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Gerald Orthen

Trümmerschatten

Kriminalroman

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Zum Buch

Bonn 1949 Im Schatten von Besatzung, Marshallplan und den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland wird in einem rheinischen Dorf ein brutaler Mord verübt. Der unerfahrene Kommissar-Anwärter Eugen Kranzel aus Bonn nimmt sich des Falls an. Bei dem Toten handelt es sich um den Dorflehrer, der sich aufgrund seiner kritischen, liberalen Ansichten in dem katholischen Ort viele Feinde gemacht hatte. Musste er deshalb sterben? Dann stößt Kranzel bei seinen Ermittlungen auf politische Intrigen und Geheimnisse um ein wirtschaftlich bedeutendes Wiederaufbauvorhaben. Sein einziger Verbündeter in einer Atmosphäre aus Schweigen, Trotz und Verdrängung ist sein trunksüchtiger Ausbilder. Als die beiden bedroht und die Ermittlungen torpediert werden, merken sie schnell, dass sie sich mit mächtigen Gegnern einlassen, die weit mehr als den Lehrermord auf dem Gewissen haben. Wird Kranzel seine Existenz aufs Spiel setzen, um ein Verbrechen aus dunkelsten deutschen Zeiten aufzuklären?

Gerald Orthen wurde 1969 in Remagen bei Bonn geboren und lebt seit 2008 mit seiner Familie in Berlin. Dort arbeitet der Jurist als Personalleiter für einen Krankenversicherungsverband. Nach früheren Fachveröffentlichungen hat er vor einigen Jahren seine Schreibleidenschaft in einem spannend unterhaltenden Metier entdeckt. Gerald Orthen gehört einer Autorengruppe in Berlin-Tegel an und legt nach verschiedenen Kurzgeschichten nun mit „Trümmerschatten“ seinen ersten zeitgeschichtlichen Kriminalroman vor.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Teresa Storkenmaier

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – dpa

ISBN 978-3-8392-6652-6

I.


Donnerstagabend, 3. November 1949

Er schaute der Meute nach. Nur noch ein schwankender Lichtpunkt in der Ferne. Mit der Laterne waren die Männer hergekommen. Im Schein hatte er acht Gesichter erkannt. Nein, Fratzen waren das gewesen, voller wütender Anklage und Abscheu. Außer ihrem Schweiß hatte er eine Wolke von Schnaps eingeatmet. Vorhin waren sie wieder abgezogen. Stolze Sieger.

Er stand gebeugt im Stalleingang und hielt sich am offenen Torflügel fest. Der Wind wehte ihm Schneekristalle ins Gesicht, doch ihre kalten Nadelstiche beachtete er nicht. Aber das Zittern in den Knien, in den Unterarmen, in den Lippen, das spürte er, und Angst, Zorn, Wut – was hatte er soeben für eine Schmach erlitten! Wie hatten sie ihn nur derart erniedrigen können?

»Das … das haben die in Bonn aber so beschlossen. Jeder hat jetzt das Recht …«, hatte er ihnen zu erklären versucht – doch sofort waren sie ihm über den Mund gefahren. In wilder Rage. Ab heute musste er höllisch aufpassen. Noch ein »Fehltritt«, ein falsches Wort, und er war hier endgültig erledigt. Auch die neue Obrigkeit erführe dann von seinen Ansichten. Und die Leute würden ihm zudem nicht bloß moralisch einen Strick daraus drehen, nein, sie würden ihn tatsächlich am Hals aufknüpfen. Das war ohne Zweifel die Lehre dieser Zusammenrottung: Ohne Gnade sähen sie alle zu, wie er baumelte.

Im Stroh unter dem Vordach raschelte es. Die Ablenkung kam ihm gelegen. Die entlaufenen Schafe in Sicherheit zu bringen, das war jetzt seine Aufgabe. Mühsam richtete er sich auf, wollte loslegen. Zurück zur Normalität. Doch da übertönte ein Zischlaut das Geraschel nah an seinem Ohr. Eine Streichholzflamme blendete seine Augen. Das Gesicht eines Mannes flackerte im Licht auf, bloß eine Armlänge vor ihm. Er blickte in stockfinstere Augen, funkelnd vor Entschlossenheit und Hass. Die Gestalt führte mit hohler Hand die tanzende Flamme herauf. Als ob sie Maß nähme. Die andere Hand langte in die Manteltasche und tauschte die Streichholzschachtel gegen einen großen Gegenstand. Der Arm streckte sich hinter den Rücken. Um auszuholen? Das Zündholz war beinahe abgebrannt, als er erkannte.

»Du? Was …«

Eine dunkle Flasche rauschte durch die Luft. Instinktiv zog er den Schädel ein, riss seine Arme nach oben. Doch sie schafften es nicht hoch genug zur Abwehr. Das Glasgeschoss knallte auf den Hinterkopf. In seinen Ohren tönte es wie beim Schlag auf eine Kirchenglocke. Die Knie sackten durch. Er schrumpfte auf die Hälfte seiner Größe, da, noch ein Schlag, Sterne, er fiel, nach hinten, nach unten, spürte Heu und Stroh an den Händen und dem Unterkörper, prallte mit den Schultern gegen die Stallwand. Ungläubig stierte er nach vorne, erkannte nichts, spürte nur ein Rauschen in ihm. Da, noch ein Schlag, auf die rechte Augenhöhle, wie von einem Dampfhammer. Das dröhnte und loderte vor Schmerz, als wäre in seinen Kopf ein Blitz eingeschlagen. Und der löste Zeit und Raum in Chaos auf.

1.

