Cover

 

 

 

 

Hilaire Belloc

DIE GROßEN HÄRESIEN

 

 

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Impressum

 

Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek, abrufbar unter

http://dnb.ddb.de

 

Umschlagbild basierend auf: »Notre-Dame en feu« von GodefroyParis, CC-by-sa 4.0

Buchgestaltung und Satz: Marcel Hagmann, www.keilergrafik.de

 

Belloc, Hilaire

Die großen Häresien. Der Kampf gegen Europa

218 Seiten, Bad Schmiedeberg 2019

 

1. Auflage 2020

 

Originaltitel: The Great Heresies

 

© Renovamen-Verlag, Bad Schmiedeberg 2019, für die deutsche Ausgabe

www.renovamen-verlag.de

 

Aus dem Englischen übersetzt von Julian Voth

 

ISBN 978-3-95621-145-4

Inhalt

 

 

Eine Einführung in Hilaire Bellocs Die großen Häresien

EINLEITUNG

KAPITEL I
Der Plan dieses Buches

KAPITEL II
Die Arianische Häresie

KAPITEL III
Die große und andauernde Häresie des Mohammed

KAPITEL IV
Der albigensische Angriff

KAPITEL V
Was war die Reformation?

KAPITEL VI
Die moderne Phase

 

Dr. Robert Hickson

 

Gedenktag des Hl. Leonhard von Limoges († 559)

Gedenktag des Hl. Kreuzfahrers

Leonhard von Reresby († um 1260)

Todestag Josef Piepers († 1997)

6. November 2018

 

Eine Einführung in Hilaire Bellocs Die großen Häresien

 

 

Hilaire Belloc stand im Jahr 1938 noch auf der Höhe seiner intellektuellen und geistlichen Schaffenskraft, als er sein hellsichtiges Buch über die Großen Häresien veröffentlichte. Dieses Buch, das kurz vor dem Ausbruch des 2. Weltkrieges erschien, zeigt Belloc in seinem 69. Lebensjahr, nur zwei Jahre nach dem Tod seines geliebten Freundes G. K. Chesterton und drei Jahre vor dem unerwarteten und niederschmetternden Tod seines jüngsten Sohnes Peter am 2. April 1941. Peter starb in Uniform, jedoch nicht auf dem Felde. Er hatte sich während seiner soldatischen Grundausbildung im um sich greifenden Krieg plötzlich eine Pneumonie zugezogen. (Belloc hatte bereits zu seinem großen und beinahe nicht wieder gutzumachenden Kummer sowohl seine geliebte Frau Elodie am 2. Februar 1914 (an Mariä Lichtmess) und dann seinen ältesten Sohn Louis verloren, der als Pilot gegen Ende des 1. Weltkriegs fiel.) Sein Leichnam wurde trotz umfangreicher Bemühungen zahlreicher Personen, darunter Bellocs enger und findiger Freund, Major Maurice Baring, nie gefunden.

Zudem erlitt Hilaire Belloc sehr bald nach dem Tod seines Sohns Peter den ersten von mehreren Schlaganfällen. Zu diesem Zeitpunkt begannen seine geistigen Kräfte bereits langsam zu schwinden, bis er schließlich am 16. Juli 1953 starb. So stellen sich die prägenden Umstände dar, die dieses Buch und seine bemerkenswert anhaltende Aktualität umrahmen.

In einigen ausgewählten Passagen wollen wir hier jedoch charakteristische Einblicke in die differenzierte und eloquente Gelehrsamkeit unseres geschätzten Autors Belloc sowie seines tiefen und aufrichtigen katholischen Glaubens liefern. Darin bezeugt er in besonderer Weise seine Fähigkeit, wichtige Begriffe wie »Häresie« und »Kapitalismus« ohne Mehrdeutig­keiten zu definieren.

So schrieb er in seinem Einführungskapitel: »Durch einen ungenauen Gebrauch von Wörtern entstehen endlose Missverständnisse.« Aus diesem Grund hilft uns Belloc zu Anfang seines Buches beim Verständnis dessen, was er mit »Häresie« meint. Er definiert sie als die »Verzerrung eines kompletten und selbstständigen Systems [in dem die verschiedenen Teile kohärent sind und sich gegenseitig stützen] durch die Einführung einer neuartigen Leugnung eines ihrer wesentlichsten Teile«. Und diese Veränderung eines Teiles würde bedeuten, »das ganze System aus dem Gleichgewicht zu bringen«. Die Häresie ist also »die Verzerrung eines Systems durch ›Ausnahme‹: Durch das ›Auswählen‹ [vom griechischen Verb haireo] eines Teils der Struktur«. In Bellocs Augen gehört es zum Wesen der Häresie, dass sie »einen großen Teil der Struktur, die sie angreift, intakt lässt«. Aus diesem Grund wird von den Häresien gesagt, dass sie »durch die Wahrheiten, die sie beibehalten, überdauern«. Hilaire Belloc hat ein historisches Interesse an der Häresie, insofern sie nicht nur den Einzelnen, sondern die gesamte Gesellschaft beeinflusst.

