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Markus Ziener

DDR, MON AMOUR

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INHALT

PROLOG: MOSKAU, FEBRUAR 1981

IN DER RHÖN, OKTOBER 1981

ZUM GOLDENEN ADLER

FRIEDER

WÜRZBURG

RUDOLPHSTEIN/HIRSCHBERG, FRÜHJAHR 1981

HANS MOORSCHEID I

TRANSIT, MÄRZ 1982

WEST-BERLIN

LEO

ANNA

DER TÜRÖFFNER

MOORSCHEID II

PÖßNECK

ZUHAUSE

EPILOG I: WÜRZBURG, HERBST 1982

EPILOG II, CAMBURG, NOVEMBER 1989

PROLOG: MOSKAU, FEBRUAR 1981

Um zehn Uhr sollte ich anrufen. Punkt zehn. Da würde Artjom auf meinen Anruf warten. So war es vereinbart. Und jetzt stand ich vor mindestens einem Dutzend Münztelefonen, bei minus 20 Grad, und brauchte dringend einen Telefonjeton. Den musste ich einwerfen in einen dieser Apparate, von denen ich nicht wusste, wie sie überhaupt funktionierten. Ich hatte aber keinen Jeton, ich hatte nur Rubel-Münzen, ein Fünfzig-Kopeken-Stück und ein paar Zehn-Kopeken-Stücke. Ich hatte nicht gewusst, dass ich zum Telefonieren Jetons brauchen würde. Ich wollte einfach nur Münzen einwerfen und telefonieren. So wie zu Hause, ganz einfach. Aber hier war offenbar nichts einfach.

Meine Finger wurden klamm. Zum Kramen in meinen Taschen hatte ich die Handschuhe ausgezogen, und schon nach wenigen Minuten merkte ich, wie die Kälte in die Fingerspitzen kroch. Ich zog die Handschuhe wieder an. Dann ballte ich die Hände zu einer Faust, und öffnete und schloss die Faust. Das tat ich ein paar Mal, bis ich die Fingerkuppen wieder spürte.

Natürlich hätte ich von einem der Telefone im Hotel anrufen können. Doch das schien mir aus mehreren Gründen keine gute Idee zu sein. Mein Gespräch würde mit Sicherheit abgehört. Ganz abgesehen davon, dass es viel zu auffällig war, sich als westlicher Ausländer über die Hotelvermittlung mit einer Nummer in Moskau verbinden zu lassen. Also musste ich raus und ein öffentliches Telefon finden.

Mehrere davon hatte ich schließlich gegenüber dem Hotel an der U-Bahnstation entdeckt. Die Station trug den Namen WDNCh. Die vier Buchstaben standen für: Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR. Das klang groß und mächtig - und einschüchternd. Eben so, wie viele Dinge, die mich hier umgaben. Etwa das gerade erst im Vorjahr zur Olympiade fertiggestellte Hotel Kosmos, eine gigantische Bettenburg, in der ich das Zimmer mit der Nummer 3241 bewohnte. Oder der nur einen Steinwurf entfernte Fernsehturm Ostankino, dessen Spitze mit über 550 Metern hoch in den Himmel ragte. Oder eben das riesige Ausstellungsgelände WDNCh.

Bevor ich das Kosmos verlassen hatte, stand ich im Foyer des Hotels und schaute minutenlang auf einen Fernseher, der Bilder vom Auftakt des 26. Parteitags der KPdSU im Kongresspalast des Kreml zeigte. Zu sehen waren Ausschnitte aus der Eröffnungsrede des 74-jährigen Leonid Breschnew. Breschnew, dachte ich, als ich den Bericht verfolgte, und sprach seinen Namen halblaut vor mich hin. Seit ich denken konnte war Breschnew Generalsekretär der KPdSU. Und irgendwie sah er immer gleich aus. Das Gesicht groß und gebirgig, die Augenbrauen buschig, der Haaransatz hoch, die Schultern breit. Breschnew war für mich wie ein Monument. Schwer und unbeweglich, aber auch unbesiegbar. Breschnew war immer da. So, wie die Sowjetunion eben immer da war.