Ich ließ im Sitzen meinen Oberkörper nach vorne sacken. Dazu schlang ich die Arme umeinander und krümmte mich zusammen. Einem Vorgesetzten hätte ich wohl kaum erklären können, dass ich hier Wache hielt. Zumal auch noch mein Kopf, nur Zentimeter über dem Tisch, sanft hin- und herwiegte. Im Halbschlaf wanderten die Gedanken meiner Traumhochzeit entgegen. Im wahren Leben mangelte es an so ziemlich allem dafür. Sei’s drum, umso feierlicher heiratete ich meine Lucy nun in einem rauschenden Fest: Das schwarze Haar der Braut und ihre dunklen Augen strahlten im Wettstreit mit dem Hochzeitskleid, das so weiß war wie ihre Zähne. Ich trug eine Galauniform mit goldenen Knöpfen. Doch die waren nicht einmal das Schönste daran, sondern meine nagelneuen Schulterklappen des Inspektors, die ich mit einem Seitenblick bewunderte. Ein wahrhaft prächtiges Bild von uns glücklichem Paar zeigten die schweren Wandspiegel des Rheinhotels Dreesen. Seine weißen Gebäude zwischen Bonn und Bad Godesberg boten unseren Gästen im Sonnenlicht einen wundervollen Ausblick auf den Rhein, den gegenüberliegenden Petersberg und das Siebengebirge. Der einzige Haken an diesem Ort drang wie ein Stachel in meinen Traum hinein und ich blinzelte kurz auf. Dies war früher Hitlers Lieblingshotel gewesen. Und der hatte sich vor dem Krieg inmitten dieser prächtigen Kulisse diebisch über seinen Betrug am englischen Premier Chamberlain und dem Weltfrieden gefreut. Das war aber keineswegs dem Hotel anzulasten. Außerdem hatten Lucy und ich hier jüngst einen wunderbaren Abschlussball nach unserem Tanzkurs genossen – dessen Übungsstunden zuvor freilich in einem kalten Bonner Kellerloch mit einem verstimmten Klavier stattgefunden hatten. Als US-Amerikanerin begeisterte sie sich für deutsche Traditionen, die Stil und Geschmack bewiesen und eine Historie besaßen, die über die zwölf Jahre der Barbarei hinausreichten. Und die Geschichte des feinen Hauses am Rhein erstreckte sich deutlich weiter zurück. Mit dieser Versicherung schloss ich meine Augen wieder, und kurz darauf spiegelten wir uns erneut als Braut und Bräutigam in Harmonie mit dem lichtdurchfluteten Festsaal. Meinerseits eine 1,80 Meter große Stattlichkeit unter dunkelblondem Haar. Das trug ich zur Feier des Tages gescheitelt, und die grünen Augen blitzten. Derweil versammelten sich sämtliche Gäste auf dem edlen Parkett, wir, das Hochzeitspaar, traten vor die Terrassentür zum Rhein hin. Alle erhoben die Gläser. Das reiche Büfett vor der Saal-Wand wollte die Tafel biegen. Mehr Fleisch stand darauf, als es eine Großfamilie in den letzten zehn Jahren zusammengenommen auch nur aus der Nähe gesehen hätte. Mutter lächelte, die Polizeikollegen ebenfalls. Aber ziemlich neidisch.

»Auf das stolze Paar«, »Zum Wohl«, »Hoch sollen sie leben«. Edelsüß prickelte der Champagner auf der Zunge. Endlich war ich am Ziel. Jetzt konnte mir keiner mehr Lucy wegnehmen – oder drohte das doch noch? Nein, sie wollte mich abermals küssen und ließ gar nicht mehr von mir ab. Wegen meines Ranges sträubte ich mich gegen so viel Gefühl. Aber nur vordergründig, denn zu gerne gab ich nach und mein Mund näherte sich wieder ihrem. Der Kuss schmeckte noch besser als …

… das Telefon schrillte. Der Ton riss mich hoch. Ich schlug die Augen auf, und abrupt lösten sich Lucys lächelnde Lippen im Licht der Schreibtischfunzel auf. Papier und Stift gerieten in mein Blickfeld, ein angebissenes Stück Brot, vertrocknet, hoher Anteil Sägemehl. Ein halbes Glas Wasser daneben. Kein Hochzeitsbüfett. Das schwarze Telefon schrillte noch mal, wieder unendlich laut.

»Gibt es einen Freiwilligen für die Rufbereitschaft in der Nacht von Donnerstag auf Freitag?«, hatte der alte Liebig am Vortag gefragt. »Wie wäre es mit Ihnen, Kommissar-Anwärter Kranzel?«

Häng dich rein, hatte er damit gemeint, vorwärts, Kranzel, zeig allen, dass die ausgebliebene Beförderung nur Ansporn ist, beim nächsten Mal dabei zu sein. Die Nase war mir da gerade besonders heftig gelaufen. Richtig schlimm hatte mich die Erkältung diesmal erwischt.

»Ja, ich übernehme das, Herr Kriminaldirektor.«

Die Rufbereitschaft hatte mir schließlich Zeit zum Nachdenken über meine Lage versprochen. Es fehlte wegen dieser verdammten Karrierebremse noch schmerzlicher an Geld für die Hochzeit. So viel war klar. Aber gab es darum überhaupt keine gemeinsame Zukunft mehr? Bewahrheiteten sich meine tiefsten Befürchtungen und Lucy wandte sich jetzt einem anderen zu?

Dazu kam meine Wut auf den Schuldigen: Kommissar Manfred Bräuer, seines Zeichens mein direkter Vorgesetzter und Ausbilder. Wegen seiner ständigen Trinkerei hatte er wieder einmal gefehlt und die Absage meines Beförderungswunsches von Direktor Liebig, unserem Dezernatsleiter, nicht einmal mitbekommen. Also war es seine und nicht meine Schuld, hatte ich mich zu beruhigen versucht. Doch das war mir schwergefallen. Kommt Zeit, kommt Rat, bin erst sechsundzwanzig und werde noch weit kommen, hatte ich gedacht. Nur Durchhalteparolen?

Die Rufbereitschaft war träge dahingeflossen, zwischen Warten, Einnicken und neuen Niesattacken. Am Abend waren wenigstens ein paar Anrufe hereingekommen, wegen des Wintersturms und des einbrechenden Schnees. Aber für mich waren sie alle bloß Mist. Was sollte ich mit Sachschäden, eingefrorenen Schlössern, Stürzen, samt einem Armbruch, bloß anfangen? Ich war schließlich bei der Kripo, und zwar im Morddezernat! Einen richtigen Mord wollte ich bekommen und am besten ganz allein aufklären.

Das Telefon schrillte nun zum wiederholten Mal. Ich hatte nicht mitgezählt. Einfach ignorieren? Es war schon weit nach sieben Uhr am Morgen, und das Schichtende lockte um acht. Außerdem spürte ich meine steil angestiegene Fieberkurve. Wenn es aber was Wichtiges war? Und jemand das später rausbekam?

»Leider haben Sie sich nicht bewährt, Anwärter Kranzel!«

Dazu vertiefte sich vor meinem inneren Auge die Zornesfalte in Direktor Liebigs Gesicht.

Obendrein traf mich der müde Blick von Kommissar Bräuer.

»Das hast du dir selbst eingebrockt.«

Ich nahm den Hörer ab. In meiner Hand wog er hundert Kilo.

