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Mia C. Brunner

Mordsklamm

Allgäu-Krimi

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Zum Buch

Bierselig tot Die Brauerei »Baschtl-Bräu« nahe der Starzlachklamm läuft gut, bis der Braumeister am Morgen des 10-jährigen Jubiläumsfestes der Brauerei im Sudkessel eine Leiche entdeckt. Hauptkommissar Florian Forster, der zufällig Gast auf dem Fest ist, übernimmt die Ermittlungen. Wer ist der Tote? Und warum fehlt ihm ein Fuß? Ist der Konkurrenzkampf zwischen den Allgäuer Brauereien wirklich so groß, dass deshalb ein Mensch sterben musste? Auch die Suche nach dem verschwundenen Körperteil stellt den Allgäuer Hauptkommissar vor ein scheinbar unlösbares Problem. Florian Forster ermittelt in alle Richtungen, findet aber weder den fehlenden Fuß noch ein Motiv. Erst als ein zweiter Mord geschieht, begreift er schließlich die Zusammenhänge, die viel weitreichender sind, als anfangs vermutet. Er kommt dem skrupellosen Täter immer näher und gerät schließlich selbst in tödliche Gefahr.

Mia C. Brunner wurde in Wedel in der Nähe von Hamburg geboren. Seit 15 Jahren lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern im Allgäu. Waren es früher nur Kurzgeschichten, die sie für ihre Kinder schrieb, machte sie später ihre ersten Krimierfahrungen mit selbstverfassten Dinnerkrimis, in denen sie ihre Faszination fürs Schreiben und ihre Leidenschaft fürs Kochen verbinden konnte. Nach »Schattenklamm«, »Schonfrist« und »Tödliche Klamm« ist »Mordsklamm« ihr vierter Allgäu-Krimi im Gmeiner-Verlag.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2020

Lektorat: Christine Braun

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Sascha / stock.adobe.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6572-7

 

 

1

Der helle Schein des Vollmondes fiel durch das große Dachfenster auf den frisch polierten Edelstahl, ließ die silbernen Flächen hell aufleuchten und warf mattes Licht in die mitternächtliche Dunkelheit.

Es war fast unerträglich heiß in dem kleinen Nebenraum des großen Gebäudes, in dem sich trotz der geöffneten Fenster die Hitze hielt wie in einer alten Nachtspeicherheizung. Die sommerlichen Rekordtemperaturen hatten Süddeutschland seit ein paar Tagen fest im Griff. Selbst jetzt – Stunden nach dem Sonnenuntergang – war kaum Abkühlung zu spüren.

Hier im Sudhaus der Brauerei, in dem den ganzen Tag über die kochenden Kessel den Bereich in eine Sauna verwandelt hatten, war es besonders schlimm. Der Schweiß lief einem in Rinnsalen von der Stirn, obwohl man sich kaum bewegte. Es nützte überhaupt nichts, sich das feuchte Gesicht mit den Unterarmen abzuwischen. Auch der Rest des Körpers war schweißnass. Die Haare tropften, als wäre man frisch aus der Dusche gekommen. Das T-Shirt klebte am Oberkörper wie eine zweite Haut. Eine Haut, die unangenehm war und aus der man schnell herauswollte.

Die Brauerei lief seit Jahren hervorragend. Von Beginn an konnten der Bierabsatz und die Gewinne stetig und deutlich gesteigert werden. Der kleine Betrieb hatte sich durch besondere und ausgefallene Biere sowie jährliche Brauereifeste in der Region mehr und mehr einen Namen gemacht und sich unter all den größeren und viel älteren Traditionsbetrieben immer besser behauptet. Die Nische, die er inzwischen wirtschaftlich füllte, reichte, um sich zu vergrößern. Aus diesem Grund war der Betrieb vor einem guten Jahr umgezogen. Hier, in dem viel größeren Gebäude, konnte nicht nur die Bierproduktion, sondern auch der Absatzmarkt gesteigert werden. Die Umgebung mit den vielen Gastwirtschaften im nahen Umkreis bot die Chance, noch erfolgreicher zu werden.

Die Brauerei befand sich jetzt in dem ehemaligen Stallgebäude eines alten Bauernhofes in der Nähe der Starzlachklamm im touristisch sehr beliebten Oberallgäu. Sonthofen, Hindelang, Rettenberg und Blaichach waren nur wenige Kilometer entfernt. Der Grünten, der Wächter des Allgäus, der direkt hinter der Brauerei in den Himmel ragte, war wie die umliegenden Orte selbst ein beliebtes Ausflugsziel.

In diesem neuen und funktionalen Betrieb war alles hochmodern. Alle Sud- und Reinigungsprogramme liefen computergesteuert, die Buchhaltung war dank der Software um einiges leichter und mit viel weniger Personal zu bewerkstelligen.

Aus diesem Grund müsste heute eigentlich niemand im Betrieb sein, obwohl der große Sud für das Sommerfest in drei Wochen anstand.

Das zehnjährige Brauereijubiläum in diesem Jahr sollte mit einem ganz besonderen Bier gefeiert werden. Mit einem Bier gebraut zur Sommersonnenwende, und die war heute. Dass außerdem auch der Vollmond am Himmel stand, machte das Bier noch edler. Mit diesen Argumenten würde jede einzelne Flasche zu etwas Ausgefallenem werden und mit Sicherheit reißenden Absatz finden. Die ersten Vorbestellungen waren schon vor Wochen eingegangen. Vor zwei Tagen kamen die Etiketten für diese spezielle Abfüllung von der Druckerei. Jetzt musste nur noch der Sud gelingen, aber da würde es sicher keine Schwierigkeiten geben. Auch der heutige Vorfall würde dem Erfolg dieses Bieres nicht im Wege stehen. Im Gegenteil. Alles lief bisher perfekt, dank der elektronischen Programmierung.

Obwohl alle Prozesse von Maschinen gesteuert wurden und ein Computerprogramm den gesamten Sud ausführte, musste man dennoch manchmal manuell in die Bierherstellung eingreifen. Zum Beispiel dann, wenn dem fast fertigen Gebräu ganz besondere Zutaten beigegeben werden sollten, die das Bier noch ein Quäntchen besser und wertvoller machten.

