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Johannes V. Jensen

Des Königs Fall

Julia Koppel

Saga

FRÜHLING

Michel

Die Landstrasse bog nach links ab, führte über eine Brücke und lief dann auf das Dorf Serritslev zu, das dicht vor Kopenhagen lag. Die Gräben waren mit dunklem Gras und gelben Blumen gesäumt, über den Feldern ruhte hier und da fahles Licht, Blumennebel in der Dämmerung. Die Sonne war untergegangen, der Himmel wölbte sich in kühler Klarheit, wolkenlos, aber ohne Sterne.

Eine Heufuhre kam vom Lande und fuhr in das Dorf ein, langsam und auf dem schlechten Wege schwankend. Wie sie so in der Dämmerung durch die enge Dorfstrasse schlich, glich sie einem grossen, kurzbeinigen, zottigen Tier, das vorwärts stapfte und den Erdboden beschnüffelte, in Betrachtung versunken.

Die Fuhre hielt vor dem Serritslever Krug; die schwitzenden Pferde wandten die Köpfe und kauten auf dem Zaum, das Stillstehen behagte ihnen. Der Kutscher schwang sich auf die Deichsel herab, sprang zur Erde und befestigte die Zügel. Darauf wandte er sich dem Krug zu, schnäuzte sich die Nase und rief:

„He, ist jemand da?“

Was — es schimmerte hell hinter den Fenstern, hatte man drinnen Licht angezündet? Im selben Augenblick erschien ein Mädchen in der Tür. Der Kutscher bestellte einen Schnaps. Während er darauf wartete, wurde es im Heu lebendig, zwei lange Beine schoben sich vorsichtig heraus und suchten die Deichsel, die Gestalt lag auf dem Bauch und grunzte beschwerlich. Schliesslich stand sie auf der Erde und schüttelte sich — ein langer, knochiger Mensch mit einer Mütze auf dem Kopf.

„Prost!“ sagte er. Der Kutscher goss den roten Schnaps hinunter und hustete tüchtig. Ob er gleich weiter wolle? Sonst könnten sie ja mal im Wirtshaus einen Schnaps auf gute Weggenossenschaft miteinander trinken.

Als sie ins Licht traten, blieb aber der Kutscher vor Ehrerbietung in der Tür stehen; auch der andere verlor seine Sicherheit. Mitten in der Stube sassen vier vornehme Landsknechte von der sächsischen Garde, die kürzlich in Kopenhagen eingezogen war. Sie strahlten vor Kleiderpracht, ihre roten Puffärmel, Federn und Bärte fingen den Blick wie ein Freudenfeuer. Schwerter und Speere, gediegene Waffen, standen gegen Tisch und Bänke gelehnt. Ein jeder konnte sehen, dass die Lederstrippen einen Fall hatten, der von geübter Hantierung herrührte. Alle vier wandten die Köpfe, drehten sich aber gleich wieder um und setzten ihre Unterhaltung fort.

Das Mädchen brachte zwei Krüge Bier und stellte ein Licht auf den kleinen Tisch neben der Tür. Kaum war sie draussen, als einer der Landsknechte am anderen Tisch sich aufrichtete und in lautes Gelächter ausbrach.

„Seht den da mit der Mütze — ei, ist der spassig!“ Er sprach deutsch.

Die andern wandten sich gutmütig um, mussten aber auch lachen. Der Lange stand mit Krummen Knien da und trank, wobei seine spitze Rase über den Krug ragte. Er bot wahrlich einen komischen Anblick. Nachdem er getrunken hatte, setzte er sich gelassen nieder, das Licht fiel ihm in die Augen, er blinzelte zum Tisch hinüber, halb beleidigt, halb gutmütig spöttisch wie ein Mann, der Lebensphilosophie besitzt.

Da erhob sich der eine der Burschen, trat einige Schritte vor und begann höflich in seinem Deutsch:

„Unser Lachen war nicht bös gemeint — wollen Sie uns nicht die Ehre antun und ein Glas Wein mit uns trinken?“

„Danke“, sagte der Lange und trat mit vielen Kratzfüssen an den Tisch heran. Bevor er über die Bank stieg und sich setzte, machte er jedem einzelnen eine Verbeugung und nannte seinen Namen, Michel Thögersen, Studiosus. Dann fuhr er sich verlegen durchs Haar und rieb die Handflächen gegen seine rauhen Backen. Er hörte, wie vier Namen genannt wurden, wovon der eine dänisch klang, und sah ein Glas blutroten Weines vor sich auf dem Tisch glühen. Und prost, prost!

Ihr Herren! Michel Thögersen tat mit Anstand Bescheid und richtete seinen langen, dünnen Körper höher auf, während der Wein ihm die Kehle hinabfloss. Er liess seinen Blick hastig über den Tisch schweifen und musterte den einen der Herren, den jüngsten, der seinen Kopf in die Hand stützte. Es war eine weisse, feste Hand ohne sichtbare Adern oder Knöchel, die Finger gruben sich in das hellbraune Haar. Das Gesicht war länglich — der Ausdruck rief plötzlich die Erinnerung an einen Seiltänzer in Michel wach, den er mal auf einem Jahrmarkt gesehen hatte, einen jungen Luftspringer, der einsam in einem Winkel sass und sich nicht an der Vorstellung beteiligte — krank wahrscheinlich. Michel erinnerte sich des jungen leidenden Gesichts — gerade solche Augen hatte der da. Ausserdem aber meinte Michel ihn zu kennen. Wer war er, wo hatte er ihn schon gesehen? Er sah aus wie ein Edelmann.

Von neuem stand ein gefülltes Glas vor Michel Thögersen. Er tat voll Sittsamkeit Bescheid, während er von angestrengtem Nachdenken zerstreut und durch den Anblick des jungen Menschen auf der anderen Seite des Tisches ganz umnebelt war. Der braune Kopf war wie von Mystik umflossen; jetzt wandte der junge Mensch ihm seine Brust ganz zu, und Michel sah, dass die Arme ungewöhnlich weit auseinauseinander sassen; er war auffallend gut gewachsen; weshalb mochte er Kummer haben? Seine Züge eigneten sich besser zur Heiterkeit.