Was Leonid Iljitsch Breschnew sagte, verstand ich nicht. Nicht nur, weil mein gerade mal so zusammengelesenes Russisch dafür bei weitem nicht ausreichte. Ich verstand Breschnew schon deshalb nicht, weil dieser Mann, der da aus dem Fernseher sprach, unglaublich verwaschen redete. Ich schnappte von seiner Rede nur ein paar Namen auf, wie jenen des gerade erst gewählten neuen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan. Ich erkannte aber einige Gesichter in der Reihe hinter Breschnew, hinter dem Rednerpult: das scharf geschnittene Profil von Michail Suslow, dem Chefideologen der Partei, und jenes von Andrej Gromyko, dem Außenminister. Beide verzogen während der Rede ihres Chefs - zumindest in diesem Fernsehausschnitt - keine Miene.

Ich konnte mich kaum losreißen von den Bildern vom Parteitag. Und ich wusste, warum. Weil sie von einer anderen Welt erzählten, einer Welt, die ich ansonsten nur gefiltert durch die westlichen Nachrichten erlebte. Jetzt auf einmal war ich in dieser fernen Welt angekommen. Und stellte fest, dass es sie wirklich gab.

Ich blickte auf meine Uhr, die ich mir tags zuvor für ein paar Westmark an einer Straßenecke gekauft hatte. Es war eine sowjetische Poljot-Uhr, die mir nicht nur die Zeit, sondern auch die Mondphasen anzeigte. Es war bald zehn Uhr - und höchste Zeit zu gehen. Für zehn Uhr waren wir verabredet. Ich musste jetzt ein Telefon finden. Noch bevor ich die Drehtür erreichte, um das Kosmos zu verlassen, spürte ich einen eisigen Luftzug. Die Telefone neben dem U-Bahn-Eingang WDNCh waren kreisförmig angeordnet. Von fast jedem Apparat wurde telefoniert. Bei jenen, die frei waren, baumelten die Telefonhörer herab, ganz offensichtlich funktionierten sie nicht. Ich sprach eine Frau an, die gerade wählte und zeigte auf mein 50-Kopeken-Stück. „Change“, sagte ich, und auf Deutsch „wechseln“, und dann noch etwas, das wie „paschalusta“ klingen sollte, „bitte“, auf russisch. Die Frau, die einen dicken Fellmantel trug, blickte mich nur kurz an, schüttelte den Kopf und wählte dann weiter eine Nummer, die sie von einem Zettel ablas. Ich ging zum nächsten Telefon und fragte erneut. Beim Dritten hatte ich Glück. Ein junger Mann erwiderte meine verbalen Bruchstücke mit einem nahezu akzentfreien „Where are you from?“ „I’m from Germany“, sagte ich. Der junge Mann fragte: „East or West?“ „West.“ Sein Gesicht hellte sich auf. Er kramte zwei Jetons aus seiner Hosentasche. „Keep it“, sagte er und machte mit einer abwehrenden Geste seiner Hände klar, dass er das 50-Kopeken-Stück nicht haben wollte. „That’s alright.“ Dann verließ er seinen Platz am Telefon und rief mir im Gehen noch ein „Good luck“ zu. Am liebsten hätte ich den freundlichen jungen Mann noch gefragt, ob er mir dabei helfen könne, die Nummer zu wählen, die auch ich nun auf einem Zettel vor mir hatte. Doch dann entschied ich mich dagegen. Artjom wäre vielleicht wenig begeistert, wenn er auf einmal die Stimme eines unbekannten Russen am Telefon hören würde. Jetzt nur nichts riskieren.

Der Jeton hatte in der Mitte eine längliche Einkerbung. Mit dieser nach unten zeigend konnte man den Chip in den Schlitz am Telefonapparat stecken. Es war bereits zehn nach zehn, als ich die Münze endlich einwarf. Aus dem Hörer klirrte blechern ein langgezogener Ton, dann wählte ich die Nummer, die man mir vor ein paar Tagen genannt hatte.