Der Mann in dem dunkelblauen T-Shirt, das ein Logo der Brauerei auf Brust und Rücken zierte, öffnete das Mannloch am Sudkessel, klappte den runden Deckel weit zur Seite und trat einen Schritt zurück, als heiße Dampfschwaden aus der Öffnung strömten und den Raum in einen nebligen und noch heißeren Hexenkessel verwandelten. Dann hob er den schweren nackten Körper an, der vor seinen Füßen lag, schob ihn Kopf voraus über die Kante und ließ ihn hineingleiten in die warme Maische. Das rotierende Rührwerk und die zischenden Heizkessel im Nebenraum übertönten das platschende Gluckern, als der Körper in die breiige Flüssigkeit tauchte. Lautes Rufen oder Hilfeschreie wären vermutlich ebenfalls in den Umgebungsgeräuschen untergegangen. Doch dazu war es gar nicht gekommen. Er hatte das Überraschungsmoment ausgenutzt, hatte einfach von hinten zugeschlagen, und sein Gegner war umgefallen wie ein schwerer Malzsack.

Da alte Schmutzwäsche nicht in ein frisches Bier gehörte, hatte er sein Opfer entkleidet. Das war unangenehm, aber notwendig.

Ob er letztendlich einen toten oder nur einen bewusstlosen Mann in die Maischepfanne geworfen hatte, wusste er nicht. Doch das machte keinen Unterschied. Jetzt war er auf jeden Fall tot. Und in ein paar Stunden würde er auch noch gut durchgegart sein, wenn der Treber ausgesiebt und die 80 Grad heiße Würze in diesem Gefäß zwei Stunden gekocht hatte.

Was wohl von einem menschlichen Körper übrig bleibt nach dem Kochvorgang und der anschließenden Reinigung mit hochprozentiger heißer Lauge?

Vermutlich nicht sehr viel.

Er schloss zufrieden lächelnd die Luke, drehte den großen Schraubverschluss am Mannloch fest zu und sah noch einmal durch die Glasscheibe in die heiße Maische. Dampfschwaden stiegen auf und bildeten einen dichten, undurchdringbaren Nebel im Gefäß.

Schade. Der Körper war nicht zu sehen.

Vielleicht war er inzwischen untergegangen, vielleicht war er bereits ins Rührwerk geraten. Wer konnte das wissen.

Also hob er die Eisenstange auf, an der Blut und Haare klebten, warf sie zu den anderen Edelstahlteilen in die große, mit Desinfektionsmittel gefüllte Wanne neben der Tür zum Kesselraum und verschüttete großzügig einen laugehaltigen Reiniger auf dem gesamten Boden des Sudhauses. Griffe, Hebel und Glasscheibe polierte er mit einem feuchten Tuch. Dann kontrollierte er zum letzten Mal den Verlauf des Sudprozesses am Computer, quittierte die Störmeldung weg, die sein manueller Eingriff in den Brauprozess ausgelöst hatte, schnappte sich die Kleidung seines Opfers und verließ schließlich zufrieden lächelnd die Brauerei.

Jetzt würde endlich alles besser werden.

Jetzt brach eine andere Zeit an.

Jetzt hatte er endlich das Leben, das ihm schon immer zustand.

Alles lief wieder in geordneten Bahnen.

2

»Ich habe dir doch gleich gesagt, ich gehöre nicht hierher«, bemerkte Paula mürrisch und fächerte sich mit dem kleinen Programmheft etwas Luft zu. Die Temperaturen waren heute fast unerträglich. Die Sonne schien – genau wie in den letzten fünf Tagen – unerbittlich vom wolkenlosen Himmel. Draußen zeigte das Thermometer fast 34 Grad an. Hier drinnen war es nur unwesentlich kühler.

»Alle starren mich an«, jammerte Paula. »Ich sehe einfach nicht aus wie eine dieser Mütter, die zum Jahresabschlussfest ihres Kindes geht. Ich gehöre nicht dazu.«

Jessica sah ihre Freundin zweifelnd an. »Könnte auch daran liegen, dass der Ausschnitt deines Sommerkleids fast bis zum Bauchnabel reicht. Hättest du nicht ausnahmsweise etwas Sittsameres anziehen können? Immerhin ist das hier eine Grundschulveranstaltung und keine Speeddating-Show.«

»Aber dort hätte ich mit diesem Outfit sicher alle Typen bekommen, oder?«, lachte Paula und zwinkerte dem Mann eines entgegenkommenden Elternpaares ungeniert zu, der seinen Blick nicht von ihr lassen konnte, bis er von seiner Frau einen deftigen Hieb mit dem Ellenbogen in die Seite bekam. »Außerdem ist es verdammt heiß heute, da muss man so viel Haut zeigen wie möglich.« Ohne die Menschen in ihrer Umgebung zu beachten, fächerte sich Paula mit dem Programmheft der Theateraufführung wieder hektisch Luft zu, warf den Kopf zurück und seufzte zufrieden. »Ja, das tut gut.«

Einige der umstehenden Gäste schauten etwas pikiert zu Paula hinüber. Eine ältere Lehrerin rümpfte missmutig die Nase und sah Jessicas Freundin tadelnd an.

»Hoffentlich kommt Florian ausnahmsweise einmal rechtzeitig«, sagte Jessica jetzt mehr zu sich selbst. Sie sah sich suchend um. »Svenja hat sich so gewünscht, dass auch er ihren Auftritt sieht. Sie wäre sehr enttäuscht, wenn er es nicht schafft.«

Es war Svenjas letztes Jahr auf der Gustav-Stresemann-Grundschule. Nach den Sommerferien würde sie das Gymnasium besuchen und ihr kleiner Bruder Tobias nach mehreren Jahren im Kindergarten hier in dieser Grundschule eingeschult werden.

Wie die Zeit verging.

