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Impressum

© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.

Projektleitung: Sabine Sälzer

Lektorat: schönseitig, Redaktionsbüro Christina Geiger, München

Korrektorat: Anne-Sophie Zähringer

Covergestaltung: independent Medien-Design, München; Horst Moser (Artdirection)

Foodstyling: Matthias F. Mangold

eBook-Herstellung: Yuliia Antoniuk

impressum ISBN 978-3-8338-7707-0

1. Auflage 2020

Bildnachweis

Fotos: privat/Tal Cohen, Vivi D'Angelo

Syndication: www.seasons.agency

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Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de

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LIEBE ALLE,

als Mitte 2019 die Idee an mich herangetragen wurde, ein Buch über meine Küche zu schreiben, war ich zunächst eher skeptisch und vermutete, der Verlag habe vorrangig ein reines Kochbuch nur mit Rezepten im Sinn – und das wäre für mich völlig uninteressant gewesen. Kochen ist doch so viel mehr als nur das Kochen an sich! Relativ rasch wurde aber klar, dass ich meine ganzen Ideen mit einbringen konnte, meinen Hintergrund, meine Lebensphilosophie und auch meine Vorstellungen vom Zusammenleben in einer Gesellschaft.

Was du bei mir im Restaurant auf dem Teller hast, muss einfach nur schmecken, und wenn du dabei eine gute Zeit hast, bin ich zufrieden. Wenn du allerdings meine Rezepte aus diesem Buch nachkochen möchtest, lohnt es sich, auch die Kapitel davor zu lesen, in denen du einen Einblick erhältst, warum ich manche Dinge so und nicht anders mache. Das Kochen selbst ist lediglich das Endresultat der idealen Verwendung der Zutaten und des richtigen Umgangs mit ihnen. Und das ist gerade bei Fisch wichtiger als bei vielen anderen Produkten.

Ich nehme dich mit in mein Restaurant »Uri Buri« und in das kleine Hotel »Efendi«, ich stelle dir mein Team vor, zeige dir meine Stadt Akko und warum sie mich so geprägt hat. Du erfährst viel über die Küchenpraxis und den Umgang mit Fisch. Und du lernst nicht nur einen Koch, du lernst mich kennen.

Uri Jeremias

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URIS WELT

Willkommen im Kosmos von Uri Buri! Und auf zu einer Entdeckungsreise, die weit über das Kulinarische hinausgeht …

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MENSCH URI

Wir gehen mit Uri durch die Gassen der Altstadt von Akko, es ist Markttag, wie fast jeden Tag. Überall rufen Leute »Uri Buri!«, wenn sie ihn sehen. Es werden Hände geschüttelt. Man kennt sich, und jeder kennt Uri. Er dürfte der inzwischen wohl bekannteste Botschafter Akkos sein, dieser kleinen Stadt im Norden Israels, gerade mal 25 Kilometer von der Grenze zum Libanon entfernt. Geboren und aufgewachsen ist er noch ein wenig weiter nördlich, in Naharija, wo er bis heute lebt.

In Sachen Lebenslauf muss ein wenig ausgeholt werden. Uris deutsche, jüdische Großeltern wurden 1918 aus dem polnischen Posen vertrieben und flüchteten nach Berlin. Sie hatten eine große Teerfabrik betrieben, verloren aber alles. Uris Vater Benjamin lernte in der ersten jüdischen Gartenbauschule der Welt in Ahlem bei Hannover. 1930 wanderte die Familie nach Palästina aus. Der Vater, überzeugter Zionist, wurde Landwirtschaftslehrer und unterrichtete Neueinwanderer, arbeitete aber auch als Polizist. Nebenbei engagierte er sich in der Verständigung zwischen meist jungen Israelis und anderen Menschen aus aller Welt, etwa in der Organisation Servas International, deren Präsident er eine Zeit lang war. Vom ersten deutschen Botschafter in Israel, Rolf Friedemann Paul, erhielt er dafür sogar das Bundesverdienstkreuz. Uri wuchs mit zwei leiblichen Schwestern und vielen Pflegekindern auf, acht davon blieben langfristig. Schon vor 1948, also vor der Staatsgründung Israels, nahm die Familie jüdische wie auch arabische Mädchen und Jungs auf, überhaupt aus aller Welt, so auch aus Indien oder Polen. Deutsch gelernt hat er dabei nur, um sich hinter dem Rücken der anderen Kinder mit seinen Eltern unterhalten zu können. Er selbst sollte später drei eigene und drei angenommene Töchter haben. »Das Haus war wie ein Bahnhof, immer voll. Ich hatte es später zu Hause immer nur mit Frauen zu tun, selbst der Hund war eine Hündin. Ich war der Einzige, der den Klodeckel hochklappen musste«, erzählt er lachend.

