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Oliver von Schaewen

Liebestrug

Intrigenspiel am Neckar

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Zum Buch

Standesdünkel Peter Struve ist bei der Polizei rausgeflogen und dümpelt als Ladendetektiv in der Glitzerwelt eines Ludwigsburger Einkaufszentrums herum. Am Tiefpunkt angelangt, verliebt er sich in die Buchhändlerin Carina, die mit Geflüchteten das Schiller-Stück »Kabale und Liebe« aufführen will. Doch dann erfährt Struve Mysteriöses: Carinas Ex-Freund, der iranische Asylbewerber Dschamil, soll den Gewerkschaftsaktivisten Berthold Schröder erstochen und sich aus Verzweiflung in der Gefängniszelle aufgehängt haben. Struve glaubt nicht an den schnellen Ermittlungserfolg seines früheren Chefs Hans Kottsieper. Je tiefer er in den Fall dringt, desto mehr Abgründe tun sich vor ihm auf. Struve selbst treibt gefangen in einer diffusen Gefühlwelt durch den Fall. Wie echt ist die Zuneigung Carinas und was will sie wirklich von ihm? Und warum entgleitet ihm das Geschehen im Einkaufszentrum immer mehr, als er in die Fußstapfen des Ermordeten Berthold Schröder tritt und einen Gesamtbetriebsrat gründen will? Der Ex-Kommissar reitet auf der Rasierklinge.

Oliver von Schaewen ist von Friedrich Schiller fasziniert. Seine Dramen lässt der 55-jährige Tageszeitungsredakteur aus der Nähe der Schiller-Geburtsstadt Marbach im Kreis Ludwigsburg in spannenden Kriminalromanen aufleben. »Heute gibt es keine Adelsprivilegien mehr – aber was wäre, wenn ein Geflüchteter in die heile Welt schwäbischen Besitzbürgertums einheiraten wollte?«, fragt der Autor und gibt damit Einblicke in den Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu »Liebestrug«. Im vierten seiner Schiller-Krimis stellt Oliver von Schaewen aber auch die Frage, wie sehr sich Menschen von großen romantischen Lieben bestimmen lassen dürfen.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © clu / istockphoto.com

ISBN 978-3-8392-6658-8

Widmung

Für Tina

1

Sengül, die Rose. Er traf sie beim Gartenhaus seiner Eltern. Ein verfallener Schuppen, abgelegen am Waldesrand. Diese Treffen würde er nie vergessen, ein Leben lang.

Sengül war seine erste Freundin und seine erste Frau. Und er war der erste Freund und der erste Mann für ein 17-jähriges Mädchen, das noch fremd war im Land. Er, der nassforsche Abiturient, hatte sie auf dem Schulcampus angesprochen. Ihr versprochen, die deutsche Sprache sei einfach, wenn sie mit Musik erlernt werde. So saßen die beiden mittags im Schneidersitz im Gras. Sengül trug ein Pendel am Hals. Sie bestand darauf, auszupendeln, ob sie beide ein gutes Paar wären. Das Pendel schlug zu seinen Gunsten aus. Peter Struve brachte seine Gitarre mit. Lange hatte er überlegt, sich dann für Westernhagen entschieden. »Lass uns leben, lass uns leben, immer mehr. Lass uns leben, lass uns leben, das Leben ist gar nicht so schwer.« Der Song war schlicht und mit wenigen Gitarrengriffen spielbar. Ein wenig Angst schwang mit, aber er fühlte sich getragen. Er wusste nicht, woher es kam. Wollte in Sengüls angenehme Ruhe eintauchen. Ihr Lächeln war die Sonne, die für ihn niemals untergehen sollte.

Zuversicht begleitete ihn, als er mit seinem Fahrrad erneut das Gartenhaus ansteuerte. Jahrelang hatte er sich durch den Unterricht auf der klassischen Gitarre gequält. Nun spürte er endlich Rückenwind. Die Rose lauschte. Und lächelte. Saß da wie ein Engel mit pechschwarzen, zurückgesteckten Haaren. Irgendwann sang sie mit. Und nie wieder hatte Struve eine so schöne Stimme gehört. Als die Rose diese Zeilen das erste Mal sang, riss es ihn hin. Der junge Struve war verliebt. Nein. Er übersprang diesen lächerlichen Zustand des Verliebtseins. Er liebte sofort. Die wahre, große, ewige Liebe. Als sie dann gemeinsam sangen »Lass uns lieben, lass uns lieben, lass uns lieben immer mehr. Lass uns lieben, lass uns lieben, zu lieben ist gar nicht so schwer«, starrte Struve auf die unruhigen Hände der Rose, deren Fingerspitzen am Saum ihres Rockes spielten. Struve hatte keine Ahnung, was er nun machen sollte. »Ich bin froh mit dir«, sagte sie. »Und ich bin froh mit dir«, antwortete er. Er nahm ihre Hand wortlos. Sie war so klein. Und so warm.

Sie liebten sich im Gartenhaus. Als sie ihn mit weit offenen, tiefschwarzbraunen Augen anstarrte, wurde Struve von einer ungezähmten Gewalt zum Himmel geschleudert. Jetzt wusste er, dass das Leben unendlich schön war und das Leben sich lohnte. Aber nur, weil es Sengül gab.

