Paul B. Preciado

Ein Apartment auf dem Uranus

Chroniken eines Übergangs

Mit einem Vorwort von Virginie Despentes

Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer

Suhrkamp

Für Itziar
the broad sun
the loved shore.

Vorwort

Paul,

als Du mich gefragt hast, ob ich dieses Vorwort schreiben würde, waren wir in Deinem Apartment im Zentrum von Paris. Die Orte, an denen Du Dich einrichtest, sehen immer aus wie Klosterzellen. Schreibtisch, Computer, ein paar Notizhefte, das Bett mit dem Bücherstapel daneben. Bei Dir zu sein, ohne bei mir zu sein, ist immer noch seltsam – mit niemandem habe ich in meinem Leben mehr Zeit verbracht als mit Dir. Und das Gefühl des fremd gewordenen Vertrautseins bleibt mir ein Rätsel, irgendetwas zwischen Lust und Schmerz, das beides zugleich ist. Es muss Nostalgie sein.

Du hast mich gefragt, ob ich dieses Vorwort schreiben würde, und ich habe ohne nachzudenken Ja gesagt. Als Du mit den Kolumnen anfingst, lebten wir zusammen, und nach der Trennung hast Du mir weiterhin Deine Texte geschickt, damit ich Dein Französisch Korrektur lese. Wir wissen beide, dass sie das bei Libération sehr gut selbst erledigen könnten, aber es ist eine Weise, die Verbindung nicht abreißen zu lassen. Und für mich eine Weise, weiterhin in Deinen Worten zu leben, den Faden Deines Denkens nicht zu verlieren.

Ich weiß, wie Du schreibst. Du kennst keine Schreibblockaden. Ich wäre gar nicht imstande, eine solche Kolumne zu schreiben, weil ich jedes Mal eine Woche in schierer Angst verbrächte. Gerade habe ich so eine Woche hinter mir, weil es mir nicht gelingen wollte, mit dem Schreiben dieses Vorworts anzufangen. Ich dachte mir zunächst, dass es etwa 5000 Zeichen lang sein sollte, so lang wie Deine Artikel, und hatte mir auch einen Plan zurechtgelegt. Aber wie es mit Blockaden nun einmal ist: Selbst wenn man weiß, was man schreiben will, und am Schreibtisch ausharrt – es kommt nichts. Der Plan, den ich im Kopf hatte, begann in etwa so: »An dem Tag, da ich dieses Vorwort schreibe, warst Du bei der Polizei, um Anzeige zu erstatten, weil sie Dir Morddrohungen an die Tür gesprüht haben, die gleichen Drohungen und Beleidigungen, die in derselben Nacht auf die Tür des LGBT-Zentrums in Barcelona geschmiert wurden. ›Komme vom Revier‹, schreibst Du auf Whatsapp, ›mit zusammengebissenen Zähnen, mir ist kalt bis auf die Knochen, ich geh nicht gern zur Polizei.‹ Aber Du warst mehr als einmal dort, seit wir uns kennen, immer wegen Morddrohungen. Beim ersten Mal habe ich Dir gesagt, vergiss es einfach. Wenn sie Dir schreiben, wie sie Dich umbringen werden, dann, weil sie nicht die Absicht haben, es zu tun. Kurz darauf wurde in Madrid einem schwulen Aktivisten, der Morddrohungen erhalten hatte, die Kehle durchgeschnitten, als er das Haus verließ. Er überlebte bloß, weil sie ihn für tot hielten und liegen ließen. Danach hast Du zum ersten Mal Anzeige erstattet. Und den Polizisten ausführlich erzählt, was sie über queere Mikropolitiken wissen sollten. Das ist Dein Ding, den Leuten Geschichten zu erzählen, die sie sich nicht hätten träumen lassen, und sie davon zu überzeugen, dass es gut wäre, wenn sie wahr würden.

An dem Tag, da ich dieses Vorwort schreibe, hat der brasilianische Abgeordnete Jean Wyllys angekündigt, sein Land zu verlassen, weil er um sein Leben fürchtet. Der junge Bilal Hassani soll für Frankreich beim Eurovision Song Contest antreten und ist einer Flut homophober Beschimpfungen ausgesetzt.