Eigentlich hätte ich die Nummer auswendig lernen und den Zettel wegwerfen sollen. „Am besten, Sie haben nichts Schriftliches bei sich”, hatte mir mein Kontakt in Deutschland noch dringend am Telefon geraten. Aber ich ignorierte den Hinweis, weil ich Angst hatte, ich könnte die Nummer vergessen. Und das wäre noch schlimmer gewesen, als wenn die Grenzer bei der Einreise in die Sowjetunion den Zettel entdeckt hätten. Immerhin schrieb ich die Nummer noch einmal rückwärts auf und versah sie mit 0611, der Frankfurter Vorwahl. Zudem fügte ich noch zwei „richtige” Nummern hinzu. So konnte ich behaupten, es handele sich nur um eine Liste mit Kontakten von Familie und Freunden. Schließlich aber hatten sie bei der Passkontrolle am Flughafen weder den Zettel, noch all den anderen Kram, den ich in meinem Koffer verstaut hatte, gefunden.

Seltsame Dinge waren das, die mir der Mitarbeiter von Amnesty International kurz vor meiner Abreise übergeben hatte und die ich jetzt in meinem Rucksack trug. „Du wirst dich vielleicht wundern, aber die Sachen sind sehr nützlich”, hatte der junge Mann, kaum älter als ich, gesagt, als er das Sammelsurium vor mir ausbreitete: Brillengestelle in allen Variationen, mal aus Horn, mal aus Metall, mal aus Plastik. Wackelbilder mit Frauen drauf, die mal angezogen und mal nackt waren, wenn man das Bild etwas schief ins Licht hielt. Spielzeugkaleidoskope, in die man durch einen Sucher wie bei einer Kamera sah und bei der sich Mosaike jeweils neu ordneten, wenn man das Prisma etwas schüttelte. Und Kalender. Taschenkalender, Bilderkalender, kleine Plastikkärtchen, auf denen die Monate und Tage eingedruckt waren sowie winzige Blechkalender, die man sich Monat für Monat neu an das Armband seiner Uhr klemmen und von denen man Tag und Datum ablesen konnte. Unnützes Zeug eigentlich. Aber als der Mann von Amnesty mich fragte, ob ich etwas nach Moskau mitnehmen könnte, hatte ich ohne langes Nachdenken „Ja” gesagt. Seit Jahren arbeitete ich ehrenamtlich für Amnesty. Nachdem meine Reise feststand, hatte ich aus Neugier mit der Koordinationsgruppe für die Sowjetunion Kontakt aufgenommen. Und der Amnesty- Mitarbeiter ergriff die Chance, einen potenziellen Kurier vor sich zu haben, beim Schopf.

Wäre ich bei der Einreise zu meiner erstaunlichen Warenkollektion in meinem Koffer befragt worden, so wollte ich ganz lässig sagen, dass dies nur ein paar Gastgeschenke seien, ähnlich wie andere Kaffee, Strumpfhosen oder Jeans ins Land brächten. Zum Glück aber wurde ich nicht gefragt, kein einziges Mal. Vielmehr wurde ich mit einem freundlichen Добро пожаловать, einem „Herzlich Willkommen”, begrüßt, als ich am Flughafen in Scheremetjewo die Pass- und Zollkontrolle absolvierte. Vielleicht lag es daran, dass ich nur Mitglied einer Gruppenreise war, oder weil ich mit einer unverdächtigen Interflug-Maschine aus der DDR anreiste, oder weil der Beamte schlicht gerade keine Lust hatte, Ärger zu machen.

Oder aber sie fragten nicht, weil sie mich in Sicherheit wiegen und mich erst einmal beobachten wollten. Beobachten, wie ich jetzt hier telefonierte. Und vielleicht war der freundliche junge Mann, der so gut Englisch sprach, gar keiner, der zufällig dort stand. Vielleicht war das alles so geplant, von ganz langer Hand. Als ich das dachte, wurde mir heiß, trotz der minus 20 Grad, und am liebsten hätte ich den Hörer gleich wieder eingehängt und wäre abgehauen. Doch da hörte ich am anderen Ende der Leitung eine Stimme.