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»ICH HABE PRINZIPIELL KEINE PRINZIPIEN.«

Eigentlich und formal heißt Uri mit Nachnamen Jeremias; seinen Spitznamen Buri (hebräisch für Meeräsche) bekam er schon früh verpasst, weil er bereits als Jugendlicher lieber tauchen und fischen ging anstatt zur Schule. Er sagt von sich, er sei seit jeher unruhig gewesen und habe sich schlecht konzentrieren können – was typisch ist für Menschen mit der Aufmerksamkeitsstörung ADHS, unter der er sein Leben lang litt und leidet. Für Uri nichts Schlimmes, denn es ermöglichte ihm, einen vermeintlichen Nachteil zum Vorteil zu entwickeln.

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»Man muss verstehen, dass eine Aufmerksamkeitsstörung nicht nur ein Fluch ist, sondern auch eine Gabe. Warum? Die meisten Menschen stellen sehr wenige Dinge in Frage, sie haben Antworten für alles. Ich habe Antworten für gar nichts. Vielleicht mache ich deshalb auch so viele unterschiedliche Sachen. Wenn man sich für die verschiedensten Dinge interessiert, für Musik, Kunst, Kochen oder auch Reisen, hat man die Möglichkeit, gemachte Erfahrungen zu übertragen, die vielen Verbindungen zu verknüpfen, überhaupt erst zu sehen. Vielleicht mehr, in jedem Fall aber anders, als es Spezialisten in ihren Fachgebieten können. Universeller. Es ist eine Art umfassendes Halbwissen. Wie bei einem Puzzle, wo man mit der Zeit die Zusammenhänge immer klarer sieht. Oder, um bei meinem Metier zu bleiben: Man bildet ein Netz, das kleine wie große Fische fangen kann. Wer Sachen richtig gelernt hat, hat nur ein bestimmtes Netz, da kommen nur Fische in dessen Größe rein, andere nicht. Es sind mitunter die größten Sachen, die nicht durchdringen. Oder auch die kleinsten, die einfach verschwinden. Sie sind eventuell nicht wichtig, aber angenehm. Und so ist es eine Gabe, einzusetzen, was man nicht gelernt hat.«

»MEINE MUTTER SAGTE IMMER: ES IST QUATSCH UND QUETSCHER, BIS ES QUIETSCHT.«

Die Mutter Hannah, das war der feste Anker, sie hielt zu ihm. Wenn sie wieder mal bei den Lehrern antanzen musste, um sich anzuhören, Uri macht dies nicht und Uri macht das nicht, meinte sie nur, sie kenne ihren Sohn und der, von dem die Lehrer dies und das behaupten, könne gar nicht ihr Junge sein, das müsse man wohl verwechselt haben. »Ich war zu Hause ganz anders. Wir hatten eine Hütte voller Kinder und ich verstand, dass ich helfen, anpacken musste.« Über die Adoptiv- und Pflegekinder entwickelte Uri weder eine Arabo- noch eine Islamophobie, ganz im Gegenteil. Es war für ihn nie eine politische Sache, sondern ein Zusammensein in Liebe und Respekt. Basis der Koexistenz, von der später noch die Rede sein wird.

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Der Leuchtturm am alten Hafen von Akko ist eines der Wahrzeichen der Stadt.