In diesem Sinne war beispielsweise die Debatte über den Arianismus nicht lediglich »eine Diskussion über Begrifflichkeiten«. Tatsächlich wäre die »arianische Welt vielmehr wie eine mohammedanische Welt geworden«, anstatt so, wie die europäische Welt tatsächlich geworden ist. Wörter bestimmen Welten. Eine Lehre zu bekräftigen hat Auswirkungen auf die Gesellschaft. Nach Bellocs Dafürhalten kann die menschliche Gesellschaft »ohne irgendeinen Glauben nicht fortbestehen, denn ein Kodex und ein Charakter sind das Produkt eines Glaubens«. Hilaire Belloc übernahm die Erkenntnis, dass jeder menschliche Konflikt letztlich theologisch ist (eine profunde Einsicht, die Kardinal Manning gegenüber Belloc äußerte, der dieses Zitat später häufig anführen würde – siehe die »Scheinwerfer-Erkenntnisse« Mannings in Bellocs großartigem Werk The Cruise of the Nona)1 und dass keine Gesellschaft ohne irgendeine Form von Religion jemals überdauert habe oder jemals ohne irgendeine Form von Religion überdauern könnte. Belloc zufolge kann es nämlich kein Moralgefüge ohne Lehre geben, »und wenn wir darin übereinstimmen, jedes konsistente Gefüge von Moral und Lehren eine Religion zu nennen, dann wird die Wichtigkeit der Häresie als wissenschaftlicher Gegenstand deutlich werden«.

Nur ein zutiefst gläubiger und integrer Mann wie Hilaire Belloc ist in der Lage, diese Gedanken vorzutragen und zu ihnen hinzuführen. Eine gründlich säkularisierte Welt wie der postmoderne Westen ist kaum in der Lage, sie zu fassen. Aber er wird sicherlich von Bellocs eigenen Erkenntnissen profitieren. Denn wir können weiterhin sagen, dass die Gesellschaft selbst heute noch von einem Glauben dominiert wird – es ist nur schlichtweg ein Glaube ohne Gott und folglich ohne ein tieferes Gefüge bindender sittlicher Gesetze.

Im Sinne des Mottos »Ohne Glaube keine Kultur« erklärt unser Autor:

Das Studium der sukzessiven christlichen Häresien, ihrer Schicksale und Charaktere, ist von besonderem Interesse für alle von uns, die der europäischen oder christlichen Kultur zugehörig sind. Der Grund dafür sollte selbsterklärend sein – unsere Kultur wurde von einer Religion geschaffen. Veränderungen oder Abweichungen von dieser Religion haben notwendigerweise Einfluss auf unsere Zivilisation in ihrer Gesamtheit.

Belloc stellt ein weiteres Grundprinzip seines trenn­scharfen Werkes vor, indem er die Wichtigkeit klarer Definitionen betont. Definitionen legen Grenzen fest und machen die Analyse dadurch leichter. Zurecht weist er darauf hin, dass in der modernen Welt (wie sie sich 1938 darstellte) die Gepflogenheit einer solchen Definition verloren sei. »Das Wort ›Häresie‹ […] wird nicht länger auf Fälle angewendet, die eindeutige Häresien sind und als solche behandelt werden sollten.«

Später im Buch liefert Hilaire Belloc ein Beispiel dafür, was er mit seinem Beharren auf klare Definitionen meint:

Für den einen bedeutet der Begriff »Kapitalismus« vielleicht lediglich das Recht auf Privatbesitz; für den anderen bedeutet er aber Industriekapitalismus, der im Gegensatz zur Agrarproduktion mit Maschinen arbeitet. Ich wiederhole: Damit die Diskussion Sinn ergibt, müssen unsere Begriffe klar definiert sein.

Das bedeutet, nur wenn wir Realitäten mit klaren Definitionen beschreiben, können wir Entscheidungen darüber treffen, was wir fördern oder bekämpfen möchten.

In seiner Behandlung des Kapitalismus weist Belloc auf die Gefahr eines relativistischen Zugangs hin: »Begriffe werden heute zu locker gebraucht; es besteht eine derartige Lähmung der Definitionskraft, dass fast jeder Satz, der aktuelle Ausdrücke verwendet, missverstanden werden kann.« Das Wort »Kapitalismus« etwa kann für unterschiedliche Menschen eine ganz unterschiedliche Bedeutung annehmen.

Für die eine Gruppe von Schriftstellern bedeutet es (und ich muss bekennen, dass es das auch für mich bedeutet, wenn ich es benutze) »die Ausbeutung der noch freien Menschenmassen durch wenige Besitzer der Produktions-, Transport- und Tauschmittel.«

Belloc kommentiert dann, warum diese Art von Kapitalismus destruktiv ist:

Wenn die Masse der Menschen enteignet ist – sie besitzen nichts –, wird sie vollkommen von den Besitzern abhängig; und wenn diese Besitzer im aktiven Wettbewerb stehen, die Produktionskosten zu senken, wird die Masse der Menschen, die sie ausbeuten, nicht nur die Fähigkeit verlieren, ihr eigenes Leben zu bestimmen, sondern sie werden außerdem Not und Unsicherheit erleiden.

Ich denke, wir können an dieser Stelle sagen, dass Belloc eine solche Form des Kapitalismus als »Häresie« erachtet.

Sein Anliegen ist es, unseren Verstand von Kant zu befreien und solchermaßen klare Definitionen vorzulegen, um unterscheiden zu können, was wir bekämpfen wollen und was nicht. Was Belloc uns mit diesen Beispielen zu zeigen versucht, ist, dass wir, wenn wir Fälle von Häresie mit klaren Begriffs­bestimmungen behandeln, dadurch unsere Verhaltensmaßregeln und Sitten schützen, die für eine gedeihende Gesellschaft unerlässlich sind. Wenn wir unachtsam werden, unterläuft und unterminiert der Relativismus die gesamte Gesellschaft, wie es heute vor unser aller Augen sichtbar ist. In diesem Sinne kann Hilaire Belloc als Prophet unserer Zeit betrachtet werden.