Jetzt lebten sie alle schon drei Jahre im Allgäu. Aber waren sie wirklich hier angekommen? Für Svenja und Tobias – die zwei Kinder ihrer Schwester Susanne, die bei Jessica lebten – konnte sie die Frage eindeutig beantworten. Die beiden liebten Kempten, hatten viele Freunde gefunden und erinnerten sich kaum an ihr altes Leben in Hamburg. Jessica selbst allerdings vermisste ihre alte Heimat und ertappte sich in letzter Zeit immer häufiger bei dem Gedanken, wieder in den Norden zu ziehen. Zum Schulwechsel beziehungsweise Schuleintritt der Kinder wäre es eigentlich ideal. Wer weiß, wann es einen ähnlich perfekten Zeitpunkt geben würde.

»Hi, Jessy.« Florian stand plötzlich hinter den beiden Frauen und legte den Arm um die Schultern seiner Freundin. »Hi, Paula. Himmelherrgott, Paula«, jetzt lachte er laut. »Bei deinem Anblick fällt es verdammt schwer, dir anständig in die Augen zu schauen.«

»Danke für diese netten Worte«, trällerte Paula fröhlich. »Ich glaube, ich passe doch ganz gut hierher. Ich mische das prüde Pack ein bisschen auf. Dieses stocksteife Gehabe tut niemandem gut.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in der Menschenmenge vor dem großen Buffet.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, wandte sich Florian an Jessica. Diese antwortete nicht, und Florian spürte ein leichtes Unbehagen bei ihr. Deshalb hakte er vorerst nicht nach, sondern fragte stattdessen: »Wo sind die Kinder?«

»Svenja ist hinter der Bühne und zieht sich für die Vorstellung um, Tobi ist mit meinem Vater draußen auf dem Schulhof.«

Florian sah sie durchdringend an. »Irgendetwas ist mit dir.«

»So ein Quatsch«, winkte Jessica gespielt fröhlich ab. »Svenja wird sich freuen, dass du es noch zu ihrer Aufführung geschafft hast. Wie war der Vortrag?«

»Ich hab es überstanden«, sagte Florian und rieb sich den Nacken. »Ich glaube immer noch nicht daran, dass diese Präventionsveranstaltungen irgendetwas bringen.«

Warum ausgerechnet er den Infovormittag in der 9. Klasse der Hauptschule leiten musste, war ihm ein Rätsel. Normalerweise wurden ältere Kollegen oder pensionierte Beamte geschickt. Außerdem hatte er den Glauben an den Erfolg solcher Veranstaltungen verloren, seit er vor Jahren einer Gruppe Jugendlicher die Auswirkungen von Alkohol und diversen Drogen zu verdeutlichen versucht hatte und nur zwei Jahre später einer dieser jungen Menschen an einer Überdosis gestorben war. Vorträge konnten rein gar nichts verhindern – davon war Florian seither überzeugt.

»Man kann den jungen Menschen nie genug einbläuen, was passiert, wenn sie Straftaten begehen«, sagte Jessica, wirkte aber bereits wieder abwesend, denn sie sah sich suchend nach ihrem Vater um. In ein paar Minuten begann das Theaterstück. Sie sollten sich langsam einen Platz suchen.

»Du musst endlich Nägel mit Köpfen machen, Florian.« Herbert Grothe sah seiner Tochter nach, die mit Paula und seinem Enkelsohn Tobias die Turnhalle durch die große Doppeltür verließ, als die Theatergruppe nach einer halben Stunde Aufführung eine kleine Pause einlegte. Jetzt war er mit Florian allein.

»Was?« Der Freund seiner Tochter klang abwesend.

»Ich weiß, ich sollte mich da nicht einmischen«, begann Jessicas Vater und tippte Florian vorsorglich an den Oberarm, damit dieser ihm endlich seine volle Aufmerksamkeit schenkte. »Gedenkst du meine Tochter eigentlich irgendwann zu heiraten? Ihr seid schon mehrere Jahre zusammen.«

Florian sah verwirrt zu Herbert hinüber. »Das stimmt nicht«, erwiderte er ungehalten. »Mehrere Jahre sind das noch lange nicht. Wir waren zwischendurch öfter getrennt. Eine Zeit lang dachte ich, sie würde sich im Allgäu nicht richtig einleben.« Er schüttelte ungläubig den Kopf und lächelte dann. »Ich bin deshalb heilfroh, dass sie mir bisher nicht weggelaufen ist.«

»Dann weißt du also, dass sie seit ein paar Wochen eine Wohnung in Hamburg sucht?«, fragte Herbert überrascht, erkannte aber an dem entsetzten Ausdruck auf Florians Gesicht, dass dieser die Information heute zum ersten Mal hörte. »Aber sie hat noch nichts entschieden«, versuchte er deshalb schnell zu beschwichtigen. »Und ich glaube ehrlich gesagt auch nicht, dass sie es wirklich macht. Nach Hamburg umziehen, meine ich.« Herbert seufzte verzweifelt.

»Sie tut was?«, brachte Florian nach einigen Sekunden schließlich heraus. »Das ist ein Scherz, oder?«

»Wenn sie … ein wenig mehr … Sicherheit hätte«, versuchte Jessicas Vater es erneut, wurde aber von seinem Wunschschwiegersohn unterbrochen.

»Jessica wohnt in meinem Haus. Sie hat mein Versprechen, dass ich immer für sie da bin. Die beiden Kinder liebe ich, als wären es meine eigenen. Jessica weiß das. Wir gehören zusammen. Und sie hat einen Ring von mir, mit dem ich ihr einen Heiratsantrag gemacht habe. Indirekt zumindest«, fügte er leise hinzu. »Sie trägt ihn aber nicht. Ich akzeptiere, dass sie nicht heiraten will, doch dass sie hinter meinem Rücken ihren Abgang plant, ist nicht fair.«

Er stand auf, bahnte sich einen Weg durch die Sitzreihe zum Mittelgang und verließ die Turnhalle, ohne sich zu verabschieden.

3

Die einzige Information, die sie bekommen hatten, bevor sie sich auf den Weg nach Missen machten, war die eines Leichenfundes in einem Pensionszimmer eines kleinen Hotels.

