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Uwe Bogen

Stuttgart für Fortgeschrittene

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Zum Buch

Stuttgart macht Spaß Uwe Bogen, Kolumnist der »Stuttgarter Zeitung« und »Stuttgarter Nachrichten«, lädt ein zu einer spannenden Entdeckungstour durch die Schwabenmetropole, wie man sie noch nicht kennt. Lange als Streber unter den Städten verschrien, überrascht die Stadt mit Charme, Witz und jeder Menge Charakter. So gilt sie als eine der Hauptstädte für Theater, Kunst und Ballett in Europa, aber auch Popstars sind hier zu Hause. Zahlreiche Stuttgarter Originale bezeugen eine lebendige Stadt, in der Subkulturen und alternative Lebensweisen ebenso Platz haben wie Innovationsgeist und Tradition. Dabei beweisen Stuttgarts selbstbewusste Einwohner, dass sie das Understatement genauso beherrschen wie subversiven Humor. Und wo sonst gelten Treppen als Wahrzeichen?

Uwe Bogen ist gebürtiger Stuttgarter und liebt seine Heimatstadt, die er als Kolumnist bei der „Stuttgarter Zeitung“ und den „Stuttgarter Nachrichten“ seit Jahren begleitet. Für seine Arbeit wurde er mit dem Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen über Stuttgart und Initiator des Blogs „Stuttgart-Album“, der sich einer treuen Fangemeinde erfreut.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Stuttgart für Fortgeschrittene (2020)

Stuttgart – Gesichter einer Metropole (2019)

Inhalt

Zum Buch

Impressum

HOCHGEFÜHLE

Stufen bis zum Himmel

Die >>Zacke<< – auch ohne Treppensteigen zur schönsten Aussicht

Dächer der Stadt!

STADTLIEBE

Sogar ein Münchner liebt Stuttgart

Stuttgarter Glücksfälle

Die Hauptstadt der Zäune

NEUE FARBEN FÜRS ROTLICHTVIERTEL

In der Uhu-Bar nachts um halb eins

Wie lautet die Parole?

Was auf 50 Quadratmetern möglich ist

KULTURHAUPTSTADT STUTTGART

Stuttgart tanzt in vielen Farben

Kulturmeile: Eine alte Wunde

Harald Schmidt steht auf Ützel-Brützel

Die Fantastischen Vier: Was geht? Echt viel!

Die Panda-Maske ist die coolste

Ein prägendes Gesicht der Stuttgarter Oper

Ein Paradies für Fotografen: Die Stadtbibliothek lockt Touristen aus aller Welt an

Wo die Zeit rausgenommen wird

STUTTGARTER EINMALIGKEITEN

Schwimmen im 21. Stockwerk

Mit einer Hungersnot fing alles an

Wer hat das schon? Weinberge mitten in der Großstadt!

Ein weiter Weg zur Toleranz

Amazonen sind treu bis zum Tod

Stuttgarts nackte Tradition

Blümchen-Sex im Westen

Keiner will’s gewesen sein

Der tiefergelegte Bach und das >>Wilde Wasser<<

Ein Berg zur Erinnerung

Der Stolz der Stadt

Die Stadt der Autos

Stuttgarts Schokoladenseite

Eine Schnapsidee geht um die Welt

Wo Kindheitserinnerungen wach werden

STADTORIGINALE

Kommissar Bienzle

Der Bengel mit dem Lockenkopf

Der Menschenfischer

Vom Pausenfüller zum schwäbischen Kulturgut

Vom Stamm der Rothäute

Wer nicht staunen kann, wird blind fürs Leben

Der Tausendsassa der Stuttgarter Kultur

STATIONEN DER NACHT

Der >>Palast der Republik<< – mit wenig lässt sich viel erreichen

Die Theo im Wandel

Der Perkins Park – ein Ort der Erinnerungen

Speeddating der Startups

Des han i dino froga wella!

Ist bei den Schwaben der Putztrieb stärker als der Sextrieb?

WER SPUREN HINTERLÄSST, IST NICHT TOT

Der letzte König von Württemberg

Bedenkt das Ende, werdet nicht überheblich

Freundschaft über den Tod hinaus

SPORTLICH

Hitz the Hammer

Eine Niederländerin lobt Stuttgarts besondere Sportkultur

Der Weltmeister der Motivation

Bildnachweis

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HOCHGEFÜHLE

Stufen bis zum Himmel

Höhen und Tiefen haben die schwäbische Seele geprägt. Deshalb sind die Stuttgarter »Stäffele« ein toller Startpunkt, will man sich ihr nähern. In kaum einer anderen Stadt gibt es so viele herrliche Plätze zum Sinnieren, die man nur über Treppen erreichen kann.