Josef Pieper, der große katholische Philosoph, der Hilaire Belloc selbst hoch schätzte, sollte später ein Buch mit dem Titel Missbrauch der Sprache, Missbrauch der Macht (erstmals 1970 erschienen) verfassen, das in Verbindung zu Bellocs Versuch steht, die verwendete Sprache sorgsam zu studieren und zu untersuchen, ob sie dabei dienlich ist, die Realität zu offenbaren, oder sie vielmehr verhüllt. Pieper selbst sah, wie der Missbrauch der Sprache oftmals als Mittel zur Manipulation und – so könnten wir mit Hilaire Belloc sagen – zur Verbreitung der Häresie verwendet wird.

Betrachten wir hier zwei Beispiele dafür, was Belloc als Häresie bezeichnet: den Kommunismus und die Ehescheidung. Zunächst sagt er in Bezug auf den Kommunismus, dass eine »Leugnung des Rechts auf Eigentum« sein Unwesen treibe: »Der Kommunismus ist ebenso sehr eine Häresie wie der Manichäismus.«

Dann fügt er hinzu:

Das Gleiche gilt bezüglich des Angriffes auf die Unauflöslichkeit der Ehe. Niemand nennt die moderne Praxis und Bejahung der Scheidung eine Häresie, und doch ist es eine. Denn ihr maßgebliches Charakteristikum ist die Leugnung der christlichen Ehelehre und ihre Ersetzung durch eine andere Lehre, nämlich, dass die Ehe nichts anderes als ein Vertrag ist – und zwar ein kündbarer.

Die Leugnung jedweder Lehre als solcher, so Belloc, sollte als Häresie betrachtet werden.

Abschließend fasst Belloc die Lage seiner Zeit, die, so könnte man sagen, ebenso für unsere Zeit gilt, wie folgt zusammen:

Wir leben heute unter einem Regime der Häresie, das nur deshalb von früheren häretischen Perioden unterschieden werden kann, weil der häretische Geist allgemein wurde und in verschiedenen Formen zu Tage tritt.

Diese Flut, die uns laut Belloc zu überwältigen droht, sei so diffus, dass wir nicht einmal einen konkreten Namen für sie haben, wie es bei den Häresien der Vergangenheit der Fall gewesen sei.

Wir leben folglich in einem Zeitalter der Herrschaft weitverbreiteter Häresie. Belloc fügt hinzu, dass eine Verfolgung in diesem Konflikt zwischen dem »modernen antichristlichen Geist und der beständigen Tradition des Glaubens« nicht mehr fern sei. Hier zeigt sich Belloc als Traditionalist, der sich gegen die Relativismen und Häresien seiner Zeit zur Wehr setzt und an den ewigen Wahrheiten über Gott und den Menschen festhält.

An dieser Stelle können wir ein weiteres Beispiel aus dem Buch anführen. Wenn wir über das »Problem des Bösen« sprechen – eine Wirklichkeit, der heute auch häufig aus dem Weg gegangen wird –, sehen wir uns mit der Frage des Universums und der unserer Existenz konfrontiert. Dazu meint Belloc:

Während wir dem Menschengeschlecht dabei zusehen, wie es den Sinn des Universums verstehen will oder darauf die Offenbarung annimmt oder verzerrten und falschen, unvollständigen Religionen und Philosophien folgt, ist es doch im Grunde seines Herzens immer mit der beharrlichen Frage beschäftigt: »Warum müssen wir leiden? Warum müssen wir sterben?«

Wie P. John A. Hardon SJ, ein großer Dogmatiker und persönlicher Freund, mir oft im Gespräch sagte: »Wir sind nur in dem Maße mutig, wie wir selbst überzeugt sind.« Wenn wir klare Definitionen haben und folglich klare Ziele und Überzeugungen, auch bezüglich des ewigen Lebens, dann werden wir auch dazu in der Lage sein, den Herausforderungen unserer heutigen Gesellschaft ins Auge zu sehen, selbst wenn es Leiden oder den Tod bedeuten sollte.

Kommen wir wieder auf Hilaire Bellocs Große Häresien zurück. Als katholischer Schriftsteller betont er die Tatsachen, dass die katholische Kirche jene Frage von Leid und Tod beantwortet. Er spricht über eine wesentliche Wahrheit der katholischen Kirche. Sie »gründet sich auf der Anerkennung von Leid und Tod.« In einer vollständigeren Form laute der Satz: »Die katholische Kirche ist verwurzelt in der Anerkennung von Leid und Sterblichkeit, sowie in ihrem Anspruch, die Lösung für das Problem [d. h. das Problem des Bösen] dargeboten zu haben, das sie darstellen.« Die Lösung und Antwort der Kirche steht im starken Kontrast zu denen anderer Weltanschauungen und Religionen, die bisweilen sehr anderslautende Antworten mit tiefgehenden Auswirkungen für die jeweiligen Gesellschaften geben.

Der geneigte Leser wird den entworfenen Aufbau Bellocs kunstfertig dargelegter Abfolge von sieben Kapitel nun sicher besser erkennen, insbesondere in den für uns so anschaulichen Kapiteln drei bis sieben über die Arianische Häresie, die große und andauernde Häresie des Mohammed, den albigensische Angriff, die Reformation und die moderne Phase. Jeder einzelne Punkt war ein Angriff in der Vergangenheit, von dem wir heute und für die Zukunft immer noch viel lernen können. Wenn wir die verschiedenen Häresien betrachten, die Belloc in seinem Buch darstellt, dann fällt auf, dass ihnen eines gemein ist – und das gilt auch für den unbeugsamen Islam: Sie alle leugnen im Wesentlichen folgende Lehren und deren Derivate und zielen darauf ab, sie zu zerstören: die Inkarnation (und folglich die vollkommene Gottheit Jesu Christi), die Lehre von der Heiligsten Dreifaltigkeit, eine göttlich begründete, autoritative Kirche und deren zentrale, universelle geistliche Autorität, die sieben Sakramente und folglich das besondere Priestertum Christi mit seinen Opfer- und Lossprechungspflichten im Sakrament der Beichte und im hl. Messopfer.

