Clemens J. Setz

DIE BIENEN UND DAS UNSICHTBARE

Suhrkamp

I decided not to be silent when the battery dies

Mustafa Ahmed Jama

Nibuds kömons suvo lü stopöp su lubel –
tü minuts degtel. Nek spidon tope, do nibuds
binons mödiks.
Busse kommen oft zu der Haltestelle auf dem Hügel –
alle zwölf Minuten einer.
Niemand will allzu rasch an diesen
Ort gelangen, aber die Busse dahin sind zahlreich.

aus Ralph Midgleys Sprachkurs Volapük in Action

Intro

»Mustafa, du wurdest in Somaliland geboren, ein Land, das offiziell nicht existiert. Mit wie viel Jahren bist du nach Schweden gekommen?«

»Ich bin 1979 geboren. Nach meiner Geburt war ich fünf Minuten lang tot. Wir sind nach Schweden gekommen, als ich drei Jahre alt war, nach vielen Reisen, die meine Eltern unternahmen, in Somalia und auch außerhalb. Sie suchten nach Hilfe für mich.«

»Erinnerst du dich noch an deine Ankunft?«

»Ja und nein. Ich habe noch etwa zehn Prozent meiner Erinnerungen von damals.«

»Wann konntest du zum ersten Mal kommunizieren?«

»Mit fünf. Ich spielte mit anderen Kindern, und da war ein Lehrer, der gab mir Süßigkeiten und sagte: Komm in dieses Zimmer hier und lerne diese Bliss-Symbole. Heute bin ich diesem Lehrer enorm dankbar, denn zu diesem Zeitpunkt versuchte ich natürlich, zu sprechen wie alle anderen Kinder, aber es war kaum möglich.«

»Wie war es, als du zum ersten Mal Dinge sagen konntest?«

»Es war nicht immer wie heute. Heute beherrsche ich die Symbole fließend. Mein Unterricht begann mit den Zeichen für Mann und Papa. Dann folgten die Begriffe Bruder, Schwester und so weiter.«

»Wie lange dauerte es, bis du sie fließend beherrscht hast?«

»Zehn Jahre, tägliche Übung.«

»Träumst du heute in Bliss-Symbolen?«

»Natürlich.«

»Und wie hast du begonnen, in ihnen zu dichten?«

»Ich habe zuerst Gedichte gelesen, und später gewann ich Poesie immer mehr lieb, sie wurde zu einer Leidenschaft. Irgendwann begann ich, selbst Gedichte zu verfassen. Und wenn ich kurz für alle Somalis sprechen darf: Dichtung spielt in unserem Leben eine sehr zentrale Rolle. Es ist kein Zufall, dass der britische Reiseschriftsteller Gerald Hanley geschrieben hat: Somalia ist das Land der Dichter.«

»Das wusste ich nicht.«

»Der Bruder meines Großvaters war ebenfalls Dichter. Als Kind las ich schwedische Lyriker und hörte mir somalische Poesie auf Audiokassetten an. Beides hat mich sehr geprägt. Die somalische Dichtung ist stark metaphorisch ausgerichtet. In einem bestimmten Gedicht kann es zum Beispiel so klingen, als würde der Dichter über Mutter Natur sprechen, dabei handelt es von etwas vollkommen anderem, das noch niemand kennt.«

»Gibt es einen Unterschied im Denken zwischen Bliss-Symbolen und Schwedisch?«

»Ja, eindeutig. Bliss ist viel klarer. Bliss gibt dir die Bedeutung selbst, ohne das Drumherum. Nur die Bedeutung und sonst nichts. Du siehst, was die Welt wirklich ist. Zum Beispiel das Wort für Hospital. Haus plus Kranke Person

»Ich war von deinem Gedichtband tief beeindruckt. Wird es in der nächsten Zeit vielleicht ein neues Buch von dir geben?«

»Ich weiß nicht, ob und wann ich wieder etwas veröffentlichen will. Vielleicht, wenn ich im Grab bin.«

»Ich hoffe, es wird noch davor geschehen.«

»Ich habe eigentlich vor, alles Weitere postum zu veröffentlichen. Die Vorstellung, dass Journalisten kommen und mein Werk kommentieren, ist mir sehr zuwider. Es würde mir nur wehtun. Aber vielleicht, wenn ich Glück habe, wird es herauskommen, wenn ich alt und grauhaarig bin.«

»Ich würde jedenfalls gerne mehr von dir lesen. Deine Gedichte treffen einen direkt im Kehlkopf.«

»Lob mich lieber nicht zu viel, sonst entwickle ich am Ende noch writer’s block

»Nun ja, in meinem Buch werde ich deine Gedichte vermutlich schon etwas loben.«

»Okay. Ich werde versuchen, nicht darauf zu achten.«

Erstes Kapitel

Das Tänzeln

This is not the best we can do. Noises with your mouth.

