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ÜBER DEN AUTOR

Lukas Linder, geboren 1984, studierte Germanistik und Philosophie. Er ist Dramatiker, schrieb u. a. für das Theater Basel und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter der Kleist-Förderpreis und der Publikumspreis des Heidelberger Stückemarkts. Sein Romandebüt Der Letzte meiner Art erschien 2018 bei Kein & Aber. Lukas Linder lebt in Basel und in Lodz.

ÜBER DAS BUCH

Anatol, Mitte dreißig, hat es nicht leicht: Trotz eines geisteswissenschaftlichen Studiums verdient er seinen Unterhalt als Allrounder im Altersheim. Und auch seine Karriere als Schriftsteller will ihm nicht recht gelingen, ganz zu schweigen von seinen vergeblichen Bemühungen ums weibliche Geschlecht. Als ihm angeboten wird, auf einer wissenschaftlichen Konferenz in Polen einen Vortrag über das Netzwerk der Pilze zu halten, macht er sich auf den Weg und beschließt sogar, sich in der Ferne eine neue Existenz aufzubauen.

Anatol lernt dabei ihm fremde Gefühle kennen – aber vor allem auch sich selbst. Mit seinem unverkennbaren Gespür fürs Tragisch-Komische erzählt Lukas Linder von einem Mann auf der Suche nach dem wahren Leben und der Liebe, was sich weder in der Heimat noch in der Fremde als einfach herausstellt.

Kein & Aber

 

Für Maksym

ERSTER TEIL

GRAUES BROT

1

Was war das?

Bestimmt nicht der Anfang von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Doch wie der naseweise Erzähler des hinlänglich bekannten Meisterwerks lag Anatol Fern im Bett und konnte nicht einschlafen. Grund dafür war jedoch nicht die Schwere der Erinnerung, die auf ihm lastete, sondern jene der Gegenwart. Mit anderen Worten: nicht nur eine – gleich zwei wuchtige Frauen, die unmittelbar neben ihm die Matratze belegten. Bei aller Melancholie fand Anatol trotzdem die Kraft, sich dafür zu gratulieren, dass er sich kürzlich vom mitleidigen Blick des Verkäufers nicht hatte einschüchtern lassen und die XXL-Comfort-Matratze gekauft hatte. Außerdem, und vermutlich war das auch der Grund, warum Anatol nicht einschlafen konnte, verhielten sich die beiden nicht gerade ruhig. Obwohl Pädagoginnen, Lehrerinnen, und damit im Alltag geforderte Wesen, die den Schlaf bitter nötig hatten, ließen sie sich nicht davon abhalten, dass Mitternacht seit Stunden vorbei war, im Gegenteil schien es sie sogar zusätzlich anzuspornen. Aber was taten sie überhaupt, hochgebildete Menschen, die sie waren? Spielten sie Schach? Diskutierten sie die Höhepunkte des Bücherherbsts? Lasen sie sich Reportagen aus der Lettre international vor? Falsch. Sie trieben es miteinander. Laut, nackt und gewaltig. Dabei entfachten sie eine Höllenhitze, die Anatol das Gefühl vermittelte, es würden direkt an seiner Seite die unglaublichsten Brotlaibe gebacken. Er selber lag ein paar Zentimeter neben diesem Liebesinferno. Nicht ganz so hitzig, nicht ganz so nackt und überhaupt nicht gewaltig. Von diesem Moment hast du immer geträumt, buchstabierte er für sich selber. Am Ende des Satzes kam ein Fragezeichen. Denn irgendwie war er sich nicht ganz sicher: Sahen so seine Träume aus? Gewiss, es war unglaublich, herrlich, einfach fantastisch: er und zwei Frauen. Purer Wahnsinn. Und dabei spielte es überhaupt keine Rolle, dass die beiden Lehrerinnen waren. Gabriela unterrichtete Physik und Florence Turnen – beides Fächer, mit denen Anatol keinerlei sinnliches Vergnügen assoziierte. Vielmehr verlieh es dem Wahnsinn zusätzlich den Charakter einer stilvollen Revanche. Das hier waren Lehrerinnen. Vertreterinnen jener Menschenart, die früher bei ihm zu Hause angerufen und Elterngespräche verlangt hatte. Furchterregende Gestalten, die sich aus den bleiernen Lehrmitteln zu materialisieren schienen, um ihm das Leben zur Hölle zu machen. Und nun lagen sie hier, auf seiner XXL-Deluxe-Matratze, nackt bis zu den Fußsohlen. Herrlich, stimmte Anatol in Gedanken einen Singsang an. Das ist doch mal ein Ereignis, das du den Jungs beim Bier erzählen kannst. Allerdings hatte Anatol keine Jungs. Und Max, sein einziger zumindest ansatzweise männlicher Freund, hielt sich gerade in einer Tinnitus-Klinik auf und war für Biergespräche eher nicht zu haben. Vielleicht war das ja auch besser so. Denn was hätte er ihm erzählen sollen: Letzte Nacht haben es in meinem Bett zwei Frauen miteinander getrieben, leider fand ich nicht die Gelegenheit mitzumachen?

