cover

An einem heißen Sommertag wird die dreißigjährige Natsuko von ihrer älteren Schwester Makiko und ihrer Nichte Midoriko in Tokyo besucht. Tokyo ist die Stadt, in die Natsuko als junge Frau kam, um ein neues Leben als Schriftstellerin zu beginnen, Osaka der Ort, den sie hinter sich ließ. Dort arbeitet ihre Schwester als Hostess: eine Frau, die Männern Gesellschaft leistet bei Alkohol, Essen und Karaoke. Makiko, die mit ihrem alternden Körper hadert, ist davon besessen, sich die Brust vergrößern zu lassen. Unterdessen ist ihre zwölfjährige Tochter Midoriko von der einsetzenden Pubertät überfordert. Unfähig, in einer Gesellschaft, die alles Intime tabuisiert, ihre Ängste und Wünsche zu kommunizieren, verstummt sie ganz. Und auch die asexuelle Natsuko fragt sich, welche Rolle ihr bleibt: als unverheiratete, Frau, die nicht mehr Tochter ist und vielleicht nie Mutter sein wird.

Als mit den Jahren in Natsuko der Wunsch nach Mutterschaft wächst und sie eine künstliche Befruchtung erwägt, schlägt ihr der Widerstand der Gesellschaft entgegen, die alleinstehenden Frauen wie ihr diese Option verwehrt.

In ihrem eindringlichen Roman widmet sich Mieko Kawakami Themen wie Geschlechterrollen und Schönheitsnormen und der Frage, was es heißt, als Frau ein sinnreiches und selbstbestimmtes Leben zu führen.

autor

© Wakaba Noda

Mieko Kawakami, 1976 in Osaka, Japan geboren, begann ihre Karriere als Sängerin und Songschreiberin, bevor sie 2007 ihr literarisches Debüt vorlegte, für das sie mit dem Tsubouchi-Shoyo-Preis für Nachwuchsschriftstellerinnen ausgezeichnet wurde. Im folgenden Jahr veröffentlichte Kawakami die Novelle ›Brüste und Eier‹, die die Grundlage des vorliegenden Romans bildete. Hierfür gewann sie den Akutagawa-Preis, Japans wichtigste literarische Auszeichnung, und etablierte sich als eine der bedeutendsten japanischen Autorinnen der Gegenwart.

Katja Busson, geboren 1970, studierte Japanologie und Anglistik in Trier und Tokyo. Sie übersetzte u. a. Junichiro Tanizaki, Keigo Higashino, Shugoro Yamamoto, Nanae Aoyama, Ko Machida und Natsu Miyashita

Mieko Kawakami

Brüste und Eier

Roman

Aus dem Japanischen
von Katja Busson

Die Arbeit der Übersetzerin an diesem Buch wurde außerdem durch ein Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds e. V. gefördert.

eBook 2020
© 2020 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Katja Busson
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Covermotiv: © plainpicture/Jasmin Sander und Alamy Stock Fotos
Satz: Angelika Kudella, Köln
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook 978-3-8321-7043-1

www.dumont-buchverlag.de

Teil 1

Sommer 2008

1 Habt ihr Fenster?

Wenn man wissen will, wie arm jemand war, fragt man ihn am besten, wie viele Fenster die Wohnung hatte, in der er aufgewachsen ist. Was er aß oder wie er sich kleidete, spielt keine Rolle. Um herauszufinden, wie arm jemand war, muss man ihn nach der Zahl seiner Fenster fragen. Genau, der Zahl seiner Fenster. Je weniger Fenster jemand hatte – falls er überhaupt eines hatte –, desto größer die Armut.

»So ein Quatsch«, widersprach mir mal eine Bekannte. »Stell dir vor«, argumentierte sie, »dieses eine Fenster ist riesengroß und geht zum Garten. Eine Wohnung mit so einem großen, schönen Fenster hat doch nichts mit Armut zu tun.«

Das kann nur jemand sagen, der nie arm war. Ein großes Fenster. Ein schönes Fenster? Und was soll das heißen: Garten?

Menschen, die in Armut leben, denken nicht in Kategorien von großen oder schönen Fenstern. Für sie ist ein Fenster das schwarze Glasbrett hinter Schränken und Regalen, das sie noch nie offen gesehen haben. Oder das schmutzige Viereck neben dem fettverkrusteten Küchenventilator, den sie noch nie haben rotieren sehen.

Mit anderen Worten: Über Armut sprechen wollen oder können nur Arme. Menschen, die arm sind, oder Menschen, die arm waren. Ich bin sowohl als auch. Ich war und bin arm.

Dass mir derlei Gedanken und Erinnerungen durch den Kopf gingen, lag vielleicht an dem Mädchen, das mir gegenübersaß. Die Yamate-Linie war in den Sommerferien leerer als gedacht; die Fahrgäste saßen da, spielten an ihren Handys oder lasen Bücher. Das Mädchen, das acht oder auch zehn Jahre alt sein mochte, saß zwischen einem Pärchen – einem jungen Mann mit einer Sporttasche neben sich auf dem Boden und einer jungen Frau, die auf dem Kopf einen Haarreif mit einer großen, schwarzen Schleife trug –, schien aber nicht dazuzugehören.

Es war braun und mager. Das Braun ließ seine Schuppenflechte umso deutlicher hervortreten. Die Beine, die unter dem kurzen Hosenrock hervorschauten, waren praktisch genauso dünn wie die Arme, die aus dem hellblauen Tanktop ragten. Als ich es mit zusammengepressten Lippen und hochgezogenen Schultern so dasitzen sah, musste ich unwillkürlich an meine eigene Kindheit denken, und da kam mir das Wort Armut in den Sinn.

Ich starrte auf das u-förmig ausgeschnittene, hellblaue Top und die Sneakers, deren ursprüngliches Weiß unter den vielen Flecken kaum noch zu erkennen war. Was, wenn das Mädchen aus irgendwelchen Gründen den Mund aufmachte und nichts als faule Zähne zum Vorschein kämen? Gepäck hatte es anscheinend auch nicht dabei. Keinen Rucksack, keine Tasche, keine Handtasche. Hatte es Fahrkarte und Geld in der Hosentasche? Nicht dass ich wüsste, in welchem Aufzug Mädchen in dem Alter heute in die Bahn steigen, aber dass es rein gar nichts bei sich trug, gab mir irgendwie zu denken.

Je länger ich die Kleine ansah, desto stärker wurde mein Bedürfnis, aufzustehen, einen Schritt auf sie zuzugehen und sie anzusprechen. Das Bedürfnis, ein Wort mit ihr zu wechseln, ein Wort wie ein Zeichen, das man in sein Notizbuch kritzelt, das niemand versteht, außer man selbst. Aber was sollte ich sagen? Mit strohigem Haar, und danach sah ihres aus, kannte ich mich aus. Das flattert nicht, stimmt’s, nicht mal bei Wind. Oder: Keine Sorge. Wenn du erwachsen bist, verschwindet die Schuppenflechte von selbst. Oder sollte ich doch die Fensterfrage stellen? Wir hatten keine Fenster, durch die man nach draußen sehen konnte. Habt ihr welche?

Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Genau zwölf. Unbeeindruckt von der mittsommerlichen Hitze fuhr die Bahn dahin. »Nächste Station Kanda«, tönte es gedämpft aus dem Lautsprecher. Der Zug fuhr ein, und als sich die Türen mit einem Seufzer öffneten, torkelte ein zu dieser Stunde schon sturzbetrunkener älterer Mann herein. Reflexartig machten einige Fahrgäste Platz, woraufhin der Mann ein leises Knurren von sich gab. Das graue Haar hing ihm wie entwirrte Stahlwolle bis auf die Brust seiner zerschlissenen Arbeiterkluft. In der einen Hand hielt er eine zerknautschte Plastiktüte, mit der anderen griff er vergeblich nach einer der Halteschlaufen, verlor dabei das Gleichgewicht und geriet ins Taumeln. Die Türen schlossen sich, und die Bahn setzte sich wieder in Bewegung. Als ich nach vorne sah, war das Mädchen verschwunden.

Tokyo Station. An der Sperre hielt ich angesichts der unglaublichen Menschenmengen, die wer weiß woher kamen und nach wer weiß wohin gingen, unwillkürlich inne. Das war keine bloße Menschenmasse, das war ein Wettkampf. Das Gefühl, die Einzige zu sein, die die Regeln nicht kennt, ließ mich zögern. Ich fasste meine Schultertasche fester und holte Luft.

In diesem Bahnhof hatte ich zum ersten Mal vor zehn Jahren gestanden. Es war der Sommer, in dem ich zwanzig geworden war, und wie heute war es so heiß gewesen, dass man mit dem Schweißabwischen gar nicht hinterher kam. Den robusten, riesigen Rucksack, den ich mir nach langem Überlegen noch zu Schulzeiten in einem Secondhandladen gekauft hatte (immer noch mein bestes Stück), bepackt mit knapp zehn Büchern von Autoren, die ich keine Sekunde missen wollte, hätte ich besser mit Umzugsgepäck gefüllt und verschickt, anstatt ihn wie einen Glücksbringer auf dem Rücken zu tragen. Zehn Jahre! Die Frage, ob sich mein zwanzigjähriges Ich mein jetzt dreißigjähriges in etwa so ausgemalt hatte, müsste ich wohl verneinen. Meine Texte wurden immer noch nicht gelesen (der praktisch unauffindbare Blog, auf dem ich manchmal etwas postete, wurde pro Tag von höchstens einer Handvoll Leute besucht), geschweige denn gedruckt. Ich hatte keine Freunde. Und an meinem Leben, das ich mit den 120 000, 130 000 Yen bestritt, die ich als Aushilfe verdiente, obwohl ich Vollzeit arbeitete, der Wohnung unter einem windschiefen Dach, zwischen Wänden, an denen die Farbe abblätterte, und einem Fenster, durch das am Nachmittag die Sonne knallte, sowie dem unablässigen Schreiben, ohne zu wissen, wohin es führen soll, hatte sich auch nichts geändert. Das Einzige, was sich in meinem Leben, das einem Regal in einem alten Buchladen glich, in dem immer noch die Titel standen, die zu den Zeiten meiner Eltern aktuell gewesen waren, verändert hatte, war mein Körper, der zehn Jahre älter geworden war. Mehr nicht.

Ich sah auf die Uhr. Zwölf Uhr fünfzehn. Da ich nun doch eine Viertelstunde zu früh war, lehnte ich mich an einen der kühlen Betonpfeiler und beobachtete das Gewusel. Von links nach rechts rauschte eine schwer bepackte Großfamilie durch die Stimmen und Geräusche. Eine andere Familie tauchte auf. Einem kleinen Jungen, den seine Mutter fest an der Hand hielt, baumelte eine zu große Trinkflasche um den Hintern. Irgendwo schrie ein Baby. Breit lachend eilte ein Pärchen vorbei, sowohl er als auch sie geschminkt.

Ich zog mein Handy aus der Tasche und vergewisserte mich, dass keine neue Mail oder SMS von Makiko eingegangen war. Dann wären die zwei pünktlich in Osaka in den Zug gestiegen und kämen in fünf Minuten an. Wir hatten abgemacht, uns am Nordausgang der Marunouchi-Linie zu treffen. Obwohl ich Makiko einen Plan geschickt und alles genau erklärt hatte, wurde ich nervös. Ich sah noch einmal nach dem Datum. Zwanzigster August. Richtig. Für diesen Tag hatten wir uns um zwölf Uhr dreißig am Nordausgang der Marunouchi-Linie verabredet.

Warum man das Wort ranshi – »Eizelle« – hinten mit dem Zeichen für »Kind« schreibt? Ganz einfach. Weil man seishi – »Samenzelle« – hinten auch so schreibt. Das ist meine Entdeckung des Tages. Ich war ein paar Mal in der Schulbücherei, aber wenn man ein Buch ausleihen will – so furchtbar viele haben die gar nicht –, muss man jede Menge Formulare ausfüllen, es ist eng und dunkel, und manche Leute sind so neugierig, dass man das Buch immer schnell verstecken muss, wenn einer kommt. Deshalb gehe ich in letzter Zeit in eine richtige Bibliothek. Da gibt es auch Computer, die man benutzen kann. Die Schule nervt sowieso. Schule ist doof. Alles Mögliche ist doof. So etwas zu schreiben, ist natürlich auch doof, Schule geht vorbei, deshalb ist es egal, aber Familie geht nicht vorbei, deshalb kann ich an nichts anderes denken. Schreiben kann man überall; man braucht nur Stift und Papier; es kostet nichts, und man kann schreiben, was man will. Sehr praktisch. Das Wort »leidig« kann man mit dem Zeichen für »unliebsam« oder dem Zeichen für »eklig« schreiben, und weil das Zeichen für »eklig« wirklich eklig aussieht, werde ich das gleich üben. Eklig, eklig.

Midoriko

Makiko war meine Schwester. Sie war neununddreißig, neun Jahre älter als ich, und hatte eine fast zwölfjährige Tochter namens Midoriko, die sie, nachdem sie sie mit siebenundzwanzig zur Welt gebracht hatte, allein erzog.

Mit achtzehn war ich für ein paar Jahre zu Makiko und ihrer neugeborenen Tochter gezogen. Da Makiko sich schon vor Midorikos Geburt von ihrem Mann getrennt hatte und ich in ihrer Wohnung ein- und ausging, um ihr zur Hand zu gehen, hatte sich das angeboten, auch aus finanziellen Gründen. Soweit ich weiß, hat Midoriko ihren Vater nie kennengelernt. Sie ist groß geworden, ohne auch nur das Geringste von ihm zu wissen.

Warum Makiko sich von ihrem Mann getrennt hat, weiß ich immer noch nicht. Ich erinnere mich, dass wir damals häufiger über die Scheidung und ihren Exmann sprachen, ich erinnere mich sogar, dass ich dachte, ogottogott, aber worauf sich dieses Ogottogott konkret bezog, daran erinnere ich mich nicht. Hatte Makiko ihren Exmann, der aus Tokyo stammte, nicht bei seinem arbeitsbedingten Umzug nach Osaka kennengelernt und war kurz darauf schwanger geworden? Jedenfalls erinnere ich mich, wenn auch nur leise, dass er Hochjapanisch sprach, was man in Osaka damals so gut wie nie hörte.

Ursprünglich hatten Makiko und ich mit Mutter und Vater in der zweiten Etage eines kleinen Geschäftshauses gewohnt.