In den 1960er Jahren ging Uri auf Wanderschaft durch Europa, zunächst 1961, da war er gerade mit 16 Jahren (»Viel zu spät!«) von der Schule geflogen. Alleine reiste er über Italien und die Schweiz nach Deutschland, verbrachte Zeit in einem Jugendlager der SPD-Jugendorganisation »Die Falken« oder im Camp Rote Erde, das Material für Bauten für Spätaussiedler aus Russland produzierte. Drei Tage verbrachte er auf Einladung von Berlins Regierendem Bürgermeister Willy Brandt in Berlin. Unterwegs war er mit dem Daumen im Wind, per Anhalter. Und immer suchte er das Gespräch mit den Menschen. »Ich wollte einfach verstehen, wie ein so kultiviertes Volk so viel Mist bauen konnte, wie kann das nur passieren? Wir haben nicht viel daraus gelernt. Man muss nur sehen, was in Syrien passiert. Die Welt sieht zu und macht nichts dagegen.«

»ICH WAR EINMAL IN VIETNAM AUF DEM MARKT. EINE FISCHHÄNDLERIN BEOBACHTETE MICH UND SAGTE:
›DER VERSTEHT VIEL VON FISCH!!‹ – ›WIESO?‹ – ›ICH HABE GESEHEN, WO SEINE AUGEN HINGEGANGEN SIND‹.«

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Später, bei der nächsten Europareise, trieb er sich in den Künstlerszenen von München, Hamburg, Berlin und Amsterdam herum und wurde akzeptiert, obwohl er keine Drogen nehmen wollte. Er lernte unter anderem den Fotografen Günter Zint kennen, der für die BRAVO oder auch die BILD arbeitete und später die ST. PAULI NACHRICHTEN gründete, bevor sie ein paar Jahre später zum anzüglichen Schundblatt abrutschte – beide sind heute noch gut befreundet. Zint begleitete ihn teilweise sogar, so etwa im Sechstagekrieg, von dem er für den SPIEGEL berichtete. Uri kaufte sich einen VW-Bus und fuhr gen Osten, nach Asien. Türkei, Irak, Iran, bis nach Indien. In den Bus hatte er eine kleine Küche eingebaut und verdiente sich einen Teil seines Unterhalts quasi als Betreiber einer Straßenküche. Den Rest finanzierte er sich mit dem Handel von Edelsteinen, die er im einen Land an- und im nächsten wieder verkaufte oder tauschte. Der Bus hielt gut durch, doch an der pakistanisch-indischen Grenze hätte er 800 Dollar Kaution hinterlegen müssen, um mit dem Bus auch wieder auszureisen. Die hatte er nicht. Also rüber nach Kabul, VW verkauft (ausgerechnet an zwei Palästinenser!) und nach Indien getrampt, dann nach Sri Lanka gekommen, in der Folge hoch bis Nepal, zurück erst in die Türkei, dann per Schiff nach Israel. Ach ja: In Südindien rettete Uri einem kleinen Affen das Leben, er kaufte ihn bei einer Versuchsstation für anderthalb Dollar frei. Der Affe bekam ein medizinisches Zeugnis und einen eigenen Pass (!), reiste unter diversen Schwierigkeiten bei Grenzübertritten mit Uri nach Israel und lebte die nächsten 13 Jahre bei ihm.

Uri begann eine Ausbildung als Flugzeugmechaniker und musste dann seinen Militärdienst ableisten. Hier meldete er sich freiwillig als Bombenentschärfer – so erfüllte er seine Soldatenpflicht und konnte gleichzeitig Leben retten, anstatt sie auszulöschen. Was er während dieser Zeit an Stoffkunde lernte, sollte sich später, in der Küche, mehr als auszahlen. Auch wenn man es mit anderen Dingen zu tun hat, ist die Denkart die gleiche: Was passiert, wenn. Und worauf muss ich wann und wie achten. Diesen Job behielt er von 1967 bis 1991 als Reservist bei, zumeist bei der Polizei in Jerusalem.