»Kripo Bonn, Rufbereitschaft. Kommissar-Anwärter Eugen Kranzel am Apparat«, krächzte ich vorschriftsgemäß.

»Wer? Wat? … Anwärter? Isch versoch et schun die janze Zick. Wohl verschlofe, wo jibbet denn sowat?«

»Wie … äh, was meinen Sie?«

So eine dumme Gegenfrage, dachte ich sogleich. Klingt nicht nach Inspektor, klingt nach Anwärter.

»Leeve Jong, bist wohl esu ne Hochdütsche, na dann will ich das mal übersetzen: Was ich meine? Seit einer halben Stunde kriege ich das Morddezernat nicht an die Strippe. Bin nur zur Fahndung durchgedrungen. Keiner ist zuständig. Keiner kommt her. Und jetzt rede ich mit einem blutigen Anfänger, der verpennt hat. Dat darf doch wohl nit wohr sin!«

Hell erwacht drückte ich den Rücken durch, straffte die Schultern und hob den Kopf.

»Was fällt Ihnen ein? Sie sprechen hier mit der Kripo. Wer sind Sie überhaupt? Was wollen Sie melden? Wo befinden Sie sich?«

Die W-Fragen, gelernt ist gelernt, dachte ich.

»Nur mal langsam, du Jungspund.«

Dass er alt war, hatte ich durch die Leitung erkannt, obwohl es rauschte und knackte. Ein Fernruf musste das sein. Die Stimme klang grantig, ihr rheinischer Singsang dämpfte das kaum. Als sie fortfuhr, zog ich eilig den Stift heran.

»Melde, dass hier einer erschlagen wurde. Ich bin Polizeihauptwachtmeister Uli Fuhrmann. Ich rufe aus Kirchhofen an. Man hat den Toten heute früh gefunden, gegen sechs Uhr, klaro?«

Während ich schrieb, huschte mein Blick zur Wandkarte im Lampenschein.

»Kirchhofen? Wurde der Tote auch dort gefunden?«

Das lag gleich hinter Siegburg und so eben noch im Kreis der Bonner Zuständigkeit. Wenige Kartenmillimeter weiter, und es wäre ein Fall für die Kölner gewesen. Die Z-Frage nach der Zuständigkeit war so wichtig wie die W-Fragen. Ich atmete schneller. Bestimmt rötete sich mein Gesicht. Zum Fieber trat noch die Aufregung hinzu. Das war jetzt mein Fall, meine Chance, und ich durfte das nicht verpatzen!

»Ja, also, direkt bei Kirchhofen, vor dem Dorf, da hat er gelegen, in einem Schafstall, nah an der Sieg. – Am besten schreibst du dir das mal auf, Jong.«

Die Gegend kannte ich von der Durchreise in Richtung Sauerland, meiner alten Heimat, den Ort Kirchhofen hatte ich aber noch nie besucht. Fuhrmann ließ eine Pause verstreichen. Noch mal straffte ich mich.

»Nun hören Sie gut zu, Mister Hauptwachtmeister! Ich bin nicht Ihr Junge. Ich besuche den Lehrgang des Morddezernats. Bald bin ich Inspektor. Also hören Sie auf, mich zu duzen. Außerdem erwarte ich jetzt exakte Auskünfte. Wir werden den Fall übernehmen.«

Laut war ich geworden. Wieder folgte eine Pause. Hatte er verstanden?

»Nun ja, also, die, also die Annie, das heißt die Frau Anneliese Voss, die hat mich heute früh geweckt. … und … und die hat den Toten gefunden, zusammen mit dem Bauern Weißkirchen. Sie versorgt in der Frühe seine Kühe, klaro? Die Viecher waren sehr unruhig, und nach dem Melken ist ihr aufgefallen, dass … äh … dass der Schafstall nebenan offen stand. Aus Angst, wer da sein könnte, hat sie den Bauern dazugeholt. Sonst war der Stall immer abgeschlossen und die Tiere gehören bei so einem Schneetreiben ja nicht …«

»Das ist doch keine Meldung, verdammt noch mal! Keiner interessiert sich für irgendwelches Viehzeug. Was ist mit dem Toten? Wer? Wie? Was? Warum?«

Ich schrie, fuhr hoch, der Stuhl kippte um.

Da fielen mir die bedächtigen Sätze Kommissar Bräuers ein: »Du musst Geduld haben, Eugen. Nur so löst du einen Fall. Lass die Leute reden. Sie verraten viel. Du musst es aber aufnehmen und entschlüsseln.«

Seine Ermittlungserfolge gaben ihm recht. Ich musste lernen, mich zu beherrschen. Ruhig zu bleiben. So, wie er mir gegenüber ruhig blieb. Sein Ausbildungsfall war anscheinend auch nur besonnen lösbar und dazu noch mit einer Portion Gutmütigkeit. Er strich auch nicht mit dem Rotstift in den Berichten herum wie die anderen Ausbilder, sondern stellte Rückfragen, die mir eigene Korrekturen erlaubten.

Also hob ich den Stuhl auf. Und setzte mich wieder darauf.

»Entschuldigung. Bitte noch mal der Reihe nach.«

»Also die Annie und der Weißkirchen haben den Toten bei der Stalltür gefunden. So steif gefroren wie ein Brett. Erst haben sie gedacht, dass es der Landstreicher wäre. Der ist die Tage hier im Dorf gesehen worden. Hat am Bahnhof Musik gemacht … also bis zu seinem Rausschmiss. Die haben wohl gedacht, der hätte die Schafe rausgelassen und wäre dann irgendwie zu Tode gekommen … aber der Tote war gar nicht der Landstreicher, klaro?«

Ich biss mir auf die Lippen, blieb aber gefasst.

