nach dem ersten Besuch der Bibliothèque Nationale, der den Grundstein gelegt hatte, hatte ich das Buch angefangen, und ich arbeitete immer noch daran. Doch ich hatte in den vergangenen

Wir hatten vereinbart, daß ich vier, fünf Tage für das Buch nach Paris fahren würde. Montags, nachdem ich den gesamten vorherigen Tag mit dem letzten Teil des Manuskripts zugebracht hatte, rief Pauline an. Sie komme am nächsten Tag nach Amsterdam, sagte sie, und würde mich gern sehen, mit mir ins Van Gogh und ins Stedelijk Museum gehen. (Zwischen ihren Worten, die sie in den schwarzen Hörer ihres Pariser Telefons sprach, hörte ich den unter dem geöffneten Fenster ihres Appartements dahinrasenden Verkehr, und die alte Metro fuhr durch das rußgeschwärzte Klettergerüst hoch über der Straße an ihrem Zimmer vorbei, auf ihrem nackten Rücken dünne Streifen Sonnenlicht, die sich zwischen den Fensterläden hereingestohlen hatten, Schweiß.) Mieke hatte den Anruf entgegengenommen, blieb während des Gesprächs im Raum und lauschte kopfschüttelnd meinem unbeholfenen

Pauline kam. Wir trafen uns ein paarmal, und als Mieke mit den Kindern nach Zeeland fuhr, stieg ich mit ihr in den Zug nach Paris.

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