2

Argwöhnisch betrachtete Peter Struve die Menschenmassen, die sich vor seinen Augen durch das Einkaufscenter schoben. Die Mall am Rande Ludwigsburgs mit ihren vielen kleinen Läden quoll über. Struve, der seit Jahren nur noch das Nötigste erwarb, verstand nicht, weshalb sich die Leute einem derartigen Gedränge aussetzten. Vorweihnachtliche Verzweiflung trieb die meisten umher, da war er sich sicher. Der Ladendetektiv blickte von seinem Lieblingsplatz im Café der oberen Ladenzeile auf das unwirtliche Geschehen. Er rührte etwas Zucker in seinen Kaffee, den er stets schwarz trank. Versteckt neben einem Pfeiler konnte er die Kunden beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Ein Großteil seiner Tätigkeit bestand darin, Menschen mit Blicken zu verfolgen und aufgrund ihres Verhaltens Rückschlüsse zu ziehen. Das strengte ihn an. Er war nicht Tom Cruise, und mit seinen bald 55 eigenwillig verlebten Jahren musste er mit nachlassenden Kräften haushalten.

Sein Blick schweifte über die Weite des Glasrondells. Er gönnte sich regelmäßig gegen 14 Uhr diese kleine Pause. Es war nicht einfach für ihn abzuschalten. Die antrainierten Reflexe arbeiteten weiter. Auf der Rolltreppe schwebten bepackte Familien ebenso sanft nach unten wie Einzelgänger, auf die er sich zu konzentrieren hatte. Der freie Eintritt in diesen Palast zog junge Kerle mit glasigem Blick an wie auch vereinsamte Rentner, die mit einem Samstag im Advent nichts anzufangen wussten. Ein bisschen Geld zu verjubeln, konnten sich nur die leisten, die genügend davon besaßen. War die Kleidung auch heutzutage noch ein Anhaltspunkt? Struve blickte als Erstes immer auf die Schuhe, wenn er aus der Körperhaltung so etwas wie kriminelle Entschlossenheit herausgelesen hatte.

Er nahm den ersten Schluck Kaffee. Die Jahre waren vergangen. Die Rolltreppe des Lebens. Aufstieg, Abstieg. Konnte es für ihn noch weiter bergab gehen? Er hatte gelernt, sich mit seinen Niederlagen zu arrangieren und sich ein dickes Fell zugelegt. Aus dem Pianospiel, das ihn aus der mittleren Etage gedämpft erreichte, hörte er Gershwins »Rhapsody in Blue« heraus. Erleichtert darüber, dass sich etwas vom allgegenwärtigen Weihnachtsgedudel abhob, sichtete er den Eingang seines Smartphones. Niemand hatte angerufen oder ihm geschrieben. Er stellte es auf lautlos, um seine Pause noch vollends zu genießen.

Als er aufblickte, wanderte sein Blick erneut zur Rolltreppe. Was er dort sah, überraschte ihn. Er kannte diese schwarzbraunen Augen, er kannte dieses Gesicht, das ihm vertraut war. Viel zu vertraut, als dass es sich in der üblichen Weise zuordnen ließ. Sengül? Er war völlig durcheinander. Wie in Zeitlupe schwebte diese Erscheinung nach unten. Sein Herz schlug schneller. Es musste lange her sein, löste bei ihm aber immer noch etwas aus. Verdammt, was war das? Er wollte aufstehen, aber er fühlte sich nicht handlungsfähig. Jahrzehnte waren inzwischen vergangen, und doch hatte er diese Augen nie vergessen. Die Augen auf der Rolltreppe waren exakt jene, die den jungen Struve in eine aussichtslose Lage gebracht hatten.

Was wohl aus ihr geworden war? Wie konnte eine Liebe einfach so verschwinden? Und wie konnte sie nach all der Zeit wieder auftauchen? In einem Warenhaus. Struve löffelte den Milchschaum aus, der den Boden seiner Tasse bedeckte. Er wollte sich auf die Suche machen. War sie es? Es müsste peinlich sein, eine Fremde anzusprechen, von der sich herausstellte, dass sie keinerlei Berührungspunkte mit ihm hatte.

Eine Durchsage riss ihn aus seinen Gedanken.

»Der kleine Jan, vier Jahre, ist verloren gegangen. Wir suchen seine Eltern. 3984, bitte zum Info-Punkt.«

3984 – das war die Chiffre, auf die er zu reagieren hatte. Es kam öfter vor, dass Eltern ihre Kinder im Warenhaus verloren. Warum er als Ladendetektiv jedoch der Abholung beiwohnen musste, erschloss sich ihm nicht. Offenbar fand das Management keinen Dümmeren.

»Kindergarten«, fluchte er. Mit rollenden Augen und einem Fingerzeig in Richtung des Info-Punktes bedeutete er der Kellnerin wortlos seinen Aufbruch. Die Brünette im schwarzen T-Shirt, die behände zwischen den Tischchen entlangjonglierte, nickte kurz, während Struve ihr das Geld hinlegte. Dann trottete er ohne große Eile auf den Treffpunkt am anderen Ende des Ganges zu. Die Suche nach dem Phantom, das Sengül ähnelte, aber sie höchstwahrscheinlich nicht war, musste er zurückstellen. Einmal mehr diktierten äußere Umstände sein Handeln.

»Wo bleiben Sie denn?«, herrschte ihn eine hochgewachsene bebrillte Endvierzigerin mit schwarzem Kurzhaarschnitt und steifem dunklem Businesskostüm an. Cornelia Mörbelbauer, die stellvertretende Leiterin der Personalabteilung, hatte Wochenenddienst, was ihre Vorliebe, Gardinenpredigten zu halten, sicherlich förderte, dachte Struve. Er durfte es also nicht als persönliches Privileg verstehen, in ihr ungeduldiges Sperrfeuer der Vorwürfe gelaufen zu sein.