Die Wohnung bestand aus zwei hintereinanderliegenden Zimmern, das eine sechs, das andere vier Matten groß. Im Erdgeschoss war eine Kneipe. Ein paar Schritte weiter, und man war im Zentrum des Viertels. Es lag direkt am Meer. Ich habe Ewigkeiten damit zugebracht, bleischwarzen Wellenbergen dabei zuzusehen, wie sie heranrauschen und an den grauen Wellenbrechern zerschellen. Bei Einbruch der Dunkelheit füllten sich die Straßen, in denen man überall die feuchte Luft des Meeres und die rauen Wellen spürte, mit randalierenden Betrunkenen. Oft sah ich welche am Straßenrand oder an Gebäuden hocken. Geschrei und Prügeleien waren an der Tagesordnung. Einmal landete sogar ein Fahrrad vor meinen Füßen, das jemand auf die Straße geschleudert hatte. Die Hunde, die hier und da herumstreunten, setzten Babyhunde in die Welt, die bald ihrerseits hier und da herumstreunten und Babyhunde in die Welt setzten. In dieser Wohnung wohnten wir allerdings nur ein paar Jahre. Kurz nach meiner Einschulung verschwand mein Vater, und Mutter, Makiko und ich zogen zu meiner Großmutter in die Siedlung.

Mein Vater, mit dem ich insgesamt nur knapp sieben Jahre verbracht habe, war so klein, dass ich als Kind schon wusste, dass er klein war. Man hätte ihn für einen Grundschüler halten können.

Oma Komi, meine Großmutter mütterlicherseits, hasste ihn. Er arbeite nicht, liege den lieben langen Tag herum und falle ihrer Tochter nur zur Last, sagte sie und nannte ihn hinter seinem Rücken »Ratte«. In seinem gelb verfärbten Unterhemd und seiner langen Unterhose lag mein Vater von früh bis spät im Bett und sah fern. An seinem Kopfkissen türmten sich Zeitschriften und leere Dosen, die ihm als Aschenbecher dienten, das Zimmer war ständig verqualmt. Jede Bewegung war ihm zu viel; manchmal benutzte er einen Handspiegel, um zu uns herüberzusehen, so faul war er. Wenn er gut gelaunt war, erzählte er schon mal einen Witz, aber im Grunde war er ein schweigsamer Mensch, und ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals mit uns gespielt oder etwas unternommen hätte. Wenn seine Laune kippte – wir konnten schlafen, fernsehen oder auch gar nichts tun –, fing er plötzlich an zu brüllen, und wenn er getrunken hatte, rutschte ihm schon mal die Hand aus. Anfänglich hatte er nur unsere Mutter verprügelt, aber da er unter irgendwelchen Vorwänden zunehmend auch Makiko und mich verdrosch, fürchteten wir diesen kleinen Mann bald mit ganzer Seele.

Eines Tages kam ich von der Schule, und mein Vater war nicht da. Obwohl sich die Wäsche türmte und es im Zimmer so eng und dunkel war wie immer, sah alles, allein weil mein Vater nicht da war, völlig anders aus. Ich schluckte, dann stellte ich mich mitten ins Zimmer und rief. Erst leise, als wollte ich meine Stimmbänder testen, dann laut. Ich brüllte, was mir in den Sinn kam. Niemand war da. Niemand schimpfte. Ich sprang und hüpfte herum. Je mehr ich sprang und hüpfte, desto leichter wurde mir. Plötzlich hatte ich Energie. Der Staub auf dem Fernseher, das schmutzige Geschirr in der Spüle, die Aufkleber am Geschirrschrank, die Kerben am Pfeiler, die zeigten, wie ich gewachsen war – all das schien plötzlich wie mit Zauberpuder bestäubt zu strahlen.

Doch die Freude währte nur kurz. Ich wusste, bald wäre wieder alles wie vorher. Mein Vater würde, was selten vorkam, nur etwas zu erledigen gehabt haben und bald wiederkommen. Ich stellte meinen Schulranzen ab, hockte mich in meine Ecke und seufzte.

Aber mein Vater kam nicht wieder. Weder am nächsten noch am übernächsten Tag. Es dauerte allerdings nicht lange, bis andere Männer auftauchten, denen meine Mutter jedoch sofort die Tür wies. Manchmal wenn meine Mutter über Nacht fortgeblieben war, lag morgens vor dem Eingang ein Haufen Kippen. Nachdem ein Monat verstrichen und mein Vater immer noch nicht wieder da war, rollte meine Mutter eines Tages seinen Futon, der immer noch so dalag, wie er ihn zurückgelassen hatte, zusammen und schleifte ihn ins Bad, das niemand mehr benutzt hatte, seit der Boiler kaputtgegangen war. In dem engen, schimmeligen Raum sah die von Schweiß-, Fett- und Nikotinflecken übersäte Matte verblüffend gelb aus. Meine Mutter starrte sie einen Moment lang an, dann versetzte sie ihr einen wuchtigen Tritt. Einen weiteren Monat später riss Mutter Makiko und mich eines Nachts aus dem Schlaf – Aufstehen, aufstehen! –, die Panik war ihr trotz der Dunkelheit deutlich anzusehen, sprang mit uns in ein Taxi und floh.

Warum wir mitten in der Nacht fliehen mussten, weiß ich nicht. Von meiner Mutter, die ich irgendwann einmal vorsichtig fragte, bekam ich, nicht zuletzt weil das Thema Vater irgendwann tabu war, nie eine Antwort. In jener Nacht, in der wir, wie mir schien, aus unerfindlichen Gründen endlos durch die Nacht fuhren, fuhren wir de facto nur bis ans andere Ende der Stadt – mit der Bahn dauert das nicht einmal eine Stunde – zu Oma Komi, meiner geliebten Großmutter.

Auf der Fahrt wurde mir schlecht, und ich erbrach mich in das Kosmetiktäschchen meiner Mutter, das sie schnell ausgeräumt hatte. Viel kam nicht. Ich wischte mir den sauren Speichel vom Mund und dachte, während meine Mutter mir den Rücken rieb, die ganze Zeit an meinen Ranzen. Die Bücher, die ich Dienstag brauchen würde. Die Hefte. Die Aufkleber. Das Bild von einem Schloss, das ich nach tagelanger Arbeit am Abend zuvor endlich fertiggestellt hatte und das in meinem Notizbuch steckte, welches ich zuunterst in den Ranzen gelegt hatte. Die Mundharmonika, die ich daneben verstaut hatte. Den Butterbrotbeutel, der an der Seite hing. Das nagelneue Federmäppchen mit meinen Lieblingsbleistiften, Filzschreibern, Duftkügelchen und meinem Radiergummi. Die Baseballkappe. Ich mochte meinen Ranzen. Wenn ich zu Bett ging, stellte ich ihn ans Kopfkissen, wenn ich unterwegs war, umklammerte ich die Gurte. Ich gab gut auf ihn acht. Der Ranzen war für mich wie ein Zimmer, das ich auf den Rücken schnallen und mitnehmen konnte, ein Zimmer, das nur mir gehörte.