Hauptkommissar Detlef Kern und Hauptkommissarin Jessica Grothe trafen etwa zeitgleich mit der Spurensicherung am Tatort ein, stiegen die Stufen zum ersten Stock hinauf und folgten dem Fingerzeig des Hotelbesitzers, der mit versteinerter Miene vermied, sie direkt anzusehen, und immer zwei Schritte hinter den beiden Ermittlern blieb. Ein toter Gast machte sich nicht besonders gut und konnte durchaus den einen oder anderen Pensionsgast dazu veranlassen, den Urlaub in diesem Hotel sofort abzubrechen.

»Wann haben Sie den Mann gefunden?«, fragte Jessica den Hotelbesitzer, während sie versuchte, mit ihrem Kollegen Kern Schritt zu halten. Der lange Flur, durch den sie gingen, schien frisch renoviert. Es roch nach Wandfarbe, und der dunkle Teppichboden sah aus, als wäre er erst kürzlich verlegt worden.

»Der Herr Guggenmoos und seine Frau sind seit fast 14 Tagen unsere Gäste. Sie kommen seit 20 Jahren regelmäßig ins Allgäu und wohnen immer in unserem kleinen Hotel. Sehr nette Leute«, berichtete der Hotelier und blieb abrupt stehen, als Hauptkommissar Kern die verschlossene Zimmertür als Erster erreichte und die Hand auf die Klinke legte. »Die beiden haben gestern nicht am Frühstücksbuffet teilgenommen, was ungewöhnlich war«, sagte er, und seine Stimme wurde bei jedem Wort leiser. »Als sie heute wieder nicht im Speisesaal erschienen, haben wir uns Sorgen gemacht und nach ihnen gesehen.« Er warf einen Blick auf den älteren Hauptkommissar, wandte sich dann ab, lehnte sich rückwärts an die Wand und starrte auf den Boden.

Jessica sah, wie Detlef Kern in das Zimmer schaute, schluckte und sich mehrfach bekreuzigte, bevor er einen Schritt zurückging und sich mit beiden Händen durch sein schütteres Haar fuhr.

»Himmelherrgott«, stöhnte er. »Das ist ja grauenvoll.«

Für das, was Jessica empfand, als sie selbst wenig später das Zimmer betrat, hatte sie keine Worte. Entsetzen und Abscheu trafen es wohl am ehesten.

Der Tote auf dem Bett war in typisch Allgäuer Tracht gekleidet, doch fehlten die Schuhe. Dafür trug er einen Hut mit imposantem Gamsbart. Sein Alter schätzte Jessica auf Mitte bis Ende 60.

Auf dem Weg hierher hatte sie mit ihrem Kollegen Kern über mögliche Todesursachen gemutmaßt. Beide waren zu dem Schluss gekommen, dass ihnen ein natürlicher Tod am liebsten wäre. Wenn er einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten hätte – wenn kein Fremdverschulden vorlag. Aber bei diesem Anblick gab es absolut keinen Zweifel: Das war ein brutaler Mord.

Der Körper des Mannes war übersät mit Schnittwunden. Das ehemals weiße Trachtenhemd hing in Fetzen herunter und war vollgesogen von dunkelroten, inzwischen getrockneten Blutflecken. Nur der breite Mittelsteg der Hosenträger über seiner Brust war nahezu unversehrt und das gestickte Edelweiß darauf hell und sauber. Selbst die typisch grünen Verzierungen auf der dunklen Lederhose konnte man kaum noch erkennen, denn die gesamte Hose war voller Blut und wies trotz des festen Leders einige Schnitte auf. Es wirkte, als hätte der Mann mit einem übergroßen Bären gekämpft, bevor er starb. Doch dann wären die Schnitte nicht so präzise platziert worden. Den gesamten Körper von Herrn Guggenmoos zierten blutige Kreuze – viele Schnitte in seiner Haut, manche kurz und oberflächlich, andere tief bis auf die Knochen.

Der Oberkörper lehnte aufrecht an dem breiten, mit Tierschnitzereien versehenen Kopfteil des Bettes, fixiert vermutlich mit der Tatwaffe. Die breite, lange Klinge eines großen Dolches war tief in seine Kehle gerammt worden, hinten wieder ausgetreten und hatte sich in das Holz gebohrt, genau an der Stelle, an der neben dem Kopf die Schnitzerei eines röhrenden Hirsches hervorschaute. Es sah ein wenig so aus, als würde der durchbohrte Hirsch vor Schmerz stumm aufschreien.

»Scheiße, was ist denn mit dem passiert?« Der Rechtsmediziner Erwin Buchmann erschien in der Zimmertür und blieb beim Anblick der Leiche kurz stehen. Als er sich gefasst hatte, trat er neben Jessica, klopfte ihr zur Begrüßung aufmunternd auf die Schulter und nickte Hauptkommissar Kern zu.

»Der Mann heißt Hans Guggenmoos«, bestätigte Jessica, als sie seinen Ausweis aus der Geldbörse gezogen hatte, die auf der Anrichte unter dem Fenster lag. »Wo ist seine Frau? Der Hotelchef sagte doch, die beiden hätten hier gemeinsam Urlaub gemacht.«

Hauptkommissar Kern zuckte mit den Schultern. In seiner gesamten Polizeilaufbahn hatte er nie eine derart übel zugerichtete Leiche gesehen. Das Schlimmste, was ihm je untergekommen war, war eine mehrere Wochen alte Wasserleiche. Und das lag über 20 Jahre zurück.

»Ist der Mann schon lange tot, Ewe?«, wandte sich die Hauptkommissarin an den Rechtsmediziner, der die Leiche bereits untersuchte.

»Auf jeden Fall länger als einen Tag. Ich würde sagen seit zwei Tagen. Das Blut ist eingetrocknet. Wahrscheinlich kam er vorgestern im Laufe des Tages zu Tode«, überlegte er. »Aber das ist nur grob geschätzt, Jessica. Nimm mich bitte nicht zu wörtlich, bevor ich ihn genauer untersucht habe.«

Jessica nickte.