Seine Frau Yael, mit der er seit mehr als 50 Jahren zusammen ist, war die Nachbarstochter. Er kannte sie bereits seit ihrer jüngsten Kindheit, die Häuser stießen fast aneinander. An einem Montag kam er aus Indien zurück und traf sie auf einer Party wieder, es war ein Freitagabend. Das Wochenende verbrachten sie zusammen, dann musste sie wieder zum Militärdienst. Ab dem folgenden Freitag waren sie zusammengezogen. Es war immer klar, dass sie heiraten werden, ohne Wenn und Aber. Uri hat ihr gar keinen Heiratsantrag gemacht, bis heute nicht. Jetzt will er es auch nicht mehr tun, denn »ich habe Angst, dass sie vielleicht ablehnt«, wie er witzelt.

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Fische fängt Uri heute nur noch in den Gassen der Stadt – bei den Fischhändlern …

»Yael stand all die Jahre hinter mir. Sie wusste, dass sie einen Mann geheiratet hatte, der nicht ganz normal ist, aber sie unterstützte mich immer. Das war oft nicht einfach, denn viele meiner Entscheidungen waren gegen den besten Verstand der meisten meiner Freunde. Die haben vieles nicht so gesehen wie ich. Und zu Yael haben sie gesagt, du musst Deinen Mann überzeugen. Sie haben es nur gut gemeint und gedacht, dass sie mich vor einer Katastrophe retten. Es war manchmal ja auch nicht weit davon entfernt. Aber ich bin zeitlebens ein Optimist gewesen. Meine Mutter hat immer erklärt: ›Opti oder Pessi – auf jeden Fall Mist!‹ Manche sagen, ein Pessimist ist ein Optimist mit Erfahrung. Wenn jemand ein Pessimist ist und an seinem letzten Tag feststellt, dass das nicht richtig war, hat er sein komplettes Leben versaut. Wenn einer ein Optimist ist und am Ende erkennt, dass das doch nicht richtig war, hat er nur einen einzigen Tag versaut. Also ist es logischer, Optimist zu sein, oder etwa nicht?«

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»DIE TELEFONNUMMER VOM KLAPPERSTORCH IST DIE 215893. WENN 2 LEUTE 1 MAL 5 MINUTEN KEINE 8 GEBEN, SIND SIE 9 MONATE SPÄTER 3.«

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»OPTI ODER PESSI – AUF JEDEN FALL MIST.«

Uri denkt in ganz vielen Bereichen einfach anders. Unkonventionell, unschematisch. Unterhaltungen mit ihm sind immer lustig, nie langweilig, mitunter Augen öffnend, aber auch sehr sprunghaft. Er bleibt selten bei einem Thema, sondern macht Abstecher hierhin, Umwege dorthin. Einmal kontaktierte ihn ein Ökonomieprofessor aus Harvard und wollte eine Fallstudie über ihn machen, das »Uri Buri«, das Hotel. Uri sagte ihm, er wisse zwar nicht, was das sei, aber er könne gerne kommen. Einen ganzen Tag lang saßen sie zusammen und haben geredet. Als Uri an einer Stelle Glück als einen Faktor erwähnte, meinte der Professor, das sei für ihn und seine Forschung überhaupt nicht relevant. Für Uri allerdings schon! Für ihn steht fest, dass es etwas ist, das wir ausstrahlen, wir öffnen damit dem Glück die Tür, es kommt nicht von alleine und klopft an.

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Nimm Platz mitten im Leben – auch die kleinste Hütte kann stilvoll sein.

»Man kann es natürlich auch etwas philosophischer betrachten. Ein Mensch zieht um sich herum eine Mauer und versteckt sich dahinter. Damit er nicht heraus muss, um Dinge zu verstehen, die ihm nicht passen. Das Leben beginnt und endet hinter der Mauer, es ist eine Existenz, kein Leben. Im Grunde ist das Schulsystem eine der Hauptursachen dafür, weil es hier nicht vorgesehen ist, etwas über das Leben gelehrt zu bekommen. Man studiert Mathematik und eignet sich Wissen über die Bibel oder die Geschichte an – aber aus der Geschichte zu lernen, lernt man nicht. Ebenso wenig lernt man frei zu denken, Zusammenhänge im Leben zu begreifen. Es wird Material gelehrt ohne Kontext. Aus ökonomischen Gründen heraus, es geht um Geld. Natürlich ist Geld an sich nicht schlecht, nichts kann heute ohne Geld wachsen. Es kommt aber darauf an, wie und was man dann damit macht.«