Wie aber hatte das passieren können? Es war schon sehr spät und sie alle waren ziemlich betrunken gewesen, als seine beiden Begleiterinnen aus einer Kehle verkündeten, sie seien zu müde, um den weiten Weg nach Hause zu gehen. Drei Stunden früher hatten sie ihn an der Bar aufgerissen, mit der einigermaßen verrucht gehauchten Bemerkung, er habe einen sexy Hintern. Anatol wusste, dass er keinen sexy Hintern hatte. Am Grad der Lüge erkannte er das Ausmaß ihrer Verzweiflung. Sie waren wohl in diese Bar gekommen, um Männer abzuschleppen, egal, was für welche. Und da er der Einzige war, der nicht völlig zugedröhnt oder sonst wie weggetreten wirkte, war die Wahl auf ihn gefallen. Es war also ein Sieg durch Enthaltsamkeit. Das klang irgendwie nicht besonders ruhmvoll, doch stellte Anatol, was Siege anbelangte, schon lange keine Ansprüche mehr. Zu Beginn war das Gespräch ziemlich harzig verlaufen. Man redete über die Schule, obwohl niemand das wollte. Aus purer Verzweiflung. Trauriger Tiefpunkt war der Moment, als Florence von einer Hallenbadsanierung zu reden begann. Obwohl Anatol beim Flirten keine große Erfahrung hatte, wusste er, dass Gespräche über Hallenbadsanierungen zu vermeiden waren, und so versuchte er das Thema zu wechseln:

»Übrigens, mein Vater hat sich neulich beim Kneippen den Fuß verstaucht.«

Weder Florence noch Gabriela mochten das Thema vertiefen.

Doch je mehr Bier sie bestellten und je hartnäckiger sie es mit Wodka oder Kleiner Feigling mischten, desto virtuoser wurden die Gespräche. Nachdem die Stimmung erst an ein Lehrerzimmer am Montagmorgen erinnert hatte, verkündeten die Frauen schließlich weit nach Mitternacht, nicht nach Hause gehen zu wollen, worauf Anatol scharfsinnig anbot:

»Ihr könnt gern bei mir schlafen. Ich habe eine XXL-Deluxe-Matratze.«

»Na dann nichts wie los«, meinte Florence. Als Turnlehrerin schien sie selbst nach sieben Bieren noch in der Lage zu sein, ein fehlerfreies Geräteturnen zu absolvieren. Anatol hatte erfahren, dass sie jeden Morgen einen Kilometer schwimmen ging. So war es auch Florence, die nun auf der XXL-Deluxe-Matratze den größten Brocken der Arbeit übernahm. Anatol beglückwünschte sich dazu, an diesem Morgen das Bett frisch bezogen zu haben, als hätte ihm eine wissende Stimme zugeraunt: »Heute Nacht geht bei dir die Post ab.«

Die Wahrheit war: Er wechselte seine Bettwäsche sowieso öfter als notwendig, denn er wollte stets bereit sein, falls das Unwahrscheinliche doch mal geschehen sollte.

Anatol war ein eingefleischter Pessimist. Aus diesem Grund zwang er sich, besonders optimistisch zu denken. Er musste einfach daran glauben, dass alles gut wurde, da schlichtweg nichts darauf hindeutete. Darum hatte er das Bett frisch bezogen. Darum hatte er damals die XXL-Deluxe-Matratze gekauft, obwohl der Blick des Verkäufers ihm zu sagen schien: Wenn ich du wäre, würde ich das Solo-Mio-Modell nehmen.

Diesmal aber zahlte es sich aus. Diesmal ging bei ihm wirklich die Post ab. Zwei Frauen schliefen in seinem Bett. Nur leider nicht mit ihm.