»Wir sollten das Zimmermädchen und die anderen Gäste befragen, Detlef«, schlug sie vor. »Gibt es hier im Hotel Überwachungskameras?« Als keiner antwortete, ging sie zur Tür, schaute in den Gang und richtete ihre Frage an den Hotelier, der immer noch an die Wand gelehnt etwa drei Meter von der Tür stand. Dieser schüttelte mechanisch den Kopf.

»Meinst du, die Frau ist entführt worden?«, wandte sich Jessica erneut an ihren Kollegen.

Doch Kern, der nach wie vor gebannt auf die Leiche starrte, hob erneut die Schultern.

»Vielleicht war sie es«, sagte er schließlich. »Vielleicht hat Frau Guggenmoos ihren Mann umgebracht und ist jetzt untergetaucht. Wir sollten sie zur Fahndung ausschreiben. Schau zusammen mit dem Hotelier, ob du im Handy des Toten ein Foto seiner Frau findest, das wir verwenden können. Er weiß, wie sie aussieht.« Jessica sah sich suchend um, fand aber kein Handy. Vielleicht war es in einer Schublade.

»Willst du behaupten, dass die Ehefrau die Mörderin ist, Detlef? Das ist doch unmöglich, oder Ewe?«, fragte Jessica und winkte einen Kollegen der Spurensicherung heran, der ihr die Schubladen der Anrichte unter dem Fenster öffnen sollte. Im Gegensatz zu ihr trug er Latexhandschuhe.

Der Rechtsmediziner Erwin Buchmann sah von dem toten Herrn Guggenmoos auf und Jessica direkt in die Augen. »Du meinst, weil das Festtackern am Bettgestell mehr Kraft benötigt, als eine schwache Frau aufbringen kann?« Er grinste. »Sie hätte einen Vorschlaghammer verwenden können, um den Dolch durch Kehle und Holz zu treiben. Die Klinge ist fast fünf Millimeter dick, die hätte sich dabei nicht verbogen. Im Übrigen hätte vermutlich auch ein männlicher Täter Hilfsmittel gebraucht. Das Bett ist aus tropischem Hartholz. Da braucht man viel Wumms, um etwas darin zu versenken.«

»Verstehe«, murmelte Jessica. »Ich glaube das trotzdem nicht!«

Die zwei Schubladen waren leer.

»Wenn wir die Frau gefunden haben, wissen wir mehr«, bemerkte Kern, drehte sich um und verließ das Hotelzimmer. »Ich befrage das Personal«, rief er noch aus dem Flur. »Du treibst ein Foto der Frau auf und leitest die Fahndung ein.«

»War das Durchstoßen der Kehle die Todesursache?«, wollte Jessica vom Rechtsmediziner wissen, während sie suchend durch das Zimmer streifte, ohne dabei die anwesenden Beamten der Spurensicherung zu stören. In der Brieftasche des Ermordeten hatte sie kein Foto der Ehefrau gefunden. Wenn kein Handy mit Fotos auftauchte, musste sie eine Personenabfrage in Hamburg machen, denn das Ehepaar lebte laut Personalausweis von Herrn Guggenmoos im schönen Stadtteil Blankenese am Hamburger Elbstrand.

»Der Dolchstoß hat dem Mann die Halsschlagader durchtrennt«, berichtete Ewe, legte seine Finger an die linke Halsseite des Opfers und sah sich die Wunde genauer an. »Aber er war schon vorher tot. Ansonsten hätten wir hier an den Wänden meterhohe Blutspritzer. Der Mann ist jedoch sehr langsam verblutet. Vermutlich ist die Wunde am Torso auf Höhe der rechten Niere diejenige, welche …« Der Rechtsmediziner deutete mit seiner Hand auf den dunklen, getrockneten Blutfleck im Laken neben dem Körper. »Allein das hier sind schätzungsweise fast zwei Liter.«

»Okay, dann schick mir den Bericht, sobald du fertig bist.« Jessica verließ ebenfalls den Raum und zog ihr Smartphone aus der Hosentasche. Wenn sie heute in Hamburg auf den Ämtern noch jemanden erreichen wollte, dann musste sie sich beeilen, denn es war Freitag und kurz vor Mittag. Außerdem wollte sie früh in den Feierabend gehen, um mit Florian etwas zu unternehmen. Ihr Vater verschaffte ihnen einen letzten kinderfreien Abend, bevor er morgen seine Heimreise nach Hamburg antrat.

*

»Haben Sie bei uns angerufen?«, rief Hauptkommissar Forster der jungen Krankenpflegerin entgegen, die ihnen auf dem langen Gang entgegeneilte.

Die Frau mit glänzend schwarzem Haar und dem typisch thailändischen Gesicht mit leicht dunklem Teint und mandelförmigen Augen nickte heftig, kam näher und blieb dann abrupt vor ihm und Kommissar Willig stehen.

»Sie sind aber leider zu spät«, verkündete sie, aber es klang nicht wie ein Vorwurf. »Die Frau, deretwegen ich Sie angerufen habe, ist verschwunden.«

»Okay.« Florian Forster schob beide Hände in die Taschen seiner Uniformhose und sah den Gang hinauf. Die Notaufnahme des Kemptener Krankenhauses befand sich im Erdgeschoss eines Nebengebäudes. Der fensterlose Gang mit den vielen Türen links und rechts schien durch die sich ständig wiederholenden Deckenleuchten, deren Licht den glänzenden Boden beschienen und sich dort spiegelten, beinahe unendlich. »Sie sagten, es handle sich um einen Verdacht auf häusliche Gewalt. Wie kommen Sie darauf?«

»Die Frau wurde vor einer Stunde in die Notaufnahme eingeliefert, mit einer tiefen Platzwunde an der Stirn, und behauptete, sie sei die Treppe runtergefallen.«

»Mhm«, brummte Forster und sah die Pflegerin durchdringend an. »Aber das wäre doch möglich, oder?«