»Gemach, gemach«, antwortete Struve mit gespielter Lässigkeit. Die Frau ging ihm auf die Nerven, er konnte sie nicht ernst nehmen. »Rollschuhe wären super, aber bei dem Gedränge …«

»Lassen Sie Ihre Scherze, Sie sind hier nicht zum Vergnügen«, fauchte ihn die Mörbelbauer an. Ihre Wangen leuchteten rot, ihre Stirn lag in Falten. »Warum haben Sie sich nicht gemeldet, als ich Sie vorhin auf dem Handy anrief?«

Überrascht hob Struve seine Augenbrauen. Langsam tastete er sich mit seiner rechten Hand in seine Hosentasche vor und nestelte sein Smartphone hervor, um verstohlen auf das Display zu schauen.

»Hm, da habe ich wohl den Ton ausgestellt – Sie wissen ja, dass dies während meiner Observationen notwendig ist.«

»Schon mal was von Vibrationsalarm gehört – Handys haben mehr als eine Funktion!«, giftete die Vorgesetzte zurück.

»Klar kenne ich Vibratoren, setze sie aber nicht bei jeder Gelegenheit ein.« Struve zwinkerte ihr zu und hoffte, sie ein bisschen auflockern zu können, erreichte aber eher das Gegenteil. Cornelia Mörbelbauer fixierte ihn mit gefrorener Miene.

»Leute wie Sie sollte man …«

Der kleine Jan rief sich mit einem Tritt gegen Struves Schienbein in Erinnerung. »Böser Onkel!«

Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog der Getretene sein rechtes Bein hoch. Struve umklammerte es, während er mit dem anderen Bein einen kleinen Veitstanz vor der Info-Theke hinlegte. Einige Passanten drehten sich amüsiert um und zeigten grinsend mit dem Finger auf ihn. Cornelia Mörbelbauers Lippen blieben schmal.

»Sehen Sie, das kommt davon, wenn man andere warten lässt.«

»Aber Jan, da bist du ja.« Die Mutter des kleinen Rabauken bog, mit Einkaufstaschen beladen, um die Ecke und beugte sich trotz ihres sperrigen Gepäcks hinunter, um ihren Sohn zu umarmen. Jan entzog sich aber dem mütterlichen Zugriff und zeigte auf den großen Mann, dem er soeben ein Hämatom verpasst hatte. »Böser Onkel!«

Struve hatte sich wieder halbwegs normal positioniert und versuchte, ein Lächeln aufzusetzen. »Ihr Kleiner mag Kung-Fu-Filme, stimmt’s?«

»Wie kommen Sie denn darauf, Sie komischer Kauz? Was hat er dir getan, mein Schatz?«

Jan hatte offenbar nicht mehr den Mumm, weiter anzugreifen. Er fing an zu weinen und suchte bei seiner Mutter Schutz.

Cornelia Mörbelbauer beugte sich zu ihm hinunter und reichte ihm einen zweiten Riegel Kinderschokolade.

»Jan hat sich ganz tapfer gehalten. Ich hoffe, Sie haben sich nicht allzu große Sorgen um ihn gemacht«, säuselte die leitende Angestellte.

Wenig später stand Struve ihr allein gegenüber.

»Jetzt mal ohne Scheiß«, hob der Gescholtene an. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass meine Identität lange geheim bleibt, wenn mich die Leute ständig bei Kinderabholungen sehen?«

Die Mörbelbauer schaute ihn an, als ob sie ihn gerade beim Diebstahl eines Kinderschokolade-Riegels erwischt hätte.

»Sie sind seit etwa einem Vierteljahr bei uns tätig, Herr Struve, und Sie verdienen vergleichsweise viel. Da dürfen Sie sich für solche Arbeiten nicht zu schade sein.«

»Dass ich nicht lache«, entgegnete Struve, der wusste, dass die Läden der Warenhauskette mit Dumpinglöhnen operierten, wie sie nur wollten. Dass er als Freiberufler relativ gut verdiente, mochte aus ihrer Sicht vielleicht stimmen, doch war er bei einem Stundenlohn von 20 Euro weit davon entfernt, in Jubelarien einzustimmen. »Demnächst darf ich dann noch die Kids im Family-Room bespaßen?«

»Keine so schlechte Idee, ich werde es meinem Chef vorschlagen«, antwortete Cornelia Mörbelbauer schnippisch. »Ich denke, wir sollten sowieso mal mit Ihnen ein kleines Personalgespräch führen.«

Struve, der wusste, dass sie am längeren Hebel saß, wollte nicht klein beigeben.

»Wenn Sie einen Detektiv wollen, müssen Sie ihn seine Arbeit in Ruhe machen lassen – alles andere führt zu nichts.«

»Schön, dann zeigen Sie uns doch mal, was Sie drauf haben. Bisher haben wir von Ihnen wenig gesehen, Herr Struve – aber das besprechen wir am besten am Montag. Wir erwarten Sie um zehn Uhr im Management-Office.«

Als Struve das Büro verlassen hatte, las Cornelia Mörbelbauer noch einmal das stichpunktartige Strategiepapier durch, das in der Zentrumsleitung handschriftlich kursierte.