Es wurde lebhaft geschwatzt, die vier Soldaten begegneten Michel mit Zuvorkommenheit. Uno Michel fühlte sich diesen Deutschen gegenüber voll Zuversicht, denn sie konnten ja nicht wissen, dass man ihn in der Stadt „Storch“ nannte. Michel radebrechte sehr gelassen Deutsch, wurde aber immer wieder zerstreut, weil er es doch nicht lassen konnte, an seinen Spitznamen zu denken… andererseits aber wussten diese Deutschen auch nicht, dass er in einem engeren Kreis als Verfasser von lateinischen Oden und Distichen bekannt war... warum sagte der junge Mann dort nichts?

Otte Iversen! Da fiel der Name. Er war es also wirklich. Im selben Augenblick erinnerte Michel sich eines grauen, baufälligen Tores, einer Mauer und eines Turmes in seiner Heimat in Jütland — und er sah sich selbst mager und schüchtern davor stehen. Es war lange her. Das also war der Junker Otte, den er als schmächtigen Knaben einen Augenblick im Burghof gesehen hatte und nie wieder vergessen konnte. Er hatte zwischen einem Rudel Hunde gestanden, mit einem zerzausten Falken auf dem Daumen. Und nun sass er hier, grossgewachsen, schlank wie ein Page.

Die Landsknechte kicherten. Michel nahm sich zusammen und trank einen Schluck.

Der Fuhrmann erschien in der Tür. „Ich fahr weiter“, sagte er, stellte einen Sack und einen kleinen Korb mit Eiern neben der Tür auf den Fussboden und verschwand. Das war Michels Eigentum, die Ausbeute seines Bettelausflugs aufs Land — da stand seine Schmach ganz nackt an der Tür; er kehrte ihr verwirrt den Rücken.

Die deutschen Soldaten aber lachten und bekamen einen guten Einfall — Eier waren nie zu verachten. Michel gab ihnen die Eier, froh und doch gedemütigt, und sie wurden alle roh getrunken. Otte Iversen wollte keine und sagte noch immer nichts.

Michel sass heiss und verlegen und freundlich auf der Bank, der leckere Wein befreite ihn von seiner Schwere, aber trotzdem fühlte er sich missgestimmt. Sein Herz flog den sorglosen Herren zu, und dennoch verliess ihn nicht die Angst, dass er ihnen ausgeliefert sei — seine Stimmung begann in Rhythmen zu schaukeln und zu schwimmen. Er blickte verstohlen zu Junker Otte hinüber, verliebt, misstrauisch, kriechend... ob er ihn wohl erkannte? — Ach, wenn er ihn nur nicht erkennen würde!

Der eine der deutschen Kriegsknechte hatte eine Narbe auf der Oberlippe; sie wurde durch den Bart nur halb verdeckt und verursachte, dass er lispelte. Michel Thögersen hörte den losen Reden zu und amüsierte sich wehmütig — ihm wurde heiss bei all dem, was er zu hören bekam. Und während Wein und Wohlbehagen seinen Sinn lösten, verhärtete er sich inwendig, fühlte eine rauhe Kälte in sich aufsteigen, hielt sie aber nieder und sammelte sich.

Die drei Deutschen trieben sich beim Schenktisch herum. Michel Thögersen und Otte Iversen blieben allein am Tisch sitzen. Keiner von ihnen sagte etwas, Michel versuchte in sich zu gehen. Er blickte in die Dunkelheit zwischen Tisch und Bank hinunter und empfand eine bittere Einsamkeit. Aber er wollte sich zufrieden geben, seufzte, zog seine Storchbeine an sich, wischte sich den Schweiss von der Stirn und fasste sich. Otte Iversen drehte seinen Becher zwischen den Händen; er sah noch immer aus, als ob er krank sei.

Als die Deutschen mit neuentdeckten Getränken zurückkamen, hatte Michel Thögersen sich gesammelt, trank verständig und ohne Unruhe. Jetzt kneipten sie alle darauflos und dachten an nichts weiter. Otte Iversen leerte seinen Becher, sooft er gefüllt wurde, und veränderte sich nicht im geringsten dabei. Clas, der Mann mit der Narbe in der Lippe, stimmte ein Lied an, das recht seltsam klang.

Michel Thögersen nahm eines der gewaltigen Zweihandschwerter und wog es prüfend in der Hand — sie zeigten ihm die Griffe. Jedesmal, wenn die scharfe Spitze sich auf ihn richtete, zog es hässlich wie ein eiskalter Wind durch sein Rückgrat — das wunderte ihn, er fürchtete sich doch sonst nicht vorm Messer.

Und Clas sang:

Ei werd’ ich dann erschossen,

Erschossen auf weiter Heid’

Man trägt mich auf langen Spiessen,

Ein Grab ist mir bereit;

So schlägt man mir den Pumerlein Pum,

Das ist mir neunmal lieber

Denn aller Pfaffen Gebrumm.

Die Hälfte der Worte rann ihm in den Bart. Man wartete mit Kriegsgeschichten auf, von Gefechten hier und dort — hui, hui — von Sieg und Todesgefahren und…

„Heinrich, erinnerst du dich noch der blonden Leonore?“ schrie Glas ausgelassen. Ja, Heinrich erinnerte sich ihrer noch. Die Geschichte sprudelte ihm aus dem Munde, Clas und Samuel wälzten sich vor Lachen.

Michel Thögersen aber schwieg und wand sich unter diesem Schwall von Offenherzigkeit, er schielte zu Otto Iversen hinüber — und er allein bemerkte ein Lächeln auf dem jungen, hochmütigen Gesicht, einen kaum sichtbaren Zug um die Lippen, als habe Junker Otte einen widerlichen Geruch gespürt.

Michel wurde das Atmen schwer, er strich sich wieder und wieder über die Stirn.

Heinrich aber erzählte drauflos. Otte Iversen wandte sich vom Tisch ab und schlug die Beine übereinander. Als die Erzählung schliesslich beendigt war, wurde es ganz still, als hätte man seine Verstimmtheit gespürt. Vielleicht merkte Otte Iversen, dass er die Pause verschuldet hatte — er drehte sich zum Tisch um, als wolle er seine Meinung vertreten, und blickte dem Erzähler fest ins Auge.