Ausgerechnet das war zurückgeblieben. Genauso wie mein Sweatshirt, das ich wie einen Schatz gehütet hatte, meine Puppen, meine Bücher und mein Teebecher. Zurückkehren würden wir wohl nicht, dachte ich. Meinen Ranzen würde ich wohl nicht mehr aufsetzen, dachte ich, genauso wenig, wie ich am kotatsu-Heiztisch sitzen – das Federmäppchen genau zur Kante, das Heft geöffnet – und schreiben oder Bleistifte spitzen oder an die raue Wand gelehnt ein Buch lesen würde. Mir wurde wieder flau. Mein Kopf fühlte sich an wie betäubt, meine Glieder waren schwer. War ich wirklich noch ich selbst, fragte ich mich. Das Mädchen, das ich eben noch gewesen war, würde schließlich am Morgen wie immer die Augen öffnen, zur Schule gehen und den Tag so verbringen, wie es ihn immer verbracht hatte. Als ich am Abend zu Bett gegangen war, hätte ich im Traum nicht gedacht, dass ich Stunden später alles stehen und liegen lassen, mit Mutter und Makiko in ein Taxi springen und durch die Nacht kurven würde, ohne die Aussicht, je zurückzukehren.

Je länger ich in die vorbeifliegende Dunkelheit starrte, desto stärker wurde das Gefühl, dass das ahnungslose Mädchen, das ich bis eben noch gewesen war, immer noch im Bett lag. Was sollte ich tun, wenn ich am nächsten Morgen feststellte, dass dieses Mädchen nicht mehr da war? Geängstigt von diesem Gedanken drückte ich mich an Makiko. Müdigkeit überkam mich. Meine Lider wurden schwer, dahinter blitzten grüne Zahlen. Je weiter wir uns von unserer Wohnung entfernten, desto größer wurden sie.

Das Zusammenleben mit Oma Komi, bei der wir nach unserer Nacht-und-Nebel-Aktion Unterschlupf fanden, währte nur kurz. Sie starb, als ich fünfzehn war. Meine Mutter war da schon zwei Jahre tot. Sie war gestorben, als ich dreizehn war. Nun mussten Makiko und ich alleine sehen, wie wir klarkamen. Die 80 000 Yen von Oma Komi, die wir ganz hinten im Hausaltar gefunden hatten, legten wir zur Seite und begannen zu schuften, was das Zeug hielt. An die Zeit zwischen der Brustkrebsdiagnose meiner Mutter – da war ich gerade in die Mittelschule gekommen – und dem Lungenkrebstod von Oma Komi – da ging ich zur Oberschule – kann ich mich so gut wie nicht erinnern. Ich hatte einfach zu viel zu tun.

An was ich mich erinnere, ist die Fabrik, in der ich als Mittelschülerin unter Angabe eines falschen Alters in den Frühlings-, Sommer- und Winterferien jobbte. Die an Strippen von der Decke herabhängenden Lötkolben, das knisternde Sprühen der Funken, die Berge aufgestapelter Kartons. Und dann natürlich der Nachtclub, in dem ich schon als Grundschülerin ein- und ausgegangen war. Eine kleine Bar, die von einer Freundin meiner Mutter betrieben wurde. Tagsüber jobbte meine Mutter mal hier und mal da, und abends arbeitete sie in ebendieser Bar. Kurz nachdem Makiko, die schon zur Oberschule ging, dort als Spülhilfe angefangen hatte, verdingte auch ich mich hinter dem Tresen, wo ich, die betrunkenen Gäste, mit denen meine Mutter sich abgeben musste, im Blick, Getränke und Snacks zubereitete. Makiko legte sich beim Spülen und in ihrem Job in einem Yakiniku-Restaurant, den sie zeitgleich aufgenommen hatte, so ins Zeug, dass sie in ihrem besten Monat 120 000 Yen verdiente, und das bei einem Stundenlohn von etwa 600 Yen (was sie in der Bar zu einer kleinen Berühmtheit werden ließ). Sie schloss die Schule ab, wurde ein paar Jahre später fest angestellt und blieb in der Bar, bis diese bankrottging. Dann wurde sie schwanger, brachte Midoriko zur Welt, hangelte sich von Job zu Job und arbeitete auch jetzt, mit neununddreißig, fünf Tage die Woche in einer Bar. Lebte, mit anderen Worten, das Leben unserer Mutter, die sich als Alleinerziehende zu Tode geschuftet hatte.

Mittlerweile war es zehn Minuten über der verabredeten Zeit, und Makiko und Midoriko waren immer noch nicht da. Neue Nachrichten hatte ich nicht, und ans Telefon ging auch niemand. Ob sie sich verlaufen hatten? Als ich es fünf Minuten später noch einmal versuchen wollte, signalisierte das Handy den Eingang einer neuen Nachricht: weiß nicht mehr, welchen ausgang wir nehmen sollten. sind deshalb am gleis geblieben.

Ich warf einen Blick auf die elektronische Anzeigetafel, sah nach, auf welchem Gleis ihr Zug eingefahren war, kaufte ein Bahnsteigticket und ging durch die Sperre. Als ich im Untergeschoss von der Rolltreppe trat, empfing mich die Augusthitze mit einem Dampfbad, das mir den Schweiß aus den Poren trieb. Ich schlängelte mich durch Leute, die auf den nächsten Zug warteten oder am Kiosk anstanden, den Bahnsteig hinunter und entdeckte die beiden auf einer Bank in Höhe des dritten Wagens.

»Hey! Lange nicht gesehen!«, sagte Makiko, als sie mich sah, und lachte erfreut. Ich musste auch lachen.

»Wow!«, entfuhr es mir bei einem Blick auf Midoriko, die neben ihr saß. Seit unserer letzten Begegnung schien sie gehörig gewachsen zu sein. »Das nenne ich Beine!«

Midoriko, die Haare zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden, trug ein einfaches, dunkelblaues Rundhals-T-Shirt und kurze Hosen. Ihre geraden Beine sahen unglaublich lang aus – vielleicht lag es auch nur daran, dass sie sie von sich gestreckt hatte. Ich gab ihr einen Klaps aufs Knie. Mit einer Mischung aus Scham und Verlegenheit sah Midoriko reflexartig auf, wendete, als ihre Mutter sich einmischte – Unglaublich, oder? Dass sie so groß geworden ist, hättest du nicht gedacht, was? –, den Blick aber gleich wieder ab, nahm, die Miene verfinstert, ihren Rucksack auf den Schoß und schlang die Arme darum. Makiko sah mich an, verdrehte die Augen, schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern.

Seit sechs Monaten sprach Midoriko nicht mehr mit ihrer Mutter.

Warum, wusste Makiko nicht. Irgendwann hätte Midoriko einfach keine Antwort mehr gegeben, wenn sie mit ihr sprach. Zuerst hätte sie sich Sorgen gemacht, es handelte sich womöglich um eine psychische Störung. Da Midoriko aber, abgesehen davon, dass sie nicht mit ihr spräche, gesunden Appetit hätte, normal zur Schule ginge und unverändert mit Freunden und Lehrern spräche, führten sie ihr Leben einfach weiter. Midoriko weigerte sich nur zu Hause und nur mit ihr zu sprechen, täte es also mit Absicht. Egal, wie viel Mühe sie, Makiko, sich gäbe, Midoriko den Grund für ihr Schweigen zu entlocken, Midoriko würde einfach nichts sagen.

»Wir unterhalten uns schriftlich. Per Kuli, oder wie soll ich sagen?«, hatte Makiko seufzend erklärt.