Joe Rogan, JRE Podcast #1383

1

Es ist eine alte Geschichte. Der italienische Dichter Tommaso Landolfi (19081979) erzählt uns ihre archetypische Grundgestalt in seinem Dialogo dei massimi sistemi aus dem Jahr 1937. Ein Mann, nur bekannt unter dem Namen Y, erlernt von einem englischen Kapitän, der gelegentlich in Ys Trattoria herumhängt und mit seiner Bewandtheit in den orientalischen Sprachen angibt, das Persische. Y erweist sich als gelehriger Schüler. Persisch scheint wie gemacht für sein Gehirn. Alle neuen grammatikalischen Strukturen saugt er mit geradezu schlafwandlerischer Selbstverständlichkeit in sich auf. In kürzester Zeit beherrscht er die Sprache so gut, dass er Poesie in ihr verfasst. Sein kleines dichterisches Werk erfüllt ihn mit großem Stolz. Es erscheint ihm als der direkteste, unverstellteste Ausdruck seiner Seele.

Nach Jahren kommt er auf die Idee, einmal einen klassischen persischen Dichter zu lesen. Vielleicht denkt er an Hafis, an Firdausi, an Rumi. Er besorgt sich ein Buch, schlägt es auf und sieht Blöcke vollkommen fremdartiger Zeichen vor sich. Nun, denkt er, vielleicht hat ihm der Kapitän die persische Schrift falsch beigebracht. Aber auch ein Blick in eine persische Grammatik stellt ihn nur vor Unverständliches. Das, was der Kapitän ihm da beibrachte, war nicht Persisch.

Also sucht der arme Mann alle linguistischen Quellen durch, die sich auftreiben lassen, spricht mit Gelehrten und Professoren, versendet Textproben, aber niemand kennt die Sprache, in der er dichtet. Sie erinnert an nichts Bekanntes. Der wunderliche Kapitän muss sie sich ausgedacht haben.

Y schreibt einen Brief an den Kapitän und erhält von diesem ein ungeheuerliches Antwortschreiben: »Geehrter Herr! Ich habe Ihren Brief erhalten. Eine Sprache wie die von Ihnen beschriebene ist mir, trotz meines beachtlichen linguistischen Wissens, völlig unbekannt. (…) Was die bizarren Schriftzeichen angeht, die Sie beigefügt haben, so ähneln diese zu einem Teile dem aramäischen, zu einem anderen dem tibetischen Zeichensystem, aber seien Sie versichert, dass sie weder die eine noch die andere Sprache abbilden.«

Der nun vollends verzweifelte Y begibt sich zu einem Kritiker, um herauszufinden, was von den Gedichten zu halten ist, die er in der seltsamen, sozusagen jungfräulich geborenen Fantasiesprache verfasst hat. Kein Mensch auf der Welt könne sie lesen, aber er habe seine ganze Seele in sie gegossen. Er wüsste zumindest gerne, ob diese nun überhaupt noch darin enthalten sei. »Das Traurige an der Sache ist«, sagt er, »dass diese verfluchte Sprache, die keinen Namen trägt, sehr, sehr schön ist – und dass ich sie von Herzen liebe.« Der Kritiker weist darauf hin, dass eine Sprache nicht notwendigerweise von anderen verstanden werden müsse, um ein Träger für Poesie zu sein. Man könnte auch sagen, der Dichter sei in diesem Fall so etwas wie der grenzenlos mächtige König in einem nur von ihm selbst verwalteten und bewohnten Reich, unangefochten von der Vergänglichkeit und den Missverständnissen des Ruhms. Er lebe, in gewisser Hinsicht, das ideale Leben. Am Ende verliert der arme Y den Verstand. So zumindest legen es seine Mitmenschen aus, wenn sie ihn dabei beobachten, wie er immer wieder seine mit unverständlichen Zeichen vollgekritzelten Zettel in die Büros der Literaturzeitschriften trägt.