Der Professor fand, Uri würde über den Tellerrand hinaussehen. Uri widersprach ihm ganz heftig, denn um darüber hinaussehen zu können, müsse man ja erst mal in einem Teller sein, und das wäre dann wieder die besagte Mauer …

Uri mag es, an Grenzen zu stoßen oder sie sogar zu überschreiten. Nicht im Sinne von legal/illegal, eher als Austesten von Möglichkeiten. Dinge zu wagen: »Nichts zu tun, ist nicht mutig, ist kein wahres Sein. Alle Leute sterben. Aber viele haben nie wirklich gelebt, haben nichts aus sich herausgeholt. Weil sie stets die Komfortzone gewählt haben, automatisch. Diese Komfortzone ist eine recht gefährliche Ecke. Sie bedeutet Stillstand. Sie ist ein Durchmarschieren von A bis Z, ohne jegliche Erfahrungen und vor allem Verluste zu machen. Ich könnte so nicht mein Dasein verbringen, ich finde, man braucht einen Reiz. Ich möchte doch etwas hinterlassen, einen Wert, eine Idee, die mein Leben ausgemacht hat.«

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Für ihn persönlich bedeutet das Abwechslung, auch immer ein wenig Risiko, aber nie unüberlegtes Tun. Wenn er eine neue Sache angeht, bei der er sich definitiv nicht auskennt, besorgt er sich möglichst viele Informationen. Und er macht immer zwei Berechnungen: Welches ist der Best Case, welches der Worst Case. So war es auch beim Hotel »Efendi« und zuvor bei seinem Restaurant »Uri Buri«. Im schlimmsten Fall macht er bankrott, im besten Fall ist der Himmel die Grenze. Dabei passt er nur auf, nicht so verbissen bei der Sache zu sein und immer weiterzumachen, dass das untere Limit überschritten wird. Es gibt einfach eine Grenze, die sagt: bis hier hin und nicht weiter. Das Risiko, das man eingeht, muss es Wert sein, aber keinesfalls so hoch, dass man alles verliert. Uri bringt als Beispiel noch ein jüdisches Sprichwort: »Wenn du Schuhe kaufen gehst und welche findest, die dir ausgezeichnet passen, schau nicht auf den Preis. Und wenn dich ein Paar drückt, schau ebenso wenig auf den Preis.« Mit dieser Vorgehensweise, da ist sich Uri ziemlich sicher, könne man Dinge tun, die andere eben nicht machen. Weil hier die Grenzen einfach ganz woanders stehen. Weil man dabei viel lernen und zudem viel Spaß haben kann.

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Ja, Spaß und Humor sind ihm sehr wichtig. Uri ohne Witze? Undenkbar! Man könnte locker ein weiteres Buch füllen nur mit seinen Anekdoten. Über sich selbst zu lachen, ist für ihn ein wesentlicher Teil des Lebens. Auch, um Situationen zu meistern, die etwas schwerer sind. Und um zu verstehen, dass die Einzigen, die etwas ändern können, wir selbst sind.

Uri ist ein Familienmensch. Die drei Töchter wohnen samt Familien im nahen Umfeld, eine in einem Kibbuz, die anderen beiden auf einer Farm, von der Uri Zitrusfrüchte, Heil- und Küchenkräuter bezieht. 2020 wird er 76 Jahre alt. Langsam aufhören? Weit gefehlt. Aktuell ist er in einem völlig anderen Bereich aktiv. Zusammen mit einem Partner hat er auf die Möglichkeit, mit der Alge Spirulina im pharmazeutischen Bereich Neuland zu betreten, Patente angemeldet. Ein Start-up. Einmal mehr Grenzen verschieben.