»Sondern wer?«

»Unser Dorflehrer. Der Kurt Kottowski. Dem hat der Stall gehört. Ich habe die Leiche gesehen. Gott, war der zugerichtet! Den hat man malträtiert. Glauben Sie das, ich habe manche Toten und Verletzten gesehen. Das muss eine bestialische Schlägerei gewesen sein. Tiefe Wunden am Kopf hatte der und den ganzen Körper voller Brüche. Das Stroh war blutgetränkt. Aber heute früh, da war’s gefroren, überall dunkelrotes Eis, ja, jenau, so isset.«

»Was haben Sie unternommen?«

»Ich habe den Arzt geholt. Der hat gleich den Totenschein ausgestellt … also mit unnatürlicher Ursache. Ich bin ja nur der Dorfpolizist. Aber das war eindeutig. Also habe ich mich nach Bonn gewandt, an die Kripo. Hier gibt es nur wenige Fernsprecher, klaro? Ich bin in mein Dienstzimmer im Rathaus gegangen, habe erst versucht, irgendwen bei der Fahndung zu erreichen und …«

»Haben Sie den Tatort gesichert?«

»Ja, ich habe die Tür abgesperrt, der Schlüssel ist hier.«

»Dann halten Sie sich zur Verfügung, Herr Fuhrmann. Wir kommen so bald wie möglich. Wir finden Sie im Rathaus.«

»Ja, da bin ich ens mol jespannt, ob ihr bei dem Schnee üwwerhaup us Bonn eruskümmt. Mir sind hä offem Land ja Einijes jewöhnt. Äwwer ihr Städter …«

»Lassen Sie das unsere Sorge sein, bis dann.«

Ich knallte den Hörer auf, um mich sofort mit Kommissar Bräuers Büro verbinden zu lassen. Es läutete durch. Heute hinderte den Frühaufsteher anscheinend zu viel Restalkohol oder zu viel Schnee an der Anfahrt aus Hangelar, seinem Heimatdorf bei Bonn. Also musste ich die Meldung direkt an Kriminaldirektor Liebig weiterleiten. Obwohl ich diesem zornigen Bürokraten und seinem Vorzimmerdrachen lieber aus dem Weg gegangen wäre. Dazu schüttelte mich ein heftiger Husten.

»Schäfer!«, schnarrte eine tiefe Stimme aus der Leitung, wie von einem Mann. Dabei war Ursula Schäfer die Sekretärin von Liebig. Im Gefolge von Kommissar Bräuer durfte auch ich Ulla zu ihr sagen. War sie nicht zugegen, nannten alle sie aber nur »Panzerkreuzer«, in liebevoller Anlehnung an das alte Schlachtschiff, die Scharnhorst. Sie konnte stur sein wie ein Kamel, resolut wie ein Kutscher und überragte die meisten Kollegen an körperlicher Statur wie Herkules. Auch an Selbstbewusstsein fehlte es dem Panzerkreuzer nicht.

In Abwesenheit des Chefs begannen ihre Sätze meist mit: »Ich habe dem Liebig gesagt, dass …« oder: »Ich und der Direktor meinen …«

»Morgen, Ulla. Ich habe einen Totschlag zu melden. Bräuer ist nicht im Büro.«

»Der Liebig ist auch noch nicht hier. Ich hoffe, er kommt bald. Alle rufen hier wegen Eis und Schnee an. Es hagelt Krankmeldungen. Ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Was ist es denn für ein Fall?«

Oh nein, ihr wollte ich nun wirklich nicht Meldung erstatten, sondern musste ihren Fragen unbedingt ausweichen. Selbst der härteste Verhörspezialist fragte einen nicht dermaßen aus, wie Ulla Panzerkreuzer es tat.

»Gleich ist Schichtende. Ich bringe dir meine Aufzeichnungen. Es eilt. Bitte schreib das sofort ab und leg es dem Liebig vor, sobald er kommt. Bis dann.«

Schnell legte ich auf und schmierte mein Protokoll fertig. Der bräunliche Schreibblock war winzig. Papiermangel. Trotzdem hatte ich in der Nacht mehrere Stellen mit Zahlen und Formeln vollgekritzelt, so, wie früher bei der Abwehr. Irgendwo musste ich mein mathematisches Genie schließlich ausleben, seit ich nicht mehr für die Truppe von Admiral Canaris im Einsatz war.

In Kleinschrift vermerkte ich noch, dass ich direkt zum Tatort aufbrechen würde. Nach einer langen Nachtschicht. Ohne Pause. Nur die Erkältung blieb unerwähnt. Als ich aus dem kargen Bereitschaftsraum ging, ließ ich die zerfetzten Zahlenkritzeleien im Papierkorb verschwinden.

»Sie wollen ein Fahrzeug?«

Den Fuhrparkleiter schien mein Wunsch zu belustigen. »Wenn Sie Glück haben: morgen wieder, junger Kollege. Haben Sie vom Wetter noch nichts mitbekommen?«

Das war angesichts eines frostigen Winterhimmels über Bonn mit heftigem Schneefall und Glatteis unter den Füßen nun wirklich eine dämliche Frage. Ich verspürte aber keine Lust zum Streit mit diesem Kerl und brach lieber sofort in Richtung Rhein auf. Ich hoffte auf eine Zugverbindung vom rechtsrheinischen Beuel aus. Auf dem Fußweg hinunter zum Ufer rutschte ich mehrmals aus. Währenddessen kämpfte sich eine dampfbetriebene Straßenbahn weiter oben auf ihren Schienen ähnlich mühsam in dieselbe Richtung vor, deutlich lautstärker als zügig. Sie fuhr aber nur wenige Meter weiter, denn die neue Rheinbrücke musste erst noch fertiggestellt werden. Immerhin streckte das berühmte Bonner Brückenmännchen, eine vor der Kriegszerstörung gerettete Steinfigur, am neuen Pfeiler bereits wieder frech ihr Hinterteil heraus. Wenn auch jetzt Richtung Süden und nicht mehr, wie früher, in Richtung der Beueler Rheinseite, die man diesseits wenig liebevoll »de schäl Sick« titulierte. Nun also gen Frankfurt, meinten viele, denn die Stadt am Main hatte im Frühjahr eine böse Überraschung erlebt, als die Regierungszentrale der neuen Bundesrepublik Deutschland vorläufig in Bonn angesiedelt worden war. Und das, obwohl es hier – noch – nicht einmal eine funktionsfähige Rheinbrücke gab. Gestern war die entscheidende Abstimmung im frisch gewählten Bundestag gewesen, ob es auf Dauer bei Bonn bliebe. Wie auch immer das spannende Rennen ausgegangen war – Frankfurt hatte bereits siegesgewiss drauflosgebaut –, für mich galt es nun, einen Platz auf der Fähre zu ergattern.

»Ach, bitte, fahren Sie doch. Ich muss unbedingt drüben meinen Anschluss erreichen.«

In der wartenden Menge fiel mir die Rolle des Fürsprechers einer Überfahrt zu. Mit verkniffenen Augen unter schiefer Mütze wog der alte Fährmann das Risiko ab. Der Rhein schlug im Schneetreiben Wellen von beängstigender Höhe.

»Bei der Suppe?«, fragte er die Wartenden.

