Lissa Lehmenkühler

Der Schneeti

Ein Winterwunder für Ole

Lissa Lehmenkühler, geboren und aufgewachsen im Münsterland, studierte Szenische Künste an der Universität Hildesheim, absolvierte eine Drehbuchausbildung und war Stipendiatin an der Akademie für Kindermedien. Sie schreibt Drehbücher, Theaterstücke und Kinderbücher und lebt in Berlin. Als der Schneeti bei ihr vorbeigeschneit kam, hat sie sofort beschlossen, ein Buch über ihn zu schreiben.


Heidi Förster zeichnet, seitdem sie denken kann. Nach jahrelanger Übung auf dem Zeichenblock warf sie eines Tages ihren Bleistift beiseite und entdeckte ihre Leidenschaft für die digitale Kunst. Auf ihrem Grafiktablett kreiert sie heute mit viel Kreativität liebenswerte Illustrationen und Figuren. Dabei hegte sie schon immer eine gewisse Faszination für Fantasiewelten und magische Wesen.

Für Anton und meinen wunderbaren,
warmherzigen Großvater, der mir vorgesungen
hat, Geschichten liebte und handarbeiten
konnte wie ein Weltmeister

»Sieben!«, »Acht!«, »Neun!«, »Zehn!« Mit Karacho platzt der elfte Schneeball auf Oles viel zu große Opa-Rentier-Strickjacke, die den Achtdreivierteljährigen umhüllt wie ein magischer Zaubermantel. Am liebsten würde Ole jetzt einen dicken, schneemannkopfgroßen Schneeball formen. Ha! Da würden Rocco und seine Bande aber solche Augen machen, wenn Ole den Riesenschneeball in die Luft wuchtet und mit Krawumms zurückwirft.

Zu gerne würde Ole sich wehren und es Rocco und den anderen fiesen Schneeballwerfern heimzahlen, in deren Klasse er leider, leider seit einer Woche gehen muss. Zu gerne würde er endlich einmal einen riesigen Schneeball zurückwerfen. Doch Ole kann überhaupt nicht gut werfen und gut rennen kann er auch nicht. Ole hat andere Spezialtalente. Ole kann gut:

 basteln und klitzekleine Welten in Kartons und Streichholzschachteln bauen (Vogelhäuser, Vogelhochhäuser, Vogelburgen und ein Iglu, in dem Igel überwintern können, hat er auch schon gebaut),

 Pupsgeräusche mit seinem Arm machen (dazu legt Ole eine Hand in die Achselhöhle und drückt seinen Arm herunter, damit die Luft rausgequetscht wird),

 stundenlang am Telefon mit seinem Opa über die Legenden vom Yeti, Bigfoot und anderen Bergmonstern fachsimpeln,

 mit seinem Superschnitzmesser Holzfiguren schnitzen (111 Figuren hat Ole schon fertig. Nummer 112 soll ein Rentier werden und ist in der Mache),

 komische Ausdrücke aufschnappen (gerade sagt er gerne »Holy Moly«, das heißt so viel wie »Heiliger Bimbam« oder »Heiliger Strohsack«. Von wem er das hat? Von Opa Ottokar natürlich),

 gescheiten Filterkaffee aufbrühen und kanadische Waffeln mit Ahornsirup backen

und noch so einiges mehr …

Doch ganz, ganz besonders gut, also praktisch am allerallerbesten, kann Ole etwas, das er am liebsten gar nicht besonders gut können würde: anders sein. Anders als die anderen.

Wie sagt Opa Ottokar aus Kanada immer: »Ole, Jungchen, wenn du die Augen weit öffnest und ganz genau hinschaust, sind alle anders. Jeder Stern und jede Staubfluse, jeder Mensch und jede Mücke, jedes Blatt und jede Schneeflocke. Anderssein, mein Junge, ist ein Geschenk des Himmels. Anderssein ist deine Spezialität!«

Dass Anderssein ein Himmelsgeschenk ist, würde Ole allzu gerne glauben. Doch manchmal, in Momenten wie diesen, fragt er sich: »Entschuldigung, kann man das Himmelsgeschenk vielleicht auch gegen Einfach-ganz-normal-Sein oder besser noch gegen Sogar-richtig-cool-Sein umtauschen?«

Krawumms! Schon wieder landet ein Schneeball in Oles Rücken. Wie eine Horde wild gewordener Fußballfans hört er Rocco und seine Bande hinter ihm grölen: »Olé-olé-olé-olé, voll auf den ollen Ole, olé!«

Und da passiert es. Jetzt. Ganz genau jetzt. Haargenau zwischen dem zwölften und dreizehnten Schneeballtreffer formt sich ein Entschluss in Oles Kopf: Heute haut er ab! Ab nach Kanada! Zu Opa Ottokar! Und wenn Ole dafür bis Weihnachten ohne Pause durch Berge, Täler, Eis und Schnee stapfen und sogar den Nordatlantik überqueren muss!