In der Geschichte, vor allem der des 20. Jahrhunderts, hat es sehr viele Ys und einige wenige Kapitäne gegeben. Auch Kritiker waren vorhanden. Dieses Buch wird einige von ihnen versammeln: begnadete Dichter, einsam in ihrem Reich ausharrende Könige, vorübergehend Verlorene, Unsichtbare und Verfolgte, Roboter und Verbrecher, Helden und Welterlöser.

2

Ein zum Sprechen anhebender Mensch hat, so scheint es, etwas Magisches. Dieses Magische aber verwandelt sich schnell in tragische Verwunschenheit, ja mitunter sogar in einen Fluch, wenn der Betreffende irgendwo ganz für sich allein mit Wörtern im Gehirn hantiert, ohne Aussicht auf einen ihm verständnisvoll lauschenden Mitmenschen, der dieselbe Sprache spricht.

Werner Herzog berichtet, dass er bei den Dreharbeiten zu Wo die grünen Ameisen träumen in Port Augusta, im Süden Australiens, einen Aboriginal-Mann kennenlernte, der der letzte Sprecher einer von anderen Idiomen vollkommen isolierten Sprache war. Der Mann konnte sich niemandem verständlich machen. Er lebte in einem Pflegeheim, in dem man ihm den Kosenamen »Der Stumme« gegeben hatte. Seine Nachmittage habe der Mann, so Herzog in einem Gespräch mit Paul Cronin, damit zugebracht, Münzen in einen leeren Getränkeautomaten zu drücken und dann ihrem klimpernden Durchrieseln durch den Apparat zu lauschen. Wenn der Mann schlief, holten die Pfleger die Münzen aus dem Automaten und legten diese zurück in seine Tasche, wobei diese magische Rückkehr seiner Münzen bei weitem nicht das beunruhigendste Element im Alltag des Mannes gewesen sein dürfte.

Die Stelle in Franz Kafkas Werk, die mich seit meiner Jugend immer am meisten bewegt hat, findet sich gegen Ende der kurzen Erzählung Eine Kreuzung. Ein Mann besitzt ein eigentümliches Tier, halb Katze und halb Lamm. Es ist ein Familienerbstück. Seine Doppelnatur bringt einige Schwierigkeiten mit sich. Es scheint nicht nur Lamm und Katze, sondern auch, in gewisser Weise, Mensch sein zu wollen. »Manchmal springt es auf den Sessel neben mir, stemmt sich mit den Vorderbeinen an meine Schulter und hält seine Schnauze an mein Ohr. Es ist, als sagte es mir etwas, und tatsächlich beugt es sich dann vor und blickt mir ins Gesicht, um den Eindruck zu beobachten, den die Mitteilung auf mich gemacht hat. Und um gefällig zu sein, tue ich, als hätte ich etwas verstanden, und nicke. – Dann springt es hinunter auf den Boden und tänzelt umher.«

Es ist dieses Tänzeln, von dem mein Buch handelt. Es ist unsere eigentliche Natur.

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Der fünfjährige Franz Kafka mit einem Gefährten

Das Chaos beginnt immer da, wo dieses Tänzeln des Verstandenwerdens nicht mehr existiert. So wie etwa in der entsetzlichen Lebensgeschichte des letzten, notdürftig »Ishi« (»Mann«) genannten Mitglieds der Yahi, eines nordamerikanischen Ureinwohnerstammes, der seinen echten Namen niemandem mehr sagen konnte, weil man diesen nur innerhalb des Stammes zu bestimmten Zeiten verwendete. Einen Stamm und »bestimmte Zeiten« gab es aber nicht mehr. Es gab nur mehr beinah außerirdische Wesen, die sich um ihn scharten. Er verbrachte seine letzten Lebensjahre als lebendiges Exponat im Anthropologischen Museum in Berkeley, wo er sich filmen und von dem freundlich um ihn bemühten, aber nur einen sehr entfernt verwandten Dialekt beherrschenden Wissenschaftler Alfred Kroeber über alles Mögliche befragen ließ. Er starb 1916 an Tuberkulose.