Zu einem späteren Zeitpunkt können wir noch die Lehren der gnostischen Albigenser und der verschiedenen protestantischen Sekten erwägen. Er zeigt, wie folgenschwer die protestantische Revolution für die europäische Zivilisation war. Zu Anfang des sechsten Kapitels über die Reformation schreibt Belloc:

Obwohl die unmittelbaren Früchte der Reformation nun wie all jene der vielen anderen Häresien der Vergangenheit verwelkt sind, so hat doch die Spaltung, die sie verursacht hat, überdauert. Ihr Hauptprinzip – der Widerstand gegen eine einzige geistliche Autorität – setzte sich mit solcher Kraft fort, dass unsere europäische Zivilisation im Westen entzweibrach und letztlich ein allgemeiner Zweifel in Umlauf gebracht wurde, der sich weiter und weiter verbreitete. Keine der älteren Häresien tat das, denn sie waren alle klar umrissen. Jede beabsichtigte, die bestehende katholische Kirche zu ersetzen oder mit ihr zu konkurrieren. Die Reformationsbewegung aber hatte nämlich vor, die katholische Kirche aufzulösen – und wir wissen, welchen Erfolg diese Bemühung hatte!

Man könnte es auch in folgende kurze Worte fassen: Ideen haben Konsequenzen.

Eines der beiden längsten Buchkapitel behandelt den Islam, die »mohammedanische Häresie« und den »mohammedanischen Angriff«. Eine Religion, die Belloc als unseren »ständigen Rivalen« bezeichnet:

Er ist jedoch tatsächlich der furchtbarste und hart­näckigste Feind, den unsere Zivilisation jemals hatte. Und er könnte zukünftig [aus seinem Blickwinkel im Jahre 1938] wieder eine so große Bedrohung werden, wie er es bereits in der Vergangenheit war.

Andere, wie etwa Arnaud de Lassus, haben den Islam ebenfalls als eine christliche und jüdische Häresie identifiziert, da er über längere Zeiträume sowohl mit den gelehrten nestorianischen Christen sowie mit verschiedenen praktizierenden Juden der arabischen Halbinsel im Kontakt stand. (Belloc tauchte jedoch hier nicht tiefer in die Geschichte ein, die Arnaud de Lassus vielfach studieren konnte.)

Zudem haben mir gebildete und fromme Muslime, die ich über die Jahre kennenlernen durfte, ihre Grundauffassung anvertraut, wonach der Islam als dritte und letzte Offenbarung die Irrtümer und Entstellungen sowohl der jüdischen als auch der christlichen Offenbarung korrigiert habe. Eine solche Überzeugung und eine solch praktisch-kriegerische Orientierung verleiht der Verbreitung ihrer Religion und ihrer strategischen und taktischen Eroberungsinitiative große Durchschlagskraft. Belloc selbst versucht in seinem Buch immer wieder aufs Neue zu verstehen, wie und warum der Islam so lange fortbestehen konnte. Seine sorgsam erwogenen Reflexionen werden die Leser dieses Buches besonders interessieren.

Im Licht der gegenwärtigen Konflikte zwischen den islamischen und christlichen Gemeinschaften auf der ganzen Welt – bei denen hauptsächlich der Islam als Aggressor agiert – werden Bellocs Erwägungen und Analysen dem heutigen Leser eine große Hilfe dabei sein, die tiefer zugrundeliegenden theologischen Trennlinien zu verstehen. Das Glaubensbekenntnis einer jeden Religion formt Gesellschaften und deren Verhalten gegenüber anderen. Eine gründliche Studie des Islam würde dem Westen dabei helfen, auf fruchtbarere Weise einzu­schätzen, wie er dieser Religion in gerechter und wehrhafter Weise begegnen kann. Sieht man aber stattdessen über religiöse Differenzen hinweg, dann würde man nur den Teil innerhalb der Religion übersehen, der potentiell zu ernsteren Konflikten führen könnte. Unserer Vorväter waren sich dessen bewusst.

Bei der erneuten Lektüre meiner jüngsten und zahlreichen Notizen zu den Großen Häresien habe ich außerdem an Thukydides und sein großes, unvollendetes Epos über die tragische Geschichte des Peloponnesischen Krieges (431-404 v. Chr.) gedacht, das die folgenreiche Zerstörung Athens beinhaltet. Man könnte ein ganzes Semester an der Universität damit zubringen, jedes einzelne dieser beiden Bücher gründlich und sorgfältig zu erörtern und würdigen.

Sowohl Belloc als auch Thukydides waren von den Epen und Tragödien Homers und der eindrücklich dargebotenen Katastrophe vom Falle Trojas mitsamt seinen Konsequenzen durchdrungen. Belloc konnte selbst einige größere Gefahren oder Tatsachen der Tragödie im Verlauf der Geschichte, darunter die Kämpfe und drohende Zersetzung des katholischen Glaubens und der heiligen Kirche, kunstvoll präsentieren. In Bellocs monumentalem Buch über die großen Häresien findet sich auch eine Überfülle an Wahrheit, Güte und Schönheit, folglich auch an der sich abhebenden und bleibenden Weisheit der prägenden Rechtgläubigkeit der katholischen Kirche.

Der katholische Dichter John Dryden († 1700) beschrieb einmal die Poesie Geoffrey Chaucers († 1400) dankbar als Darstellung »Goddes good foison« – der Überfülle Gottes. Gleichermaßen verhält es sich mit Hilaire Bellocs seltener und anhaltender Überfülle und seinem freimütigen katholischen Geist. Möge sein brillantes und an vielen Stellen von ritterlichem Geist zeugendes Buch nun auch zahlreiche deutschsprachige Leser erreichen und zutiefst berühren.