Heinrich sah ganz betroffen aus. Da aber fuhr Samuel mit einer anderen Geschichte dazwischen. Er war nicht jung und erzählte nicht von Liebe, sondern von einer grossen wahnsinnigen Schlachterei, die er mal mitgemacht, wobei sie den Leuten die Gedärme mit ihren Stiefelhacken aus dem Leib getreten und in ihrem eigenen Mist erstickt hatten. Die Erzählung machte die Luft in der Stube roher und frischer. Clas kam mit eifrigen Kennerfragen, Michel Thögersen musste plötzlich über seinen drolligen Sprachfehler lachen, hob die Nase und platzte los — gru, gru! Da sah Otte Iversen langsam auf und verzog widerwillig die Lippen, und schliesslich legte auch er den Kopf in den Nacken und lachte. Sein Gelächter klang wie eine Knarre. Auf einmal, Punktum, hielt er inne und sass wieder verschlossen da wie vorher.

Kurz darauf brachen sie auf, um noch vor Torschluss in die Stadt zu gelangen. Als sie ins Freie kamen, fühlte Michel Thögersen wieder den Abstand zwischen sich und den Soldaten, hielt sich bescheiden zurück und verabschiedete sich, sobald sie durchs Nordtor gekommen waren. Die Landsknechte gingen tiefer in die Stadt hinein; Michel sah ihnen eine Weile nach, bevor er sich nach links wandte, um nach Hause zu gehen.

Kopenhagen bei Nacht

Michel Thögersen wohnte in einem Haufe, das dem Palisadenwerk von Pusterwig gegenüber lag; dort bewohnte er eine Bodenkammer zusammen mit einem anderen Studenten, Ove Gabriel. Als Michel hereintrat, sass Ove wie gewöhnlich bei einem Pfenniglicht und studierte; er sah von seinen Büchern auf, las aber gleich weiter.

Michel warf sich vor dem anderen Tischende auf einen Stuhl und wühlte zwischen seinen Kollegheften. Hier hatte er heute morgen aufgehört, und nichts hatte sich seitdem geändert.

Michel atmete geräuschvoll. Da sah Ove Gabriel zu ihm hinüber und wischte sich mit der hohlen Hand langsam übers Gesicht.

„Du hast getrunken“, sagte er. Er stellte es nur fest und sah Michel mit seinen runden, moralischen Augen an, die weder blinzelten noch tränten. Michel Thögersen hatte dieses unverändert laudable Gesicht nun seit drei Jahren vor Augen gehabt, Ove Gabriels beredtes Schweigen hatte jederzeit über ihn zu Gericht gesessen. Ove Gabriels gerechte Augen würden ihm folgen und mit gesetzmässiger Bosheit stechen, bis er auf dem Stuhl verreckte. Über kurz oder lang würde Ove Gabriel bemerken: Erinnere dich, dass es mein Licht ist, bei dem wir studieren.

Michel Thögersen stand auf und öffnete die Dachluke; er war so lang, dass er mit seinem ganzen Oberkörper herausragte. Auf diese Weise pflegte er sich Ove Gabriels Blicken zu entziehen.

Oh! die Luft war kühl, die Sterne blitzten über seinem Kopf. Zu beiden Seiten machten die Strohdächer krumme Buckel, wie Tiere, die mit eingezogenem Kopf schlafen. Unten auf der Strasse wankte der Nachtwächter mit seiner Laterne und leuchtete die verschlossenen Türen ab. Drüben aber, auf der anderen Seite des Palisadenwerkes, glitzerte Wasser, ein Stern spiegelte sich zwischen dem Schilf im Graben. Das Land lag in der Ferne in moosgrüner Dunkelheit, von den Seen erklang lebhaftes Froschkonzert. Die Stadt hatte sich zur Ruhe begeben. Das Wasser schlug leise glucksend gegen die Pfähle im Graben. Eine Katze krümmte sich miauend auf einem Dach.

Michel Thögersen drehte sich in seinem Loch um, legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Schornsteinen und Sternen hinauf. Es schwindelte ihm. Ihm war, als ob er mit nackten Füssen über ein Bund Messer glitt. Aber so war es ihm gerade recht, denn er konnte seine Qual nicht mehr ertragen. Lieber wäre es ihm noch gewesen, wenn er an einem Strick hoch oben unterm Himmel baumelte, diese Stellung würde seinem inneren Schwindel einigermassen entsprochen haben. Michel machte eine Wendung und lehnte seine Arme gegen das kalte Dach.

Susanna! dachte er. Susanna. Und sein Sinn war so weich, dass alle stummen und leblosen Dinge um ihn her Atem und Herz zu bekommen schienen. Die tauben Häuser verhielten sich still, aber drückten eitel Güte aus, die Sterne blinzelten gerührt. Es klopfte ein Puls in der sanften Stille; über die Bucht lief eine Kräuselung, selbst die dunkle Luft schien wie ein Wesen zu erschauern, das sich seines Geheimnisses und Schicksals bewusst ist.

Der Gedanke an Susanna aber machte Michel armselig und boshaft, er lachte höhnisch vor sich hin und richtete sich auf.

Still! Von der Strasse tönten Stimmen herauf. Der Laut rief eine Vorstellung von erleuchteten Räumen und Ereignissen in ihm wach.

Michel Thögersen zog sich wieder in die Kammer zurück. Ove Gabriel stand nackend da, im Begriff, ins Bett zu steigen, seine Augen sprachen von Vollbringung, er leuchtete wie eine stille Wachskerze.

„Pfui, wie bist du mager... mich wundert’s, dass deine Seele noch in dir bleiben mag“, sagte Michel und lachte spöttisch, während er Ove Gabriels Körper von oben bis unten musterte. Er sah aus wie eine arme, abgezehrte Kuh, die gekalbt hatte. Ove Gabriel kroch unter die Felldecke, und nachdem er sich gebettet hatte, faltete er die Hände und schoss einen Vers auf seinen Zimmergenossen ab. Et nunc extingue lucem! fügte er in einem satten Lon hinzu.