Es geht ein außerordentlich starkes Grauen aus von allen diesen Geschichten, in denen ein menschlicher Kopf, von Natur aus randvoll mit Ausdrucksmöglichkeiten, sozusagen über Nacht in einen Zustand vollständiger Anschluss- und Kontaktlosigkeit versetzt wird. Nie wieder wird er tänzeln.

Gelegentlich sind es sogar selbst auferlegte Gründe, die zum Verlust einer ganzen Welt werden.

Die australische Aboriginalsprache Mati Ke hat nur mehr zwei lebende Sprecher, Patrick Nudjulu und Agatha Perdjert, wird aber zwischen diesen beiden nicht mehr gebraucht. Denn sie sind, wie es das Unglück will, Bruder und Schwester. Unglück deshalb, weil das strenge Stammestabu der Mati Ke es verbietet, dass Brüder und Schwestern nach der Pubertät miteinander kommunizieren. Als Erwachsener mit seinen Geschwistern in Kontakt zu treten wäre für sie, so zumindest wird es in der mit diesem Fall beschäftigten Fachliteratur erklärt, so obszön wie für unsereins Inzest. Aber andererseits, sie sind ja die einzigen lebenden Mitglieder ihres Stammes, es wäre also gar niemand mehr übrig, der sie für die Übertretung des Tabus bestrafen könnte! Sie wären, genau genommen, so frei wie die beiden letzten Menschen auf der Erde. Aber so läuft es nicht. Weltende hin oder her, sie ziehen es vor, sich bis zu ihrem Tod streng an das Tabu zu halten, und sitzen in ihren Dörfern, reden auf Englisch und schweigen auf Mati Ke.[1] 

Der große französische Autor Emmanuel Carrère schrieb ein ganzes Buch, Un roman russe (2007), inspiriert von dem Fall eines ungarischen Soldaten, der 1944 in Russland gefangen genommen, für geisteskrank gehalten, unter anderem weil er kein Russisch verstand und auch keine Anstalten machte, es zu erlernen, und in eine psychiatrische Anstalt in der Kleinstadt Kotelnitsch gebracht wurde, wo er unglaubliche 53 Jahre lang eingesperrt blieb, ohne je ein Wort Russisch zu sprechen. Erst im Jahr 2000 wurde er, bereits weitgehend erstarrt und nur noch murmelnd, zurück nach Ungarn gebracht, wo er seine letzten Jahre in der Pflege seiner Schwester zubrachte und sogar wieder zu sprechen begann. Das Rätsel, weshalb er niemals Russisch erlernte, wurde nie gelöst. Carrère fährt nach Kotelnitsch und studiert die Krankenakten. Aus ihnen geht hervor, dass der Soldat in den fünfziger Jahren noch die Wände, Türen und Fenster der Anstalt mit ungarischen Sätzen vollgeschrieben hat. Danach heißt es Jahr für Jahr über ihn monoton: »Er spricht nur Ungarisch.« Eine einzige Interaktion mit improvisierter Gebärdensprache wird verzeichnet, sie fällt ins Jahr 1965. Dann bis in die Neunziger: »Zustand des Patienten unverändert.« Gegen Ende wird ihm ein Bein amputiert.

Noch seltsamer als die aus inneren oder äußeren Zwangshaltungen erzeugten Fälle von Sprachvereinsamung sind jene, die künstlich, mit voller Absicht und bei klarem Verstand, sozusagen als vorübergehender Luxus, eingeleitet werden. Alle möglichen Menschen in der Geschichte erfanden sich eine eigene Sprache, erlernten sie und beschäftigten sich intensiv mit ihr und standen dann da: allein. Worauf sie in den meisten Fällen eine mal milde und scherzhafte, mal leidenschaftliche und verzweifelte Missionsarbeit begannen, einen Werbefeldzug oder sogar einen Glaubenskrieg, der immer einen einzigen Zweck hatte: die Erschaffung weiterer Sprecher.