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»Alle meine Freunde sind schon seit vielen Jahren im Ruhestand. Wenige von ihnen haben in ihrem Leben noch etwas, an dem sie tatsächlich interessiert sind. Sie sitzen stundenlang in Cafés und spielen Karten, reden Quatsch und kritisieren die ganze Welt. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie man in Rente geht und warum. Noch nie hatte ich so viel zu tun wie in meinem eigentlichen Pensionsalter. Meine Familie würde es auch nicht mitmachen, wenn ich den ganzen Tag zu Hause wäre. Ich freue mich meines Lebens, wenn ich arbeiten kann.«

Aber wahr ist auch: »Für meine Ruhe und für meine Fähigkeit, mich konzentrieren zu können, muss ich schlafen. Mindestens acht Stunden am Tag. Ich kann mich zu jeder Tageszeit in jede Ecke setzen oder legen und schlafe im Nu. Yael zieht mich immer damit auf, wie schnell ich einschlafe.«

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Handeln und Wohnen sind in Akko nicht immer scharf zu trennen.

AKKO UND DIE KOEXISTENZ

Uri und Akko, das ist keine zufällige Verbindung, beileibe nicht. Es ist vielmehr der Schlüssel zu allem, was Uris Denken und Handeln ausmacht. Er spricht dabei oft von der Koexistenz, also vom Zusammenleben, und er macht es vor, privat wie geschäftlich. »Um mich und meine Arbeit zu verstehen, muss man Akko verstehen«, so Uri. Und deshalb werfen wir zunächst einen tiefen Blick in die Vergangenheit.

Akko ist nicht irgendeine Stadt, sie ist eine der ältesten Städte der Welt. Eine Besiedlung lässt sich bis zur Bronzezeit nachweisen, vor mehr als 5000 Jahren also. »Noch heute kommen jedes Jahr amerikanische Archäologen mit ihren Studenten für Grabungen und entdecken dabei jedes Mal noch ältere historische Schichten.«

Ägyptische und mesopotamische Schriften heben Akkos Bedeutung als wichtige Hafenstadt hervor. Phönizier, Perser, Griechen, Römer – sie alle gaben sich in dieser westgaliläischen Stadt die Klinke in die Hand, sogar in der Bibel wird sie im Buch Richter erwähnt. Akkos Lage war schon immer perfekt: ein wichtiger Posten zwischen Europa, Afrika und dem Osten auf dem Landweg. Umgeben von fruchtbarem Land und jeder Menge Frischwasser. Und weil das antike Akko wie eine Halbinsel geformt war, ließ sie sich auch gut verteidigen. Der Hafen war Vorbild für Rhodos, Valetta oder auch Dubrovnik.

Mit dem Jahr 638 n. Chr. kam die Stadt unter arabische Herrschaft, was für die wirtschaftliche Blüte insofern von Wichtigkeit war, als dass der ohnehin natürlich geschützte Hafen so ausgebaut wurde, dass bei jedem Wetter Schiffe einlaufen und Waren gelöscht werden konnten – als einzige Stadt in der gesamten Region. Das wiederum lockte die Kreuzfahrer an, die 1104 die Stadt einnahmen. Nun war Akko ein Zentrum für Pilger, Händler und die Kreuzritter und erblühte vollends. Zwar eroberte Sultan Saladin Akko kurzzeitig zurück, doch der dritte Kreuzzug unter Richard Löwenherz und Philipp II. stellte das alte Machtgefüge wieder her. Angeblich soll auch die österreichische Flagge genau zu dieser Zeit ihren Ursprung in Akko haben: Herzog Leopold V. von Österreich, der Richard Löwenherz begleitete, habe nach einer Verletzung sein blutiges Hemd ausgezogen und am Fahnenmast aufgehängt. Das Hemd, sonst durchweg rot, hatte nur dort einen weißen Streifen, wo der Gürtel verlaufen war. Weil Richard sich empörte, dass Leopold sein Hemd als Fahne gleichberechtigt mit England und Frankreich sehen wollte, warf er es in den Burggraben …

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Ein Besuch in Akko ist eine Zeitreise …

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… mit eingebauter Entschleunigung.