„Allo?“ meldete sich Artjom. Dann noch einmal „Allo!“ Erst dann reagierte ich. „Hallo, ist da Artjom?“

Artjom wusste sofort, wer ich war. „Ich habe auf deinen Anruf schon gewartet“, sagte er, ohne sich lange mit Begrüßungsformeln aufzuhalten. „Ich wollte dich eigentlich in einer Teestube treffen, aber das geht jetzt nicht. Es ist zu viel los in der Stadt wegen des Parteitags. Du kommst am besten zu mir.“

„Okay“, sagte ich, etwas verwundert über die Bestimmtheit in Artjoms Worten. „Wo finde ich dich?“

„Du fährst mit der Kaluschsko-Rischskaja-Linie, das ist die orange, bis zur Station Prospekt Mira, das sind drei Stationen. Du bist doch im Kosmos?“ Ich murmelte ein „Ja“. „Von dort läufst du in den Protopopowskij Pereulok und biegst dann rechts ab. Ich wohne in Haus 12, 2. Aufgang, 6. Stock. Du klingelst bei Nummer 63. Wirst du das finden?“ Ich zögerte einen Moment und überlegte, ob ich mir die Angaben besser aufschreiben sollte. Aber wie sollte das hier draußen gehen, bei der Kälte, wo kein Stift schrieb und meine Finger klamm waren. „Ich merke es mir“, sagte ich dann. „Aber gib mir sicherheitshalber nochmal die Adresse.“ Ich fand, dass ich jetzt schon ein wenig selbstbewusster klang. Artjom wiederholte die Adresse. Dann beendete er das Gespräch genauso grußlos, wie er es begonnen hatte. „Ich warte“, hatte er nur noch gesagt und dann aufgelegt.

Ich ging jetzt zum Eingang der U-Bahn. Ich fror. Trotz meiner dicken Skijacke, die ich extra mitgenommen hatte, trotz Schal, Mütze und Handschuhen. Vor allem fror ich an den Füßen, an denen ich die Zehen kaum noch spürte. Ich hatte die falschen Schuhe dabei, dachte ich, oder zumindest die falschen Socken. Am U-Bahn-Eingang bot mir jemand rot-golden glänzende Lenin-Anstecker an, auf denen „26. Parteitag“ eingeprägt war. Die hatte ich schon im Hotel gesehen und mir davon für ein paar Kopeken ein halbes Dutzend gekauft. Jetzt aber wollte ich nur eines: möglichst schnell an einen Ort, wo es einigermaßen warm war, um mir die Adresse aufzuschreiben bevor ich sie vergaß.

Bei einer dicken Babuschka, die Eingemachtes in großen Kompottgläsern verkaufte, wechselte ich zwei Zehn- Kopeken-Stücke in vier Fünf-Kopeken-Münzen. Das hatte ich am Abend zuvor gelernt, als ich mit der Gruppe das erste Mal unterwegs war: dass ich fünf Kopeken für die U-Bahn brauchte. Dann drückte ich eine der Münzen in den Schlitz am Eingang und ging durch die Sperre. Auch das war mir neu: Nur wer nicht zahlte, bekam die Schranke zu spüren, die dann plötzlich aus dem Durchgangsschacht heraussprang. Ich hatte zuvor gesehen, wie genau das einem Fahrgast passiert war. Das Metall hatte den Mann exakt in der Lendengegend getroffen. Wie ein Fallbeil, dachte ich.