Das Licht löschen, das Licht löschen! dachte Michel, es gehörte nicht viel Atem dazu. Er beugte sich herab und blies das Pfenniglicht aus, nahm dann seinen Stachelstecken und tastete sich die Stiege hinunter. Über ihm erklang Ove Gabriels satisfakte Stimme; er sprach sein Abendgebet.

Die Zeit, wo man sich auf der Strasse aufhalten durfte, war bereits vorüber, Michel Thögersen aber trotzte dem Verbot. Er bog hastig nach rechts ab und ging die Pilesträde hinunter. Als er ein Stück gegangen war, zögerte er und blieb stehen. Kein Mensch war zu sehen, alle Häuser waren dunkel, die Bäume in den Gärten stützten ihre dichten Laubkronen gegeneinander. Überall duftete es nach frischem Laub, lauwarm und säuerlich, wie nach Regen.

Michel ging langsam weiter. Als er an der nächsten Ecke vorbeikam, hörte er, dass im Sankt-Klara-Kloster Vigilie gesungen wurde; die Stimmen klangen klar und doch mauergedämpft, flehend, als rührten sie von Gefangenen unter der Erde her. Michel stellte sich vor, wie das Kruzifix drinnen rot und blau durch das Halbdunkel ragte.

Michel blieb vor einem Garten stehen, der zwischen zwei ziemlich hohen Häusern lag, durch ein Gitter von der Strasse getrennt. Dort verweilte er einige Minuten. Hin und wieder knisterte es leise, als fiele ein Haufen Laub in sich selbst zusammen. Der tauige Rand des Giebels schimmerte im Sternenlicht. Schliesslich schlich Michel zögernd weiter.

Auf dem Marktplatz war noch Leben und Licht; die fremden Kriegsknechte hielten es zu Hause nicht aus; es waren aber auch viele Bürger der Stadt darunter. Michel Thögersen wollte gerade in die Köbmager-Gade einbiegen, um nach Hause zu gehen, als er einer Schar Landsknechte begegnete, die in gehobener Stimmung daherkam.

„Da haben wir ja unseren gelehrten Freund!“ rief der eine von ihnen, und seine lispelnde Sprache verriet ihn. Es waren die vier, die Michel draussen in Serritslev getroffen hatte, und noch einige andere. Clas fasste Michel untern Arm und forderte ihn auf mitzukommen; Michel konnte nicht nein sagen. Sie bummelten von einem Laden in den anderen, und überall wurde tüchtig gezecht. Michel hatte den besten Willen, seiner Laune die Zügel schiessen zu lassen wie die andern, aber es glückte ihm nicht, weil er sah, dass Otte Iversen immer noch düster und verstimmt war. Ausserdem wusste Michel recht gut, dass die Herren sich nur mit ihm beschäftigten, weil er sie belustigte.

Sie kamen über den Höbroplatz, und hier gesellte sich ein schmächtiger, gelbholiger Gesell zu ihnen und erzählte etwas, was grossen Eindruck zu machen schien, denn der ganze Schwarm schloss sich ihm an und bog eiligst um die Ecke zur Hyskengade, wo die grossen Kaufherren wohnten. Michel wurde vergessen. Er blieb stehen und schaute sich um. Das Schloss lag still und dunkel da, nichts rührte sich, nur eine Jolle im Graben am Brückenpfeiler schaukelte sacht. Der Turm dort hinten strebte ruhig in die Luft und sah sich mit kleinen, zusammengekniffenen Guckäuglein um. Michel murmelte einige Verse von Virgil vor sich hin — von der ewigen Nacht und ihm, der wacht.

Jetzt nach Hause geben? Um im Bett zu liegen und Ove Gabriel schnarchen zu hören. Nein, Michel senkte den Kopf und folgte den andern. Dass sie ihn stehen liessen, brauchte ja nicht zu bedeuten, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollten.

In der Hyskengade war in mehreren Häusern Licht. Michel schlich an den geschlossenen Toren vorbei und spürte den eigenartigen Duft, den er schon kannte, von Bastmatten und Muskat — er gab ihm eine Vorstellung von indischen Karawanen, Kameldünger, Dürre.

Aus Conrad Vincens’ Laden tönten Stimmen, und die Tür stand offen. Michel Thögersen näherte sich vorsichtig und guckte hinein; Herren standen im Zimmer herum — es war klar, dass hier etwas Besonderes vorging. Michel konnte sich nicht entschliessen hineinzugehen; er schlich zur Seite, so dass er sehen konnte, ohne selbst bemerkt zu werden. Da entdeckte er eine Gestalt neben der grossen Waage und erkannte den jungen sechzehnjährigen Junker, des Königs Sohn Christiern. Michel fuhr zusammen, ihm wurde ganz heiss, er trat einen Schritt zurück, gerührt und unruhig. Und wie er Prinz Christiern dort sah, vergass er ihn nie wieder. Er stand mit gespreizten Beinen, trug weissgrüne Hosen und rote Schnabelschuhe, die Brust war Michel halb zugewandt; über den Schultern und auf der Brust lag eine Goldkette. In der linken Hand hielt er eine Traube teurer Rosinen, von der er hin und wieder mit der rechten Hand eine abzupfte und verzehrte. Michel sah deutlich seinen feinen, glatten Mund; am Kinn lag ein zarter Schatten, wie von dunklem Bartwuchs. Aber besonders die Augen überraschten Michel, sie waren klein, sehr glänzend und standen ein klein wenig schräg zur Schläfe. Der Prinz hatte einen grossen Hinterkopf, sein Hals war dick und rund. Nun wandte er den Kopf zu dem entzückt kriechenden Conrad Vincens um und nickte — sein Haar hatte eine tiefe, dunkelrote Farbe.

Ach, auch ich bin rothaarig, dachte Michel.

Welch ein Ernst in dem noch halb kindlichen Gesicht — nein, jetzt lachte er und runzelte die Brauen — Gleichgewicht! Seltsam! So sah ein Mensch aus.