»Detektive. Einfache Kosten-Nutzen-Rechnung. Steigende Personalkosten. Outsourcing möglich. Brauchbare Gesetze. Detektive auf Erfolgsbasis? Statistiken? Müssen stimmen. Warenverluste noch niedrig. Nach wie vor akzeptabel. Detektiv 4.0? Kommt! Mehr Kameras, Stückzahl, Montage, Zwischensumme. Software an der Ware verstärken. Auswertung: Fremdvergabe. Kalkulation: Controlling und Personalleiterin. Projektfrist vereinbaren. Betroffen: Struve, Peter. Andere Detektive formbar. Mindestlohn. Struve kündbar, ab wann? Vertragsfristen beachten. Erfahrungen anderer Filialen? Abrufbar. Schauen, was geht. Bilanzen aus Stuttgart, Esslingen, Karlsruhe und Freiburg verfügbar. Evaluation manipulierbar. Rücksprache. Strenge Mitarbeiterführung. Mobbing: nicht unmöglich. Führungsebene einweihen. Können, wenn wir wollen.«

3

Verärgert setzte Peter Struve seine Arbeit fort. Es wurmte ihn, dass er das Augenpaar, das er auf der Rolltreppe erkannt hatte, nicht verfolgen, geschweige denn zuordnen konnte. Er schaute auf die Uhr und stellte fest, dass er noch vier Stunden zu arbeiten hatte. Er betrat den Technikraum, in dem er die Videokameras steuerte. Eine Batterie aus neun Monitoren gaben in Echtzeit die Ereignisse des Zentrums wieder. Struve setzte sich, nahm die Fernbedienung in die Hand und zappte sich durch das Programm. Leuchteten diese Augen noch irgendwo? Aber er suchte vergeblich. Stattdessen hallte immer noch das unerfreuliche Gespräch mit der Personalchefin nach. Er musste sich eingestehen, dass sein letzter Fang schon einige Wochen zurücklag. Darauf würde er am Montag bestimmt angesprochen. Natürlich konnte er sich rausreden. Die Kameras seien nicht etwa versteckt angebracht, schreckten ab, konnten jeden Winkel erfassen und es sei bekannt, dass professionell ausgebildete Ladendetektive im Haus arbeiteten. Mit anderen Worten: Die Fangquote ist nicht wesentlich. Dachte Struve jedenfalls. Weil er wusste, dass man dies auch anders sehen konnte, fühlte er sich unter Druck. Schließlich sparten sich immer mehr Kaufhausketten die Detektive und stellten vermehrt Studenten ein, die sich mit digitalen Gesichtserkennungsprogrammen auskannten. Sie werteten stundenlang die Videoaufzeichnungen der Vortage aus und konnten so einige Diebe im Nachhinein identifizieren. Wenn sie danach das Center betraten, konnte man sie schnappen. Eine saubere, sichere Sache, zumal die Gesetze zur Datenspeicherung gelockert worden waren. Struve musste fürchten, ein Opfer der um sich greifenden Rationalisierung zu werden. Vielleicht sollte er mit der Mörbelbauer besser ein Friedenspfeifchen rauchen, aber diese Schabracke war ja nicht einmal mit der Kneifzange anzufassen.

Als er mithilfe der Monitore ein Kleidungsgeschäft durchstreifte, fiel ihm ein junger Mann auf, der zwischen den Regalen auf und ab lief. Dabei immer wieder unsicher um sich blickte.

»Ruhig, Brauner!«, murmelte Struve, der sich insgeheim wünschte, bald einen Täter auf frischer Tat zu ertappen. »Jetzt mach schon!«, flüsterte er, während er die Szene größer zoomte. Er konnte sehen, wie der etwa 25-jährige dunkelhaarige Kerl im Kapuzenpulli an einem Stapel mit T-Shirts fingerte.

Dass sich diese dummen Klischees vom klauenden Ausländer auch ständig wiederholen müssen, dachte Struve, der sich an die Großkontrollen zu Beginn seiner Polizeiausbildung erinnerte. Sie zogen damals die kleinen, billigen Wagen raus, und genau dort saß meistens das Haschisch. Die größeren Verbrecher sitzen in den Luxuslimousinen, hatte er schon damals gedacht. Der Ladendieb, den er jetzt observierte, tat ihm fast schon leid. Aber er selbst brauchte ein Erfolgserlebnis.

»Okay, es geht los«, sprach er sich Mut zu und prüfte kurz, ob er seinen Dienstausweis dabei hatte. Schnell verließ er den Raum. Es würde reichen, den Mann im Kassenbereich abzufangen. Leider hebelten immer mehr Diebe die Produkterkennung am Ausgang aus. Er rechnete nicht damit, dass ein Alarm für unnötiges Aufsehen sorgen würde. Ein Irrtum, denn eine Sirene heulte durchdringend auf, als Struve nur noch etwa 30 Meter von der Drogerie entfernt war. Dazu drehte sich ein grelles Signallicht über der Armatur der Alarmanlage.

Der Dieb stürmte heraus, geradewegs auf ihn zu. Ängstlich wichen einige Frauen aus. Auch die Männer waren durch die Bank nicht bereit, den Helden zu spielen. Sie gaben sich alle Mühe, das kurze Wegstück zum Ausgang nicht zu versperren. Struve nutzte jedoch die etwas unübersichtliche Situation und brachte den jungen Mann zu Fall. Der Dieb streifte seine hochgezogene Kapuze ab und wollte sich aufrappeln. Struve, dessen Hämatom einen Volltreffer abbekommen hatte, warf sich jedoch auf ihn und nahm ihn fest in den Polizeigriff.

»Au – lassen Sie mich, ich gebe ja schon auf!«, rief der Ladendieb in fast akzentfreiem Deutsch.

»Sie werden jetzt keine Schwierigkeiten mehr machen und mich ins Büro begleiten!«, ordnete Struve mit fester Stimme an. Um sie herum hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet. Struve ließ los, denn er war überzeugt, dass ein neuer Fluchtversuch allein schon an der Masse der Umstehenden scheitern würde.

Jemand rief, es war wohl die Mörbelbauer. Struve drehte sich kurz um, doch damit gab er dem Ladendieb die Gelegenheit zum Angriff. Er spürte die kalte Klinge eines Messers, das ihm scharf auf den Kehlkopf drückte.