Als Du begonnen hast, Deine Kolumnen für Libération zu schreiben, waren die Mainstream-Medien gerade dabei, mit beunruhigender Hingabe die Demonstrationen gegen die Homo-Ehe zu unterstützen. Tag für Tag rührten sie die Werbetrommel. Der Intoleranz das Wort erteilen, das Recht heterosexueller Fundamentalisten auf ihre Hassrede verteidigen – was könnte dringlicher sein? Das war das Signal, wir haben es alle gehört, mit dem ein Jahrzehnt der Toleranz zu Ende ging. Damals hast Du Dich Beto genannt und noch kein Testosteron genommen, aber man sprach von Dir im Maskulinum, wie Du es wolltest. Die Biokerle, die Cismänner, hast Du »die Behaarten« genannt und mich damit zum Lachen gebracht. Inzwischen käme auf der Straße kein Mensch mehr auf die Idee, sich mit einem »Pardon, Madame« aus der Verlegenheit zu retten, nachdem er Dich mit »Monsieur« angesprochen hat. Heute bist Du trans, und was mich am meisten verwirrt, wenn wir zusammen durch die Stadt laufen, ist nicht, dass Männer jetzt unbefangener mit Dir sprechen, sondern dass die Frauen sich nicht mehr wie früher verhalten. Sie himmeln Dich an. Vorher wussten Heterofrauen nicht so recht, was sie von diesem femininen Kerl, diesem maskulinen Mädchen halten sollten, sie fühlten sich in Deiner Gegenwart nicht wirklich wohl. Heute bewundern sie Dich. Ob sie mit dem Hund draußen sind oder Käse verkaufen oder im Restaurant bedienen – Frauen finden Gefallen an Dir und sie lassen es Dich wissen, wie Frauen das tun, indem sie Dich ungefragt mit kleinen Aufmerksamkeiten überhäufen. Du sagst, es sei seltsam, ein Mann zu werden, während man noch die Erinnerung an die Unterdrückung im Kopf hat, und außerdem würde ich übertreiben, sie würden Dich gar nicht beachten. Das bringt mich zum Lachen.

Deine Artikel bilden jetzt, da sie versammelt sind, eine geschlossene Skyline. Ich erinnere mich an jeden einzelnen Text und den Augenblick, als er veröffentlicht wurde, aber sie vom ersten bis zum letzten in einem Stück zu entdecken, ist eine Überraschung. Eine sehr gelungene Überraschung. Mehrere Geschichten entspinnen sich, im Wechsel, gegeneinander versetzt. In einer Spirale, hätte Roland Barthes gesagt, die immer wieder, aber nie auf derselben Ebene um dieselben Themen kreist. Es ist ein Buch geworden, das sich von Deinen anderen, autobiografischeren, leichter zugänglichen Büchern abhebt und zugleich an Deinen Testo Junkie erinnert, der mehrere Fäden ineinanderflicht. Du hast das Buch einen »Zopf« genannt, und ein Zopf, ein Geflecht ist auch diese Sammlung. Es gibt einen Handlungsstrang, der uns zwei betrifft – unsere Trennung und die Jahre danach. Und andere Stränge, die sich verflechten, um ein neues Muster zu bilden. Da ist die Geschichte vom Ende der westlichen Demokratien, in der die Finanzwelt entdeckt, dass sie sich sehr gut mit autoritären Regimen verträgt, ja autoritäre Regime vorzieht, weil Menschen noch besser konsumieren, wenn ihre Hände gefesselt sind. Da ist die Geschichte der Flüchtlinge, in Lager gepfercht, auf dem Meer umgekommen, ihrer Not überlassen in Städten, in denen Überfluss herrscht und die sich christlich nennen. Und ich weiß, dass Du Parallelen zwischen ihrer und Deiner Lage nicht ziehst, weil Du an der linken Pose Gefallen findest, sondern weil Du, das gegen Ende der Franco-Zeit geborene Kind und der Transmann, der Du heute bist, zu ihnen gehörst. Weil Du weißt, dass Du stets einer von ihnen sein wirst, dass die Not, wie Calaferte sagt, »nie eine Frage der Kraft ist«, dass man durch keine moralische oder mentale Kraft, durch kein Verdienst gegen sie gefeit ist. Sie kommt über Dich wie ein umgekippter Lastwagen, sie erfasst und erdrückt Dich. Und Du vergisst es nicht.

Und natürlich ist diese Sammlung auch die Geschichte Deiner Transition, Deiner Transitionen. Sie handelt nicht von einem Übergang von einem Punkt zum anderen, sondern vom Umherwandern, der Irrfahrt, dem Dazwischen als Lebensort. Von einer stetigen Transformation, ohne feste Identität und festgeschriebene Tätigkeit, ohne Adresse, ohne Land. Du nennst dieses Buch Ein Apartment auf dem Uranus, und auf der Erde hast Du keine Wohnung, nur die Schlüssel zu einer Unterkunft in Paris, wie Du zwei Jahre lang die Schlüssel zu einem Apartment in Athen hattest. Du ziehst nicht ein. Du bist nicht daran interessiert, Dich niederzulassen. Du hältst am Dauerstatus des blinden Passagiers, des undokumentierten Einwanderers fest. Du änderst Deinen Namen in Deinen Ausweispapieren, und wenn Du Dich Paul nennst, um die Grenze zu überschreiten, dann hast Du, wie Du in Libération schreibst, nicht die leiseste Absicht, die Männlichkeit als neues Geschlecht anzunehmen, nein, Du willst ein utopisches Geschlecht.