Wir Stuttgarter – auch deshalb sind die Stäffele ein tolles Sinnbild – sind erst zufrieden und geben uns der Muse hin, wenn die letzte Stufe erklommen und der letzte Schweißtropfen geflossen ist.

In Stuttgart gibt es über 600 »Stäffele«, darunter die Taubenstaffel in Heslach, die Etzelstaffel, Wächterstaffel, Sängerstaffel, Hasenberg-Staffel, Oscar-Heiler-Staffel und viele mehr. Diese enorme Anzahl an Treppenanlagen ergibt sich aus der Baugeschichte der Neckarmetropole. Im 19. Jahrhundert hielt es die Stadt in der Enge des Kessels nicht mehr aus und wuchs über die umliegenden Weingärten hinaus. Dort führten steile Wege und Treppen zu den Dörfern und Höfen der Umgebung. Die Stadtarchitekten integrierten diese »Wengertstäffele« kurzerhand ins Stadtbild und schufen damit einerseits willkommene Abkürzungen und andererseits wohl Deutschlands anstrengendste Wahrzeichen. Da kann auch das Ulmer Münster mit seinen 786 Stufen nicht mithalten. In den Himmel reichen die Stäffele in Stuttgart nicht, aber viele Häuser wären ohne sie nicht zu erreichen und oft führen sie zu einer grandiosen, fürwahr himmlischen Fernsicht.

Diese hat man zum Beispiel vom Eugensplatz. Galatea heißt die schöne bronzene Nymphe, die hier ihre prächtigen Rundungen den Passanten und Stadtspaziergängern zeigt. Keine Stuttgarterin, sondern eine Berliner Schuhmacherstochter stand im Jahr 1890 für die Figur der griechischen Meeresnymphe Modell. Und jetzt blickt sie seit über 130 Jahren versonnen aufs Tal hinab, in dem ein Dorf zur Metropole geworden ist – oder liegt da unten ein großes Dorf, das sich als Metropole tarnt? Keine andere Berlinerin weiß so gut, wie schön Stuttgart ist. Aber 1890 sah man noch mehr von der Stadt. Inzwischen engen wuchtig wachsende Bäume den Panoramablick etwas ein. Nur ein Guckloch bleibt.

Auch die Eisfamilie Weeber vom Eugensplatz sieht im Sommer »no auch gar nix« von der schönen Galatea oder der Stadt. Die Bäume sind im Weg und verdecken besser als jedes Feigenblatt die Blöße der Nymphe und viel Zeit zum Schauen haben die Eisverkäufer vom Café Pinguin im Sommer ohnehin nicht. Denn in dieser Jahreszeit müssen sie Eiswaffeln im Akkord füllen.

Was allein schon verliebte Pärchen schlotzen und vernaschen wollen! Auf dem Mäuerchen oder auf den Bänken hocken sie bei der Galatea, deren sanfte Erotik in der Sonne noch intensiver leuchtet. Die jungen Leute genießen das Leben, die Liebe, das Eis und die Aussicht. Sie sind in ihrem Glück weit oben angekommen und werden viel zu früh erkennen, dass es auch steile Wege nach unten gibt. Wenn sie nur immer wieder zu den Lichtblicken eines erhabenen Ortes zurückkehren, an dem die Seele Atem holen kann.

Nicht weit ist es vom Eugensplatz, dem Treff der Liebenden, zur Gänseheide. Natürlich führt zu dem idyllischen Aussichtsort mit seinen Kastanien und den verzierten Geländern ein »Stäffele«. Und zwar ausgerechnet das »Sünderstäffele«, bei dem es sich um eines der ältesten »Stäffele« der Stadt handelt. Es ist belegt, dass es schon im 14. Jahrhundert existierte. Wir entnehmen der Stadtarchitektur, dass es von der Liebe zur Sünde nicht weit ist. Woher der Name kommt, ist allerdings vollkommen unklar. Wurde hier vielleicht ein Verbrecher hingerichtet, der der Treppe seinen Namen gab? War vielleicht der Winzer des einstigen Weinberges ein Sünder oder hieß er nur so? Oder hat sich eine stets sparsame Stuttgarter Hausfrau über ein sündhaft teures »Stäffele« beschwert, wie manche Stuttgarter bis heute spekulieren?

Allgemein geben die »Stäffele« Einblick in die Stuttgarter Historie, denn sie würdigen in ihren Namen manche großen Töchter und Söhne der Stadt. So erinnert eine der längsten Treppen, die Willy-Reichert-Staffel, an den berühmten Volksschauspieler und die Helene-Schoettle-Staffel an die ehemalige Stadträtin und Trägerin des Bundesverdienstkreuzes.