»Vielleicht«, gab diese zu. »Zusätzlich zur Platzwunde hatte sie aber auf der gesamten rechten Gesichtshälfte blaue Flecken, außerdem Verletzungen an den Unterarmen und am Rücken. Glauben Sie mir, Herr Hauptkommissar. Ich kann Hämatome durch körperliche Gewalt inzwischen ganz gut von anderen unterscheiden. Die blauen Flecken zeigten unterschiedliche Stadien des Heilungsprozesses. Die Frau war völlig verängstigt und mager und wollte nicht, dass ihr Mann informiert wird. Außerdem gab sie falsche Personalien an. Eine Frau Gisela Mayer – wie sie sich nannte – gibt es nicht.«

»Das hört sich tatsächlich verdächtig an«, gab Hauptkommissar Forster zu, und sein Kollege Willig nickte heftig und machte dabei ein äußerst bedauerndes Gesicht. »Damit wir der Sache nachgehen können, brauchen wir aber mehr als einen falschen Namen.«

»Da hätte ich etwas«, sagte die Schwester und lächelte verlegen. »Die Dame hat so schnell die Flucht ergriffen – sie ließ ihre Handtasche im Untersuchungszimmer zurück. Warten Sie kurz, ich hole sie.«

Sie drehte sich um und lief schnellen Schrittes den Gang hinunter, bog nach links ab und war verschwunden.

Hauptkommissar Forster indes beobachtete belustigt seinen Kollegen Willig, der keinen Hehl daraus machte, dass er den leichten Hüftschwung der bildhübschen Krankenschwester äußerst sexy fand und ihr mit großen Augen und leicht geöffnetem Mund hinterhergaffte. Als er den Blick seines Kollegen bemerkte, lächelte er etwas dämlich.

»Was hältst du davon, Berthold«, fragte Florian amüsiert und ging zwei Schritte zurück, »wenn du allein auf die Schwester wartest? Ich gehe schon zum Auto.«

»Ist gut, Chef, ähm, ähm …«, stotterte Berthold und schaute zu Boden.

»… Florian«, half der ihm weiter und grinste breit. »Nur tu mir bitte einen Gefallen: Ohne ihre Telefonnummer gehst du hier nicht weg. Und ich meine nicht diejenige der geflüchteten Frau, sondern die der süßen Krankenpflegerin. Haben wir uns da verstanden?«

Berthold nickte. Seine Wangen färbten sich dunkelrot. »Klar, Chef, ähm, Florian.«

*

»Du kommst spät«, begrüßte Jessica ihren Freund, als dieser erst nach 19 Uhr das Haus betrat und die Treppe zum ersten Stock hinauflief. »Den Tisch habe ich auf 19.30 Uhr bestellt. Schaffst du das? Oder soll ich anrufen, dass wir uns verspäten?«

»Bin in fünf Minuten fertig«, rief Florian im Vorbeilaufen, ohne Jessica anzusehen, und verschwand im Bad. Keine Minute später hörte man bereits das Wasser in der Dusche rauschen.

Der Besuch bei Ulrike Hildebrandt, der Frau, die aus dem Krankenhaus geflüchtet war, war frustrierend gewesen. Der dicke Verband um ihren Kopf war professionell angelegt, verdeckte jedoch nicht die zahlreichen alten, bereits gelb verfärbten Hämatome an ihrer Schläfe. Auch hatte sie Probleme, ihren linken Arm zu heben, und hielt ihn deshalb leicht gebeugt und dicht an ihrem viel zu dürren Körper. Ihre Stimme war leise und klang gebrochen. Auf ihren Mann, der heute nicht anwesend war, ließ sie aber nichts kommen. Er habe mit ihrem Treppensturz absolut nichts zu tun. Er sei ein guter Ehemann und sie selbst einfach viel zu ungeschickt. Auf Florians Frage, warum sie im Krankenhaus falsche Personalien angegeben hatte, entschuldigte sie sich und versprach, die Angelegenheit Anfang nächster Woche aufzuklären. Sie begründete ihre Vorgehensweise damit, dass ihr Mann sich immer so viele Sorgen um sie mache. Sie wollte deshalb verhindern, dass er von ihrem Unfall erfuhr. Als sie den Hauptkommissar bat, ihrem Mann nichts zu verraten, wurde aus Florians anfänglichem Misstrauen ein solches Unbehagen, dass er Frau Hildebrandt ernst ansah und heftig den Kopf schüttelte.

So sehr er sich auch anstrengte, er konnte einfach nicht begreifen, warum manche Frauen ihre prügelnden Ehemänner schützten und damit riskierten, immer und immer wieder Opfer von Gewalt zu werden. Also beschloss er in diesem Moment, Frau Hildebrandt in der nächsten Woche erneut zu besuchen und dann hoffentlich auch ihren Mann anzutreffen. Wenn die Frau sich nicht selbst half, würde er es tun, indem er den Ehemann beiseitenahm und ihm verdeutlichte, was ihm drohte, wenn er weiterhin seine Frau halb totschlug. Prügelnde Männer waren meist leicht reizbar. Vielleicht gelang es ihm, Herrn Hildebrandt so zu provozieren, dass der Mann seine Hand gegen ihn erhob. Dann hätte er einen Grund, ihn aufs Revier mitzunehmen. Und wenn er ihn erst einmal im Verhörraum hatte, dann konnte er dem Kerl sagen, was er von Männern hielt, die Frauen verprügelten.

Florian dachte noch immer an seine Begegnung mit Ulrike Hildebrandt, als er bereits mit Jessica im Restaurant saß. Abwesend schaute er durch die große Panoramascheibe, ohne den atemberaubenden Blick über Kempten wahrzunehmen. Das Restaurant »Skylounge« im 13. Stock eines Geschäftshauses in der Innenstadt lieferte mit zwei komplett verglasten Seitenwänden die beste Aussicht über die Häuser der Alpenmetropole in ganz Kempten. Der wolkenlose Sommerhimmel, die strahlende Abendsonne, die üppig grünen Flächen um die Burgruine »Burghalde« im Stadtzentrum und der reflektierende Wasserspiegel der grünblauen Iller zeigten die Stadt heute von ihrer allerschönsten Seite. Doch die Gedanken ließen Florian nicht los.