Es ist, als sei das Mögliche zum Kerker geworden und Du zum Ausbrecher. Du schreibst zwischen den vorgezeichneten Möglichkeiten, und indem Du das tust, erschließt Du ein anderes Mögliches. Du hast mir etwas Wesentliches beigebracht: keine Politik ohne Enthusiasmus. Wenn man Politik ohne Enthusiasmus macht, ist man rechts. Und er ist ansteckend, der Enthusiasmus, mit dem Du Politik machst, ohne die geringste Feindseligkeit gegen jene, die Dir den Tod wünschen, sondern nur im Bewusstsein der Drohung, die sie für Dich, die sie für uns bedeuten. Für Feindseligkeit hast Du nicht die Zeit und für Wut nicht den Charakter. Stattdessen lässt Du Welten von den Rändern her entstehen, und verblüffend an Dir ist diese Fähigkeit, Dir stets etwas anderes vorzustellen. Als gleite alle Propaganda an Dir ab, als sei Dein Blick systematisch darauf angelegt, Selbstverständlichkeiten zu erschüttern. Es ist Deine Arroganz, die sexy ist, diese heitere Arroganz, die es Dir erlaubt, anderswo, in den Zwischenräumen zu denken, den Uranus bewohnen zu wollen und in einer Sprache zu schreiben, die nicht die Deine ist, bevor Du Vorträge in nochmal einer anderen Sprache hältst. Von einer Sprache zur anderen, einem Thema zum anderen, einer Stadt zur anderen, einem Geschlecht zum anderen – Dein Zuhause sind die Übergänge, und ich möchte dieses Zuhause nie ganz verlassen, möchte nie Deine Zwischen-Sprache vergessen, Deine Crossroad-Sprache, Deine Sprache in Transition.

So weit der Plan, den ich im Kopf hatte. Aber ich will schließen, indem ich von einer Obsession spreche, die alle autokratischen Regime, extrem rechte wie religiöse oder kommunistische, miteinander teilen. Sie alle sind besessen davon, über queere Körper, die Körper der Schlampen, Transkörper, die Körper hors la loi, die gesetzlosen Körper herzufallen. Als hätten wir Öl und alle mächtigen Regimes wollten dieses Öl in ihren Besitz bringen, als wollten sie uns deshalb vertreiben, uns daran hindern, unser Land zu bestellen. Als verfügten wir über gewaltige undefinierbare Bodenschätze. Wenn sich die Welt so für einen interessiert, fragt man sich schließlich, ob man nicht etwas Seltenes und Kostbares an sich hat – wie sonst ließe sich erklären, dass alle Bewegungen, die der Freiheit den Tod wünschen, so genau wissen wollen, was wir mit unseren Identitäten, unseren Leben, unseren Körpern in unseren Schlafzimmern anfangen?

Und zum ersten Mal, seit wir uns kennen, bin ich optimistischer als Du. Ich stelle mir vor, dass die Kinder, die nach 2000 geboren sind, sich für diesen Blödsinn nicht mehr einspannen lassen – und ich weiß nicht, ob mein Optimismus von einem Schrecken herrührt, der so groß ist, dass ich mich weigere, mich ihm zu stellen, oder ob meine Einschätzung zutrifft oder ob es sich am Ende nur um eine Verbürgerlichung handelt und ich mir sagen muss, dass alles so weitergehen wird wie bisher, weil ich dabei zu viel zu gewinnen habe. Ich habe keine Ahnung. Aber zum ersten Mal in meinem Leben ist da dieses Gefühl, dass wir dem letzten Gefecht der traditionellen, mörderischen, gewalttätigen, missbräuchlichen Männlichkeit beiwohnen. Dass es das letzte Mal ist, dass wir sie johlen hören und sie uns auf den Straßen umbringen, um der Jämmerlichkeit zu entrinnen, in der ihr Denken gefangen ist. Ich glaube, die nach 2000 geborenen Kinder werden begreifen, dass es mit dieser maskulinistischen oder, mit Deinem Wort, »technopatriarchalen« Ordnung nicht weitergehen kann, wenn nicht alle sterben und alles verlieren sollen.

Ich glaube, diese Kinder werden Deine Texte lesen, sie werden verstehen, was Du vorschlägst, und Lust auf Dich haben. Lust auf Dein Denken, Deinen Horizont, Deine Räume. Du schreibst für eine Zeit, die noch nicht angebrochen ist. Du schreibst an Kinder, die noch nicht geboren sind und die ihrerseits in diesem stetigen Übergang leben werden, der das Leben ausmacht.

Und ich wünsche dem Leser, der in Dein Buch eintritt, alle Lust der Welt. Willkommen bei Paul B. Preciado – Sie steigen in eine Kapsel, und Sie werden nicht unversehrt wieder herauskommen, aber seien Sie unbesorgt, es ist keine Gewalt im Spiel. Allerdings wird jeder von Ihnen beim Lesen dieser Seiten irgendwann merken, dass er auf dem Kopf steht, und die Schwerkraft wird bloß noch eine ferne Erinnerung sein. Sie werden anderswo sein. Und wenn Sie aus der Lektüre wieder hinaustreten, werden Sie wissen, dass es diesen Raum gibt und er Ihnen offensteht. Es ist dieser Raum, in dem Sie etwas ganz anderes werden können als das, was man Ihnen erlaubt hatte, sich vorzustellen.

Virginie Despentes