Ich sah die Rolltreppe, die mit beträchtlichem Tempo hinunter in den Schacht führte. Im dichten Strom der U-Bahn-Fahrer wurde ich auf die Treppe geschoben - und wäre fast gestolpert, weil sich die Treppenkaskaden nach unten im Nu vor mir aufbauten. Ich war jetzt Teil der dunklen und grauen Masse, die sich in die Tiefe bewegte, mehr als 50 Meter hinunter und das mit einer Geschwindigkeit, dass ich glaubte, Fahrtwind im Gesicht zu spüren. Unten auf dem Bahnsteig konnte ich mich endlich an eine Säule stellen und den Zettel mit der Telefonnummer aus der Tasche ziehen. Ich hauchte die Spitze des Kugelschreibers an, der noch ganz kalt war, und schrieb auf, was ich mir gemerkt hatte: Protopowskij Pereulok Nummer 12, 2. Aufgang, 6. Stock, 63. Ich fühlte mich jetzt sicherer.

Drei Stationen müsse ich fahren, hatte Artjom gesagt. Ich studierte den U-Bahn-Plan, der in einem Glaskasten ausgehängt war. Aus Deutschland hatte ich mir einen Stadt- und U-Bahn-Plan mitgenommen, der beide Schreibweisen enthielt, kyrillisch und lateinisch. Ich glich die kyrillischen Schriftzeichen mit jenen auf dem Plan ab. Schtscherbakowskaja, Rischskaja, Prospekt Mira. Ich schien zumindest auf dem richtigen Bahnsteig für die orange Linie zu sein. Doch in welche Richtung sollte ich fahren? Als ich die Stimme aus dem Lautsprecher mehrere Namen sagen hörte und auch „Prospekt Mira“ dabei war, stieg ich kurzerhand in den einfahrenden Zug ein.

Mein Rucksack kam mir jetzt inmitten der vielen Menschen groß und klobig vor. Dabei war er es gar nicht. Von allen Seiten wurde ich gedrückt und geschoben.

Immer weiter hinein in den Wagen, obwohl ich doch schon bald wieder aussteigen musste. Die Menschen, die mich schoben und drückten und an denen ich vorbeigedrängt wurde, schienen, wenn sie nicht gerade drängelten, zu lesen. Ich hatte noch nie so viele lesende Menschen in einer U-Bahn gesehen wie hier in Moskau. Die Menschen lasen keine Zeitungen, sie lasen Bücher. Welche Bücher es waren, wusste ich nicht, weil ich die Titel auf den Buchrücken nicht verstand. Aber es waren in jedem Fall dicke Bücher. Tolstoj? Dostojewskij?, dachte ich für einen Moment, bevor ich wieder einen Stoß in den Rücken erhielt und dabei das Gefühl hatte, die Brillengestelle in meinem Kreuz zu spüren. Hoffentlich waren die nicht kaputt gegangen, dachte ich und versuchte die Stelle abzutasten, an denen sie sich im Rucksack befinden mussten. Doch dieses Vorhaben gab ich schnell wieder auf. Es war einfach zu eng. Als sich an der Station Prospekt Mira die Türen der U-Bahn öffneten, wurde ich mit hinausgespült. Scheinbar will an dieser Station so gut wie jeder raus, dachte ich.

Was für ein Glück.

Mit dem Strom der U-Bahn-Fahrer glitt ich auf der Rolltreppe wieder hinauf und raus aus den U-Bahn-Katakomben. Von oben drang bereits kältere Luft an mein Gesicht und unwillkürlich zog ich den Reißverschluss meines Anoraks höher. Wie ich auf der Rolltreppe stand und nichts tun konnte außer zu warten, fühlte ich mich auf einmal elend fremd, so fremd wie schon lange nicht mehr. Die Menschen, die ich beobachten konnte, wirkten abweisend. Jeder schien einer ganz bestimmten, ganz wichtigen Sache nachzugehen. Die Blicke waren konzentriert nach unten oder auf einen fernen Punkt gerichtet. Die Körperhaltung aufrecht. Und ich, ich war ein Fremdkörper inmitten dieser Menschen, jemand, der hier nichts zu suchen hatte. Am liebsten hätte ich mich unsichtbar gemacht.