EINLEITUNG

 

Die Häresie

 

 

Was ist eine Häresie und worin besteht ihre historische Bedeutung?

Wie die meisten modernen Begriffe, wird »Häresie« sowohl in vager, als auch in mannigfaltiger Bedeutung verwendet. Er wird vage gebraucht, da dem modernen Geist die Präzision von Gedanken genauso zuwider ist, wie er entzückt ist von der Präzision in der Vermessung. Er wird mannigfaltig gebraucht, und je nachdem, wer ihn gebraucht, kann er für eins von vielen Dingen stehen.

Heute impliziert das Wort »Häresie« für die Menschen (die die englische Sprache verwenden) längst verflossene und vergessene Querelen, ein altes Vorurteil gegen rationale Auseinandersetzungen. Der Häresie wird demzufolge keine zeitgenössische Bedeutung beigemessen. Das Interesse daran ist tot, denn sie behandelt eine Materie, die niemand mehr ernst nimmt. Man hat Verständnis, wenn jemand sich aus archäologischer Neugier für eine Häresie interessiert. Sagt er aber, sie habe eine große Wirkung auf die Geschichte gehabt und sei auch heute von Bedeutung, so wird er schwerlich verstanden werden.

Trotzdem ist das Thema der Häresie im Allgemeinen von höchster Wichtigkeit für den Einzelnen und die Gesellschaft, und die Häresie in ihrer besonderen Bedeutung (nämlich die der Häresie in der christlichen Lehre) ist von besonderem Interesse für jeden, der Europa verstehen will: den Charakter Europas und die Geschichte Europas. Denn diese Geschichte ist in ihrer Gesamtheit, seit dem Auftritt der christlichen Religion, eine Geschichte des Ringens und des Wandels, denen vorwiegend Verschiedenartigkeiten in der religiösen Lehre vorausgehen und den Widerstreit oft, wenn nicht immer, verursachen, aber auf jeden Fall immer damit einhergehen. Anders gesagt, ist »die christliche Häresie« ein spezieller Gegenstand von höchster Wichtigkeit zum Verständnis der europäischen Geschichte, da sie, gemeinsam mit der christlichen Orthodoxie, ständiger Begleiter und Akteur des europäischen Lebens ist. Zuerst müssen wir mit einer Definition beginnen, obgleich das Definieren eine geistige Anstrengung verlangt und daher abstößt.

Häresie ist die Verzerrung eines kompletten und selbstständigen Systems durch die Einführung einer neuartigen Leugnung eines seiner wesentlichsten Teile.

Mit dem »kompletten und selbstständigen System« meinen wir irgendein System von Lehrsätzen in der Physik oder Mathematik oder wo auch immer, in dem die verschiedenen Teile kohärent sind und sich gegenseitig stützen.

Zum Beispiel sind die alten Grundsätze der Physik, die oft die Newtonschen Gesetze genannt werden, da Newton sie am besten definiert hat, ein System dieser Art. Die verschiedenen Dinge, die darin über das Verhalten von Materie geltend gemacht werden, vor allem das Gesetz der Gravitation, sind keine isolierten Behauptungen, bei der jede einzelne nach Gutdünken zurückgenommen werden könnte, ohne den Rest durcheinanderzubringen. Sie alle sind Teil einer Konzeption, einer Einheit, und zwar dergestalt, dass ein Teil zu verändern hieße, das ganze System aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Ein anderes Beispiel eines ähnlichen Systems ist unsere ebene Geometrie, ererbt von den Griechen und von denjenigen »euklidisch« genannt, die denken (oder hoffen) einer neuen Geometrie habhaft geworden zu sein. Jeder Lehrsatz unserer ebenen Geometrie – dass die inneren Winkel eines ebenen Dreiecks in Summe zwei rechte Winkel ergeben, dass der Winkel in einem Halbkreis ein rechter Winkel ist usw. – wird nicht nur durch jeden anderen Lehrsatz in diesem System aufrechterhalten, sondern stützt auch gleichzeitig jedes andere Teilstück des Ganzen.

Häresie bedeutet also die Verzerrung eines Systems durch »Ausnahme«, durch das »Auswählen« eines Teils der Struktur2, und impliziert, dass das System entstellt wird durch die Wegnahme eines Teiles, die Leugnung eines Teiles und das Zurücklassen einer Leerstelle oder die Füllung derselben mit neuen Behauptungen. So wurde beispielsweise im 19. Jahrhundert eine Methode der Textkritik entwickelt, um die Entstehungszeit eines antiken Dokumentes zu ermitteln. Eines der Prinzipien dieser Methode besteht darin, dass jede Aussage über das Wunderbare notwendig falsch sei. »Wenn man in irgendeinem Dokument ein Wunder findet, für das der mutmaßliche Autor sich verbürgt, hat man das Recht zur Schlussfolgerung«, (so sagen die Textkritiker des 19. Jahrhunderts wie aus einem Munde), »dass das Dokument nicht zeitgenössisch ist – es stammt nicht aus der Zeit, aus der es behauptete, zu stammen.« Nun tritt ein neuer und origineller Kritiker auf, der sagt: »Ich stimme dem nicht zu. Ich denke, dass Wunder geschehen und ich denke außerdem, dass Leute lügen.« Jemand, der sich in solcher Weise an einer Diskussion beteiligt, ist in Bezug auf dieses bestimmte orthodoxe System ein Häretiker. Sobald man diese Ausnahme gewährt, wird eine Reihe von sicheren Negationen unsicher.