Man kann schon erahnen, die Stuttgarter »Stäffele« vermitteln tiefere Wahrheiten über Gott, die Welt und den Schwaben. So gibt es jüngst sogar auf eine Bürgeranregung ein »Bruddlerstäffele«, auf dem die Stuttgarter nach Herzenslust ihrem Laster, dem »Bruddeln«, stuttgarterisch für Herummeckern, nachgehen können. Ob es sich auf dem »Stäffele« besonders gut »bruddeln« lässt oder der Ärger mit etwas körperlicher Betätigung einfach schneller vergeht, auf jeden Fall eine praktikable Sache.

»Stairway to Heaven« sind bei uns, na klar, ein Hit. Unsere »Stäffele« führen tatsächlich bis zum Himmel. Oberhalb vom Dachswald befindet sich eine Straße, die »Im Himmel« heißt. Zu ihr gelangt man – na wie wohl? – über Stufen.

Die >>Zacke<< – auch ohne Treppensteigen zur schönsten Aussicht

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So sehr man Stuttgart liebt, man kann es nicht leugnen: Es gibt eine Menge Höhen und Tiefen. Aber es dauert bei uns selten lang, bis es wieder irgendwo bergauf geht. Ein Ausbund an Beständigkeit bei diesen ständigen Ups and Downs ist die »Zacke«. Schon seit über 130 Jahren verbindet die Zahnradbahn den Stadtkern mit den Filderhöhen.

Zwischen dem Bau 1884 und 1902 quälte sich die fahrende Aussichtsplattform mit Dampfantrieb bergan auf der 2,2 Kilometer langen Strecke mit Steigungen bis zu knapp 18 Prozent. Dann wurde sie elektrisiert. Mittlerweile freut man sich in Stuttgart auf die vierte Generation von Wagen, die elektronisch betrieben werden. Acht Millionen Euro lassen sich die Stuttgarter Straßenbahnen die drei Wagen von der Schweizer Firma Stadler kosten, die 2021 in Betrieb genommen werden sollen. Wenn es so weit ist, werden die alten Wagen vom Typ GT 4 nach 36-jähriger Dienstzeit ausgestellt.

Das ratternde und quietschende Gefährt, aus dem man einen herrlichen Ausblick in den Talkessel zwischen den grünen Hügeln hat, birgt viele Erinnerungen aus seiner langen Geschichte:

So warben zum Beispiel die Stuttgarter Straßenbahnen in den 1930ern mit dem Slogan »Hinauf zu Sonne und Licht – mit der Zahnradbahn!«. Auch damals gab es schon ein Lokal an der einzigen zweispurigen Stelle, der sogenannten Ausweiche, wo sich die Berg- und die Talbahn treffen. Dort konnte man sich damals mit einem halben Liter Märzen von Dinkelacker für 38 Pfennig erfrischen.

Ende der 1950er kostete eine Fahrt mit der Zahnradbahn vom Marienplatz nach Degerloch und zurück 30 Pfennig. Damals gab es einen Logenplatz für Kinder, in einer Nische links neben dem Führerstand. Ganz vorn neben dem Fahrer konnten sie stehen und staunen. Schwer auszumalen, was die Kleinen mehr beeindruckt hat. Die Aussicht oder die rumpelnde, lärmende Technik der gelben Bahn, die vom damals stehenden Fahrer mittels Schaltrad und Kurbel aus Holz bedient und an den zahllosen Haltestellen knirschend zum Stehen gebracht wurde.

Eine weitere Episode der Zacke-Geschichte ist der Streit um die Richtige Benennung – »Zacke« oder »Zacketse«? –, der vermutlich um 1984 entbrannt ist. Der Legende nach soll SSB-Sprecher Peter Brodbeck, ein gebürtiger Berliner, zum 100-Jahr-Jubiläum der Bahn in der Festzeitschrift den kürzeren Namen »Zacke« eingeführt haben. Die Begründung soll gewesen sein, dass auswärtige Gäste angeblich »Zacketse« nicht aussprechen konnten. Brodbeck selbst widersprach später. Er habe 1984 das Wort »Zacke« drucken lassen, da es damals bereits von den Einheimischen öfter benutzt worden sei als »Zacketse«. Viele der älteren Stuttgarter mögen die Kurzform des Wortes für die Kletterbahn bis heute nicht. Man sage ja auch »Hocketse« und nicht »Hocke«, wird argumentiert.