Einige der bekannteren Kunstsprachen, die auf eine erfolgreiche Missionsarbeit verweisen können, heißen Esperanto, Klingonisch, Volapük, Blissymbolics, Lojban. All diesen Sprachen werden wir uns über ihre Poesie und über ihre Dichter annähern. In Esperanto und Blissymbolics existieren sogar heute lebende native speaker. Die zahlreichsten Dichter besitzt Esperanto. 1887 erfand der Warschauer Augenarzt Ludwik Zamenhof eine Sprache und formulierte ihre Regeln und ihren Daseinszweck in einer Broschüre. Er nannte seine Kreation »Lingvo Internacia«, und sich selbst nennt er »Doktoro Esperanto«, was in seiner Sprache so viel wie »Doktor Hoffnungsvoll« bedeutet. Die Sprache wird bald nach seinem Künstlernamen benannt. Bereits in ihrem Geburtsjahr erlernt ein späterer Freund Zamenhofs, Antoni Grabowski, die Sprache und beginnt, hymnische Gedichte in ihr zu verfassen. 1889 wird in Nürnberg bereits die erste ganz in ihr verfasste Zeitschrift gedruckt. Um 1900 bilden sich auf der ganzen Welt Esperanto-Vereine. 1907 erscheint der erste 500-seitige Roman. Heute ist die Esperanto-Dichtung extrem zahl- und artenreich, verfügt über eigene literaturgeschichtliche Strömungen und Epochen, und selbst die Dichte ihrer genial begabten Poeten ist, das muss man zugeben, auffallend hoch.

Was aber genau tut ein Dichter, der in einer von einem einzigen Menschen erfundenen Sprache schreibt? Ist es wirklich dasselbe wie Schreiben in naturgewachsenen Sprachen? Will ein Dichter nicht von so vielen Menschen wie möglich gelesen und verstanden werden? Nein. Zumindest nicht unbedingt. Und doch bleibt der Fall ein auf den ersten Blick recht verwirrender. Als Esperanto nur ein paar Sprecher hatte – wie fühlte es sich da für Antoni Grabowski an, die später so berühmten Gedichte darin zu verfassen? Für wen schrieb er? Für die Zukunft? Oder für seine unmittelbaren Freunde? Oder für sich?

Der arme Y aus Landolfis Geschichte glaubte ja, in Gesellschaft anderer persischer Sprecher zu dichten, und erst, als er Anschluss an diese suchte, fiel er in die Hölle. Ein Gedicht aus seiner Feder lautet:

Aga magéra difura natun gua mesciún

Sánit guggérnis soe-wáli trussán garigúr

Gúnga bandúra kuttavol jerís-ni gillára.

Lávi girréscen suttérer lunabinitúr

Guesc ittanóben katír ma ernáuba gadún

Vára jesckílla sittáranar gund misagúr,

Táher chibíll garanóbeven líxta mahára

Gaj musasciár guen divrés kôes jenabinitúr

Sòe guadrapútmijen lòeb sierrakár masasciúsc

Sámm-jab dovár-jab miguélcia gassúta mihúsc

Sciú munu lússut junáscru garulka varúsc.

Sehen wir uns diese Seite ruhig einige Augenblicke genauer an. Ein großer Teil dieses Buches wird so aussehen. Textblöcke aus unverständlichen Wörtern. Und die Leserinnen werden sich, so vermute ich, in zwei Kategorien teilen: Die eine liest sich zumindest ein paar Zeilen der unbekannten Buchstabenfolgen durch, betont sie vielleicht sogar laut, einfach um zu sehen, ob darin irgendetwas Unerwartetes versteckt ist, ein Anflug von Vertrautem oder Deutbarem, während die andere den Text einfach als homogen-fremdartigen Block wahrnehmen wird, als Gesamtes, als Bild.

Y, das heißt Landolfi, liefert uns freundlicherweise auch eine Übersetzung:

Mit müdem Gesicht, das vor Glück weint,

erzählte mir die Frau aus ihrem Leben

und versicherte mich ihrer brüderlichen Zuneigung.

Und die Pinien und Lärchen in der Straße bogen sich anmutig

vor dem Hintergrund des warmrosa Sonnenuntergangs

und einer kleinen Villa mit Landesfahne,

und sie erinnerten an das furchige Gesicht einer Frau, die nicht begriff,

dass ihre Nase glänzte. Und dieser Glanz blitzte

lange Zeit zu meinem Vergnügen, voller Ironie und Biss,

ich fühlte ihn hüpfen und springen, so wie ein kleiner alberner Fisch

in den Schattentiefen meiner Seele.