»Du bist tot, wenn du nicht mitmachst«, stieß der Dieb hervor. »Ihr macht alle Platz!«, herrschte er die unfreiwilligen Zuschauer an. Er packte Struve am hinteren Kragen und schob ihn nach vorne, während die Menge ängstlich auswich.

»Lassen Sie den Mist, Sie reiten sich nur noch tiefer rein!«, presste Struve hervor, der Meter für Meter weiter mitgezerrt wurde.

»Halt dein Maul!«, schrie der junge Mann. Sie erreichten den Springbrunnen, dessen monotones Plätschern für Struve nur dann zu ertragen war, wenn er bei einer Tasse Kaffee mit der Bäckereiverkäuferin schäkerte.

»Wenn Sie mich loslassen, lege ich vor Gericht ein gutes Wort für Sie ein, und Sie kommen da einigermaßen heil raus.« Struve fühlte, wie der andere den Griff enger zog und die Klinge in seine Haut eindrang. Viel konnte er sich nicht mehr erlauben.

Plötzlich lockerte sich die Umklammerung.

»Fuck off«, rief der Angreifer. Er gab Struve einen kräftigen Tritt in den Hintern, und der Kaufhausdetektiv schleuderte nach vorne, kippte über den Rand des Brunnens und landete der Länge nach im Wasser.

Der Dieb rannte durch den Eingang hinaus. Struve tauchte auf, blickte in entsetzte, aber auch amüsierte Gesichter. Smartphones waren auf ihn gerichtet. Sie filmten ihn. Er würde zum Spott der Facebook-Community, und er war viel zu nass, um den Flüchtigen schnell genug verfolgen zu können. Frustriert entstieg er dem unfreiwilligen Bad.

Cornelia Mörbelbauer trat so resolut auf ihn zu, als ob sie ihn gleich wieder untertauchen wollte.

»Wenn das alles ist, was Sie draufhaben, können Sie am Montag gleich Ihre Papiere abholen, Sie Niete!«

Struve wäre am liebsten vor Scham im Erdboden verschwunden. Er schaute sie belämmert an, spürte, wie Blut von seinem Hals herabrann, und wäre am liebsten in den Erdboden versunken. So unverschämt er die neuerliche Tirade dieser eingebildeten Kuh empfand, so hatte sie doch recht: Er hatte sich wie ein Anfänger düpieren lassen. Er, ein in die Jahre gekommener Bulle, der noch nicht einmal mit Ladendieben in einem Kaufhaus fertig wurde.

Die mitleidigen Blicke der Zentrumskunden verfolgten ihn, als er klatschnass um die Ecke bog und im Personalraum Unterschlupf suchte – nicht wissend, wie er die durchtränkten Klamotten durch andere ersetzen konnte. Kraftlos setzte er sich auf eine der lehnenlosen Bänke und begann, seine ruinierten Lederschuhe auszuziehen.

4

Es klopfte. Wer auch immer ihn in diesem Aufzug sähe, er würde es bitter bereuen, sagte sich Peter Struve in einem Anflug von Selbstironie. Er atmete tief durch, nahm sich vor, jede neue Unverschämtheit möglichst ohne Anwendung von Gewalt zu erdulden, und öffnete die Tür zu dem spärlich beleuchteten kleinen Raum, in dem außer den Bänken nur noch einige Spinde aus hässlichem grauen Metall standen.

»Hallo, Sie sind es doch, der Detektiv?«, fragte ihn eine angenehm klingende Frauenstimme.

Verdutzt blickte Struve auf einen Kleiderstapel, der sich vor ihm auftürmte. Ziemlich viele Handtücher, ein Pullover, eine Jeans, Unterwäsche und ein Paar Socken bildeten die Schichten, hinter denen ihn ein freundliches Gesicht anlächelte.

»Hallo, ja, das bin ich. Ist denn schon Heiligabend?«, fragte der immer noch nasse Struve sein Gegenüber. Es war die Verkäuferin aus der Buchhandlung schräg gegenüber. Sie war ihm schon früher aufgefallen, denn ihre schlanke Figur, das hellbraune lange volle Haar, das sie zumeist flott zu einem Pferdeschwanz gebündelt trug, und ihre offene, hilfsbereite Art wirkten auf ihn durchaus attraktiv. Es fiel ihm nicht schwer, ihr Lächeln zu erwidern. So erwartete er ihre Antwort.

»Na ja, nach der schönen Bescherung von vorhin können Sie bestimmt was gebrauchen, hab’ ich gedacht.«

»Da liegen Sie allerdings goldrichtig.« Dankbar nahm er den Stapel in Empfang. Er stellte sich vor und erfuhr, dass sie Carina Loringer hieß. Sie war nicht nur Augenzeugin seines grandiosen Unterganges im Zentrumsspringbrunnen gewesen, sondern hatte auch zuvor gesehen, wie Struve den Ladendieb stoppte.

»Ich finde, man hätte Sie nicht so behandeln dürfen«, sagte sie und drängte sich zu ihm in den Raum.

Struve nickte. »Sie entschuldigen mich kurz.« Eilig zog er sich in der Toilette um, während seine Besucherin auf ihn wartete.

»Sie müssen die Preisschilder noch abmachen«, rief die freundliche Besucherin und reichte ihm eine Schere. »Wenn Sie wollen, können wir noch rüber ins Schuhgeschäft«, schlug sie vor.

»Danke. Das ist nicht nötig. Ich habe immer ein Paar Halbschuhe für alle Fälle.« Die Jeans saß zwar nicht hundertprozentig, und auch der hellblaue Schlabberpulli entsprach nicht seinem Geschmack, doch in seiner Lage durfte er nicht wählerisch sein.