Man war sich z. B. sicher, dass die Biographie des hl. Martin von Tours, welche angab, von einem zeitgenössischen Zeugen zu stammen, wegen des Wunders, das es erzählte, tatsächlich nicht von einem zeitgenössischen Zeugen verfasst wurde. Wenn man aber das neue Prinzip gelten lässt, könnte es schließlich doch zeitgenössisch sein. Daher könnte etwas, das darin bezeugt wurde und was zwar in keiner Weise mirakulös, jedoch in keinem anderen Dokument enthalten ist, als historisch angenommen werden.

Man liest in der Biographie eines Thaumaturgen, dass er in der Basilika von Vienne 500 n. Chr. einen Mann von den Toten auferweckte. Die orthodoxe Schule der Kritik würde sagen, dass die Geschichte offensichtlich falsch, da mirakulös sei, und sie keinen Beweis für die Existenz einer Basilika in Vienne zu jener Zeit darstelle. Aber unser Häretiker, der den orthodoxen Kanon der Kritik bestreitet, sagt: »Mir scheint, dass der Biograph des Thaumaturgen womöglich Lügen verbreitete, aber er hätte die Basilika und das Datum nicht erwähnt, wenn seine Zeitgenossen nicht genauso gut wie er gewusst hätten, dass es zu dieser Zeit eine Basilika in Vienne gab. Eine Unwahrheit setzt nicht die universale Unwahrheit in einem Erzähler voraus.« Es mag sogar ein noch keckerer Häretiker daherkommen, der sagen würde: »Die Passage ist nicht nur ein völlig ausreichender Beweis für die Existenz einer Basilika in Vienne im Jahr 500 n. Chr., sondern ich halte es auch für möglich, dass der Mann von den Toten auferweckt wurde.« Folgen Sie einem der beiden Kritiker, bringen Sie das ganze Prüfungsverfahren durcheinander, mit dem in jüngster Zeit die wahre Geschichte von der falschen unterschieden wurde.

Die pauschale Leugnung eines Systems ist keine Häresie und hat auch nicht die schöpferische Kraft einer Häresie. Es ist ein Wesensbestandteil der Häresie, dass sie einen großen Teil der Struktur, die sie angreift, intakt lässt. Aus diesem Grund kann sie Gläubige anziehen und weiterhin deren Leben beeinflussen, indem sie sie von ihren ursprünglichen Eigenarten wegführt. Daher wird von Häresien gesagt, dass sie »durch die Wahrheiten, die sie beibehalten, überdauern.«

Es ist anzumerken, dass es für den Wert der Häresie, als Teilbereich historischer Studien, gleichgültig ist, ob das gesamte derart angegriffene System wahr oder falsch ist. Was uns beschäftigt, ist die hochinteressante Wahrheit, dass nämlich die Häresie ein neues, eigenständiges Leben hervorbringt und die Gesellschaft, die sie angreift, grundlegend beeinflusst. Der Grund dafür, dass Menschen Häresien bekämpfen, ist nicht nur oder prinzipiell Konservatismus – eine Hingabe an die Routine, eine Abneigung gegen eine Störung in ihren Denkgewohnheiten –, es ist vielmehr die Auffassung, dass die Häresie, insofern sie an Boden gewinnt, eine Lebensart und einen gesellschaftlichen Charakter hervorbringen wird, der mit der Lebensart und dem gesellschaftlichen Charakter, den das alte orthodoxe System hervorgebracht hat, im Streit steht, sie reizt und vielleicht tödlich für sie ist. So viel zur allgemeinen Bedeutung und zur Wichtigkeit des bedeutungsschwangeren Wortes »Häresie.«

Ihre besondere Bedeutung (die Bedeutung, die in diesem Buch gebraucht wird) liegt in der Beschädigung des kompletten Systems der christlichen Religion durch Ausnahmen.

Zum Beispiel ist die Aussage, dass die individuelle Seele unsterblich ist, dass also das persönliche Bewusstsein den physischen Tod überdauert, ein wesentlicher Bestandteil dieser Religion (auch wenn es nur ein Teil davon ist). Wenn Leute das glauben, betrachten sie die Welt und sich selbst auf eine bestimmte Weise und handeln auf eine bestimmte Weise und sind Leute einer bestimmten Art. Wenn sie diese eine Lehre ausnehmen, d. h. sie herausschneiden, dann halten sie womöglich an allem anderen fest, aber das System wurde verändert, die Lebensweise und der Charakter und alles Übrige wandelt sich. Jemand, der sich sicher ist, dass er endgültig stirbt und es darüber hinaus nichts weiter gibt, mag womöglich daran glauben, dass Jesus von Nazareth Wahrer Gott von Wahrem Gott ist, dass Gott dreifaltig ist, dass die Inkarnation von einer Jungfrauengeburt begleitet war, dass Brot und Wein durch eine bestimmte Formel verwandelt werden; er mag eine große Zahl von christlichen Gebeten rezitieren und ausgewählte christliche Vorbilder bewundern und imitieren, aber dennoch ist er ein ganz anderer Mensch als derjenige, der die Unsterblichkeit für selbstverständlich nimmt.

Da die Häresie in diesem bestimmten Sinn (die Leugnung einer anerkannten christlichen Lehre) den Einzelnen derart beeinflusst, beeinflusst sie die gesamte Gesellschaft. Und wenn man eine Gesellschaft untersucht, die durch eine bestimmte Religion geformt wurde, dann beschäftigt man sich notwendigerweise im höchsten Maße mit der Verzerrung oder Abnahme dieser Religion. Darin besteht das historische Interesse an der Häresie. Deswegen kann niemand, der die Entstehung und Veränderung Europas verstehen will, die Häresie als etwas Unwichtiges beiseiteschieben. Die Geistlichen, die so heftig über die Feinheiten der Definitionen auf den östlichen Konzilien gestritten haben, hatten wesentlich mehr Sinn für die Geschichte und standen mehr auf dem Boden der Tatsachen als die französischen Skeptiker, die den englischen Lesern durch ihren Jünger Gibbon3 bekannt sind.