Der Kritiker findet das sehr gelungen. Y aber weist darauf hin, dass die Übersetzung nichts, rein gar nichts von der Anmut des Originals zu erhalten vermag. Er ist und bleibt allein mit seiner einmal erfolgreich in Worte gefassten Essenz.

Walter Benjamin schrieb: »Das sprachliche Wesen des Menschen ist also, daß er die Dinge benennt. Wozu benennt? Wem teilt der Mensch sich mit? – Aber ist diese Frage beim Menschen eine andere als bei anderen Mitteilungen (Sprachen)? Wem teilt die Lampe sich mit? Das Gebirge? Der Fuchs? – Hier aber lautet die Antwort: dem Menschen. Das ist kein Anthropomorphismus.« Und schließlich kommt er auf die Formel: »Im Namen teilt das geistige Wesen des Menschen sich Gott mit.«

Wem aber, so können wir heute fragen, teilt sich der mit, der allein für sich eine von seinen Mitmenschen ungeteilte Sprache spricht? Gibt es ein zu Gott hin bezogenes Benennen der Welt ohne den Umweg über die in die Kommunikation einbezogenen Mitmenschen? Ich hoffe es. Aber ich sehe dafür auf der Erde bislang kein beweiskräftiges Zeichen.

3

Frederic ging in meine Volksschulklasse. Er war gehörlos. Aus mir unbegreiflichen Gründen war er »ohne Sprache« gelassen worden. Niemand hatte ihm die österreichische Gebärdensprache beigebracht. Man ging wohl irgendwie davon aus, dass er sich schon von selbst so etwas wie Lippenlesen und die »normale« Stimmsprache aneignen würde. Wie weit verbreitet diese institutionelle Form von Kindesmissbrauch damals gewesen ist, weiß ich nicht. Ich bin mir aber sicher, sie geschah, ähnlich wie gewisse heutige Formen des Missbrauchs, unter dem Leitgedanken der Fürsorge.

Eines Tages fiel Frederic ohne Vorwarnung über mich her und würgte mich. Eine Weile versuchte ich, ihn abzuschütteln, aber er war stärker, vielleicht vergingen zwanzig Sekunden, dann bekam ich Tunnelblick, und ein innerer Alarm heulte, mein Herz bäumte sich in meinem Brustkorb auf, und ich sah alles in einer Mischung aus Rot und Grau. Jemand zerrte ihn von mir fort.

Das Schlimme war nicht, dass er mir wehgetan hatte, sondern dass man ihm hinterher einfach nicht begreiflich machen konnte, was überhaupt vorgefallen war, die Lehrerin hielt ihn am Arm fest und verdrehte diesen wohl auch ein wenig, und Frederic schrie und zerrte und weinte, er hatte keine Ahnung, warum man ihn bestrafte. Er hatte noch nie im Leben mit einem anderen Menschen ein Gespräch geführt. Während sie ihn festhielt, brüllte die Lehrerin auf ihn ein. Ich sehe die Szene noch heute klar vor mir. Ihre laute Stimme, ihre ermahnenden Worte, ihre eindringliche Erklärung seines Vergehens.

Melanie, eine andere Klassenkollegin, war ebenfalls gehörbehindert, aber sie verfügte über einen Hörrest, so nannte man das, und sie verstand zumindest ein wenig von unserer schwer greifbaren, hauptsächlich im Reich der Schallwellen vor sich gehenden Leitkultur. Sie beruhigte den verwirrten Frederic nach seiner Bestrafung, denn ihr war, unfairerweise, die Aufgabe zugefallen, auf ihn aufzupassen. Aber auch sie »verstand« ihn natürlich nicht, konnte nicht »übersetzen«, wie die gründlich sinnverwirrten Pädagogen sich das damals vielleicht gedacht hatten. Noch heute erfüllt es mich mit mörderischer Wut, wenn ich mir die wohleingenisteten Autoritäten vorstelle, die beschlossen hatten, die beiden gehörbehinderten Kinder weitgehend sprachenlos zu halten. Mögen sie irgendwann denselben Schmerz erleben, den sie verursacht haben.