»Wie viel haben Sie für mich ausgelegt?«, fragte er, nachdem er aus der Toilette gekommen war und ihr wieder gegenüberstand.

»Bezahlt habe ich gar nichts. Geht aufs Haus.«

Er blickte sie fragend an, worauf sie die Achseln hob und wieder fallen ließ: »Ich persönlich finde, das war ein Arbeitsunfall. Da haben Sie ein Anrecht auf neue Kleidung.«

»Das dürfte die Zentrumsleitung anders sehen.«

»Mag sein, aber lassen Sie das meine Sorge sein. Eine Freundin arbeitet im Textilshop – die ist auch der Meinung, dass Sie sich für uns alle großartig eingesetzt und viel riskiert haben.«

So viel Dankbarkeit beeindruckte den Detektiv. »Eigentlich ein klassischer Fall von Ladendiebstahl durch das Personal«, scherzte Struve und blickte Carina Loringer streng an, um ihre Reaktion zu testen.

»Verhaften Sie mich doch.« Sie stand auf und hielt ihm ihre Hände entgegen.

»Geht nicht. Die Handschellen liegen im Auto.«

»Ich steh’ eh nicht auf solche Spielchen«, sagte sie und lächelte spitzbübisch. »Aber wenn Sie wollen, können wir uns nach Feierabend noch auf ein Bier im Bistro treffen. Bis wann geht Ihr Dienst?«

Der Vorschlag gefiel Struve. »18 Uhr, sehr gerne«, hörte er sich antworten. Die Kleine hatte Pep, und er brauchte jemanden, mit dem er den verpfuschten Tag noch versöhnlich ausklingen lassen konnte. Die Alternative wäre ein einsamer Fernsehabend in seinem Appartement in der Ludwigsburger City bei Dosenbier und Tiefkühlpizza gewesen.

»Na, dann bis später!«, rief sie ihm beim Rausgehen zu und drehte sich um: »Lassen Sie sich nicht unterkriegen und trinken Sie noch etwas Warmes!«

Keine zwei Minuten später klopfte es erneut, diesmal lauter und fordernder. Peter Struve ahnte, dass dieser Besuch weniger angenehm als der vorherige werden würde. Die Tür öffnete sich augenblicklich. Cornelia Mörbelbauer trat schnaufend ein und warf einen herablassenden Blick auf ihren Mitarbeiter, der sich wieder auf die Bank gesetzt hatte.

»Hier haben Sie sich also versteckt. Kommen Sie, die Polizei ist bei uns im Office. Die wollen mit Ihnen reden.«

Unwillig erhob sich Peter Struve und begleitete sie. Er versuchte nicht, etwas an ihrem frostigen Verhältnis zu ändern, und schwieg. Stumm durchschritten sie den langen Gang, der mit grellem, kaltem Neonlicht unbeseelt wirkte wie das Eisfach eines Kühlschranks.

Im Büro des Zentrumsmanagements warteten zwei Polizeibeamte. Einer von ihnen trug Uniform, der andere Zivilkleidung. Überrascht blickte der etwas Ältere ohne Uniform den Eintretenden an.

»Mensch, Struve, es stimmt also doch! Sie sind als Glubscher im Kaufhaus gelandet.«

Es war Littmann, Struves ehemaliger Kollege und Lieblingsfeind aus dem Stuttgarter Morddezernat. Peter Struve missfiel die anzügliche Begrüßung.

»Was wollen Sie von mir, Herr Polizeioberkommissar Littmann?«

»Na, warum denn auf einmal so förmlich?«, fragte Littmann mit breitem Grinsen zurück. »Wenn zwei alte Kämpen wie wir aufeinandertreffen, ist das doch eher ein Grund zu feiern, meinen Sie nicht auch?«

Regungslos nahm Struve den durchaus freundschaftlich gemeinten, etwas zu festen Klaps auf die Seite seines linken Oberarms hin. Sie schüttelten sich die Hände.

»Sie wissen genau, dass es nichts zu feiern gibt«, entgegnete Struve.

»Na schön, mag sein. Da ist Ihnen halt mal wieder ein Fisch von der Angel gegangen, haben wir gehört.« Littmann stellte ihm den Polizeiobermeister Dieter Harms vor. Es schien so, als ob die beiden schon mit Cornelia Mörbelbauer gesprochen hätten. Anders war die ignorante Haltung der Polizisten ihr gegenüber nicht zu erklären.

Struve nahm sich vor, sich von der zuweilen überbordenden Plumpheit seines Exkollegen nicht provozieren zu lassen.

»Wenn Sie den Ladendieb meinen: Ja, der ist leider entkommen.«

»Aber, das ist doch kein Beinbruch, alter Junge. Das passiert auch alten Hasen. Ich meine, Sie sind zwar ein alter Hase, und es passiert Ihnen ja sonst auch nicht, aber gut, wir sind alle Menschen und machen Fehler.«

»Durch Ihre vielen Worte wird es nicht besser.«

Mit der Ankunft seines langjährigen Bürogenossen sah sich Peter Struve schmerzhaft an die Umstände erinnert, die dazu geführt hatten, dass er diesen mehr als mäßigen Job im Warenhaus verrichten musste.

»Na, dann kann es ja nur besser werden.« Littmann versuchte wieder, auf gute Laune zu machen. »Frau, äh, Möbelbauer …«

»Mörbelbauer«, korrigierte Struve, der sich ein Grinsen gerade noch verkneifen konnte und es in ein Lächeln in ihre Richtung zu verwandeln suchte. Was jedoch misslang, wie er unschwer an ihren zusammengekniffenen Augenbrauen erkennen konnte.