Johanniter- und Templerorden hatten ihre Sitze nach Akko verlegt, der Deutschorden wurde durch Kaufleute aus Lübeck und Bremen gegründet. Zahlreiche Bauten, darunter das Franziskanerkloster – gestiftet von Franz von Assisi und noch heute vorhanden – oder auch das Hospitaliter-Krankenhaus zeugen von dieser Phase Akkos. 1229 kam es zum Frieden von Jaffa, bei dem sich Kaiser Friedrich II. und der ayyubidische Sultan al-Kamil unter anderem darauf einigten, die Stadt unter die Verwaltung des Johanniterordens zu stellen. Es begann eine lange, ja sogar bis heute währende Verschmelzung und Koexistenz arabischer und westlicher Werte, auch wenn das Hickhack der Gegner noch eine Weile weiterging. 1799 versuchte Napoleon mehr als zwei Monate lang vergeblich, Akko einzunehmen. Der Legende nach zog er sich resigniert mit den Worten »Wer Akko erobert, erobert die Welt!« zurück. Zumindest seine zurückgelassenen Kanonen sind noch heute auf dem Festungswall zu besichtigen. 1920 wurde Akko den Briten zugeschlagen, die ohnehin das Mandat für Palästina hatten, seit Mai 1948 ist die Stadt Teil des Staates Israel.

Ja, und dann gibt es noch die Bahai, eine Religionsgemeinschaft, die die heiligen Schriften anderer Weltreligionen mit einbezieht und die Unterschiede zwischen den Religionen eher als Ausdruck verschiedener Bedürfnisse und kultureller Prägungen begreift. Was auch auf die Sufis und Jeshruti zutrifft, die ebenfalls in Akko präsent waren und sind.

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»HEBRÄISCH, DEUTSCH UND ENGLISCH SPRECHE ICH NATÜRLICH, DANEBEN HABE ICH GRUNDKENNTNISSE IN ARABISCH, NIEDERLÄNDISCH, FRANZÖSISCH. UND EIGENTLICH IN ALLEN SPRACHEN. WENN DU LANGSAM SPRICHST, VERSTEHE ICH SCHNELL.«

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Wir sind auf der Terrasse des Hotel »Efendi«, um uns herum Häuser der Bahai. Und ganz nahe ein Gebäude, das einst als Gefängnis genutzt wurde, und in dem Baha’ulla eingesperrt war, der Gründer und Religionsstifter der Bahai. Uri erklärt: »Sein Sohn, Abbas Effendi, kaufte ein Haus gegenüber dem Gefängnis, damit er seinen Vater jeden Tag wenigstens sehen konnte, von Fenster zu Fenster. Baha´ullas Lehrer Bahá sagte einmal, er habe einen Traum gehabt. Er hätte Baha´ulla auf einem Berg sitzen und in ein fruchtbares Tal hinunterblicken sehen. Das war in diesem Traum Akko, das er vom Berg in Haifa aus gesehen hat. Als Bahá starb, wurde er zunächst in Persien begraben, seinem Heimatland, aus dem ihn zuvor die Türken verjagt hatten, weil er ihnen zu mächtig geworden war. Später hat man darum gebeten, ihn wegen der Vision seines Lehrers in Akko bestatten zu dürfen. Die israelische Regierung hat es erlaubt, und dann hat man diesen berühmten Garten drüben in Haifa gebaut.«

All diese Verwerfungen in der Geschichte, dieses Wirrwarr, der Zoff der Kulturen haben ihre Spuren hinterlassen, mit Sicherheit. Vor allem bei den Mächtigen und im geopolitischen Gefüge der jeweiligen Zeiten. Ein kompletter Austausch der Bevölkerung ist damit nie wirklich einhergegangen, auch wenn immer Akzente und Impulse durch Neuankömmlinge hinzugekommen sind. Man hat sich angepasst, eingebracht, miteinander und untereinander arrangiert. Vor 1948 war Akko lange Zeit arabisch geprägt. Heute ist die Stadt zwar mehrheitlich zu etwa 65 Prozent von Juden bewohnt, in der Altstadt (2001 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erhoben) sind es aber 95 Prozent israelische Araber. Ein Rundgang durch diese Altstadt zeigt wesentlich mehr orientalisches Flair als in den meisten anderen Städten des Landes, allenfalls die Altstadt Jerusalems setzt noch einen oben drauf. Die Läden werden von Handwerkern und Kleingewerbebetreibenden geführt. Salim etwa ist ein Steinmetz, der seine Skulpturen ausschließlich mit mechanischen Werkzeugen wie Hammer und Meißel herstellt. Er arbeitet mit Sandstein, Basalt oder Marmor, alles Bruchstücke von altem Mauerwerk, die vor langer Zeit einmal hierher gebracht worden waren. Der Pita-Bäcker Fakhri ist schon über 80 Jahre alt, lässt es sich aber nicht nehmen, noch jeden Tag selbst die Brote in den Ofen zu schieben, den seine Familie vor etlichen Generationen selbst gemauert hat. Auch einen leicht verschrobenen Künstler lernen wir kennen, der die Altstadt mit plastischen Bildwerken aus alten Schuhen, Gießkannen oder auch mal einem Gartenstuhl als großes Outdoor-Atelier belebt.