Jemand, der z. B. denkt, dass der Arianismus eine bloße Diskussion über Begrifflichkeiten war, begreift nicht, dass eine arianische Welt vielmehr wie eine mohammedanische Welt geworden wäre, anstatt so, wie die europäische Welt tatsächlich geworden ist. Er sieht den Tatsachen wesentlich weniger ins Auge als Athanasius, als er die höchste Wichtigkeit dieses Lehrsatzes betonte. Jene lokale Synode von Paris, die den Ausschlag zugunsten der trinitarischen Position gab, hatte eine größere Wirkung als eine entscheidende Schlacht, und das nicht zu verstehen, hieße, ein armseliger Historiker zu sein.

Es ist keine Entgegnung auf diese These, wenn man sagt, dass sowohl der Orthodoxe als auch der Häretiker unter Wahnvorstellungen litten, dass sie über Dinge diskutierten, die keine echte Existenz hätten und der Debatte gar nicht wert gewesen wären. Es ist jedoch so, dass die Lehre (und ihre Leugnung) formgebend war für das Wesen der Menschen, und das derart geformte Wesen bestimmte die Zukunft der Gesellschaft, die aus diesen Menschen bestand.

In diesem Zusammenhang gibt es noch eine andere Erwägung, die in unserer Zeit viel zu oft vernachlässigt wird. Nämlich, dass die skeptische Attitüde den transzendenten Dingen gegenüber für die Masse der Menschen keinen Bestand haben kann. Viele verzweifeln daran, dass dem so ist. Sie beklagen die verabscheuungswürdige Schwäche der Menschheit, die sie zur Annahme irgendeiner Philosophie oder Religion nötigt, um überhaupt weiterleben zu können. Und doch handelt es sich dabei um eine positive und universale Erfahrung.

Das lässt sich nicht leugnen. Es ist eine reine Tatsache. Die menschliche Gesellschaft kann ohne irgendeinen Glauben nicht fortbestehen, denn ein Kodex und ein Charakter sind das Produkt eines Glaubens. Tatsächlich können Einzelne, insbesondere diejenigen, die ein behütetes Leben führen, oft ohne ein Mindestmaß an Sicherheit oder Gepflogenheit bezüglich der transzendenten Dinge weiterleben. Aber eine organische Menschenmasse kann das nicht. Deshalb erhält eine ganze Religion das moderne England, die Religion des Patriotismus. Wird sie im Menschen durch irgendeine häretische Entwicklung zerstört, indem die Lehre »ausgenommen« wird, dass die vorzüglichste Pflicht eines Menschen die der politischen Gemeinschaft gegenüber ist, der er angehört – und England, wie wir es kennen, würde langsam aufhören zu existieren und zu irgendetwas anderem werden.

Die Häresie ist also kein versteinertes Thema. Es ist ein Thema von dauerhaftem und überlebenswichtigem Interesse für die Menschheit, da es mit dem Thema der Religion verbunden ist, ohne die, in welcher Form auch immer, keine menschliche Gesellschaft jemals überdauert hat oder auch nur überdauern könnte. Diejenigen, die denken, dass der Gegenstand der Häresie vernachlässigt werden kann, da sich der Begriff für sie altmodisch anhört und da er mit einer Anzahl längst aufgegebener Dispute verbunden ist, machen den üblichen Fehler, in Worten statt in Ideen zu denken. Es ist der gleiche Fehler, der die amerikanische »Republik« der englischen »Monarchie« gegenüberstellt, obwohl natürlich die Regierung der Vereinigten Staaten in ihrem Wesen monarchisch ist und die Regierung Englands republikanisch und aristokratisch. Durch einen ungenauen Gebrauch von Wörtern entstehen endlose Missverständnisse. Wenn wir aber die bloße Tatsache im Auge behalten, dass ein Staat, eine menschliche Institution oder eine allgemeine Kultur durch ein Moralgefüge inspiriert sein muss und es kein Moralgefüge ohne Lehre geben kann, und wir darin übereinstimmen, jedes konsistente Gefüge von Moral und Lehren eine Religion zu nennen, dann wird die Wichtigkeit der Häresie als wissenschaftlicher Gegenstand deutlich werden. Denn Häresie meint nichts anderes als »die Anregung von Neuerungen in der Religion durch die Herausnahme gewisser Punkte aus der angenommen Religion oder die Leugnung derselben oder Ersetzung durch andere, bis dahin unbekannte Lehrsätze.«

Das Studium der sukzessiven christlichen Häresien, ihrer Schicksale und Charaktere, ist von besonderem Interesse für alle von uns, die der europäischen oder christlichen Kultur zugehörig sind. Der Grund dafür sollte selbsterklärend sein. Unsere Kultur wurde von einer Religion geschaffen. Veränderungen oder Abweichungen von dieser Religion haben notwendigerweise Einfluss auf unsere Zivilisation in ihrer Gesamtheit.

Die ganze Geschichte Europas, seiner verschiedenen Reiche und Staaten und Körperschaften während der letzten sechzehn Jahrhunderte, hing hauptsächlich von den aufeinanderfolgenden Häresien ab, die in der christlichen Welt erwuchsen.

Das, was wir heute sind, sind wir hauptsächlich deshalb, weil letztlich keine dieser Häresien unsere angestammte Religion überwand. Aber wir sind auch das, was wir sind, weil jede von ihnen unsere Väter über Generationen hinweg zutiefst beeinflusst hat. Jede Häresie ließ Spuren zurück, und eine von ihnen, die große mohammedanische Bewegung, besteht bis auf den heutigen Tag in dogmatischer Kraft fort und herrscht in einem großen Teil der Gebiete vor, die einmal ganz die unsrigen waren.