»Was soll das heißen? Per Kuli?«

»Na, Kuli ist Kuli, oder? Wir unterhalten uns schriftlich. Wir sprechen nicht. Ich schon, natürlich. Ich spreche, aber Midoriko schreibt. Sie spricht nicht. Die ganze Zeit schon nicht. Bestimmt schon einen Monat«, hatte Makiko gesagt.

»Einen Monat? Das ist lang.«

»Na ja, kurz ist es nicht.«

»Es ist lang, Makiko.«

»Was soll ich machen? Am Anfang habe ich alles Mögliche versucht, gefragt und so, aber nichts. Keine Antwort. Einen Anlass gab’s vielleicht, aber sie sagt ja nichts. Ich kann sie so viel fragen, wie ich will. Sie redet nicht mit mir. Nicht dass ich sauer wäre deswegen, das nicht, ich weiß halt nur nicht, was ich machen soll. Mit anderen redet sie ganz normal. Vielleicht ist es ja auch nur eine Phase, was weiß ich. Kinder haben ja auch eine Meinung zu ihren Eltern. Aber dass das so lange geht! Na ja, egal, mach dir keinen Kopf, wir kommen schon klar, alles gut«, hatte Makiko am anderen Ende der Leitung gesagt und betont heiter gelacht. Das war jetzt sechs Monate her. Seitdem lebten die beiden anscheinend nicht miteinander, sondern nebeneinanderher.

Obwohl die meisten in meiner Klasse offenbar schon ihre erste Blutung gehabt haben, ging es in Gesundheitslehre heute um Menstruation. Was im Bauch passiert, woher das Blut kommt und um Binden. Dazu wurde uns ein riesiges Bild von einer Gebärmutter gezeigt, die wir alle im Bauch haben. Die Mädchen, die ihre Tage schon haben, stehen in letzter Zeit auf dem Klo immer zusammen und tun geheimnisvoll. Verstauen ihre Binden in kleinen Beuteln, sagen Geheimnis, wenn man sie fragt, was drin sei, tuscheln aber so laut, dass die anderen auch ja alles mitkriegen. Bestimmt gibt es auch welche, die ihre Tage noch nicht haben, aber in meiner Clique, habe ich das Gefühl, bin ich die Einzige.

Wie das wohl ist, wenn man seine Tage bekommt? Offenbar hat man Bauchschmerzen. Schlimmer finde ich aber, dass man seine Tage jahrzehntelang bekommt. Ob man sich daran gewöhnt? Dass Jun-chan sie schon hat, weiß ich. Sie hat es mir erzählt. Ich frage mich allerdings, woher die, die ihre Blutung schon haben, wissen, dass ich meine noch nicht habe. Denn selbst wenn ich sie schon hätte, würde ich es nicht erzählen und auf dem Klo mit dem Beutelchen herumwedeln auch nicht.

Jedenfalls habe ich das Wort shocho – »erste Blutung« – nachgeschlagen. Warum man es vorne mit dem Zeichen für »Anfang« schreibt, ist klar – die Menarche ist die erste Blutung –, aber das Zeichen dahinter kenne ich nicht. Ich schlage nach und stelle fest, dass es verschiedene Bedeutungen hat, »Gezeiten«, also »Ebbe und Flut«, »gute Gelegenheit« und aikyo, was ich nicht verstehe. Ich schlage nach. Aikyo heißt so viel wie »Kundengefälligkeit« oder »einnehmendes, gefälliges Wesen«. Was das mit dem ersten Blut zwischen den Beinen zu tun haben soll, ist mir allerdings ein Rätsel. Mann!

Midoriko

Midoriko ging neben mir. Sie war immer noch etwas kleiner als ich, hatte aber deutlich längere Beine. »Haben alle Mädchen jetzt so lange Beine?«, versuchte ich mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber Midoriko nickte nur genervt und ließ sich zurückfallen. »Komm«, sagte ich zu Makiko, die mit der alten, braunen Sporttasche an ihrem Ärmchen kämpfte, »gib mir die Tasche.« Aber Makiko lehnte jedes Mal ab. »Es geht schon«, sagte sie, »lass nur, es geht schon«, und gab die Tasche nicht aus der Hand.

Makiko war zum dritten Mal in Tokyo, soweit ich weiß jedenfalls. »Meine Güte, ist es hier voll«, oder: »Der Bahnhof ist ja riesig!«, oder: »Was für kleine Gesichter die Frauen hier haben!«, plapperte sie aufgeregt vor sich hin, dazwischen laut »Entschuldigung«, wenn sie wieder fast mit jemandem zusammengestoßen war, weil sie beim Gehen nicht nach vorne, sondern durch die Gegend guckte. Ich gab nur hin und wieder ein vages »Hm« oder »Jaja« von mir, da ich mehr und mehr damit beschäftigt war, aufzupassen, dass Midoriko uns nicht verloren ging. Ich war allerdings erschüttert, wie sehr Makiko sich verändert hatte.

Makiko sah alt aus.

Natürlich sehen Leute mit zunehmendem Alter auch zunehmend alt aus, aber Makiko mit ihren knapp vierzig sah so alt aus, dass man sich nicht wundern würde, wenn sie sagte, sie würde dreiundfünfzig.

Viel Fleisch hatte sie noch nie auf den Rippen gehabt, aber jetzt waren ihre Arme, ihre Beine und ihr Hintern deutlich dünner als früher. Vielleicht war es auch nur die Kleidung, die sie so schmal aussehen ließ. Makiko trug ein T-Shirt mit einem Muster, das zu einer Frau in den Zwanzigern passen würde, eine jugendliche, auf Hüfthöhe sitzende, knallenge Jeans und pinkfarbene Pantoletten mit mindestens fünf Zentimetern Absatz und gehörte mithin zu einem Typ, den man in letzter Zeit häufiger sah, nämlich »von hinten Lyzeum, von vorne Museum«.

Sie war eine ganze Kleidergröße geschrumpft, und rosig sah sie auch nicht aus. Ihre Stiftzähne waren so gelb, dass sie einem ins Auge stachen, die Metallanker darunter hatten Trauerränder ins Zahnfleisch gezeichnet. Ihr Haar, aus dem sowohl die Dauerwelle als auch die Farbe fast herausgewachsen war, war so dünn geworden, dass unter ihrem schweißglänzenden Scheitel die Haut durchschien. Ihre zu weiße und zu dick aufgetragene Schminke machte sie faltiger, als sie war. Wenn sie lachte, wurden ihre Halsadern zu Seilen, und ihre Lider verschwanden.

Ich musste an unsere Mutter denken. Werden Töchter ihren Müttern automatisch zunehmend ähnlicher, oder war Makiko ihr so ähnlich, weil ihr das zu passieren drohte, was unserer Mutter passiert war? Bist du gesund? Gehst du regelmäßig zum Arzt?, war ich versucht zu fragen, aber ich wollte kein Salz in eine Wunde streuen, die Makiko selbst wahrscheinlich nur zu bewusst war. Doch Makiko ging es gut. An das Schweigen ihrer Tochter schien sie sich gewöhnt zu haben. Ohne sich auch nur im Geringsten daran zu stören, dass Midoriko sie ignorierte, plapperte sie fröhlich weiter.

»Wie lange hast du frei, Maki-chan?«, fragte ich.