Sie waren gegen halb zwei in seiner Wohnung angekommen, wo er den grotesken Vorschlag machte, noch einen Happen zubereiten zu wollen. Einen Moment lag das Wort »Happen« in der Luft wie ein peinlicher Geruch, der in einem das dringende Bedürfnis auslöste, alle Fenster zu öffnen, damit er so rasch wie möglich entschwände. Zuvor in der Bar hatte Anatol in einem Anfall von Übermut angefangen, von seinen Kochkünsten zu reden. Damals hatten die Frauen noch regelrecht an seinen Lippen gehangen, nun aber schien es auf der ganzen Welt nichts zu geben, wofür sie sich weniger erwärmen konnten, als von Anatol Fern bekocht zu werden.

»Ich kann auch Sandwiches machen.«

Woher kam dieses fast schon pathologische Bedürfnis, seine Besucherinnen um halb zwei in der Nacht bekochen zu wollen? Fürchtete er sich vor dem, was in der Luft lag? Ahnte er da bereits, kurz vor der schlimmsten Niederlage seines Lebens zu stehen? War das der Grund, warum er plötzlich auf eine Hausführung bestand und, nachdem sie widerwillig eingewilligt hatten, die beiden Frauen gefühlte Stunden in der Abstellkammer festhielt, wo er ihnen das Funktionsprinzip seines Staubsaugers erläuterte?

»Wenn ich noch länger diesen Staubsauger anschauen muss, kotze ich«, gelang es Gabriela schließlich die Hausführung zu beenden.

Sie war es auch, die den Wunsch nach einem Hörbuch äußerte. Sie sei daran gewöhnt und könne ohne die beruhigende Stimme einer Tonaufnahme nicht einschlafen.

»Ich auch nicht«, sagte Anatol, was umso bemerkenswerter war, da er gar keine Hörbücher besaß – bis auf die vom Verfasser selber eingelesene Autobiografie eines Alt-Bundesrats mit dem Titel Ich habe mit dem Dalai Lama sinniert. Sein Vater, ein glühender Anhänger dieses Doyens der europäischen Linken, hatte ihm das Hörbuch zum Geburtstag geschenkt.

»Hör dir das an. Das ist ein Mann, der wirklich etwas bewirken konnte«, hatte sein Vater gemeint und gleichzeitig zu verstehen gegeben, wie sehr es ihn betrübte, dass sich Anatol für eine Laufbahn entschieden hatte, mit der man weder etwas bewirkte noch mit dem Dalai Lama sinnierte und schon gar keine Hörbücher zu dem Thema einlas.

Er drückte auf Play. Für einen kurzen Augenblick kam er sich vor wie ein Mann, der alles im Griff hatte. Einer, der in der Lage war, komplizierte Dinge zu reparieren oder Erklärungen über physikalische Phänomene abzuliefern. Dieses Gefühl hatte er immer, wenn er die Stereoanlage bediente, doch hier, in Anwesenheit zweier betrunkener Pädagoginnen, verspürte er es besonders stark. Als er sich umdrehte, waren Florence und Gabriela bereits in sein Bett geschlüpft. Da lagen sie, Kopf an Kopf, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, die Augen geschlossen. Wie zwei Nonnen, dachte Anatol, der was Nonnen anbelangte eine eigenwillige Vorstellung hatte. Schliefen sie? Es machte allen Anschein. Sie mussten sehr müde sein. Es war spät in der Nacht, und unmittelbar im Anschluss an seinen Staubsaugervortrag hatte er gesehen, wie grau und depressiv ihre Gesichter plötzlich wirkten. Auf Zehenspitzen tapste er zum Bett, löschte das Licht und legte sich vorsichtig neben sie. Es mochte etwa eine Minute vergangen sein, da hörte er diese Geräusche, und wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er gedacht: Da küssen sich zwei Menschen, und zwar voller Leidenschaft. Dies aber war unmöglich. Nicht in seinem Bett. In seinem Bett küsste sich überhaupt niemand. In seinem Bett hörte man sich die Erinnerungen von Alt-Bundesräten an und machte sich ein paar gedankliche Notizen. Andererseits: So atmete doch kein Mensch, der einem Alt-Bundesrat zuhörte. Oder waren die beiden etwa Verfechterinnen der Tibet-Frage und es war die angekündigte Begegnung mit dem Dalai Lama, die sie vorfreudig keuchen und stöhnen ließ? Wohl kaum. Wie aber hatte er die Zeichen nicht deuten können? Er erinnerte sich, wie Florence früher am Abend die Figur ihrer Kollegin gelobt hatte.