In Susan Schallers faszinierender Studie A Man Without Words begegnen wir einem in den USA lebenden gehörlosen Mexikaner namens Ildefonso, der völlig ohne Sprache aufwuchs und erst im Erwachsenenalter unter Schallers Anleitung in einem äußerst mühseligen Prozess die Gebärdensprache erlernte. Das bewegendste Kapitel findet sich ganz am Ende des Buches, wo Schaller ihren früheren Schüler nach einigen Jahren wieder besucht und daran erinnert wird, dass Ildefonso bei weitem nicht der einzige sprachenlos existierende Mensch in der Stadt ist. Da ist zum Beispiel Ildefonsos eigener Bruder, Mario. Und Ildefonsos zahlreiche Freunde. Eines Tages geht Schaller zu ihnen und erlebt »einen Raum voller sprachenloser Menschen«, die stundenlang per szenischer Pantomime miteinander kommunizieren.

Eine Aussage wie etwa »Als ich über die Grenze zwischen Mexiko und den USA kam, hatte ich große Angst« dauert buchstäblich Stunden, um mitgeteilt zu werden. Die Anwesenden verwenden keine gemeinsamen grammatikalischen Strukturen, kein Vokabular. Was immer jemand ausdrücken will, er muss es jedes Mal aus dem Nichts völlig neu erschaffen, durch geduldige pantomimische Wiederholung einzelner Sachverhalte und Szenen. Es gibt kein Reservoir vereinbarter Zeichen. Jede Äußerung ist ein Turmbau.

Was die USA und was Mexiko ist, ist den im Raum versammelten Menschen nicht klar. Dass man hier, in den USA, allerdings unerwünscht lebt, haben sie sehr wohl begriffen. Es werden Menschen deportiert, das heißt, sie fehlen eines Tages einfach. Diese unheimliche Tatsache wird ebenfalls häufig pantomimisch vorgespielt. Durch lange geduldige Beobachtung haben sie gelernt, »that little cards worked to repel green men«. Deshalb haben sie Karten zu sammeln begonnen, alle möglichen Arten. Schaller bekommt diese »like pieces of gold« gehüteten Zauberartikel gezeigt und stellt fest, dass nur ein paar wenige davon so etwas wie Ausweispapiere darstellen. Alles, was gelernt oder mitgeteilt werden muss, braucht in dieser Community enorm viel Zeit. Kleinste Unterschiede in den sich türmenden Storywiederholungen sind ausschlaggebend für Art und Richtung einer bestimmten Information. Susan Schaller wird von Ildefonso mehrmals auf diese winzigen Unterschiede hingewiesen. Doch auch ihm fallen sie nicht mehr so selbstverständlich auf wie früher. Heute muss er sich konzentrieren. Susan Schaller berichtet, dass Ildefonso selbst nach einer Weile über Verständnisschwierigkeiten klagte: Er konnte den Pantomimen nicht mehr ohne weiteres folgen. Sein Gehirn fand den Vorgang auf einmal quälend langsam, vielleicht in etwa so, als bekäme man die Einzelbilder eines Films als gesonderte Kärtchen vorgelegt.

Die Gruppe der Freunde betrachtet Ildefonso inzwischen als eine Art Genie, weil er mit »normalen« Menschen zu reden gelernt hat. Er übersetzt während des Treffens häufig zwischen den Sphären der Sprache und der Sprachenlosigkeit. – Ein sehr merkwürdiger Satz, dieser letzte. Er klingt wie Nonsens. Ich vermute, dass ich, der Sprache im klassischen Sinn besitzt, mir die Innenwelt der von Schaller besuchten Männer nicht vorstellen kann, also ist meine Wortwahl für Ildefonsos Übersetzungsarbeit nur meine ungenaue Approximation. Oder ist uns die Welt der Sprachenlosigkeit doch immer nahe und vertraut? Und woher genau rührt das Grauen, das uns aus der Vorstellung völliger Sprachenlosigkeit jedes Mal entgegenweht?