»Mit heute drei Tage.«

»Nur?«

»Heute, morgen, übermorgen fahren wir nach Hause, abends muss ich arbeiten.«

»Und? Viel zu tun?«

»Pff«, schnaubte Makiko verächtlich, »ganz im Gegenteil«, und verzog das Gesicht. »Ringsum hat jede Menge dichtgemacht.«

Makiko war Hostess, was allerdings nicht viel heißt. Hostessen gibt es, auch wenn das nicht gerade schmeichelhaft klingt, wie Sand am Meer. Um einzuschätzen, welches Niveau die Kunden, die Bar und damit die Hostess hat, muss man fragen, in welchem der mit Kneipen gepflasterten Viertel Osakas sie arbeitet.

Die Bar, in der Makiko arbeitete, lag in Shobashi. Das ist das Viertel, in dem unsere Mutter, Makiko und ich nach unserer Flucht zu Oma Komi immer gearbeitet hatten, ein von jeder Art Luxus weit entferntes Amüsierviertel, das über die Jahre grau und krumm geworden ist.

Eine billige Kneipe, zwei Stehimbisse, einen für Soba-Nudeln, einen für anderes, ein Café. Ein Stundenhotel, das man eigentlich Stundenabsteige nennen müsste, so verfallen, wie es war. Ein Yakitori-Lokal, schmal wie ein Zug, eine Grillstube für Innereien, die lächerlich viel Rauch produzierte, daneben eine Apotheke mit einem Schild, auf dem groß Hämorrhoiden und Schlechte Durchblutung stand. Zwischen den Geschäften kein Zentimeter Platz. Am Aal-Restaurant klebte ein Sexshop, am Makler ein Bordell sowie ein hell erleuchteter, beflaggter Pachinko-Parlour, und neben dem Stempelmacher, dessen Inhaber ich noch nie zu Gesicht bekommen hatte, hatte sich eine unheimliche Spielhölle gezwängt, die zu allen Tageszeiten schummrig aussah.

Besucht wurden diese Etablissements, von zufälliger Laufkundschaft abgesehen, von allen möglichen Leuten – von Männern, die sonst vor Telefonzellen hockten, von Damen reiferen Alters, dem Aussehen nach weit über sechzig, die – zweitausend Yen das Tänzchen! – Kunden warben, von Obdachlosen und natürlich von Betrunkenen. In diesem, freundlich ausgedrückt, gemütlich-lebhaften, nüchtern betrachtet, miesen Viertel, im zweiten Stock eines Gebäudes, das vom frühen Abend bis tief in die Nacht vom Echo zahlreicher Mikros widerhallte, befand sich die Bar, in der Makiko von sieben bis zwölf Uhr abends arbeitete.

In der aus ein paar Barhockern und ein paar »Logen« genannten Sitzecken bestehenden Bar, in die nicht mehr als fünfzehn Leuten passten, gehörte einiges dazu, einem Gast 10 000 Yen aus der Tasche zu ziehen. Dass die Damen, um den Umsatz zu erhöhen, dies und jenes für sich bestellten, war selbstverständlich. Da es wenig Sinn machte, billigen Fusel mitzutrinken, trank man Oolong-Tee – von dem konnte man sich so viel nachschenken lassen, wie man wollte, der stieg einem nicht zu Kopf –, die Dose zu 300 Yen. Natürlich stellte man – frisch aufgemacht! – eiskalt eine gebrauchte Dose auf den Tisch, die man vorab mit vorgebrühtem Tee gefüllt hatte. Sobald der Magen vom vielen Wasser gluckerte, ließ man sich eine Kleinigkeit zu essen bestellen, nichts zum Knabbern, sondern gegrillte Würstchen, Spiegeleier, Ölsardinen oder frittiertes Hühnchen. Dann Karaoke. Da auch Kleinvieh Mist macht, gab jede Hostess, ob jung oder alt, ob passionierte Sängerin oder fürchterlich unmusikalisch, ihr gesamtes Repertoire zum Besten. Aber so sehr man sich auch mühte – die Stimme heiser und der Körper vom übermäßigen Salz- und Wasserkonsum aufgedunsen –, die meisten Gäste gingen am Schluss mit einer Rechnung von nicht einmal 5000 Yen.

Die Wirtin von Makikos Bar war schätzungsweise Mitte fünfzig, klein, kugelrund und heiter. Ich hatte sie einmal kennengelernt. Eine Short Hope zwischen den wurstigen Fingern und das mehr gelbe denn goldene Haar, von dem nicht zu sagen war, ob es gefärbt oder entfärbt war, am Hinterkopf zu einem Knoten aufgesteckt, hatte sie Makiko, als die sich vorstellte, gefragt, ob sie Chanel kenne.

»Ja, das ist eine Modemarke, die kenne ich«, erwiderte Makiko.

»Und?«, sagte die Wirtin und blies den Rauch aus der Nase. »Was meinste? Schick, oder?«

Sie deutete mit dem Kinn auf die zwei Tücher, die, eingerahmt in eine Art Plastikkasten, wie Poster an der Wand hingen, angestrahlt von einem gelblichen Spot.

»Weißte«, sagte die Wirtin, die Augen zu schmalen Schlitzen gezogen, »ich hab’n Faible für Chanel.«

»Deshalb heißt die Bar auch so«, sagte Makiko, den Blick auf die Tücher geheftet.

»So isses«, sagte die Wirtin. »Chanel war immer schon mein Traum. Auch wenn’s nicht ganz billig ist. Hier, guck mal, die Ohrringe.« Sie reckte das runde Kinn und ließ Makiko einen Blick auf ihren Ohrring werfen. Das stumpfe Goldkügelchen, dem man selbst im schwachen Licht der Bar sein Dienstalter ansah, trug das Logo von Chanel.

Dieses Logo prangte überall in der Bar, auf den Handtüchern, auf den Bierdeckeln, auf den Aufklebern, mit denen die Scheibe der Telefonkabine gepflastert war, auf den Visitenkarten, auf dem Fußabtreter und sogar auf den Tassen, aber das waren alles, wie die Wirtin sagte, »hochwertige Imitate«, für die sie über Jahre die Märkte in Tsurubashi und Minami abgeklappert hatte. Obwohl selbst Makiko, die von Chanel nicht die geringste Ahnung hatte, die »hochwertigen Imitate« auf einen Blick als Plunder identifizieren konnte, hing die Wirtin so sehr an ihrer Sammlung, dass sie sie stetig vergrößerte. Die Haarspange und die Ohrringe, einige der wenigen Dinge, die wirklich von Chanel waren und die sie nie vergaß anzulegen, hätte sie sich in einem Anfall von Wahn zur Eröffnung der Bar als Glücksbringer gekauft. Mehr als Chanel waren es aber wohl der Klang des Namens und die Macht des Logos, die es ihr angetan hatten. Auf die Frage eines Barmädchens, was dieser Chanel denn für ein Landsmann sei, hätte die Wirtin einmal gesagt: »Amerikaner natürlich.« Für sie kam anscheinend jeder Weiße aus Amerika.

»Wie geht’s Mama Chanel? Gut?«

»Ja, ja, der geht’s gut. Dem Geschäft allerdings nicht so.«

Kurz nach zwei kamen wir in Minowa an, der Station, die meiner Wohnung am nächsten lag. Von dort gingen wir, begleitet vom ohrenbetäubenden Gezirpe der Zikaden, die zehn Minuten zu mir nach Hause zu Fuß. In einem Stehimbiss auf dem Weg genehmigten wir uns Soba, die Schale 200 Yen.