»Ich wünschte, ich hätte deine Figur. Dabei geh ich jeden Tag ins Schwimmbad. Leider ist es jetzt wegen erschreckend hohem Uringehalt geschlossen worden.«

War dies die Art, wie Frauen miteinander flirteten? Später hatte Gabriela sich revanchiert und die Turnlehrerin zum Raclette-Essen zu sich nach Hause eingeladen, was noch einmal eine deutlichere Sprache gesprochen hatte als der Uringehalt-Verweis. Mehr aber war da nicht gewesen. Das heißt, ganz gewiss war da noch viel mehr gewesen, doch Anatol hatte schlichtweg nichts davon bemerkt. Die ganze Zeit hatte er geglaubt, er sei es, an dem sie interessiert waren, an dessen Lippen sie hingen, während er von seinem Roman mit dem Titel Graues Brot erzählte. Schließlich informierte er sie auch noch darüber, mit Gerichten aus der arabischen Küche zu experimentieren. Als er auf der Toilette sein Gesicht studierte, kam er sich beinahe attraktiv vor. Nicht wirklich bezaubernd, aber immerhin auf der Schwelle dahin. Gewiss, da war weiterhin dieser bleiche Totenschädel mit dem postpubertären Bartwuchs und der Brille, dieses ganze Gesichtsprogramm, das einem zu sagen schien: Ich habe früher Briefmarken und Pins gesammelt. Da war dieser Rücken, der schon heute einen Vorgeschmack auf die Verwachsungen des Alters gab. Die vorstehenden Schultern wie zwei Klammern, die seine ganze Erscheinung infrage stellten. Da war dieser Strich in der Landschaft, der sein Körper war. Linsen? Verstehe. Vielleicht sollte der Herr mal was anderes essen. An diesem Abend aber kam ihm sein Körper nicht dürr und asketisch vor, sondern sehnig und durchtrainiert. Nicht wie der Körper eines Mönchs, sondern wie der eines à point trainierten Leichtathleten. Ein intelligenter Körper. Und darüber ein brillanter Schädel voll Weisheit und Witz.

Weisheit und Witz für den Arsch! Statt zu brillieren, hatte er den Frauen den letzten Glauben an die männliche Attraktivität ausgetrieben. Dies war sein Beitrag an diesem Abend gewesen. Er hatte den beiden die Augen geöffnet für das, was wirklich von Wert war im Leben: weibliche Liebe. Während sie miteinander beschäftigt waren, ignorierten sie ihn so vollkommen, dass er neben ihnen die Zeitung lesen, den Boden feucht aufnehmen oder auf der Tuba, wenn er denn eine Tuba besessen hätte, ein schwermütiges Solo hätte spielen können. Dies war ganz offensichtlich eine Angelegenheit zwischen Pädagoginnen. Ihm blieb das Hörbuch. Und während er der nasalen Stimme des Alt-Bundesrats lauschte, kam es ihm vor, als hätte es ihm sein Vater ganz genau aus diesem Grund geschenkt: um ihn in der Nacht, da zwei Frauen in seinem Bett miteinander schliefen, zu trösten. Damit er auch was Gutes hatte, mit dem er sich beschäftigen konnte. Es war typisch für seinen Vater: Stets hatte er das Wohl seines Sohnes im Auge.

Zwei Frauen! In deinem Bett! Besoffen! Und trotzdem gondelst du alleine durch diese Nacht. Das ist längst nicht mehr nur Höflichkeit. Das ist Blödheit, Versagen auf der ganzen Linie! Aber was hatte er denn erwartet? War er es nicht langsam gewohnt? Wiederholten sich dieselben Dinge nicht die ganze Zeit, nicht nur auf den XXL-Matratzen dieser Welt, sondern überall, wo er den Fuß hinsetzte?