Oben auf der Straße wollte ich nicht wieder anfangen zu suchen auf diesem so unübersichtlichen Stadtplan, jedenfalls nicht in dieser Kälte. Ich wollte mich bewegen, meine schlechte Stimmung vertreiben, vorankommen. Also ging ich los in jene Richtung des Prospekt Mira, die mir nach meiner Erinnerung des Stadtplans am plausibelsten erschien. Ich ging jetzt schneller, weil die Fahrt mit der U-Bahn, die Orientierung, das Zurechtfinden schon so lange gedauert hatte. Ich schaute auf meine Poljot-Uhr, die inzwischen schon fast dreiviertel elf zeigte. Ich beschleunigte nochmals meinen Schritt, auch, weil ich das alles jetzt hinter mich bringen wollte, das Treffen, die Übergabe, überhaupt: diese ganze Aktion, die ich jetzt nachgerade als Schnapsidee empfand.

Zudem: Ich musste ja auch wieder zurück in die UBahn, zurück ins Hotel Kosmos, um mich dort später wieder unter die Gruppe der Reisenden zu mischen, um einfach nur ein Allerweltstourist zu sein.

„Du hast Angst vor der eigenen Courage“, murmelte ich vor mich hin, als ich mir auf dem breiten Bürgersteig einen Weg bahnte und dabei jedes Mal, wenn ich ausatmete, eine grauweiße Wolke produzierte. Atemkondensation, dachte ich instinktiv, als ich die Wölkchen sah. „Wenn Feuchtigkeit durch den Körper erwärmt wird und mit der kalten Außenluft in Berührung kommt, dann kondensiert die Feuchtigkeit und bildet winzige Tröpfchen“, sagte ich halblaut. Das hatte ich in Physik gelernt. Okay, dachte ich, dein Kopf funktioniert also noch. Ich fühlte mich ein bisschen besser. Nach ein paar Minuten tauchte der Protopopowskij Pereulok auf, ich war also in die richtige Richtung gelaufen. Ich bog in die Straße ein und suchte nach der Nummer 12. Wenigstens die Zahlen sind wie bei uns geschrieben, dachte ich. Ich ging durch einen Torbogen, hinter dem ich den 2. Aufgang vermutete. Dort war auch eine Tür, auf die steuerte ich zu. Die Tür war verschlossen, doch daneben sah ich ein kupferfarbenes Klingelbrett. Ich drückte den Klingelknopf unter dem Schildchen mit der Nummer 63. Kurz darauf hörte ich ein Summen, ich drückte gegen die Tür, die sich gleich öffnete. Direkt vor mir war ein Lift. Sollte ich den nehmen? Wohl besser nicht, dachte ich und begann, die Stufen emporzusteigen. Obwohl Vormittag, lag das Treppenhaus im Halbdunkel. Es roch nach Urin und Abfall. Als ich den vierten Stock erreicht hatte, hörte ich von oben eine Stimme. Es war wieder dieses „Allo“, das ich schon vom Telefon kannte. „Ich komme“, rief ich, erleichtert, bald in Artjoms Wohnung zu sein. Ich nahm jetzt zwei Stufen auf einmal. Ich wollte dort ankommen, bei diesem Artjom, den ich zwar nicht kannte, aber der mir jetzt wie ein alter Freund erschien. Nur weg von diesem schmutzigen und gespenstischen Treppenhaus. Artjom kam mir bereits ein paar Stufen entgegen, dann zog er mich hinein in die Wohnung. Ein Namensschild sah ich nicht. Nur ein kleines rechteckiges Emaille-schild mit der Nummer 63.

Artjom schob mich in die Küche der Wohnung und drückte mich auf einen Stuhl. „War es schwierig, hierher zu finden?“, fragte er und holte zwei Teegläser aus einem Schrank. Die Gläser steckten in einer Metallhalterung, an der sich auch der Henkel befand. Aus einer Kanne goss Artjom ungefragt schwarzen Tee in die beiden Tassen und gab auch gleich je einen gehäuften Löffel Zucker dazu. Artjom schien mir anzusehen, dass mich mein Ausflug etwas strapaziert hatte. „Na, jetzt trink erst mal“, sagte er. Dann, nach einer Pause: „Allzu lange solltest du aber nicht bleiben. Du musst ja wieder zurück zu deiner Gruppe. Die werden dich sonst vermissen.“ Schwang da eine feine Ironie mit? Machte sich dieser Artjom gar lustig über mich? Für einen Moment kam ich mir vor wie ein kleines Kind. Ein Kind, das von zu Hause ausgerissen war und das jetzt von seinem unerlaubten Ausflug wieder heimgeschickt wird.