»Ja, sorry, Mörbelbauer natürlich«, entschuldigte sich Littmann. »Sie haben uns Ihre Version von dem Vorgang bereits erzählt. Jetzt, verehrter Herr Struve, schießen Sie doch mal los: Wie haben Sie es erlebt?«

Littmann hielt den Notizblock in der einen Hand, in der anderen einen Stift. Struve kannte seine Haltungen in- und auswendig. Er fragte sich, warum sich der frühere Kollege aus der Mordkommission um Ladendiebstähle kümmerte. Weil er es für möglich hielt, dass Littmann gegen ihn ermittelte, beschloss er, durch Rückfragen Zeit zu gewinnen.

»Werde ich als Zeuge vernommen oder als möglicher Komplize des entwischten Ladendiebs?«

Aus den Augenwinkeln bemerkte Struve, wie sich die Mörbelbauer verlegen in Richtung Wand abdrehte.

Littmann grinste wieder breit. »Da bringen Sie mich aber auf ganz schöne Ideen, mein sehr verehrter Exkollege!« Er wandte sich Cornelia Mörbelbauer zu, bat sie, den Raum zu verlassen, und schickte Obermeister Harms zur Vernehmung weiterer Zeugen in die Ladenzeile.

Littmann saß ihm nun alleine gegenüber. »Mensch, Struve, lassen Sie’s doch endlich gut sein – wir beide können nichts dafür, dass die Sache damals so dumm lief. Vertrauen Sie mir! Das hier ist eine Bagatelle.«

»Wer hat Sie gerufen?«

»Irgendwelche Typen, die Ihren Auftritt mitbekommen haben. Natürlich will die Mörbelbauer Ihnen einen einschenken. Aber sie hat nichts. Oder?«

Die verbindliche Art Littmanns beruhigte Struve. Bullenblut war eben doch dicker als Wasser.

»Nein. Ich war nur unvorsichtig.« Struve erzählte von seinem Malheur. Littmann schüttelte immer wieder den Kopf und machte sich fleißig Notizen.

»Tja, es sieht so aus, als ob Sie einfach etwas aus der Übung sind. Aber Sie können sich auf mich verlassen: Da brennt nichts an.«

»Danke. Sonst alles okay in der Wolfsschanze?« Struve fragte eher mechanisch nach, denn er hatte mit dem Polizeidienst abgeschlossen.

»Ein Sauladen, es hat sich nicht viel geändert, seitdem Sie weg sind. Ein einziger intriganter Haufen.«

»Und Sie sind im Streifendienst gelandet?«

»Was willst du machen? Wenn dem Chef deine Nase nicht passt, bist du draußen.«

»Haben Sie genug?«, fragte er, um die Vernehmung abzukürzen.

»Ja.« Littmann schüttelte ihm die Hand einen Moment länger als nötig. »Das hier ist doch nichts für Sie, Struve.«

»Wir werden sehen.« Er dachte kurz daran, dass auch die Arbeit bei der Kripo all die Jahre lang nichts für ihn gewesen sein könnte. Dann verabschiedeten sie sich.

*

Izmir, 28.2.1984

Lieber Peter,

ich habe nicht vergessen. Nichts vergessen. Niemals vergessen. Wir sind nicht allein. S.

*

Tagebuch Peter Struve

Stuttgart, 10.3.1984

Wer hört mich?

Wer versteht mich?

Sengül, du

Verschwunden

Mir entrissen

Wo auch immer

Du bist

Weggebracht

Von mir

Unfassbar

Weit weg

Schreie ich

Nach dir

Verzehre mich

Nach dir

Hörst du mich?

Sehnsuchtsschmerz

Durchbohrt

Mein armes Herz

Deine Familie

eine Mauer

des Schweigens

Wo finde ich dich?

5

Peter Struve behielt die Monitore der Videoüberwachung im Blick. Bis zum Treffen mit seiner neuen Bekanntschaft blieben noch zwei Stunden. Er fühlte sich völlig aus dem Tritt und starrte unkonzentriert vor sich hin. Der Pullover kratzte. Er fragte sich, was eine aufgeweckte junge Frau von einem in die Jahre gekommenen Typen wie ihm wirklich hielt. Er lebte zurückgezogen und hatte sich seit der Trennung von Marie als unfähig erwiesen, neue Bindungen einzugehen. Vereinzelte One-Night-Stands endeten über kurz oder lang stets mit der ernüchternden Feststellung, dass weitergehende Beziehungen schwer zu verhandelnde Kompromisse erforderten. Und die war Peter Struve als Mittfünfziger nicht mehr bereit einzugehen. Er genoss seine Freiheit. Aus dem Alter, in dem die Sexualität die alles entscheidende Triebfeder für neue Bekanntschaften war, hatte er sich in den letzten Jahren verabschiedet. Er legte es nicht mehr darauf an, bei Frauen zu landen, er versuchte stattdessen, sich an seelischer Schönheit zu erfreuen, wie er es nannte. Wer nicht klammerte und Unmögliches von ihm forderte, konnte mit seiner Gesellschaft rechnen. Das Problem war, dass die meisten Frauen so nicht gestrickt waren und von ihm Liebesbeweise forderten, die ihn einschnürten. Inzwischen jedoch war er froh, wenn sich überhaupt noch Menschen, die er nett fand, für ihn interessierten.