Michel starrte ihn an und bekam feuchte Augen, seufzte unwillkürlich laut auf, während er sich in Anbetung verlor. Er verfolgte alles genau. Die Herren bewegten sich voller Anstand um den Prinzen, standen in galanter Position mit den Füssen; bald trat der eine vor und fegte stilvoll mit seinem Federbarett nach rückwärts über den Fussboden, bald sprach ein anderer, vornübergebeugt mit lächelnden Lippen. Grosse Becher wurden formell gehoben und auf das Wohl des Prinzen geleert, und er nickte allen auf gleiche Weise zu, das Kinn gegen die Brust gedrückt. Conrad Vincens trippelte fieberhaft herum mit einer Glorie um den Kopf.

Einer aber war da, der sich frei bewegte, ein buckliges Männchen in bunten Kleidern. Wenn jemand mit ihm sprach, warf er sein Bein seitwärts in die Höhe und antwortete schnippisch und wie ein Mops, der auf den Hinterbeinen steht und kläfft; Michel konnte sehen, dass er seine rechte Backe mit der Zunge aushöhlte, wenn er etwas gesagt hatte. Einmal lachten alle, der Prinz zeigte seine Zähne, und der Zwerg höhlte seine Backe furchtbar aus — da lachte auch Michel dankbar in sich hinein. Wie wohlerzogen und gedämpft die Stimmen drinnen klangen. Zwei grosse Ambralichter brannten. Ganz im Hintergrund sah Michel Otte Iversen, er stand allein, schien aber froher Laune zu sein. Michel hatte übrigens in diesem Augenblick nicht viel Interesse für ihn.

Lange stand Michel Thögersen in Anschauung versunken und sättigte sich an den Farben und dem Anblick der freien Herren; er fand, dass auch auf ihn ein kleiner Strahl der Gnade fiel. Als sich im Laden jetzt eine Bewegung bemerkbar machte, als ob die Herren aufbrechen wollten, trat Michel schleunigst zur Seite. Er sah die ganze Gesellschaft munter auf die Strasse schwärmen und auf der gegenüberliegenden Seite in den Laden des reichen Martin Gälze treten. Dabei fiel Michel Prinz Christierns Gang auf.

Michel schlenderte noch einige Stunden durch die Stadt. Weit über Mitternacht sah er seine deutschen Bekannten noch einmal, als sie, ohne ihn zu bemerken, in eine berüchtigte Spelunke unten am Strand zogen. An ihren Stimmen konnte er hören, dass sie stark bezecht waren. Otte Iversen war nicht mehr unter ihnen.

 

Am nächsten Tag sahen die Bürger von Kopenhagen einen Wagen mit allen vier Rädern auf der Dachfirst eines hohen Hauses am Marktplatz stehen. Jemand hatte den Wagen in der Nacht auseinander genommen, die Teile aufs Dach geschleppt und dort oben wieder zusammengesetzt. Vor Mittag wusste die ganze Stadt, dass Prinz Christiern dies Meisterstück vollbracht hatte.

Der Träumer

Es war schon spät am Tage, als Michel Thögersen erwachte. Er lag eine Weile, bevor er sich über sich selbst klar wurde; er hatte so seltsam geträumt, konnte sich aber auf nichts mehr besinnen.

Das Tageslicht fiel aus der Dachluke senkrecht in die elende Kammer. Obgleich Ove Gabriel schon lange zur Vorlesung gegangen war, konnte Michel ihn noch riechen und rümpfte voller Ekel die Nase.

Würde sich heute etwas ereignen, war es der Mühe wert aufzustehen und sich dem Schicksal in der Stadt zwischen den Leuten feilzubieten? Michel dachte nach. Eigentlich hatte sich gestern gar nichts Entscheidendes ereignet, und dennoch empfand er seine Erlebnisse besonders stark. Was sie auch bedeuten mochten, jedenfalls war er dadurch aufgerüttelt worden. Alle Werte waren noch tiefer gesunken, Michel fühlte, dass er seine Lage nicht länger ertragen konnte.

Michel drehte sich zur Wand um und grübelte, während er vor sich hinstarrte. Plötzlich bog er den Kopf krampfhaft in den Nacken und schloss die Augen: Susanna war ihm eingefallen. Fast gleichzeitig fühlte er einen heftig nagenden Hunger; er stand auf und griff nach seinem Anzug.

Michel besass nichts, er lebte wie die Sperlinge und schlug sich jeden Tag mit Gottes und jedermanns Hilfe durch. Während er seine roten, verhassten Lederhosen anzog, überlegte er, wo er heute betteln wollte. Er beschloss, vor die Stadt zu gehen, wo die Leute nicht so sehr von Studenten und anderm Pack aus der Stadt missbraucht wurden.

Es war ein herrlicher Maitag. Michel ging schnellen Schrittes durch das Nordtor. Und kaum erblickte er die Felder, als er vor Lust ganz verwirrt wurde; fast verlegen sah er zum Himmel hinauf. Die Erde atmete Frühlingsdüfte — an was erinnerte ihn das doch? —, der grüne Roggen breitete sich weit. Die Sonne wärmte segensreich.

Michel marschierte über die Landstrasse und sah sich nach rechts und links um. Heute war gewiss ein Glückstag, ihm war so leicht und wohl zumute.

Ja, es war ein Glückstag. Michel ging frisch drauflos und sass bald behaglich in einem Bauernhof, an einem freundlichen Ort, wo man ohne Umschweife und gottesfürchtiges Augenverdrehen eine reichliche Mahlzeit für ihn auftischte. Der Bauer schenkte schäumendes Bier in den Krug und fühlte sich durch Michels Besuch angeregt. Hier schienen Gott sei Dank nicht alle Tage gelehrte Leute zu kommen. Michel schrieb es sich hinter die Ohren.

Nachdem er tüchtig gegessen und getrunken hatte, wanderte er zur Stadt zurück, in tiefem Frieden mit sich selbst. Er saugte an seinen Zähnen und blickte zu den Wolken hinauf, folgte blinzelnd einem Vogel mit den Augen und sprach lateinisch mit seiner unsterblichen Seele.