»Erde an Florian«, witzelte Jessica, als er ihren dritten Versuch, ein Gespräch zu beginnen, erneut wortlos ignorierte. »Wo bist du denn? Kommst du heute noch zurück zu mir, oder soll ich mich zu anderen Gästen setzen? Ich würde mich gern unterhalten.«

»Entschuldige.« Er sah sie an und lächelte mechanisch. »Worüber willst du reden?«

»Keine Ahnung«, plapperte sie drauflos. »Egal worüber. Vorhin zum Beispiel habe ich dich gefragt, ob du nicht Lust hast, unseren Plan, das Wohnzimmer zu renovieren, endlich in die Tat umzusetzen. Vielleicht könnten wir morgen in den Baumarkt fahren und nach Wandfarbe schauen. Ein neues Sofa wäre auch super.«

Florian musterte sie durchdringend, doch sein Gesichtsausdruck war völlig unergründlich.

»Wozu?«, fragte er schließlich, ohne den starren Blick von ihr abzuwenden. »Solltest du dich nicht lieber um Wandfarbe für dein neues Wohnzimmer in Hamburg kümmern?«

Jetzt war es Jessica, deren Gesicht ausdruckslos wurde. Sie atmete mehrmals tief ein und aus, blinzelte die aufsteigenden Tränen weg und fragte: »Sollte ich?«

Florian klopfte angespannt mit dem Zeigefinger der flachen Hand auf die weiße Tischdecke, bis er sich darüber bewusst wurde. Dann nahm er seine Hand vom Tisch, legte sie unter dem Tisch auf sein Bein und ballte sie zur Faust.

»Du kennst meine Antwort, Jessy«, sagte er leise und klang verzweifelt. »Aber ich habe eine weitere Frage an dich. Was mache ich falsch?«

»Ich habe nie gesagt, dass du etwas falsch machst«, polterte Jessica. Immer wenn sie sich in die Enge gedrängt fühlte, wurde sie ungehalten und verlieh ihrer Stimme einen scharfen Unterton. Sie versteckte so ihre Unsicherheit.

»Jessy, bitte«, begann er erneut. »Wenn du mir nicht sagst, was ich ändern muss, damit du bei mir bleibst, dann werden wir uns verlieren. Ich komme allein einfach nicht darauf. Nenne es typisch männliche Engstirnigkeit, nenne es Allgäuer Machogehabe, aber ich dachte immer, du gehörst zu mir.« Er schüttelte lächelnd den Kopf, sah jedoch an ihrem Gesichtsausdruck, dass der Versuch, die Situation durch Selbstironie aufzulockern, absolut fehlschlug.

»Ich habe dir einen Heiratsantrag gemacht«, erinnerte Florian sie unnötigerweise an dieses Ereignis vor ein paar Monaten, als sie ihn wortlos hatte abblitzen lassen. »Vielleicht warst du noch nicht so weit, dann tut es mir leid. Da du nach dem schlimmen Vorfall mit deiner Schwester bei mir wohnen geblieben bist, hatte ich die Hoffnung, dass ich dir genauso viel bedeute wie du mir und du deine Zukunft mit mir teilen willst. Ich hab dich lieb, Jessy.« Als er über dem Tisch nach ihrer Hand griff, zog sie sie erschrocken weg.

»Ich würde alles dafür tun, damit du bei mir bleibst, Jessy. Aber ganz ehrlich«, Florian wurde mit jedem Wort leiser, »ich werde dich nicht aufhalten, wenn du unbedingt gehen willst.«

»Es bleibt mir doch gar nichts anderes übrig, als nach Hamburg zu gehen«, brachte sie schließlich heraus. Sie klang, als wäre sie nach einer großen körperlichen Anstrengung total außer Atem.

»Ich verstehe dich einfach nicht, Jessy. Was habe ich falsch gemacht?«, wiederholte er seine erste Frage.

Urplötzlich sprang sie auf, starrte ihn über den Tisch hinweg wütend an und verschränkte die Arme vor der Brust, vermutlich um zu verhindern, dass sie mit ihren Händen aus lauter Verzweiflung die Gläser vom Tisch fegte. »Einmal in deinem Leben«, rief sie laut, »hättest du doch dein verdammtes Ehrgefühl, deine ach so tief in deiner Seele verankerte Moral, deinen beinahe grotesken Gerechtigkeitssinn und dein dummes Heldspielen –«, sie brach ab und holte tief und hektisch Luft. »Warum meinst du immer, genau zu wissen, was gut ist für andere, für mich, für die Kinder? Einmal in deinem Leben hättest du all das außer Acht lassen können. Für mich, wenn du mich doch so sehr liebst, wie du immer behauptest«, fauchte sie verächtlich, drehte sich auf dem Absatz um und schickte sich an, das Lokal zu verlassen, ohne die durch ihren Wutausbruch aufgeschreckten und verwirrten Gäste an den anderen Tischen auch nur eines Blickes zu würdigen.

»Verstehe ich das richtig, Jessy?«, rief er ihr hinterher. »Du wünschst dir, dass ich deine Schwester getötet hätte, anstatt ihr das Leben zu retten? Das wirfst du mir vor?«

»Genau das werfe ich dir vor«, schrie sie, blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihm um. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Aber das wäre falsch gewesen, Jessy. Du weißt das. Ich glaube, dass hinter diesen Vorwürfen etwas anderes steckt. Den wahren Grund willst du mir nicht nennen. Wenn du dazu bereit bist, bin ich da«, bot er an. Seine grenzenlose Verzweiflung sah man ihm nicht an.

Sie verließ das Restaurant ohne ihn. Er bezahlte das Essen und die Getränke, spendierte den etwa 20 anderen Gästen als Wiedergutmachung ein Glas Sekt, fuhr mit dem Fahrstuhl zur Tiefgarage hinunter und fand Jessica in seinem Auto sitzend. Sie hatte den Zweitschlüssel benutzt, den sie immer in ihrer Handtasche bei sich trug, genau wie er einen Schlüssel für ihren Wagen besaß.

»Geht es dir besser?«, fragte er ohne den leisesten Vorwurf in seiner Stimme, als er auf der Fahrerseite einstieg und den Schlüssel ins Zündschloss steckte.