Uff! Ole schließt seine Zimmertür hinter sich, lehnt sich dagegen und atmet auf. Sachte, als würde er sie streicheln, klopft er den Schnee von seinen neun Strickjacken-Rentieren. Die hat Oles Opa genauso genannt wie die Rentiere des Weihnachtsmanns: Dasher, Dancer, Prancer, Vixen, Comet, Cupid, Donner, Blitzen und Rudolph. Auch von den dreizehn Strickjacken-Eiskristallen, aus denen ja die Schneeflocken bestehen, wischt Ole den Schnee. Alle dreizehn haben ein anderes Muster und sehen fast so aus wie Sterne. Lange bevor Ole auf die Welt gekommen ist, hat Oles Opa sie Masche für Masche in die Jacke gestrickt.

Ole mummelt sich in seine Jacke ein und schnuppert daran. Wolle riecht so anders, wenn sie nass ist. An einer trockenen Stelle am linken Ärmel kann Ole genau riechen, wie es bei seinem Opa in Kanada in der Küche riecht: nach Waffeln, Holz und Büchern. Und an einer Stelle am rechten Ärmel unterm Ellbogenflicken kann er noch wunderbar riechen, wie es in seinem alten Zimmer in Hellabach immer gerochen hat. Richtig gemütlich gut – nach zu Hause eben. Hier in seinem neuen Zimmer riecht es überhaupt nicht nach zu Hause und es fühlt sich auch kein bisschen so an. Für Ole fühlt sich dieses Zimmer nicht wie sein Zimmer an, sondern nur wie irgendein Zimmer. Wie irgendein Zimmer mit vielen unausgepackten Kartons.

Ole schnappt sich seinen Rucksack und zieht einen Karton unterm Bett hervor. Es ist der einzige, den er vor dem blöden Umzug von oben bis unten mit Totenköpfen bemalt und mit fetten Warnungen beschrieben hat:

Ole öffnet den Karton. Da liegen sie – eingeschlagen in Luftpolsterfolie, die er so gerne knacken lässt: Oles Lieblingsschätze. Natürlich hat Ole seine Schätze schon vor Tagen, direkt als sie aus dem Umzugswagen kamen, auf Schäden untersucht. Aber ausgepackt hat er sie nicht. Warum sollte er auch seine Sachen auspacken, wenn er weiß, dass er sie sowieso bald wieder einpacken wird? Wenn es nach Ole gegangen wäre und nicht nach dem neuen Job seiner Mama, die hier jetzt die Feuerwehr leitet, wären sie sowieso nie umgezogen. In hundert Jahren nicht!

Aber eins ist klar: In diesem Kaff, in dem es solche schneeballschleudernden Idioten wie die Kojoten (so heißt Roccos Bande, zu der Rocco, Joschi und Tengis gehören) und noch nicht mal einen Modellbauladen, geschweige denn ein Bastelgeschäft oder einen Nachbardackel namens Samson gibt, bleibt Ole nicht.

Schatz für Schatz packt er seine Lieblingssachen in den Rucksack:

Zuerst den dicken, abgegriffenen Wälzer mit einem riesigen Fußabdruck auf dem Titelbild: »Yeti – Der Legende auf der Spur«.

Dann sein Superschnitzmesser. Das hat er von seinem Opa bekommen, der es wiederum von seinem Opa bekommen hat. Im Messergriff sind zwei Buchstaben eingraviert: O und K. Wie Okay. O für Ottokar, K für Knüpfer. Ottokar Knüpfer. Das ist der Name von Oles Opa. Und Ole ist es eine ganz besondere Ehre, dass O und K auch seine Anfangsbuchstaben sind.

Vorsichtig wickelt er den dritten Schatz aus einem alten, karierten Herrentaschentuch: eine gläserne Schneekugel mit Spieluhr. Ole schüttelt die Kugel und muss wie jedes Mal staunen. Der kleine Junge in der Kugel sieht fast so aus wie er selbst. Und der kleine Opa in der Kugel, der mit dem Jungen einen Schneemann baut, sieht fast so aus wie Oles Opa. Ja, er hat sogar die gleiche Rentier-Strickjacke an! Am liebsten würde Ole seinen Opa jetzt anrufen. Aber das geht nicht. Opa Ottokars Telefonleitungen sind eingefroren und bis die aufgetaut und repariert sind, kann es noch Wochen dauern. Und der kleine Ort, in dem Opa Ottokar lebt, liegt mitten im Wald – und mitten im Funkloch.