Ich zog den Rucksack zu mir, den ich am Tisch abgestellt hatte. Auf der Tischplatte breitete ich mein Warenlager aus. Die Gestelle, die Wackelbilder, die Kalender, alles, was ich dabei hatte. Artjom begutachtete die Sachen ohne viel zu sagen. Die Wackelbilder mit den unbekleideten Damen hielt er schräg ins Licht und grinste. „Danke“, sagte er dann. „Das hilft.“ „Du weißt, wofür das gut ist?“, fragte Artjom. Ich nickte, aber ich nickte nicht sehr überzeugend. „Für Gefangene“, antwortete ich nur, weil ich tatsächlich auch nur eine ungefähre Ahnung hatte, wozu das Zeug wirklich nützen sollte. Artjom, der aufgestanden und um den Tisch gegangen war, setzte sich wieder. „Richtig. Für Gefangene. Gefangene in Lefortowo.“

Lefortowo war ein Gefängnis für politische Häftlinge in Moskau, das vom Geheimdienst betrieben wurde. Das hatte mir der Mitarbeiter von Amnesty International erzählt.

Artjom saß jetzt näher unter der Lampe, die über dem Küchentisch baumelte. Erst jetzt konnte ich den Mann, der fast akzentfrei deutsch sprach, eingehender betrachten. Artjom mochte um die 50 Jahre alt sein, sein Gesicht war hager, der Blick konzentriert, die Haare, die über die Ohren reichten, waren grau, nein: eigentlich schon eher weiß, der Vollbart, den er trug, hingegen war fast schwarz. Akzentuiert wurde dieser Kontrast noch von einer rechteckigen Brille. Die Augen hinter den Gläsern waren lebendig und misstrauisch zugleich. Mir gefiel die Souveränität, die von Artjom ausging, eine Souveränität, die ich mir für mich selbst wünschte. Ich hatte gleich die Hosen voll, nur weil ich in Moskau ein paar Brillengestelle in eine Wohnung brachte. Dieser Mann aber schien ganz andere Risiken in seinem Leben einzugehen. Für Sekundenbruchteile blitzten bei mir die Namen Sacharow und Solschenizyn auf, Dissidenten, die ihren Widerstand gegen das totalitäre Regime teuer bezahlten. Andrej Sacharow war gerade mal ein gutes Jahr zuvor wegen seines Protests gegen die sowjetische Invasion in Afghanistan in die Stadt Gorki verbannt worden. Und Alexander Solschenizyn wurde im Westen zur Ikone des Widerstands durch seine Bücher, in denen er System und Alltag in den sowjetischen Gefangenenlagern beschrieb. Nach der Veröffentlichung von “Archipel Gulag” vor einigen Jahren wurde er postwendend dafür ausgebürgert.

„Was machen die Gefangenen in Lefortowo mit den Sachen?“, fragte ich, nachdem ich einen ersten Schluck Tee genommen hatte. Der Tee schmeckte zuckersüß, aber das war mir gerade recht. Süßes konnte ich jetzt gut vertragen. „Sie tauschen“, sagte Artjom. „Bei den Wächtern bekommen sie dafür eine Kelle mehr vom Essen, manchmal ein zusätzliches Buch aus der Bibliothek, oder die Wächter drücken ein Auge zu, wenn Besuch kommt und sie verlängern die Besuchszeit.“ „Oder“, Artjom machte eine Pause, „sie sind einfach ein bisschen netter.“ Ich nickte und schwieg. Was sollte ich dazu sagen. Ich hatte keine Ahnung vom Leben im Gefängnis. Aber ich stellte mir das Gefängnis in der Sowjetunion ziemlich ungemütlich vor. „Wir schmuggeln die Sachen hinein nach Lefortowo“, fuhr Artjom fort. „Das ist unsere Hilfe.“