»Sag mal, hast du den weiten Weg etwa extra wegen uns gemacht?«

»Nein. Ich musste sowieso in die Stadt. Wir sind gleich da. Hinter dem Hügel ein Stück geradeaus.«

»Gar nicht schlecht, so ein Spaziergang. Tut gut, die Bewegung.«

Während wir uns anfangs noch unterhalten und sogar Luft zum Lachen gehabt hatten, ließ uns die Hitze bald verstummen. Die Grillen saßen uns praktisch im Ohr, die Sonne brannte. Die Hausdächer, die Blätter der Bäume und die Kanaldeckel schienen das weiße Licht regelrecht einzusaugen. Je stärker sie gleißten, desto dunkler wurden die Schatten auf meiner Netzhaut. Völlig verschwitzt kamen wir schließlich bei meiner Wohnung an.

»Hier ist es.«

Makiko atmete auf, Midoriko ging neben dem Blumentopf am Eingang in die Hocke und beäugte das Gewächs darin. Dann zog sie ein kleines Notizheft aus ihrer Hüfttasche und schrieb: Wem gehört die? Ihre Zeichen waren so fett und kräftig, als stünden sie an einer Wand und nicht auf einem Stück Papier. Als Midoriko noch ein Baby gewesen war, erinnerte ich mich, hatte ich mir nicht vorstellen können, dass dieses winzige Wesen, das nur dagelegen und geatmet hatte, jemals in der Lage sein würde, etwas zu erledigen, zu essen oder zu schreiben.

»Keine Ahnung, aber irgendwem wird sie schon gehören. Meine Wohnung ist im ersten Stock. Das Fenster da. Treppe hoch, linke Tür.«

Nacheinander stiegen wir die hier und da angerostete Eisentreppe hinauf.

»Kommt rein. Viel Platz ist allerdings nicht …«

Makiko schlüpfte aus ihren Pantoletten und reckte den Hals.

»Sieht doch gut aus«, sagte sie fröhlich. »Die Wie-für-mich-gemacht-Wohnung. Schön. Echt.«

Midoriko folgte ihr schweigend ins hintere Zimmer. In diesem Apartment, einem Schlauch aus einer viereinhalb Matten großen Küche und einem sechs Matten großen Zimmer dahinter, wohnte ich seit meinem Umzug nach Tokyo, mittlerweile also zehn Jahre.

»Hast du den Teppich gelegt? Was ist denn da drunter? Doch wohl keine Dielen, oder?«

»Tatami. Als ich einzog, waren die aber schon so alt, dass ich Teppich gelegt habe.«

Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, schaltete den Cooler ein und stellte die Temperatur auf zweiundzwanzig Grad. Dann nahm ich den Tisch, der an der Wand gelehnt hatte, klappte ihn auseinander und stellte die drei Gläser darauf, die ich zur Feier des Tages in einem Kramladen in der Nähe gekauft hatte. Sie waren mit helllila Weintrauben verziert. Ich holte den Gerstentee aus dem Kühlschrank und schenkte ein. Makiko und Midoriko leerten ihre Gläser in einem Zug.

»Aah, tut das gut«, sagte Makiko und streckte sich. Ich zog den Sitzsack aus der Ecke und gab ihn ihr. Midoriko nahm ihren Rucksack ab, schob ihn zur Seite, stand auf und sah sich staunend um – nicht dass es in dem kleinen, nur mit dem Nötigsten möblierten Zimmer etwas zu staunen gegeben hätte. Ihr Blick blieb am Bücherregal hängen.

»Da staunst du, was?«, sagte Makiko. »So viele Bücher.«

»Das sind nicht viele.«

»Was denn? Die ganze Wand ist doch praktisch ein Bücherregal! Wie viele sind es denn?«

»Ich habe sie nicht gezählt, aber so viele sind es nicht. Eher normal.«

Für Makiko, die nicht las, mochten es eine Menge sein, aber so viele waren es wirklich nicht.

»Echt?«

»Echt.«

»Geschwister können ganz schön verschieden sein. Mich interessieren Bücher null. Aber die Kleine hier, die ist auch so ein Bücherwurm. Japanisch mag sie auch, stimmt’s?«

Midoriko gab keine Antwort und studierte weiter das Regal.

»Sag mal, hast du was dagegen, wenn ich kurz unter die Dusche springe? Ich meine, wir sind ja gerade erst angekommen, aber …«, fragte Makiko und zupfte sich ein Haar von der Wange.

»Geh nur. Die Dusche ist links, Toilette ist extra.«

Während Makiko duschte, stand Midoriko weiter vor dem Regal. Ihr T-Shirt war vom Schweiß am Rücken nicht mehr blau, sondern schwarz. Auf meine Frage, ob sie sich nicht umziehen wolle, schüttelte sie nach kurzem Überlegen den Kopf.

Während ich dasaß, Midoriko betrachtete und der Dusche aus dem Bad lauschte, kam es mir plötzlich so vor, als hätte sich die Wohnung verändert. Ich verspürte ein Unbehagen, ganz so wie jenes, das man beim Blick auf einen alten Rahmen empfindet, bis man merkt, dass das Foto darin neu ist. Ich trank meinen Tee und dachte dabei eine Weile über dieses Unbehagen nach, konnte aber nicht ergründen, woher es rührte.

»Ich hab eins von deinen Handtüchern genommen«, sagte Makiko, als sie zurückkam. Sie trug ein Paar ausgebeulte Jogginghosen und ein labberiges T-Shirt. »Nicht schlecht, deine Dusche«, sagte sie, während sie sich mit dem Handtuch die Haare rubbelte. Ihr nunmehr völlig ungeschminktes Gesicht ließ mich ein wenig aufatmen. So schlecht sieht sie doch gar nicht aus, dachte ich. Und so viel abgenommen hat sie auch nicht. Wahrscheinlich lag es nur am Make-up, de facto hat sie sich gar nicht so verändert. Ich habe überreagiert. Wir haben uns einfach zu lange nicht gesehen. Sie sieht nicht älter aus, als sie ist. Sie sieht so alt aus, wie sie ist, dachte ich erleichtert.

»Kann ich das raushängen? Wo ist denn dein Balkon?«

»Ich habe keinen Balkon.«

»Was?«, fragte Makiko so überrascht, dass auch Midoriko sich umdrehte. »Du hast keinen Balkon? Wo gibt’s denn so was?«

»Hier zum Beispiel«, erwiderte ich lachend. »Vor dem Fenster ist nur ein Geländer. Pass auf, dass du nicht runterfällst.«

»Und wo hängst du deine Wäsche auf?«

»Auf dem Dach. Wenn du willst, können wir nachher raufgehen. Wenn’s draußen ein bisschen kühler ist.«

»Ts, ts«, machte Makiko, griff nach der Fernbedienung, schaltete den Fernseher ein und zappte. Kochsendung, Teleshopping, Boulevardmagazin. Irgendwo war etwas passiert: Die Spannung war sofort mit Händen zu greifen. Die Reporterin, die, ein Mikro in der Hand, auf uns einredete, machte ein ernstes Gesicht. Vor den Häusern im Hintergrund waren ein Krankenwagen, die Polizei und eine Plastikplane zu sehen.