Er schätzte Carina Loringer auf etwa Anfang 30. Ein Alter, in dem viele Frauen ihre Reize optimal entfalten. Aber mehr noch als durch ihr Äußeres fühlte sich Struve durch ihre offene Art angezogen. Die Last seiner langjährigen Einsamkeit zehrte an ihm. Er war Realist genug, um zu durchschauen, dass er hauptsächlich deshalb auf sie abfuhr, weil sie ihn in einem Zustand antraf, den er selbst nur noch als erbärmlich empfinden konnte. Was aber steckte hinter dieser Frau, die in den wenigen Minuten ihres Zusammenseins eine Seite in ihm berührte, die er fast schon vergessen geglaubt hatte? Struve blickte auf die Uhr. Es war Zeit, einen geeigneten Tisch im Zentrumsbistro zu finden. Der Abend hatte begonnen, die meisten Kunden saßen entweder schon mit ihren Geschenken im Auto oder erholten sich daheim von der strapaziösen Einkaufstour. Für gewöhnlich hielt der Strom der Konsumentschlossenen noch in den Abendstunden an. Auch im Advent brach jetzt die Zeit der Jüngeren, Ungebundenen an, die von 18 bis 22 Uhr das Zentrum durchstreiften. Aber auch ältere Singles oder nicht betreuungspflichtige Senioren zerstreuten sich unter den verspielten Klängen des Pianos, die immer noch das Plätschern des Springbrunnens begleiteten.

Nach den turbulenten Ereignissen des Tages legte Peter Struve nicht allzu großen Wert darauf, länger als nötig zu arbeiten. Er fühlte sich wie ein gerupftes Huhn und nahm auf einem der bequemen Schwingstühle des Bistros Platz. Lange zu warten brauchte er nicht. Carina Loringer trat pünktlich an den Tisch. Sie trug eine eher unauffällige Kombination aus langem Jeansrock, einer hellen Bluse und einer dunkelblauen Cordjacke, die ihre Haare, die sie nun offen trug, wirkungsvoll in Szene setzte. Struve kam sich umständlich vor, als er ihr einen Platz anbot, er nahm ihr natürliches Lächeln erfreut zur Kenntnis, sorgte sich aber, sie könne ihn im Laufe des Gesprächs als langweilig empfinden. Überhaupt fragte er sich, worüber sie sich wohl unterhalten könnten. Eine solche Aufregung erinnerte ihn an alte Zeiten. Keine Frage: Licht drang in die Dunkelkammer seines faden Lebens, und er versuchte, sich mit dem niedrig gesteckten Ziel zu beruhigen, einfach eine gute Zeit mit einer Frau zu verbringen, die sich offenbar für ihn interessierte.

Tatsächlich verlief das Gespräch aus seiner Sicht erfreulich gut. Das förmliche Sie wich schon beim ersten Glas Bier dem vertraulichen Du, das er ihr aus einem ganz natürlichen Reflex heraus anbot. Sie erzählte ihm, dass sie in der Nähe von Schillers Geburtshaus in den Marbacher Holdergassen wohnte.

Struve, dessen Exfrau Marie in der Stadt arbeitete, kannte die Kleinstadt.

»Der Kult um den Dichter wirkt auf mich erdrückend. Es fehlt nur noch, dass sie seine Reliquien in der Alexanderkirche ausstellen«, spottete Struve, der zugeben musste, nur wenige der Werke gelesen zu haben.

»Findest du wirklich?«, entgegnete die Buchverkäuferin, als sie sich mit Lasagne al forno zu stärken begannen. Sie setzte die Gabel ab. »Schillers Dramen sind doch aber Klassiker und damit fast zeitlos. Da gibt es noch immer etwas zu entdecken, gerade heute.«

»Ja, das sagen sie immer. Aber allein diese umständliche Sprache – ich hab’ neulich zwei junge Türken im Dönerladen darüber reden gehört, wie sie ihr Deutsch-Abitur am Abendgymnasium nachgeholt haben. Die mussten Schillers ›Räuber‹ mit dem Wörterbuch lesen.«

»Okay …« Carina Loringers Temperament zeigte auf einmal Anzeichen der Entschleunigung. Sie wirkte nachdenklich und blieb Struve die Antwort schuldig. Er wollte nicht unhöflich sein und scheute sich deshalb, nach dem Grund ihres abrupten Schweigens zu fragen. Nach einer kurzen Weile, die ihm wie eine halbe Ewigkeit vorkam, nahm sie ihr Glas und prostete ihm zu.

»Ich finde es schön, dass du nicht mehr so geknickt bist, Peter.«

»Danke, Carina. Ich finde es schön, dass wir uns durch dieses ganze Schlamassel kennenlernen konnten.«

Weil er Oberflächlichkeit hasste und ihm ihre vorübergehende Reserviertheit keine Ruhe ließ, hakte er nach.

»Ich weiß ja nicht, wie du zu diesem alten Herrn Schiller stehst. Aber wenn ich da bei dir in ein Fettnäpfchen getreten sein sollte, kannst du es mir ruhig sagen.«

Sie lachte und setzte das Glas ab.

»Du bist ja wirklich supersensibel, Peter! Also gut, ich verrate dir das Geheimnis: Ich bin in meiner Freizeit Schauspielerin, und wir vom Kulturverein Südlich vom Ochsen proben gerade für ein Stück.«

»Lass mich raten«, nahm Struve den Ball auf. »Ihr führt Schillers ›Jungfrau von Orléans‹ auf, und du spielst die Hauptrolle.«

»Knapp daneben, mein Lieber. Die Jungfrau wäre auch ein tolles Stück, aber wir proben für unsere Aufführung ›Kabale und Liebe‹.«

Peter Struve versuchte, sich an das Drama zu erinnern, das er in der Schule gelesen hatte.

»Du wärst auch zu schade für den Scheiterhaufen«, überbrückte er lächelnd seine Wissenslücke, dann fiel ihm der Schluss des Stückes ein, und er beeilte sich hinzuzufügen, »aber den Gifttod hast du auch nicht verdient.«