Plötzlich blieb Michel stehen und überlegte — sollte er Heute das tun, was er schon so lange im Sinn gehabt hatte: sich an Jens Andersen heranmachen? Michel versprach sich etwas davon, denn der grosse Magister war aus seiner Heimatgegend. Ja, heute sollte es sein, jetzt wollte er es wagen.

Kaum aber hatte Michel den Entschluss gefasst und sich in Bewegung gesetzt, als er den Kopf senkte und den Mut verlor. Verzagt erreichte er die Strasse, wo Jens Andersen wohnte. Als er vor seiner Tür stand, war all sein Mut dahin, aber jetzt war er in Schwung gekommen, nun sollte der Sache ein Ende gemacht werden.

Michel Thögersen trat in ein grosses Zimmer, sah flüchtig Folianten an den Wänden... da stand Jens Andersen von einem Tisch auf, an dem er gesessen hatte, und kam hastig auf ihn zu. Jens Andersen — ein untersetzter, breiter Mann mit einer gewaltigen Stirn. Er trug ein Pelzwams. Michel betrachtete seinen langen, glattrasierten Mund, als Jens Andersen zu sprechen begann. Seine Stimme war leise und klanglos, aber Michel merkte, dass er sie nur senkte, weil er mit so einem wie ihm sprach — was er wolle, wie er heisse, seine Zeit sei knapp.

Michel Thögersen rückte mit seinem Anliegen heraus. Ob er ihm vielleicht einen guten Rat geben könne, er wolle zum Studieren ins Ausland...wie gewöhnlich aber wurde Michel zerstreut, lahmgelegt durch Beobachtungen — er sah ein langes, dünnes Kruzifix aus einfachem Eisen an der Wand hängen und dachte, ob Jens Andersen es wohl gelegentlich dazu benutzte, um seine Hunde damit zu züchtigen. Ausserdem war er gewöhnt, dass man ihn mit einem gewissen Staunen als „Storch“ empfing, und das tat Jens Andersen nicht — solch Art Mensch war er also. Michel vermisste heute den sonst so bedauernswerten Umstand. Und indem er davon sprach, dass er ins Ausland wollte, stammelte er hilflos, schwindlig beim Gedanken an Rom und all das Vogelferne im Süden — er sei übrigens der Sohn eines Schmiedes aus der Gegend am Limfjord ... und dann sass er fest.

Ghm! Jens Andersen machte einige Schritte durchs Zimmer, den Kopf auf die Seite gelegt, er war kurz und knapp in seiner Art, wie ein Krämer. Michel schielte nach oben und sah einen dicken Stierhals, kurzgeschorenes, weissliches Nackenhaar ... jetzt bohrte Sens Andersen ihm seine matten Augen wieder ins Gesicht, der Blick war höflich und gleichgültig, aber es war eine Macht darin, die geradezu wütete — Michel suchte Rettung, indem er seinen Blick tiefer auf das grosse, blosse Gesicht des Mannes schweifen liess. Die Haut war farblos und fest, ohne eine einzige Falte. Schwarze Zähne... man sah ihm den Jütländer an. Michel konnte seinen Blick nicht länger ertragen, er sah wie verzaubert auf die Bücherborde, es schwindelte ihm.

Eine Viertelstunde später stand Michel wieder unten auf der Strasse. Wie hatte es geendigt? Nun ja, Jens Andersens kahles Gesicht hatte von allem möglichen geschnackt und gehackt, und schliesslich hatte er Michel gnädigst examiniert! Michel hatte wie im Traum geantwortet, dennoch hatte seine Gelehrsamkeit ganz gut bestanden. Einen Vers von Horaz hatte er allerdings verkehrt skandiert, und Jens Andersen hatte mit seiner behaarten Hand durch die Luft geschlagen — so, da, da, da, da.

Michel Thögersen schlich davon, nass und mit krummem Rücken, wie ein ’rausgeworfener Köter.

Als er seine beschämte Schnauze wieder hinter der Mütze hervorwagte, um sich umzusehen, befand er sich auf dem Höbroplatz. Hier war wie gewöhnlich reges Leben. Michel stand neben einem Torweg und zog ein Gesicht, als dächte er angestrengt nach. In Wirklichkeit war er halb bewusstlos. Scham und Enttäuschung lagen schwer auf ihm, sein inneres gigantisches Selbstgefühl rührte sich wie ein gefährliches Tier. Trotz der Geistesabwesenheit, in der er dastand, beobachtete er aber alles ringsum, ja, die starken Farben drängten sich seinem Auge mit verletzender Schärfe auf — ein Fischweib rief Heringe aus —, wund, wund stand Michel da, bebend wie frisch geschlachtetes Fleisch in der bösen Luft.

Hört, jetzt wurde drüben im Schloss geblasen, es ging ihm wie ein Dorn über die Kopfhaut.

Michel schüttelte sich und ging sehr niedergeschlagen weiter. Vorm Schlosstor wurde die Zugbrücke herabgelassen, und gleich darauf donnerte eine Reiterschar über die Bohlen, lauter hochvornehme Herren. Sie sausten auf die Strasse und bogen in scharfem Trab um die Ecke zum Höbroplatz, Pferde und Reiter lagen beim Schwung ganz auf der Seite. Wie komisch sie im Sattel hüpften — kling, kling, die Schwerter tanzten wie verrückt in den Gurten, und die farbigen Mäntel schwenkten wie Hurras durch die Luft.

Michel schlenderte durch die Stadt. Überall Soldaten, Pferdespektakel. Sogar Junker Slentz kam in höchsteigener Person durch die Strassen geritten, mit seinem Knappen hinterdrein; er war in voller Rüstung. Der pompöse Eisenmensch drehte den Helm nach rechts und links, mit der Würde eines Kaisers; das Visier war zurückgeschlagen, und der fürchterliche Knebelbart schimmerte in der Sonne. Das Pferd wieherte aus der Schabracke; es war auch nicht aus Pappe.