»Ist was passiert?«, fragte Makiko.

»Keine Ahnung.«

Am Morgen sei im Bezirk Suginami eine Studentin in der Nähe ihrer Wohnung von einem Mann mit einem Messer attackiert und mit mehreren Stichen im Gesicht, am Hals, in Brust und Bauch, am ganzen Körper also, verletzt worden. Die Frau werde im Krankenhaus behandelt, ihr Zustand sei nach einem Herzstillstand aber kritisch, berichtete die Reporterin. Der mutmaßliche Täter, ein junger Mann in den Zwanzigern, der sich circa eine Stunde nach der Tat auf dem nächsten Polizeirevier gestellt habe, werde zur Stunde befragt, fuhr die Reporterin fort. Zwischendurch wurden am oberen Bildschirmrand ein Foto der Verletzten und ihr Name eingeblendet. »Da drüben gibt es noch frische Blutspuren«, sagte die Reporterin merklich angespannt. Gelbes Absperrband und eine Horde Schaulustiger, die mit ihren Handys eifrig filmten, kamen ins Bild. »So ein hübsches Mädchen«, seufzte Makiko. »Ist da nicht erst neulich was passiert?«

»Stimmt«, erwiderte ich.

Vorvorletzte Woche hatte man in einer Mülltonne im Shinjuku gyoen, dem kaiserlichen Park Shinjuku, Teile einer Frauenleiche gefunden. Wie sich herausstellte, stammten sie von einer Siebzigjährigen, die seit Monaten als vermisst gegolten hatte. Kurz darauf nahm die Polizei einen neunzehnjährigen, arbeitslosen Mann aus der Nachbarschaft der Frau fest. Weil es sich bei dem Opfer um eine alleinstehende ältere Frau handelte, die lange ganz für sich in einem alten Apartment in der Stadt gewohnt hatte, wurden die Medien nicht müde zu spekulieren, wo Opfer und Täter sich begegnet sein könnten und welches Motiv der Täter gehabt haben könnte.

»Da hat doch einer diese Oma umgebracht. Und zerstückelt.«

»Und im Gyoen in den Mülleimer geworfen.«

»Was ist denn ein Gyoen?«

»So was wie ein großer Park.«

»Der Täter war doch jung«, sagte Makiko und runzelte die Stirn. »Und die Frau war siebzig, oder? Lass mich mal nachdenken …«, fuhr sie fort. »Hmhmhm … Dann war die so alt wie Oma Komi bei ihrem Tod.«

Als ihr die Tragweite dessen, was sie eben gesagt hatte, bewusst wurde, stieß Makiko einen Schrei aus und sagte mit vor Schreck geweiteten Augen: »Die ist doch vergewaltigt worden!«

»Offenbar.«

»Meine Güte. Ich glaub es nicht. Die war so alt wie Oma Komi! Ja, ist denn das zu fassen?!«, stöhnte Makiko.

So alt wie Oma Komi – in spätestens einer Stunde hätte ich den Fall, wie alle anderen auch, vergessen, aber Makikos »so alt wie Oma Komi« ging mir eine Weile nicht aus dem Sinn. Oma Komi. Als Oma Komi starb, war sie alt. Sie war alt, als sie Krebs bekam und ins Krankenhaus musste, aber auch schon vorher, als es ihr noch gut gegangen war. In meiner Erinnerung war Oma Komi immer alt gewesen. Sie hatte nichts, aber auch nicht das Geringste von einem geschlechtlichen Wesen an sich gehabt. Sie war eine alte Frau. Eine Oma! Was die Tote für eine Frau gewesen war, wusste ich nicht – ein ganz anderes Kaliber als Oma Komi vielleicht –, die Frauen hatten jedenfalls nichts gemein, außer dass sie beide siebzig gewesen waren, doch allein das verknüpfte die Vergewaltigung auch mit Oma Komi, was in mir gemischte Gefühle auslöste.

Die Frau hätte bestimmt im Leben nicht gedacht, dass sie mit siebzig von jemandem, der ihr Enkel sein könnte, vergewaltigt und anschließend ermordet werden würde. Als es passierte, wusste sie wahrscheinlich nicht einmal, wie ihr geschieht.

Die Moderatorin verabschiedete sich, noch immer betroffen, und damit war das Magazin zu Ende. Ein bisschen Werbung, dann begann die Wiederholung einer Soap Opera.

»Ich habe die Binden die ganze Zeit verkehrt herum benutzt«, hat Junko-chan ganz aufgeregt erzählt. Nein, stimmt nicht. Aufgeregt war sie nicht. Sie hat gesagt, die Binden hätten einen Klebestreifen, und sie hätte sie so in den Schlüpfer gelegt, dass der Streifen nicht am Schlüpfer, sondern an ihr klebte. Anscheinend wusste sie es nicht besser. Sie hat sich dann nur gewundert, dass die Binden nicht alles aufsaugten. Komisch. Die können doch nicht so schwer zu benutzen sein.

»Ich habe noch nie eine Binde gesehen«, habe ich gesagt. »Wenn du willst, zeige ich dir welche, wir haben ganz viele zu Hause«, hat Jun-chan gesagt, und deshalb bin ich auf dem Heimweg von der Schule heute mit zu ihr gegangen. Auf dem Regal über dem Klo stapelten sich wirklich Binden, so groß wie Windeln. Wir haben keine zu Hause. Damit ich weiß, was auf mich zukommt, bin ich, obwohl ich das eklig finde, aufs Klo geklettert und habe geguckt. Auf dem Regal lagen haufenweise Binden. Auf allen Packungen stand groß »Sonderangebot«. Wenn eine Eizelle unbefruchtet bleibt, bekommt man seine Tage. Mit dem Blut fließt auch Schleimhaut aus, nämlich die, die die Gebärmutter vorsichtshalber gebildet hat, falls doch eine Eizelle befruchtet worden wäre. Dann müsste doch, hatte Jun-chan überlegt, auch die unbefruchtete Eizelle im Blut zu sehen sein, und hatte daraufhin – ist das nicht unglaublich! – letzten Monat ihre Binde aufgerissen. Unglaublich! »Und?«, fragte ich. Ich finde das voll eklig, aber Jun-chan hat überhaupt kein Problem damit. In der Binde wären lauter blutrote Kügelchen gewesen. Wie die ausgesehen hätten, fragte ich, wie Lachskaviar? »Wie Lachskaviar in Miniminiformat«, sagte Jun-chan. Mit anderen Worten: Ob die unbefruchtete Eizelle dabei war, wusste sie nicht.

Midoriko

Ich hatte gerade in der Küche den Wassertopf auf den Herd gestellt, um neuen Gerstentee zu kochen, als Midoriko neben mir auftauchte und mir ihr Notizheft hinhielt.

Ich gehe auf Erkundungstour.

»Erkundungstour? Was meinst du damit?«

Spaziergang.

»Von mir aus. Was sagt deine Mutter dazu?«

Midoriko zog die Schultern hoch und schnaubte.

»Maki-chan! Hast du was dagegen, wenn Midoriko ein bisschen rausgeht?«

»Von mir aus. Wenn sie sich nicht verläuft«, rief Makiko.

Ich gehe nicht weit.

»Was willst du denn bei dieser Hitze draußen rumlaufen?«

Erkundungstour.