Würde man alle Häresien katalogisieren, die die ganze lange Geschichte der Christenheit kennzeichnen, dann würde die Liste beinahe endlos erscheinen. Sie teilen und unterteilen sich, es gibt sie in jeder Größe von lokaler bis allgemeiner Ausdehnung. Ihre Existenzen erstrecken sich über den Zeitraum einer Generation bis hin zu Jahrhunderten. Die beste Möglichkeit zum Verständnis dieses Themas besteht darin, einige prominente Beispiele auszuwählen und durch das Studium derselben zu erkennen, von welch enormer Tragweite die Häresie sein kann.

Solch eine Untersuchung wird durch die Tatsache erleichtert, dass unsere Väter die Häresie als das erkannten, was sie war, und ihr in jedem Fall einen bestimmten Namen gaben, sie einer Definition und dadurch einer bestimmten Grenze unterwarfen. Durch eine solche Definition wird ihre Analyse erleichtert.

Unglücklicherweise ging in der modernen Welt die Gepflogenheit einer solchen Definition verloren. Das Wort »Häresie« suggeriert nun etwas Sonderbares und Altmodisches, es wird nicht länger auf Fälle angewendet, die eindeutige Häresien sind und als solche behandelt werden sollten.

Zum Beispiel treibt heute eine Leugnung dessen sein Unwesen, was Theologen dominium nennen, das Recht auf Eigentum. Es ist eine verbreitete Ansicht, dass Gesetze, die den privaten Besitz von Land und Kapital erlauben, unmoralisch seien; dass der Boden aller produktiven Güter Gemeingut sein solle und dass jedwedes System, welches die Kontrolle darüber Individuen oder Familien überlässt, falsch sei und daher angegriffen und zerstört werden müsse.

Diese Lehre, die schon sehr stark unter uns vertreten ist und an Stärke und Anhängerzahl gewinnt, nennen wir nicht Häresie. Wir sehen sie nur als ein politisches oder ökonomisches System, und wenn wir über den Kommunismus sprechen, suggeriert unser Vokabular nichts Theologisches. Das liegt jedoch nur daran, dass wir vergessen haben, was das Wort »theologisch« bedeutet. Der Kommunismus ist ebenso sehr eine Häresie wie der Manichäismus. Es ist das Herausnehmen eines bestimmten Teiles aus dem moralischen System, demgemäß wir gelebt haben, die Verleugnung dieses Teiles und der Versuch, ihn durch eine Neuerfindung zu ersetzen. Der Kommunist behält viel vom christlichen System bei – die Gleichheit der Menschen, das Recht auf Leben usw. – er leugnet nur einen Teil.

Das Gleiche gilt bezüglich des Angriffes auf die Unauflöslichkeit der Ehe. Niemand nennt die moderne Praxis und Bejahung der Scheidung eine Häresie, und doch ist sie eine. Denn ihr maßgebliches Charakteristikum ist die Leugnung der christlichen Ehelehre und deren Ersetzung durch eine andere Lehre, nämlich der, dass die Ehe nichts anderes als ein Vertrag wäre, und zwar ein kündbarer. Ebenso handelt es sich dabei um Häresie, eine »Änderung durch Herausnahme«, zu behaupten, dass nichts über die göttlichen Dinge in Erfahrung gebracht werden könne, dass alles schiere Ansichtssache sei und nur diejenigen Dinge, derer man sich durch die Evidenz der Sinne und des Experiments vergewissert, unsere Leitsterne in der Regelung menschlicher Angelegenheiten sein sollten. Jene, die so denken, könnten vieles aus der christlichen Moral beibehalten und meistens tun sie das auch. Aber da sie die Gewissheit des Autoritätsbeweises leugnen, die ein Teil der christlichen Epistemologie ist, sind sie häretisch. Es ist keine Häresie zu sagen, dass die Wirklichkeit durch das Experiment, durch die Sinneseindrücke und durch Deduktion erreicht werden kann. Es ist eine Häresie zu behaupten, dass durch keine andere Quelle zur Wirklichkeit gelangt werden kann.

Wir leben heute unter einem Regime der Häresie, das nur deshalb von früheren häretischen Perioden unterschieden werden kann, weil der häretische Geist allgemein wurde und in verschiedenen Formen zu Tage tritt.

Man wird sehen, dass ich auf den folgenden Seiten vom »modernen Angriff« gesprochen habe, denn einer Sache muss zunächst ein Name gegeben werden, bevor man überhaupt über sie diskutieren kann. Aber die Flut, die uns zu überwältigen droht, ist so diffus, dass ihr jeder seinen eigenen Namen geben muss, bislang gibt es keinen allgemeingültigen Begriff.

Vielleicht kommt es dazu, aber erst dann, wenn der Konflikt zwischen diesem modernen antichristlichen Geist und der beständigen Tradition des Glaubens sich durch Verfolgung zuspitzt und die Tradition den Sieg davonträgt oder untergeht. Womöglich wird man in diesem Geist sogar den Antichristen sehen.

KAPITEL I

 

Der Plan dieses Buches

 

 

Ich beabsichtige im Folgenden, die Hauptangriffe auf die katholische Kirche zu behandeln, die ihre lange Geschichte kennzeichnen. Mit Ausnahme des Islam und der wirren, aber allgegenwärtigen modernen Attacke, die noch im Gange ist, behandle ich ihr Scheitern sowie die Ursachen ihres Scheiterns. Ich schließe mit einer Erörterung über die Überlebenschancen der Kirche im gegenwärtigen Kampf innerhalb der Zivilisation, die sie selbst geschaffen hat und von der sie nun allgemein im Stich gelassen wird.