»Ach bitte«, »Ja, ich muss doch zur Arbeit«, »Ich muss auch meine Arbeit machen. Sie ebenfalls«, »Heidewitzka, Herr Kapitän, los!«

»Ihr seid doch alle lebensmüde! Ich aber nicht. Vergesst es. Heute früh wird das nichts. Mit viel Glück wieder ab Mittag. Die Strömung, die Sicht, glaubt mir, ich habe Erfahrung.«

Aus dem Pulk murrte es.

»Wir sind doch jetzt Hauptstadt«, versuchte es ein junger Mann mit einem politischen Argument und verriet allen Unwissenden den endgültigen Favoritensturz von Frankfurt zugunsten des kleinen Bonns bei der gestrigen Abstimmung.

»Mir egal«, entschied der alte Schiffer.

Über das neue Thema schnatternd, löste sich die Gruppe auf. Also ballte ich die Fäuste und trat den Rückzug an. Das Brückenmännchen zeigte nun eindeutig mir seinen Hintern her. Ich war hungrig und fror erbärmlich. Außerdem hatte ich schon über eine Stunde verloren. »Die ersten Stunden entscheiden nicht selten über Erfolg oder Misserfolg einer Ermittlung«, stand in unserem Lehrbuch.

Kommissar Bräuers Platz in unserem Büro war immer noch leer. Sobald die kalten Finger das vermochten, ließ ich mich mit dem Panzerkreuzer verbinden, und gleich schnarrte es durch den Hörer:

»Du, Eugen? Hör zu: Liebig ist in der obersten Etage. Beim PP kann es dauern. Wo hast du bloß gesteckt? Du sollst sofort runter in die Pathologie. Der Tote ist da.«

»Wie? Was denn für ein Toter?«

»Na, dein Toter natürlich, der aus Kirchhofen.«

»Wie kommt der denn hierher?«

»Woher soll ich das wissen? Immer fragen alle mich. Beeil dich lieber.«

»Aber …«

Sie hatte schon aufgelegt.

2.

Die Begleitung einer Obduktion empfand ich als die unangenehmste Pflicht meines Berufs. Im Krieg hatte ich bei den Toten möglichst nicht so genau hingesehen. Aber bei jeder rechtsmedizinischen Leichenöffnung musste ein Vertreter der Ermittlungsbehörde als Beobachter zugegen sein. Vorzugsweise griff man auf die Anwärter zurück. Wir schauten in die toten Augen und auf die blutgetränkten Organe. Die stanken wie verfaulte Tierkadaver. Der Chefpathologe entlastete uns von solchen Sinneseindrücken in keiner Weise, im Gegenteil. Er zelebrierte sein blutiges Gewerbe regelrecht. Darum stieg ich mit üblen Vorahnungen in die Katakomben des Präsidiums hinab.

»Da sind Sie ja endlich. Sind Sie bereit? Kann es losgehen?«, fragte er mich voller Diensteifer.

»… anwesend: ein Vertreter der Staatsanwaltschaft, Herr?«

»Eugen Kranzel vom Morddezernat.«

»… also Anwärter im Kriminalkommissariat«, nuschelte er, »… und Jochen Bruchhagen, Sektionsassistent. Leitung: Chefpathologe Dr. Rolf Klein. Es ist jetzt 10.20 Uhr, und wir haben heute Freitag, den 4. November 1949.«

Bruchhagen, der bleiche Helfer und Schreiber, schien zu überlegen, wie lange ich das hier wohl durchhielte.

Es roch nach Desinfektionsmitteln, nach Blut und nach Verwesung. Hier hatten fast alle schon gekotzt. Immerhin hatte ich nichts im Magen. Doch mir war flau vor Hunger. Die Leiche lag auf dem Seziertisch, angezogen, die Kleidung wirkte vorne unauffällig. Das ging ja noch. Auch die blutig verschmierten Kopfstellen konnte ich gerade eben ertragen, die todesstarren Augen schon weniger.

»Wieso ist der Tote hier? Mir wurde mitgeteilt, der Tatort sei gesichert. Das sollte doch eigentlich den Toten vor Ort einschließen«, wandte ich mich an den Chefpathologen.

Die Frage schien mir berechtigt und eines Inspektors würdig.

»Die Leiche wurde vorhin eingeliefert. Sie muss sofort untersucht werden. Alles andere interessiert mich nicht.«

Und damit legte Dr. Klein los, und der Schreiber schrieb:

»Männliche Leiche, Mitte fünfzig, schlank, Halbglatze, 1,75 Meter groß. Altersgerechter Körperbau, trägt graue Wollhose, blaues Hemd, dunkelgraue Weste, darüber schwarze Winterjacke, Schuhe ebenfalls schwarz. Der rechte Schuh ist speziell angefertigt. Darin ist eine Fußprothese eingelassen, vermutlich ein Kriegsschaden. Äußerliche Verletzungen: Hämatome, vor allem rund um das rechte Auge.«

Er hob den Kopf des Toten an. Der gab nur widerstrebend nach und es knirschte. Eine dunkelrote, schlierige Flüssigkeit ergoss sich aus dem rechten Augenbogen in das Auffangbecken. Ein Stück Gehirn schaute zwischen Teilen gesplitterten Schädelknochens heraus. Mein Puls klopfte in den Ohren.

»Am Hinterkopf ist ein schwerer Schädelbruch sichtbar. Austritt von Hirnflüssigkeit, Bruchkante: vier Zentimeter.«

Das Maßband surrte zurück.

»… von einem stumpfen Gegenstand verursacht und mit Sicherheit allein von tödlicher Wirkung. Rechtes Augenlid und Lippe sind aufgeschlagen.«

Er hielt den Kopf weiter angehoben, griff dem Toten mit der anderen Hand in den Mund. Ich schluckte. Zähen Widerstand leistete auch der Kiefer beim Aufklappen. Der steife Leichnam schien sich bewusst gegen die Untersuchung zu stemmen. Dabei mussten Todesstarre und Frost dafür verantwortlich sein.

»Verlust von je zwei Zähnen im Ober- und Unterkiefer, halbrechts. … wir nehmen die Kleidung ab.«

Der Tote verlor an Würde. Auf der Rückseite waren Hose und Mantel voller Stalldreck. Die nackte Haut war zum Erbarmen bleich und wies eine Fülle dunkler Blutergüsse auf. Dr. Klein maß die blauschwarzen Körperstellen, murmelte Angaben.

»Wir trennen den Oberkörper auf, Y- oder T-Schnitt?«

Nun wähnte ich endlich auch mal den Hilfssheriff in der Defensive.