Michel bummelte durch die Stadt, Strasse auf und Strasse ab, und sammelte sich. Alle Strassen mündeten in den Wall; eingesperrt war er in dieser elenden, schmutzigen Stadt, die mit Fischleim und Heringsschuppen beschmiert und an allen Ecken von Mönchen und Schweinen besudelt war. — Er sah zum Himmel hinauf, um wenigstens den freien Raum zu empfinden. Die Luft war feucht. Droben zogen Wolken, Michel musste an das offene Meer denken und schlenderte zum Strand hinunter.

Der Wind war erfrischend, die Wellen hüpften munter und keck. Draussen auf dem blauen, unruhigen Sund kämpften Jollen sich unermüdlich vorwärts, bald standen sie auf den Hinterbeinen, bald lagen sie auf der Nase.

Und plötzlich fiel es wie Nebel von Michels Augen, er erinnerte sich seines Traumes. Er war auf dem weiten Meer gewesen und hatte dort eine seltsame Erscheinung gehabt. Fern am Rand des Horizontes schimmerte eine strahlend weisse Säule, nicht grösser als ein Finger, aber dennoch war es ihm klar, dass sie ungeheuer gross sein musste, sie war nur so unfassbar weit fort. Wie eine schneeweisse, leuchtende Silberspitze hob sie sich vom Himmel ab. Und nicht weit davon entfernt sah er eine niedrige, glasblaue Kuppel, die sicher mehrere Meilen lang war, wenn man in ihre Nähe kam. Während Michel über das leere, wandernde Meer zu der Erscheinung hinüberstarrte, schien es ihm, als müsse vom Meer ein grosser Strom in die Stadt hineinfliessen. Denn was er dort sah, war eine Stadt, die auf der anderen Seite der Erdkugel lag.

Michel Thögersen ging nach Hause, er mochte nicht mehr leben. Er schlug nicht den Weg durch die Pilesträde ein, wollte heute nicht an dem Gitter vorübergehen und zu Susanna hineinstarren.

Als er nach Hause kam, legte er sich auf sein Bett. Ove Gabriel war nicht da, ging wahrscheinlich von Tür zu Tür, sang und verdrehte seine reinen Augen im Kopf. Michel lag mehrere Stunden auf dem Rücken, viele Gedanken lösten einander ab. Gegen Abend kam Ove Gabriel mit einem gefüllten Sack nach Hause. Michel erhob sich ohne ein Wort und ging seines Weges.

Als es dunkel geworden war, befand Michel sich irgendwo auf der Landstrasse, vor dem Westtor. Er hörte einen Reiter im Galopp aus der Stadt kommen. Und kaum hatte er sich umgedreht, um zu sehen, wer es sei, als der Reiter ihn schon erreichte. Es war Otte Iversen. In einer Sekunde war er vorbeigesprengt. Er sass vornübergebeugt im Sattel und jagte ins Land hinein. Michel starrte ihm nach und hörte, wie das Pferd im Galopp wieherte. Erde und Steine spritzten unter den Hufschlägen auf.

Ringsum duftete das grüne Korn. Der Abend war ganz still. Die Frösche sangen und sangen in unendlichen Träumen.

Als Michel eine Stunde später auf das Nordtor zustrebte, hörte er wieder den wilden Hufschlag hinter sich. Er trat zur Seite, und Otte Iversen sprengte in vollem Galopp an ihm vorbei zur Stadt.

Einige Tage später wurde Michel Thögersen, auch der „Storch“ genannt, plötzlich und ohne Verwarnung von der Kopenhagener Universität relegiert. Zwar kam es ihm nicht ganz unerwartet, denn er hatte seit längerer Zeit seine Pflichten beim Gottesdienst vernachlässigt. Selbigen Tages betrachtete Ove Gabriel ihn wie jedweden anderen ungelehrten Mann.

Michel aber fühlte sich befreit, obgleich er im geheimen ein schlechtes Gewissen hatte. Als erstes liess er sich einen Bart stehen. Während die kommende Zeit Unglück aller Art auf ihn herabwälzte, Not, Verblendung, Angst, legte er sich einen fuchsroten Schnurrbart zu, zwei üppige Besen, die an den Mundwinkeln hartnäckig nach unten wuchsen.

Frühlings Leiden

Michel Thögersen wusste von Susanna nur, dass sie zum Hauswesen des alten Juden Mendel Speyer gehörte; vielleicht war sie seine Tochter. Bevor Michel sie im Garten gesehen hatte, war ihr Name ihm schon bekannt gewesen, denn er hatte häufig mit gemeinen Zeichnungen in Kreide an der Mauer des Hauses gestanden. Name und Zeichnung wurden ausgewischt, kamen wieder und wurden ebenso schnell wieder ausgelöscht. Eines Tages sah Michel den alten Juden nach Hause kommen; bevor er ins Haus ging, überflog sein Auge hastig die Mauer — an jenem Tage aber stand nichts darauf. Susanna hiess sie. Michel hatte sie nur zweimal deutlich gesehen. Seitdem hatte er es nicht wieder gewagt, sich lange vor dem Gitter aufzuhalten. Er ging durch die Gasse wie jemand, der zufällig vorbeikommt. Befand er sich dann vor dem Gitter, sah er unversehens hinein und bekam bisweilen einen Schimmer von Susanna zu sehen. Um die Mittagszeit und gegen Abend pflegte sie auf den verwilderten Gängen des Gartens zu spazieren.

Der Garten war voller Unkraut, hohem Schierling und wild wachsendem Meerrettich; die uralten Apfelbäume breiteten ihre Äste nach rechts und links. In der Ecke, hart an der Strasse, stand ein mächtiger Holunderbusch, dicht wie eine Mauer; Michel ahnte, dass er eine Laube bildete, und dass Susanna sich bisweilen dort aufhielt. Er hatte es dort hinter dem Laub rascheln hören. Vielleicht sass Susanna dahinter verborgen und guckte aus — Michel war der Baum nicht recht geheuer, und dennoch zog er ihn an.

Wenn Michel des Abends vorbeiging, sah er Licht in einem kleinen Fenster im Giebel. Nachts war das Licht gelöscht. Michel ging vorbei und blickte hinauf.

Mendel Speyers Haus schräg gegenüber lag das Sankt-Klara-Kloster, und dort war ein dunkler Winkel, wo Michel abends und nachts regungslos zu stehen pflegte. Von dort aus konnte er das Giebelfenster sehen.