Jessica nickte nur stumm und starrte aus dem Fenster.

»Willst du nach Hause?« Er startete den Wagen und lenkte ihn Richtung Ausfahrt.

Dieses Mal schüttelte sie den Kopf.

Die ganze Fahrt über sagte er nichts, bis er nach guten zehn Minuten sein Auto auf den Schotterparkplatz am Bachtelweiher steuerte, den Wagen parkte und den Zündschlüssel aus dem Schloss zog. »Gehst du mit mir spazieren?«

»Gern«, antwortete sie leise. »Was hältst du von Sand?«

»Ähm …« Florian dachte angestrengt nach. »Ja, Sand ist … ähm … toll. Wofür?« Er hatte keine Ahnung, was Jessica von ihm wollte.

»Sand wäre doch die perfekte Wandfarbe für unser neues Wohnzimmer, oder?« Sie lächelte zaghaft, sah dann aber, dass ihr Freund sie verständnislos anstarrte. »Die Farbe sieht aus wie der helle Sand am Nordseestrand, den ich so liebe«, erklärte sie. »Kannst du dir vorstellen, dass wir in unserem Wohnzimmer in Kempten ein bisschen norddeutsches Flair reinbringen, oder kommt das für dich gar nicht infrage?«

»In Kempten?«, brachte er schließlich heraus. »Bei mir in Kempten? Nicht in Hamburg?«

»Nicht in Hamburg.« Sie nickte zur Unterstützung ihrer Worte. »Wenn ich darf, möchte ich gern bei dir bleiben.«

4

Er kam erst am kommenden Donnerstag dazu, die von ihrem Ehemann verprügelte Frau erneut aufzusuchen. Da Ulrike Hildebrandt keine Anzeige erstattet hatte, gab es für Hauptkommissar Forster eigentlich keine Veranlassung, in diesem Fall zu ermitteln. Doch die Sache ließ ihm keine Ruhe. Also fuhr er nach Feierabend zum Haus der Hildebrandts und klingelte kurz vor 18 Uhr an der Haustür. Sein Kollege Berthold begleitete ihn, stand neben ihm und drehte sich immer wieder nervös um.

»Was ist denn mit dir los, Berthold?«, fragte Florian amüsiert und klingelte erneut, als nach fast einer Minute niemand geöffnet hatte.

»Es ist verdammt einsam hier draußen«, flüsterte Berthold angespannt. Das Haus lag weitab am Waldrand in Durach. Das nächste Haus war 100 Meter entfernt. »Wer weiß, ob der Ehemann hier irgendwo rumhängt. Dem passt es bestimmt nicht, dass wir da sind.«

»Aber wir sind doch zu zweit, Berthold«, lachte Florian Forster und klopfte seinem Kollegen aufmunternd an den Oberarm. »Der hat gegen uns beide gar keine Chance.«

Dass er sich mit dieser Aussage etwas zu weit aus dem Fenster lehnte, konnte Florian in diesem Moment noch nicht wissen. Als die Tür aufging, blieb ihm das Lachen jedoch im Hals stecken.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Mann auf der anderen Seite der Türschwelle. »Warum klingeln Sie ununterbrochen? Ich versuche, meine Tochter ins Bett zu bringen.«

Erst jetzt bemerkte der Hauptkommissar das Baby auf dem Arm des Mannes. Es wirkte auf dem muskulösen Unterarm von Herrn Hildebrandt so klein und unscheinbar, dass Florian es zuerst übersehen hatte. Der Mann war riesig. Zwar vermutlich etwas kleiner als Berthold, der mit seinen über zwei Metern Körpergröße jeden überragte, den Florian kannte, doch dieser Hildebrandt war beinahe so breit wie hoch. Ein riesiger Berg purer Muskelmasse. Die Oberarme könnte Florian mit seinen Händen nicht umgreifen. Kiefer- und Wangenknochen zeichneten sich in seinem Gesicht deutlich ab, die Augen waren dunkel, wirkten fast schwarz. Er trug einen Dreitagebart, und seine etwas zu langen Haare waren ungekämmt, aber er wirkte keinesfalls ungepflegt, nur etwas gestresst. Der Mann war höflich und sah erschreckenderweise sogar sehr freundlich aus.

»Kripo Kempten, Hauptkommissar Forster«, stellte Florian sich vor und zog seinen Dienstausweis aus der Hosentasche. »Ich und mein Kollege Willig wollten uns noch einmal nach Ihrer Frau erkundigen. Immerhin war sie schwer verletzt.«

Herr Hildebrandt sah ihn völlig verdattert an. »Das verstehe ich nicht«, begann er, verlagerte den kleinen Körper seiner Tochter vom einen auf den anderen Arm und bat die zwei Beamten mit einer ausladenden Handbewegung ins Haus und in die Küche. »Ulrike ist doch nur die Treppe hinuntergefallen. Woher wissen Sie denn von ihrem Unfall?« Er setzte sich auf die Eckbank unter dem Fenster.

»Unfall«, platzte Florian verächtlich heraus, fing sich aber schnell wieder. »Ihre Frau war letzte Woche im Krankenhaus und eine der Krankenschwestern hat aufgrund der vielen alten Verletzungen die Kripo eingeschaltet, wegen Verdachts auf häusliche …«

»Aber das verstehe ich nicht«, wiederholte der Ehemann und legte seine inzwischen schlafende Tochter neben sich auf ein großes Kissen auf der Eckbank und seine große Hand auf den Bauch des Babys, damit es nicht hinunterfallen konnte. »Ulrike war im Krankenhaus? Davon wusste ich nichts. War die Verletzung so schlimm?«

»Das müssten Sie am besten wissen, Herr Hildebrandt. Wo ist Ihre Frau jetzt? Ich würde mich gern davon überzeugen, dass es ihr gut geht.«

»Sie schläft schon. Es war ein anstrengender Tag«, sagte Herr Hildebrandt und fügte nach kurzem Zögern hinzu: »Sie glauben, ich habe meine Frau die Treppe hinuntergestoßen?« Er sah verzweifelt aus.