Doch gekonnt führte Bruchhagen das ihm gereichte Skalpell.

»Vorsicht, jetzt spritzt es!«, warnte mich Dr. Klein.

Die Klinge schnitt in angetautes Fleisch voller Zähigkeit. Das hörte sich an wie ein hakender Reißverschluss.

»Achtung, jetzt kommt Ihre Nase ins Spiel.«

Es folgte eine Wolke von fauligem Gestank beim Aufklappen der Bauchhautlappen.

»Hier, fühlen Sie mal.«

Ich kniff die Augenlider zusammen, musste aber einen Schlitz offenlassen, um Beobachter zu bleiben. Beim Befühlen der gebrochenen Rippen war mein Fluchtreflex kaum noch zu bändigen. Ich hörte nicht mehr hin, was Dr. Klein nun alles aufrief. Mit aufeinandergepressten Lippen und Augenlidern schaute ich zu, wie die beiden Experten mit den Organen hantierten, maßen, wogen und fachsimpelten. Eine schier unendliche Masse zäher Flüssigkeit rann dunkel durch die Rinne. Ich stand, nein, torkelte daneben wie ein Seekranker.

»Ihr müsst das Fleisch ihm schneiden an der Brust …«

Mein Gott, das hatte ich am meisten befürchtet: Dr. Kleins berühmt-berüchtigte Aufführung, ein menschliches Herz in Manier des Kaufmanns von Venedig abzuwiegen. Er hob es nun hoch wie eine Trophäe. Aus der blutigen Herzmasse klatschten dunkle Tropfen in das Becken, mir schoss Galle in den Hals. Aber zum Glück hatte es ja kein Frühstück gegeben.

Zu vereinzelten Beschwerden über Dr. Kleins Schauspielattitüden hatte Kriminaldirektor Liebig einmal angemerkt: »Unser Chefpathologe ist eben Shakespeare-Verehrer. Ein wahrhaftig Eingefleischter! Genießen Sie es einfach.«

So wurde ich auch noch Zeuge der Darbietung einer Schädelöffnung. Das Geräusch der Knochensäge ging unter die Haut. Ein großes Gehirn besaß dieser Lehrer. Sein gesammeltes Wissen war nur noch ein blutiger Pudding.

Bei den Schlussfolgerungen hörte ich wieder hin:

»Der Mann dürfte am frühen Abend gestorben sein. Todesursache: Schlag auf den Hinterkopf mit einer stumpfen Waffe. Der Tod trat kurz danach ein. Die weiteren Verletzungen waren nicht tödlich und liefern Anhaltspunkte für postmortale Gewalt, denn es gibt wenig Blut im Bauchinnenraum.«

»Verstehe ich das richtig? Mal angenommen, dass mehrere Beteiligte auf das Opfer eingeschlagen hätten, dann war nur der mit dem Kopfschlag verantwortlich? Und wahrscheinlich wurde noch nach seinem Tod weiter auf ihn eingedroschen?«

»Richtig, Herr Kranzel. Der Blutkreislauf war dann schon unterbrochen und es trat wenig Blut aus.«

Der Chefpathologe lächelte sanft. Ich deutete das als Anerkennung für mein Verständnis und Durchhaltevermögen. Leider verdarb ein Hustenanfall meine Genugtuung.

»Wieso ist Ihr Toter schon hier?«

Die Frage verhieß nichts Gutes und Liebigs Zornesfalte noch weniger. Ulla Panzerkreuzer hatte mir noch zugerufen:

»Geh schon rein. Er ist auf hundertachtzig. Der PP hat ihm Saures gegeben. Bräuer fehlt weiter. Das ist nun dein Bier!«

Mein Hauptproblem blieb ungelöst: Ich hatte Liebig keinerlei Idee zum plötzlichen Auftauchen des Toten anzubieten. Dabei war der Eindruck, den der Direktor von mir gewann, für mein Fortkommen doch so wichtig. Ich sagte keinen Ton. Die Nase und mein Schweiß liefen. Wieso musste ich nur für die Fehler der Abwesenden, Bräuer und diesem alten Fuhrmann, geradestehen? Was hatte dieser Dorftrottel mir gesagt, und was hatte er nur getan?

»Herr Kommissar-Anwärter! Sie hatten Dienst. Wie kann es sein, dass in aller Herrgottsfrühe ein Abdecker, jawohl ein Abdecker, aus Kirchhofen über die Kölner Brücke hierher fährt, sich fast den Hals bricht und der Pathologie eine gefrorene Leiche auf den Tisch schmeißt? Erklären Sie mir das!«

»Ich fürchte, das kann ich nicht, Herr Kriminaldirektor. Der Dorfpolizist Fuhrmann …«

»Ich kann lesen! Sie haben geschrieben, was er gesagt hat. Verstehen Sie das etwa unter einem gesicherten Tatort, eine Leiche auf Winterreise?«

»Nein, Herr Direktor. Fuhrmann hat mir das so geschildert, wie es im Bericht steht, also ohne Reise.«

»Haben Sie denn überhaupt nach der Leiche gefragt?«

»Er hat sie mir beschrieben. Ich hatte keinen Anlass, davon auszugehen, dass sie nicht …«

»Herrgott noch mal!«

Ich hatte das Gefühl, in seine metertiefe Zornesfalte zu fallen, ohne Halt!

»Der PP muss den Alliierten über den Totschlag Bericht erstatten. Wir stehen unter Hochdruck. Das Opfer ist Lehrer, eine Amtsperson. Da werden die hellhörig. Der PP wird denen nun sagen, dass die Experten unterwegs sind, den Tatort inspizieren und die Angehörigen und Zeugen befragen. Alles das, was man richtigerweise als Ermittler macht, und das sind Sie – ab jetzt! Sie fahren mit dem nächsten Zug.«

Liebig rieb sich die Schläfen. Die Stirnfalte blieb.

»Mit Bräuer habe ich telefoniert. Er kommt nach, sobald er kann. Sie treffen ihn in dem einzigen Gasthaus am Ort, zeigen Präsenz, übernachten da, die Zimmer sind bestellt. Sie berichten telefonisch. Alles will ich genau wissen!«

Er nahm mich scharf ins Visier, hob den Zeigefinger.

»Sie tragen die Verantwortung, bis der Kommissar eintrifft. Wenn Sie das vermasseln, dann …«

Er führte die Hände zu einem Würgegriff zusammen, ganz nah vor meinem Hals.