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»ES IST SCHLIMM, WENN DU IN EINEN APFEL BEISST UND ES IST EIN WURM DRIN. ABER WAS IST NOCH SCHLIMMER? ES IST NUR NOCH EIN HALBER WURM DRIN.«

Über allem liegt eine lässige Unaufgeregtheit. Selbst in den Marktgassen geht es weit weniger aufdringlich zu, als man es beispielsweise von Jerusalem her kennt. Es leben keine wohlhabenden Menschen in diesem Teil der Stadt. Viele Jugendliche sind tagsüber auf sich gestellt, da ihre Eltern arbeiten müssen. Lieber hängen sie herum, anstatt Hausaufgaben zu machen. Da gibt es dann Leute wie Tarschichani, der am Ende einer versteckten Seitengasse eine Boxschule betreibt. Er holt die Kids von der Straße und gibt ihnen eine Zukunft. Ein improvisierter Ring, selbstgebaute Fitnessgeräte, Gewichte und ein paar Plastikstühle sind die Ausstattung eines Raumes, der zuvor eine Werkstatt war. Einer seiner Schützlinge, gerade 15 Jahre alt, flog am Tag nach unserem Besuch für einen Kampf nach Berlin.

»Heute funktioniert hier das Zusammenleben der Menschen problemlos«, sagt Uri. »Und ich rede nicht nur von Juden und Arabern, sondern auch von allen anderen: Christen, Drusen, Sufis, Homosexuellen, Alten, Jungen, … Man lebt zusammen, feiert die Feste der Stadt gemeinsam, hat Achtung voreinander. Das geschieht aber nicht von selbst, alle müssen daran arbeiten. Unser jüdischer Bürgermeister Shimon Lankri hat sich etwa einen arabischen Vize genommen, obwohl er das nicht musste. Es gibt regelmäßige Treffen der Führer aller wichtigen Gruppierungen, damit Probleme gelöst werden, bevor sie sich hochschaukeln. Die Leute begegnen sich mit Respekt und geben ein Beispiel für andere ab. Das ist für mich Koexistenz. Und vielleicht sind das die Gründe, warum die Polizei hier nicht so starke Präsenz zeigen muss wie an anderen Orten.«

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Künstler verwandeln Akko nachhaltig. Ein Spaziergang durch die Altstadt ist eine Entdeckungsreise.

Parallel dazu spinnt Uri den Faden der Koexistenzen noch weiter, indem er das Personal des Restaurants und des Hotel aus beiden Glaubensrichtungen – jüdisch wie arabisch – zusammensetzt und auch sonst allerlei individuelle Charaktere beschäftigt. Koexistenz ist für ihn das Hauptelement zum echten Miteinander in gegenseitiger Wertschätzung. »Wer mit dem anderen spricht, lernt ihn kennen, verliert die Angst vor ihm und muss ihn nicht bekämpfen. Es ist im Grunde völlig einfach, wenn man sich nicht über seine Mitmenschen stellt«, sagt er. Im »Uri Buri« und auch im »Efendi« klappt das wirklich ganz ausgezeichnet. Und womöglich wäre das im Laufe der Jahrtausende in Akkos Geschichte ab und an auch schon ratsam gewesen.