4

Noch heute laufe ich oft an dem Gebäude vorbei, das sich Hirtenkloster nennt, auf dem Weg zur malerisch-verwahrlosten Weinzödlbrücke im Norden von Graz. Wir befinden uns in meinem liebsten Bezirk dieser Stadt, und die meisten Nebenstraßen hier enthalten Dinge aus meiner Vergangenheit. Das Hirtenkloster ist der Ort, wo ich im Alter von acht oder neun Jahren zum ersten Mal einer Gruppe von mehrfach bzw. schwer behinderten Kindern begegnete. Wochenlang hatten wir in der Volksschule eine Art Theaterrevue einstudiert. Meine Rolle war die eines Fernsehansagers. Auf der Bühne saß ich in dem hohlen Gehäuse eines TV-Geräts und sagte einige auswendig gelernte Sätze. Ihren genauen Inhalt weiß ich nicht mehr, es ging irgendwie darum, dass meine Figur ein kecker Betrüger war, der die Menschen dazu bringen wollte, ihm all ihr Geld zu überlassen. Ich weiß noch: Die mir ihrem Sinn nach nicht ganz greifbaren Wörter pfänden und delogieren kamen vor. Mitten in meiner Darbietung aber geschah es, dass eines der Kinder im Zuschauerraum entsetzlich zu schreien begann. Es klang wie ein langgezogenes Krähen. Ich hatte so etwas noch nie gehört. Ich bekam wahnsinnige Angst, aber ich konnte meinen Text perfekt auswendig und schnatterte ihn fehlerlos zu Ende. Hinter der Bühne dann brach ich vor Verwirrung in Tränen aus. Ich verstand nicht, was mit dem Kind passiert war, dass es so schreien musste.

Man führte mich seitlich an der Bühne zurück in den Saal. Und da, direkt neben einem von Tageslicht erfüllten Fenster, sah ich einen Jungen, der im Rollstuhl saß. Ich glaube, selbst diese Tatsache machte mir ein wenig Angst, aber auf seinem Kopf befand sich etwas, das mich faszinierte und das die kindische Furcht zumindest für die Dauer einiger staunender Sekunden überwand: eine Einhorn-Mütze. Ein teleskopartiger Zeigestock an der Spitze der Stirn. Ja, der Anblick beruhigte mich. Ein Einhorn, das war etwas Witziges und Freundliches.

Schnell aber wurde mir klar, dass die Einhorn-Vorrichtung die Funktion eines Zeigestocks erfüllte. Man hatte sie dem Jungen wie eine Grubenlampe vor die Stirn geschnallt, und er deutete mit dem unbegreiflichen Utensil auf einem riesigen vor ihm ausgebreiteten Brett herum, das wie das Periodensystem der Elemente (in dessen herrliche Symmetrien ich mit sechs oder sieben unglücklich verliebt war) aussah, bloß mit weit mehr Kästchen und mehr Farben.

Gerade hatte ich noch den einhornhaften Stock als etwas Versöhnliches und Verkleidungsartiges wahrgenommen, doch nun, da ich ein wenig mehr von seinem Verwendungszweck begriff, kam das rätselhafte Grauen zurück: Der Junge konnte offenbar nur durch Herumdeuten auf einem Brett voller Zeichen kommunizieren! Er besaß keine Stimmsprache, er konnte nicht schreiben, er konnte vermutlich nicht mal flüstern. Wie sehr schäme ich mich heute für die sinnlose Angst, die ich empfand; in meiner dümmlichen Vorstellung stand ich vor einem unfreiwillig verkrümmten, halb in etwas Nähmaschinenartiges verwandelten Menschen, und da in allen meinen Kindheitsängsten auch immer ein Identifikations- oder Verwandlungswahn mitschwang, fürchtete ich sogar, meine eigene Mitteilungsfähigkeit augenblicklich zu verlieren, wenn ich weiter in seine Sphäre geriete. Ich weiß noch, vor ihm ausgebreitet waren diese vielen kleinen Quadrate, auf jedem von ihnen ein Bild. Ich habe seither versucht zu recherchieren, was aus dem Jungen mit dem Zeigestock in den späten achtziger Jahren im Grazer Hirtenkloster geworden ist, aber bislang ohne klares Ergebnis. Die Zeichen, die vor ihm ausgebreitet lagen, waren keine Buchstaben. Auch keine Bilder. Es waren Symbole, und zwar solche wie diese:

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Fast dreißig Jahre später begegnete ich dem Zeichenbrett und dem Zeigestock wieder. Man nennt diese Sprache Blissymbolics. Sie wurde von einem Mann namens Charles Bliss erfunden. Seine Geschichte wird, so traue ich mich zu wetten, mit Sicherheit verfilmt werden. Und der Film wird, mit seinen 90 oder 100 Minuten, zweifellos entsetzlich sein. Kommen wir ihm also, solange wir noch können, zuvor.