»Ich werde das in die Hand nehmen. Mit Fuhrmann sprechen.«

Und wie ich mit dem sprechen wollte!

»… der ist alt. Bestimmt ein Reaktivierter«, schob ich nach.

Nachdem der schlaue Adenauer Bonn zum politischen Zentrum der Trizone im westlichen Teil Deutschlands gemacht hatte, brauchte die Polizei jeden Mann, höchstwahrscheinlich war Fuhrmann so ein aktiver Pensionist.

»Hm, mag sein«, knurrte Liebig leiser. Ein Punkt für mich?

»Dann passen Sie aber auf, dass der keinen Mist baut. Apropos Mist – oder vielleicht auch nicht: Erklären Sie mir mal die Fahndung nach dem Landstreicher. – Oh Gott, wenn uns die Alliierten hören könnten …«

… dann wäre es schnell aus mit dem zarten Pflänzchen unserer Eigenständigkeit als deutsche Kripo. So viel war mir klar. Der Arm der Besatzungsmächte blieb auch im neuen deutschen Weststaat stark und konnte hart durchgreifen.

»Fahndung? Welche Fahndung meinen Sie?«

Liebig schaute, als hätte er zehn Kröten verschluckt.

»Was? Von der Fahndung nach dem Landstreicher wissen Sie auch nichts? Haben Sie etwa nicht einmal nach einem Tatverdächtigen gefragt?«

Oh Gott, die W-Fragen, wie hatte ich nur »Wer war es?« vergessen können? Gelernt ist gelernt – was war ich für ein Idiot! Ich versuchte zu schlucken. Aber da war ein Kloß.

»Ich, ich ruf den gleich an. Ich, also … ich klär das. Also, wie oder warum der Fuhrmann die Fahndung rausgegeben hat … Immerhin, er hat mir gesagt, dass er zuvor mit der Fahndung gesprochen hatte. Und den Landstreicher, den hat er auch erwähnt, aber an anderer Stelle. Da habe ich gedacht …«

»Da haben Sie gedacht: Das ist alles so kompliziert, da schreibe ich lieber mal nur das Allernötigste auf. Sollen doch die Vorgesetzten die Puzzleteile selbst zusammensetzen, ein bisschen von der Rufbereitschaft hier, ein wenig von der Fahndung dort. Menschenskind! Wenn die Personalnot nicht so groß wäre, ich würde Sie glatt zum Schwarz versetzen!«

Das wäre die Katastrophe schlechthin. Schwarz, so hieß der mit Abstand unbeliebteste Dezernent von allen. »Schwarz wie Schwarzmarkt«, schimpften alle über diesen Saubermann – und sein Gebiet, die kleinkriminelle Schieberei. Wie sie jeder in diesen Zeiten zum Überleben betrieb, auch die Polizisten. Das wäre mein bitteres Karriereende.

»Sie … Sie können sich auf mich verlassen.«

»Auf Sie verlassen? Bei diesem Chaos? Das will ich mir lieber nicht vorstellen. Und jetzt raus mit Ihnen!«

3.

Der Dorfpolizist war offenbar schlau genug, sich vom Telefon fernzuhalten. Als ich hernach zum zweiten Mal zum Rhein hinunterrutschte, brach eine Gruppe von Kindern ihre Schneeballschlacht zwischen den Trümmern einer zerbombten Stadtvilla ab. Sie schauten entgeistert zu mir herüber. Ertappt, wie ich Gesten des Anschreiens, Schlagens und Erwürgens einübte, wollte ich darüber hinweglachen. Doch das geriet wohl zur Grimasse. Die Kinder starrten mich jedenfalls sehr ernst an, und da schaute ich schnell weg.

Diesmal ging der Fährmann das Risiko ein. Mit grimmiger Miene fuhr er mitten in die dunkelgrauen Wellen hinein. Abblätternde Lackreste an der Fähre in Schwarz, Weiß und Rot verrieten ihre besseren, des Kaisers Zeiten. Vom Anlegetau gelöst tanzte sie auf einem Wellenkamm nach dem anderen. Und fiel dazwischen spritzend in tiefe Täler. Die Passagiere ruckten mit ihren Köpfen hin und her. Als ob sie so die Schaukelei ausgleichen oder ein fremdes Schiff sehen und Warnrufe ausstoßen könnten. Das hätte indes gar nichts genutzt, denn der museumsreife Fährmotor betäubte mit seinem Lärm alle Ohren. Aber Vater Rhein blieb uns gnädig.

Als ich den Bahnhof von Beuel erreichte, fuhr gerade der Zug nach Olpe ein. Mir bot sich ein gewohntes Bild: Etliche Passagiere ballten sich außen auf den Übergängen und Trittstufen der Wagen. Heute trotzten sie sogar dem Frost. Dann folgte ein Gedränge, denn hier stiegen viele Leute aus oder um. Körpergröße und Erfahrung zählten jetzt. Deshalb ergatterte ich einen Sitzplatz im eiskalten Waggon. Während die Bahn im Schleichtempo hinter der Vorkriegslok herschaukelte, fragte ich mich, ob Kommissar Bräuer ebenfalls in Richtung Tatort unterwegs war. Sollte ich darauf hoffen oder besser auf meinen Alleingang? Für eine Entscheidung zu müde, nickte ich zwischen Husten und Schniefen beinahe ein. Die Bilder der Winterlandschaft schwebten am Fenster vorbei wie grauweiße Wolken. Schon bald tauchte die Sieg darin auf und durchteilte im Wechsel verschneite Felder, Waldstücke und Weiler. Der kleine Nebenfluss des Rheins gab phasenweise die Spur des Schienenstrangs vor. Der Zug ruckte für manchen Halt, und als der Ruf: »Siegburg, hier Siegburg« ertönte, löste das besondere Betriebsamkeit unter den Reisenden aus. Ich merkte auf und betrachtete sie näher. Einfaches Volk, mit ausgebesserten Jacken und Hosen. Meine Mutter hatte alsbald nach dem Krieg aus Wehrmachtszeltplanen Regenmäntel genäht. Ähnliche Flickwerke trugen sie hier in Schichten übereinander, und ihre Leiber erschienen dadurch wohlgenährter, als sie es tatsächlich waren. Das bewiesen ihre schmalen Gesichter. Und die wollten einst die Herrenmenschen gewesen sein? Oder waren sie hier auf dem Land so katholisch, dass der Nazivirus sie nicht hatte befallen können? Ihre verhärmten Gesichter verrieten es nicht. Wohl aber, dass manche von ihnen heute zum Hamstern unterwegs waren, auch ein: »Wollt’er Kartuffele han?«, hörte ich aus dem Gemurmel heraus.