2

Zumindest hatte er nun beinahe richtigen Sex gehabt. Zwar hatte er niemanden berührt oder gar geküsst, doch war er definitiv mehr gewesen als nur ein neutraler Beobachter. Die Welt wurde immer grobschlächtiger. Allenthalben verschwanden Nuancen, Grautöne, feingliedrige Abstufungen. Es gab nur noch alles oder nichts. Ein bisschen war immer ein bisschen zu viel oder ein bisschen zu wenig. Ein bisschen reichte nicht mehr für diese Welt. Früher war es vollkommen in Ordnung, sich an einer Sache zu beteiligen, ohne sie gleich dominieren zu müssen. Es war in Ordnung, ein Schatten zu sein. Heute waren Schatten Versager und alle zaghaft formulierten Sätze Versagersätze. Früher hörte man andauernd Sätze wie »Ich möchte lieber nicht« oder »Dein Wille geschehe«. Heute musste jede Aktion die ganze Existenz ausfüllen. Das Leben wog schwer und dies pausenlos. Es gab keine Leichtigkeit mehr.

Bis auf vergangene Nacht.

Wenn er sich auch, während die Pädagoginnen miteinander geschlafen hatten, nicht besonders leicht gefühlt hatte. Er war erregt gewesen und beleidigt. Diese beiden Gefühle waren seine Reminiszenz an das nächtliche Treiben gewesen. Er hatte sich beteiligt, ohne etwas zu tun. Klingt irgendwie buddhistisch, dachte Anatol, der keine Ahnung vom Buddhismus hatte, nachdem er sich am nächsten Morgen gerade zum dritten Mal in die Toilette erbrochen hatte. Zu diesem Zeitpunkt waren Gabriela und Florence glücklicherweise seit über zwei Stunden verschwunden. Im Gegensatz zu ihm hatten sie am Morgen so ausgesehen, als hätten sie die ganze Nacht nur Vitaminshakes getrunken. Nun hatten sie Hunger und wollten irgendwo eine Omelette essen gehen. Sie fragten ihn nicht, ob er sie begleiten wolle. Genau wie Sex waren Omeletten offenbar eine Sache, die sie nicht mit anderen teilten. Beim Abschied gab sich Anatol Mühe, einen möglichst entspannten Eindruck zu machen. Er pfiff irgendeine schmissige Melodie und warf einen fachmännischen Blick in den Kühlschrank, als werde er sich gleich einen seiner berüchtigten Happen zubereiten.

»Machts gut, schön wars«, rief er und winkte ihnen nach.

Kaum hatte er die Türe geschlossen, rannte er auch schon zur Toilette.

Kurz nach zwölf unternahm er einen Spaziergang.

Beim Gehen fiel Anatol ein leichter Linksdrall auf. Er wusste jedoch nicht, ob das am Restalkohol oder an seiner bodenlosen Niedergeschlagenheit lag und verspürte auch kein Bedürfnis, es herauszufinden. Die Sonne schien, doch er ging im Schatten. Es war Frühling. Und dann auch noch April. In der Luft lag der narkotisierende Duft knospender Blüten, der ihn stets mahnte, dass man jederzeit den Verstand verlieren konnte. An Tagen wie diesen war er der festen Überzeugung, dass die Einsamkeit der Stempel seiner Existenz war. Sie war seine Geliebte, seine Amour fou.

Jeder kreative Versuch, sich mit dieser Situation zu arrangieren, schien sie nur noch zu verschlimmern. Mit Schaudern erinnerte er sich an jenen Tag, als er voller Enthusiasmus auf eine Tageswanderung durch die Region aufgebrochen und mit dem Gefühl bodenloser Vereinsamung zurückgekehrt war. Zu allem Übel nahm er damals das Abendessen auch noch in einer menschenleeren Pizzeria ein. Während er seine nur ungenügend aufgetaute Lasagne anhauchte, wischte der Kellner mit einem Schwamm die Tafel mit den Tagesdesserts ab. Als er dabei zusah, wie das mit blauer Kreide geschriebene Pannacotta langsam verschwand, kamen Anatol die Tränen.

An diesem Tag musste er feststellen, dass er kein Mensch mehr war, der wunderbar mit sich alleine sein konnte. Nicht mehr. Wie alles andere konnte man auch das Alleinsein verlernen. An seine Stelle trat eine Rastlosigkeit, die jederzeit in depressive Schwermut umschlagen konnte. Ein schlechter Tausch. Je älter man wurde, desto schlechter wurden die Tauschgeschäfte.

Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, Max anzurufen. Doch war er sich nicht sicher, ob man in einer Tinnitus-Klinik überhaupt telefonieren durfte. Kurz vor Mitternacht hatte er dem Freund eine Triumph-SMS geschickt: »Bin in einer Bar mit zwei hotten Ladys. Läuft wie geschmiert!!!!!« Er wusste nicht, was ihm peinlicher war: der ungebremste Enthusiasmus oder die Formulierung »hotte Ladys«. Max hatte nicht zurückgeschrieben. Zu Recht, fand Anatol.

Er hatte gehofft, dass sich mit dem Erscheinen von Graues Brot sein Leben von einem Tag auf den anderen radikal ändern würde. Doch wie viel Veränderungspotenzial konnte ein Buch haben, das vom Verlag mit den Worten »für Freunde absonderlicher Unterhaltung« angekündigt wurde? Er hatte sich vor einer schier endlos langen Schlange Autogrammjäger gesehen, die hungrig auf ein paar Zeilen dieses hochsensiblen Junggenies warteten, dessen Debüt die Feuilletons fassungslos machte. »Ich habe den ganzen Abend Zeit für Sie«, hatte er sich rufen hören, genau wie »Ich glaube an die Liebe« und merkwürdigerweise »Ich halte mich fit mit Auberginenauflauf«. Bei der bislang einzigen Lesung in einer Quartiersbuchhandlung musste er die Leute regelrecht dazu zwingen, ihr Buch unterschreiben zu lassen. »Möchten Sie nicht noch Ihr Buch signieren lassen?«, offerierte er einem älteren Ehepaar, das gerade aus dem Laden huschen wollte. »Wir besitzen keins«, antwortete die Frau. Sie klang froh. Eine ältere Dame mit triumphalem Brillengestell baute sich vor ihm auf und verkündete, dass er den Konjunktiv II beinahe durchgehend falsch verwende. »Das tut mir leid«, sagte Anatol, nachdem er einen Moment nachgedacht hatte. Zu trinken gab es Orangensaft und Weißwein. Alle nahmen Orangensaft, bis auf Anatol, der die Weinflasche im Alleingang austrank. In der Hoffnung, die Besitzerin des Buchladens möge noch etwas Positives über sein Buch sagen, kaufte er mehrere teure Bildbände, darunter den Kosmos von Humboldt und einen massiven Band mit dem Titel In den Gemächern des Kremls. Ihr Vorgänger habe die Idee zu der Lesung gehabt, erklärte die Buchhändlerin. Das Wort Vorgänger sprach sie mit vielsagendem Unterton aus. Anatol kannte diesen Unterton. Seine Mutter verwendete ihn jedes Mal, wenn sie auf ihren Bruder zu sprechen kam, der nach einem abgebrochenen Jura-Studium nach Neuseeland ausgewandert war, um dort Schafe zu hüten.

Er habe viele solcher Ideen gehabt, meinte die Buchhändlerin, irgendwann habe man einschreiten müssen. Anatol versuchte, sich den Mann vorzustellen. Ein als Buchhändler getarnter Querulant. Eine wirre Idee jagte die nächste. Und so war es zu Anatols Lesung gekommen. Andere Autoren hofften auf den guten Geschmack der Leser, Anatol hoffte auf ihre Unzurechnungsfähigkeit. »Er ist jetzt dort, wo ihm geholfen wird«, schloss die Buchhändlerin ihre bedrückende Geschichte und belohnte sich mit einem schlundgroßen Schluck Orangensaft.

»Ich schätze richtige Geschichten«, fuhr sie mit leicht feuchten Augen fort. »Erfinden kann jeder. Aber leben! Das muss man erst mal können.« Anatol nickte traurig. Als Kind hatte er davon geträumt, ein Abenteurer zu werden. Heute gab es Tage, da hatte er schon Angst davor, seine Wohnung zu verlassen. Seltsam, wie sehr man sich in sich täuschen konnte.

»Es war ein wunderbarer Abend«, schrieb er der Buchhändlerin am Ende ins Buch.

»Das kann ich nicht lesen. Was steht da geschrieben?«, fragte sie.

»Es war ein wunderbarer Abend«, las Anatol vor.

Im Bus zurück schlief er ein und vergas die Tasche mit den gekauften Büchern unter dem Sitz.