Ich spürte, dass das kurze Gespräch zu Ende ging. Obwohl ich Artjom, der jetzt etwas zugänglicher wirkte, gerne noch weiter befragt hätte. Etwa, was genau den Inhaftierten in Lefortowo vorgeworfen wurde. Oder auch wie es kam, dass Artjom so fehlerfrei deutsch sprach. Doch ich stand auf, nahm meinen Rucksack während mir Artjom meine Jacke gab, die auf einem Bügel an einer kleinen Garderobe im Korridor hing, und ging zur Tür. Als ich Artjom die Hand gab, sagte dieser noch einmal „Danke“, ich nickte nur kurz. Es sollte ein Nicken sein, das bedeutete, dass es eigentlich nichts war, was ich getan hatte, nur ein kleiner Kurierdienst, aber ich wusste nicht, wie ich das jetzt ausdrücken sollte. „Keine Ursache“ oder „gern geschehen“? Das ginge wohl nicht, dachte ich. Für einen Moment schauten wir uns noch einmal an. Dann fragte Artjom: „Du weißt, wie du zurückkommst?“ Ich nickte erneut und sagte: „Ich finde zurück.“ Dann ging ich über die Türschwelle und nahm die ersten Stufen im Halbdunkel des Treppenhauses.

IN DER RHÖN, OKTOBER 1981

Das Visum, auf das ich wartete, kam nicht. Ich wusste zwar, dass es keinen Sinn machte, allzu viel über die Gründe für die Verzögerung nachzudenken. Mal kam ein DDR-Visum schnell, mal brauchte es Ewigkeiten. Wirklich ergründen oder gar beeinflussen konnte man den Gang der Dinge nicht. Dennoch hätte ich schon gerne gewusst, ob und wann mir denn nun die DDR die Einreise erlauben würde.

Diese Gedanken beschäftigten mich, als ich an einem herbstlich-klaren Montagvormittag wieder einmal von meiner Wohnung die 72 Stufen nach unten stieg, um in meinem Briefkasten nachzusehen, ob sich darin ein Hinweis auf die Visumssache finden würde. Ich wohnte in Würzburg, in einer kleinen Mansardenwohnung. Wenn ich aus einem der beiden schmalen Fenster blickte, vor denen mein Schreibtisch stand, dann konnte ich ein Stückchen von der Festung Marienberg sehen. Und von den Weinbergen, die sich unterhalb der Festung an den Berg schmiegten. Würzburg war ein Idyll, eine heile, unterfränkische Welt, in der die Menschen nichts aus der Ruhe brachte. Die meisten Bewohner Würzburgs schienen diesen Rhythmus gut zu finden. Ich hingegen hatte mit dem so gemächlichen Tempo in dieser Stadt zunehmend meine Mühe. Während die Welt sich drehte, blieb in Würzburg die Zeit stehen. So kam es mir zumindest vor. Dieses Unwohlsein hatte sich seit meiner Moskau-Reise vor einigen Monaten noch verstärkt.

Als ich also an diesem Montag im Oktober 1981 erneut mit leeren Händen vom Besuch meines Briefkastens die Stufen nach oben nahm, fasste ich einen Entschluss. Wenn ich schon nicht erfuhr, ob ich jetzt in die DDR reisen würde, dann könnte ich mich der DDR doch wenigstens nähern. Noch waren Semesterferien und ich hatte Zeit für einen kleinen Ausflug. Ich packte ein paar Sachen zusammen, holte meine BMW aus der Tiefgarage der Uni, und am nächsten Morgen ging es los. Ich drückte auf den Anlasser, der Zweizylinder-Boxermotor sprang an, die Sitzbank vibrierte und ich bekam Gänsehaut.