Beim Ausstieg in Kirchhofen stolperte ich über eine Fülle von Beuteln, Schachteln und Koffern. Draußen sog ich endlich frische Luft ein. Und mit neuer Kraft nahm ich Liebigs Auftrag an. Nie würde ich zulassen, dass er mich zu Schwarz versetzte. Ich gehörte zur Mordkommission, basta! Und zwar bald als Inspektor, so konfus dieser Fall auch anlief. Kommissar Bräuer mochte weitersaufen, ich kam hier klar.

Mit einer Dampfwolke legte der Zug hinter mir zu seinem nächsten Ziel los und stampfte durch den Schnee davon.

Das Rathaus von Kirchhofen lag schräg gegenüber der Bahnstation. Eher winzig als stolz, passte es zu einem Ort von wenigen Tausend Seelen. Die ausgestiegenen Fahrgäste eilten auf vertrauten Wegen zu ihren beheizten Heimen. Die Tür fand ich verschlossen vor, keine Spur von Fuhrmann. Verdammt, alle Leute, die ich vorhin nach ihm hätte fragen können, waren schon weg. In Stücke reißen wollte ich diesen Dorfschupo.

Also musste ich erstmal zur Schule aufbrechen, denn bestimmt wohnte die Familie des getöteten Lehrers dort. Unter den aneinandergereihten Fachwerkhäusern war mein Ziel nicht leicht zu finden. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen, und es herrschte Stille, bis auf ein entferntes Hundegebell.

Nasser Stoff kratzte meine Haut. Der Schnee fiel so dicht, dass die Flocken von der Hutkrempe unter den Kragen meines Wollmantels gerutscht waren. Eisige Flöhe aus Schmelzwasser liefen Hals und Nacken hinunter. Was für ein verfluchter Mist!

Kirchhofen erstreckte sich an der Auto- und Eisenbahnroute entlang, so gedehnt wie ein amerikanischer Kaugummi in Kinderhänden. Ich startete gegen die Richtung des Pfeils auf dem Hinweisschild zum Nachbarort namens Seligenheide.

Unterwegs übte ich, wie ich der Familie des Erschlagenen mein Beileid mitteilen würde.

Schließlich stand ich vor dem Schulhaus aus dunklen Backsteinen, erkennbar am Hof und der Sirene auf dem Dach. Ich schellte an der Tür zur Dienstwohnung und spürte mein Herz klopfen, als sie sich öffnete. Die Witwe blickte mich an. Ihr stand Verzweiflung, mehr noch Verwunderung über den plötzlichen Tod ihres Ehegatten, im Gesicht. Frau Kottowski mochte fünfundvierzig Jahre alt sein, man konnte sie aber älter schätzen. Graue Strähnen hoben sich vom schwarzen Haupthaar ab. Tiefe Kummerfalten unterstrichen den Eindruck einer verhärmten Frau. Ihre dunklen Augen rangen um Fassung.

»Mein Beileid zum Tode Ihres Mannes, Frau Kottowski. Mein Name ist Kranzel, Kripo Bonn«, presste ich hervor.

Mit kurzem Kopfnicken ließ sie mich herein. Im Wohnzimmer nahm ich gegenüber der Familie Platz. Die Tochter schätzte ich auf zwölf, den Sohn auf sechzehn oder siebzehn. Irgendetwas stimmte nicht. Ich versuchte es in dem eingangs zähen Gespräch aufzuspüren. Ja, ihr Mann habe sich immer am frühen Abend zum Schafstall aufgemacht. Damit die Tiere nachts im Stall geschützt wären. Und er sei immer allein gegangen. Er habe dem täglichen Gewühle in der Schule nach dem Abendessen mit einer Portion Muße begegnen wollen.

»Auf wen könnte Ihr Mann im Stall getroffen sein?«

»Nun, alle im Dorf sagen, dass es der Landstreicher gewesen ist. Der hatte schon zwei Nächte dort im Stroh geschlafen. Ja, der hat bestimmt meinen Mann auf dem Gewissen. Nach dem wird doch auch gesucht. Bestimmt sind sie gestern Abend in einen Streit geraten. Mein Mann war leider zuweilen etwas jähzornig. Und da hat ihn der Fremde einfach totgeschlagen!«

Ich blickte noch mal zu dem großen Jungen herüber. Und da wurde mir klar, was vorhin nicht gestimmt hatte: das Flackern in seinen Augen. Sosehr seine Mutter und die Schwester Trauer und Verzweiflung ausstrahlten, so kalt wirkte seine Mimik. Ich meinte, einen Anflug von Genugtuung über die Tat und eine Verachtung des Vaters gemischt mit Furcht wahrzunehmen. Doch ich musste bei den Fakten bleiben.

»Wenn der Fremde schon zwei Nächte dort gewesen ist, dann hatte Ihr Mann vielleicht gar nichts dagegen, dass er im Stall geschlafen hat, oder?«

»Ach, hätte ich es doch nur gelassen, es ist alles meine Schuld!«

Sie seufzte, starrte zu Boden und schwieg.

»Entschuldigen Sie, was meinen Sie damit?«

Sie zögerte, dann folgten ihre Worte bedächtig: »Zuerst hat mir der Obdachlose leidgetan. Am Dienstag hat ihn der Bahnhofsvorsteher vor die Tür gesetzt. Der war so rücksichtslos und hat sein Bündel, samt der Gitarre, einfach auf die Straße geworfen. Ich war beim Einkaufen, habe das gesehen und ihm geholfen, seine Siebensachen zusammenzupacken. Dabei habe ich ihn gefragt, wohin er jetzt gehen würde. Er hatte kein Ziel und brauchte ein Nachtlager. Also habe ich ihm den Weg zum Schafstall beschrieben. Durch ein Fenster kommt man auch ohne Schlüssel hinein. Als mein Mann aus der Schule kam, musste ich ihm das beichten.«

Sie schluckte schwer. Ich nickte, um Beruhigung bemüht.

»Er war gleich außer sich und schrie von Gesindel, das ich uns ins Haus hole, und wie schlecht er damit im Dorf dastehen würde. Ich habe ihn daraufhin an die Sonntagspredigt erinnert. Und daran, dass viele Bauern ausgebombte Städter und die aus dem Osten aufnehmen mussten. Die Flüchtlinge wohnen bei denen ja keineswegs nur im Stall, sondern im Wohnbereich.«