Spazieren war kein Vergnügen mehr, sofern es denn jemals eines gewesen war. Gerne hätte sich Anatol als lustvoller Flaneur gesehen, der sich, dem erfrischenden Kompass seines Herzens folgend, mal hierhin und mal dorthin treiben ließ, einfach mitten in dieses sonntägliche Treiben hinein, um sich am Anblick der Welt sattzusehen. Doch der Kompass seines Herzens war morsch. Statt zu flanieren, schleppte er sich stöhnend irgendeine Gasse hinunter, wobei er unentwegt Restalkohol ausschwitzte. Lustvoll war das alles nicht. Das hier war ein Passionsweg.

Er sehnte sich nach Liebe, körperlich oder geistig, völlig egal, er war bereit, alles zu nehmen. Er hatte das Bedürfnis, jemandem seine Wunden zu zeigen. Doch er hatte keine Wunden. Alles, was er hatte, war eine ansehnliche Portion Selbstmitleid und ein Werk mit dem Titel Graues Brot. Darum beschloss er, mit der Fähre über den Rhein zu fahren. Das war zwar auch nicht gerade Liebe, aber wenigstens eine Dienstleistung. Das Boot zuckte erschrocken zusammen, als er seinen rechten, ungenügend durchbluteten Fuß darauf setzte, gefolgt von dem Rest seines dürren, zu einem großen Fragezeichen verbogenen Körpers. Der Himmel blies Trübsal, das andere Ufer drehte ihm den Rücken zu. Niemand wartete auf ihn.

Eine Erinnerung schwappte herauf. In der Pubertät hatte er nach der Schule jeden Tag seinen Rucksack auf mögliche Liebesbriefe untersucht. Er lebte damals im Irrglauben, dass dies der Ort war, wo Liebesbriefe in rauen Mengen deponiert wurden. In seiner Vorstellung kehrten seine männlichen Klassenkameraden nach Hause zurück, wo sie sich erst mal an die Lektüre der täglichen Liebespost machten. Anatol bekam keine Liebespost. Er bekam überhaupt keine Post. Täglich zauberte er das Nichts aus dem Rucksack, das damals zu seinem heimlichen Verbündeten wurde. Konnte es sein, dass sich die Nachrichten zwischen den Schulbüchern und den in Alufolie verpackten Sandwichungeheuern, die sein Vater für ihn zubereitete, irgendwie zerrieben? Warum nur, fragte sich der kleine Anatol, musste sein Vater diese monströsen Brote für ihn machen? Natürlich: Er fürchtete, sein Sohn könnte untertags verhungern. Aber was war mit dem Hunger auf Liebe? Wusste der Vater nicht, dass man auch an einem Mangel an romantischer Post zugrunde gehen konnte? Er starb an einem vereinsamten Herzen, ein Sandwich, so groß wie ein Fußball, in der Hand.

Nachts betete er zum offenen Fenster hinaus, da er glaubte, Gott könne ihn dadurch besser sehen. »Bitte, lieber Gott«, sprach er, »schick mir einen Liebesbrief. Es kann auch nur ein ganz kurzer sein. Muss auch nichts Spezielles drinstehen. Das kann doch nicht so schwer sein.«

Doch seine Gebete blieben ungehört. Damals lernte er zwei Dinge: Gott war ein Ignorant und die Liebe ein steter Quell der Enttäuschung.

Auf dem Boot befand sich auch ein asiatisches Ehepaar, das zunächst mit großem Interesse das Panorama fotografiert hatte, bevor es Anatols käsebleicher Frankensteinmodulation gewahr wurde. Nun war ihr Enthusiasmus einem Zustand betroffener Neugier gewichen. Vermutlich dachten sie daran, dass die Schweiz eine der höchsten Selbstmordraten der Welt aufwies. Es stimmt also, dachten sie, während sie Anatols blutunterlaufene Augen studierten. Im letzten Jahr waren sie bei den Tellfestspielen in Interlaken gewesen. Sie hatten Tell gesehen und jetzt sahen sie Anatol und hatten damit das Drama des Schweizer Mannes in einem Akt serviert bekommen. Anatol versuchte zu lächeln. Das machte es jedoch nur noch schlimmer.

Tage wie dieser wurden nicht besser, indem man mit Menschen telefonierte, die der Überzeugung waren, dass man sein Leben in den Sand setzte. Doch spätestens nachdem das Handy zum dreißigsten Mal vibriert hatte, erkannte Anatol, dass dies einer jener Anrufe war, denen man sich nur durch plötzlichen Herztod entziehen konnte. Wie allen Anrufen seiner Mutter.