Dort stand er am späten Abend des Pfingsttages, nachdem die Stadt endlich zur Ruhe gegangen war. Denn die Stadt war aus Rand und Band gewesen. Schon bei Sonnenaufgang hatte das Fest seinen Anfang genommen. Die ganze Stadt hatte Pfingsten mit Tanz, Gesang, Trunkenheit und Musik gefeiert. In den Gärten nördlich vor der Stadt standen die Maibüsche so dicht wie ein Wald, jeder selige Mensch schwärmte dort herum; es ging wüst zu mit Trinken und Essen. Die deutschen Soldaten schlugen über die Stränge; alle Wetter, wie spornten sie ihre Lebensgeister an, bevor sie in den Krieg zogen.

Michel Thögersen hatte sich in das frohe Treiben hinausgewagt, war aber gleich die Ursache zu einem jubelnden Auflauf geworden. Die Jungen kannten ihn, und heute hatte er noch dazu seinen Mantelkragen und seine Kapuze abgelegt, so dass seine roten Beine in ihrer ganzen märchenhaften Länge zu sehen waren. Die Jugend erwählte ihn zum Gegenstand eines Kultus; sie tanzte um ihn herum und sang ein Freudenlied. Michel machte sich aus dem Staube und suchte sich ein Versteck auf dem Kirchhof von Sankt Nikolai. Dort lag er fast den ganzen Tag in einem dichten, üppigen Winkel zwischen den Gräbern und liess sich von der Sonne bescheinen. Ringsum war es still, die Vögel zwitscherten, Fliegen schwirrten. Eine Weihe schwang sich aus einem Guckloch hoch oben im Turm und reiste ins Land hinaus. Michel lag untätig auf dem Rücken und versank tief in Gras und Unkraut. Er brach den Stengel einer Pflanze, die ihm zu Häupten stand, und sah, dass er einen gelben Saft enthielt; er steckte frische Schösslinge in den Mund und kaute darauf, rollte Grashalme zwischen den Fingern, und die Zeit verging. Die Stadt lebte ringsum, hin und wieder drangen laute Freudenrufe aus der Ferne zu ihm.

Als es endlich dunkel geworden war, schlich Michel zur Stadt hinaus und ergatterte sich eine Mahlzeit in einem einfältigen Bauernhof. Bei jedem Bissen, den er hinunterschluckte, war er sich darüber klar, dass er seinen Wirt betrog, weil er ja kein Student mehr war.

Und nun stand er in seinem Winkel, in der stillen, kühlen Nacht. Die Stadt war zur Ruhe gegangen, Michel aber wachte wie das stille Sausen, das im Ohr bleibt, wenn jeder andere Laut verstummt ist. Die Nacht war von tauigen Gärten duftgeschwängert. Es war sehr hell, der Mond war im Begriff aufzugehen, es dämmerte im Osten über den Gärten.

Jemand kam die Strasse entlang. Michel hörte, wie die Schritte sich näherten. Zuerst glaubte er, dass es der Nachtwächter sei. Bald aber vernahm er Sporengeklirr. Michel wollte nicht bei Mendels Haus gesehen werden, deshalb trat er aus dem Schatten und schlenderte die Strasse hinab. Ungefähr bei der Östergade wurde er von dem Fussgänger eingeholt; plötzlich fühlte er einen Handschlag auf seiner Schulter. Er drehte sich um und sah zu seinem Erstaunen, dass es Otte Iversen war. So hatte er ihn also doch erkannt; was jetzt wohl geschehen würde?

„Guten Abend“, sagte der Junker gedämpft und mit freundlicher Vertraulichkeit — „sind Sie nicht Michel Thögersen?“

„Ja, freilich.“

„Wir waren neulich zusammen in Serritslev. Und ich bin Ihnen auch später begegnet. Sie machen einen nächtlichen Spaziergang, ja, das Wetter ist herrlich. Ich weiss nicht...“

Er sprach mit verschleierter Stimme und einer eigenen Milde, als sei er lange allein gewesen. Er blieb stehen und machte eine unschlüssige Bewegung; das schwache Nachtlicht streifte den Knauf seines Dolches.

„Ja, das Wetter ist fast zu schön, um es zu verschlafen“, sagte Michel.

„Eigentlich könnten Sie ... da Sie doch unterwegs sind — wollen wir nicht ein Stück zusammen gehen?“

Dagegen hatte Michel nichts einzuwenden, und sie folgten der Östergade durch die Stadt.

„Ich kenne gar keine Dänen hier in der Stadt“, fuhr Otte Iversen fort.

Ach, nein. Das fand Michel begreiflich. Er schwieg, und sie gingen ganz bis zur Frauenkirche, ohne etwas zu sagen.

„Hm!“ Otte Iversen räusperte sich. „Haben Sie nicht Lust, mit mir nach Hause zu gehen und einen Becher Wein mit mir zu trinken?“ Er sprach jetzt in einem anderen Ton, kälter und missmutig, wie es schien.

Michel fand keinen Grund, nein zu sagen, und sie kamen zu einem Hause in der Vestergade, wo Otte Iversen im Quartier lag. Das Haus war verschlossen.

„Wir können nicht hinein, ohne die Leute zu wecken“, sagte Otte Iversen wie zu sich selbst. „Aber ich habe eine Kanne Met draussen beim Pferd.“

Sie gingen über den mondhellen Hof und kamen zu einem grossen, halbgedeckten Schuppen. Otte Iversen stiess die Tür auf. „Ich bin es“, sagte er, als ein Knecht von seinem Strohlager aufsprang. „Zünde Licht an.“

Nachdem der Knecht Licht angezündet hatte, blickte er verstohlen zu Michel hin. Es war ein grosser Stallraum, aber nur ein einziges Pferd stand am Spilltau angebunden. Otte Iversen trat zu ihm, streichelte es und machte sich daran zu schaffen.

„Leg’ dich nur wieder hin“, sagte er zum Knecht. Er griff in eine Ecke und zog einen langen, hölzernen Humpen hervor, klappte den Deckel auf und guckte hinein.