Ole betrachtet die kleinen Figuren, auf die der Schneekugelschnee rieselt, und zieht die Spieluhr auf. Als die vertraute Melodie erklingt, spürt er, wie sich ein warmes, gemütliches Gefühl in seinem Bauch ausbreitet. Und dann kann Ole nicht anders. Er singt zur Melodie ein Lied. Das hat Opa Ottokar ihm schon vorgesungen, als Ole noch eine Babyglatze hatte und ganz klein war.

Krawumms! Genau in diesem Moment platscht ein dicker Schneeball gegen Oles Zimmerfenster. Himmel noch eins! Das kann ja wohl nicht wahr sein! Können dieser Rocco und seine Bande ihn nicht mal hier in Ruhe lassen?

»Verzieht euch, ihr Knalltüten!«, ruft Ole, der natürlich weiß, dass ihn draußen niemand hören kann. Schnell schaltet er das Licht aus. Im Dunkeln krabbelt er zwischen den Umzugskartons zum Fenster, linst vorsichtig hinaus und wundert sich: kein Rocco. Keine Kojoten-Bande. Niemand.

Da hört Ole ein leises Klopfen: tok-tok. Ole spitzt die Ohren. Schon wieder: tok-tok-tok! Und jetzt lauter: tok-tok-tok-tok!

Und dann hört er es ganz deutlich.

»Hallö! Hier bin ich!« Ole traut seinen Augen nicht: Mitten auf der Fensterbank in dem zerplatzten Schneeball steht ein kleines schneeweißes, puscheliges Wesen, das ihm zuwinkt und ruft: »Hallöle, Öle!«

Verblüfft öffnet Ole das Fenster. Das Wesen stapft herein, hüpft »Höppala!« auf einen Karton und schüttelt den Schnee aus seinem fluffigen Fell.

»Hallöle, Öle, ich bin Schneeti«, stellt sich das Wesen vor.

»Äh, ich heiße Ole«, antwortet Ole ganz verdutzt.

»Sag ich döch. Öle! Hallöle, Öle«, begrüßt Schneeti Ole und reicht ihm seine klitzekleine, fluffige Pfotentatzenhand, die zu Oles Verwunderung kalt und warm zugleich ist.

Ole staunt. »Äh, wie …? Holy Moly! Woher kennst du meinen Namen?«

»Aber hallö! Wöher wöhl? Hör mal! Ich bin ein Schneeti. Ich werde döch wöhl nöch die Namen der Kinder wissen, bei denen ich vörbeischneie, öder? Das wäre ja nöch schöner!« Schon hüpft der Schneeti durch einen Kartonspalt in eine der vielen Umzugskartons und jubelt: »Wie töll! Wie cööl! Wie wundervöll! Ist das für mich?«

Ole schaut in den Karton und stutzt. Eigentlich ist das ja ein Igel-Iglu, das er zusammen mit seinem besten Bastelclub-Freund Hung für die Igel zum Überwintern und nicht für den Schneeti gebaut hat. (Allerdings wusste er bis vor ein paar Minuten ja auch noch gar nicht, dass es den Schneeti gibt.) Ole kratzt sich am Kopf. »Na ja, also, eigentlich …«

»Hast du da gerade Ja gesagt? Töll!!!«, ruft der Schneeti, hüpft vor Freude aus dem Karton und hopst schon auf Oles Kopf herum.

»Hey! Stopp! Das kitzelt!«, kreischt Ole.

»Ökay! Ökay! Ich stöppe! Nur noch drei Höpser! Höpp! Höpp! Höppala!« Schon hangelt sich der Schneeti an einer Haarsträhne hinab, hüpft auf Oles Schulter und fliegt mit einem doppelten Salto auf Oles Hand. Ole bleibt vor Staunen der Mund offen stehen.

»Cööl! Deine neue Wuschel-Frisur!«, lobt der Schneeti sein Werk.

»Findest du?«, fragt Ole und schüttelt sich die Haare zurecht. Er kann immer noch nicht fassen, dass er da gerade mit einem Schneeti spricht.

»Woher kommst du überhaupt?«, möchte Ole wissen. Der Schneeti deutet nach draußen in den Winterhimmel.

»Vön öben. Vön höch öben!«

Mit großen Augen blickt Ole in den kristallklaren Abendhimmel. Am Firmament funkeln die Sterne, vor Oles Fenster glitzert der Schnee. Oles Bauch kribbelt. Die Welt ist so weiß und so still und so geheimnisvoll.