»Ich bin hier in Saas-Fee auf Geschäftsabschluss. Die Verhandlungen sind eine Katastrophe. Sie sind zäh, diese Bergler, aber wir werden gewinnen. Ich habe nur fünf Minuten.«

Man hätte denken können, Anatol hätte sie angerufen. So war das immer mit Mutter.

»Was für ein Geschäft denn?«, fragte er artig.

»Wir wollen hier einen Fünfsterne-Hotelkomplex bauen. Mit Golfabschlagplatz. Das passt natürlich nicht allen. Aber der Moderne kann sich keiner entziehen. Auch der Bergbauer nicht.«

»Die Moderne ist auch nur eine Modeerscheinung.«

»Wait, wait«, rief Mutter, ohne sein Bonmot zu würdigen, jemandem in Hintergrund zu. »I will be yours in ten seconds.«

»Ich habe deinen Vater im Fernsehen gesehen«, fuhr sie fort. »Er läuft mal wieder bei einer Demo mit und hat ein Schild in die Kamera gehalten: ›Gerechtigkeit für alle‹. Da habe ich Angst bekommen.«

»Um den Hotelkomplex?«

»Um dich natürlich. Wie lange willst du diese idiotische Arbeit im Altersheim noch machen?«

»Ich dachte bis zur Pensionierung.«

»Verschwende meine Zeit und die der Bergbauern nicht mit Witzen. Ich habe dir Wichtiges zu sagen und habe dafür nur zwei Minuten. Jetzt hör mir zu. Du bist in wundervollen Verhältnissen groß geworden. Mit dem ganzen Luxus eines Einzelkindes. Nicht mal teilen hast du müssen. Mustergültig haben wir für dich gesorgt. Du hast einen exzellenten Abschluss an der Uni gemacht. Summa cum laude in Politikwissenschaft und Kulturanthropologie!«

»Germanistik und Philosophie!«

»Hab ich doch gesagt. Du bist intelligent, du bist talentiert, du hast früher sehr gut ausgesehen. Es ist ungesund, wenn man mit solchen Veranlagungen kein Ziel im Leben hat. Man stumpft ab, verblödet, verweichlicht, wird krank und stirbt, bevor man seine erste Million auf dem Konto hat.«

»Dafür beute ich niemanden aus und komme in den Himmel.«

»Eben nicht! Die Dummen kommen in die Hölle. Hast du das nicht gewusst? Du hast zu viele Skrupel. Du denkst, Skrupel seien dasselbe wie Moral, aber das stimmt nicht. Man muss skrupellos sein, wenn man es in dieser Welt zu etwas bringen will.«

Wie zum Beweis ihrer These donnerte sie in den Hintergrund von Saas-Fee:

»Tell him 500 000 or I will break his ass.«

Sie seufzte melancholisch.

»Hast du etwas gegessen?«

»Ein leckeres Tofu-Curry.«

»Ich möchte, dass du von Zeit zu Zeit auch ein schönes Stück Fleisch genießt. Du hast so viel besser ausgesehen, als du noch regelmäßig Fleisch zu dir genommen hast.«

Anatol bemerkte, er habe neulich eine Wurst gegessen. Die Mutter zog es vor, diesen Einwurf nicht zu kommentieren.

»Du bist mein einziges Kind«, schluchzte sie melodramatisch. »Ich bitte dich lediglich, die ganze Tragweite dessen zu bedenken.«

Wenige Sekunden später beendete sie das Gespräch.

Anatol schaute auf die Uhr. Das Gespräch hatte tatsächlich nicht länger als fünf Minuten gedauert. Seit die Mutter für diese seelenlose Investment-Gruppe arbeitete, dauerten ihre Telefonate immer kürzer – dafür wurden ihre Anschuldigungen immer länger. Er war sich nicht mal sicher, ob sie sein Buch überhaupt gelesen hatte. »Es steht auf meiner Liste«, hatte sie gemeint, als er sie das letzte Mal danach gefragt hatte. Sie hatte ihn immer an der Spitze eines Großkonzerns gesehen oder mindestens im Operationssaal, einen virtuosen chirurgischen Eingriff vornehmend. Dass er nicht der Typ dafür war, spielte keine Rolle. Sie wollte nur sein Bestes. Immerhin. Im Gegensatz zu Anatol wusste sie wenigstens, was sie wollte.