Dass die »Zacke« auch heute noch große Bedeutung für den Verkehr hat, sieht man an folgendem Beispiel: Würden ein Radfahrer und ein Autofahrer am Marienplatz zu einem Wettrennen bis zum Degerlocher Albplatz aufbrechen, dann würde der Radfahrer gewinnen. Denn er kann seinen Drahtesel auf dem Vorstellwagen der Zacke festzurren. In elf Minuten ist die Bahn der Linie 10 oben angekommen. Mit gemütlichen, geradezu gediegenen 30 Stundenkilometern kann der Radler seine Kesselstadt in Ruhe von oben beobachten und über persönliche Aufs und Abs nachdenken, während der Autofahrer Umwege nehmen muss und über rote Ampeln flucht.

Nicht wenige sagen übrigens, dass die Zahnradbahn Deutschlands Bahn mit der schönsten Aussicht sei. Wo San Francisco die »Cable Cars« hat, haben wir die »Zacke«!

Dächer der Stadt!

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Der Kessel ist schön anzusehen vom Gipfel der ›Stäffele‹ oder aus der Zacke. Im Sommer wird es ganz schön heiß und manchmal ist es eng. Aber wir Stuttgarter wissen uns zu helfen, wenn die Hitze drückt und die Straßencafés voll sind. Dann heißt es: Ab aufs Dach!

Weit oben schmecken Drinks nach Urlaub. Der »Skybeach« an der unteren Königstraße und die Rooftop-Bar des Hotels »Jaz in the City« im Europaviertel – beide Orte sind nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt – gehören zu Stuttgarts schönsten Gastroplätzen, auf denen man frei unterm Sternenhimmel mit Aussicht anstoßen kann.

Der feinkörnige Sand des Himmelsstrands kommt aus Dänemark, wo er besonders weiß ist. Zwischen den Palmen sieht man den Fernsehturm. Der Freiluft-DJ haut harte Bässe raus. »Bock aufs Meer?« steht auf 170 weißen Liegestühlen, die auf dem Dach des Kaufhofs rasch belegt sind, wenn die Sonne endlich stark genug ist, die Regenwolken zu vertreiben.

Doch Stuttgart ist die Stadt des Mineralwassers, nicht des Meerwassers. Was an Meer auf dem obersten Parkdeck unweit des Hauptbahnhofs fehlt, kann die Aussicht ein wenig ausgleichen. Die Illusion sonnt sich. Laute Musik und Holzwege überm Sand erinnern an die hippen Strandbars vom letzten Meerurlaub mit Sonnenuntergang.

»Stuttgart-Marketing schickt regelmäßig Touristen zu uns«, sagt Lothar Müller, der seit 2004 den »Skybeach« auf dem Kaufhof-Dach betreibt, »damit sie sehen können, wie idyllisch die Stadt im Tal liegt.«

Die Luft ist klar. Mit Feinstaub hat Stuttgart einen Imageschaden erlitten. Hier oben strahlt die Stadt scheinbar makellos so intensiv, als wolle sie Vorurteile widerlegen.

Der Sand reflektiert die Sonne. Faszinierend ist, wie grün die Hügel sind. Abends bei Dunkelheit leuchtet auf, was Stuttgarts aktuelles Wahrzeichen ist: der Baukran. Die Kräne, die nicht nur in Sachen Stuttgart 21 im Einsatz sind, tragen in der Horizontalen Lichter und bezeugen, wie zielstrebig eine schön gelegene Stadt umgepflügt wird.

Manchmal gibt’s auf dem Beachdach eine Feuershow, wie sie Ibiza-Fans aus ihrem Urlaub kennen. Die Akteure des heißen Spektakels sind aber Stuttgarter. Die Gruppe »Stafffire« tritt bei Festen aller Art auf – und ist regelmäßig für den Stuttgarter Himmelsstrand gebucht.

Die Feuerspieler haben ihr Hobby perfektioniert. Einer von ihnen ist der Polizist Marcel vom Revier in der Klett-Passage. Bei der Arbeit läuft er in Uniform auf der Königstraße Streife. Nun lässt er mit freiem Oberkörper das Feuer kreisen. Das sieht gefährlich aus – und ist es auch.

»Man muss sich voll konzentrieren«, sagt Marcel. Seit über zehn Jahren tritt er als Mann des Feuers auf, in denen es in seiner vierköpfigen Gruppe keinen Notfall gab. »Bisher habe ich nur mal Brandsalbe gebraucht«, verrät er. Als Polizist hat er so gut wie nie im achten Stock des »Skybeach« zu tun.

Dass es keine Zwischenfälle gibt, dürfte an den strengen Türstehern liegen. Sie lassen nicht jeden rein. 550 Gäste dürfen gleichzeitig da sein. Bei schönem Wetter müssen viele abgewiesen werden.

2003 hat Lothar Müller, dem »Skybeach«-Chef, ein künstlich an der Seine aufgeschütteter Sandstrand so sehr gefallen, dass er diese Idee unbedingt nach Stuttgart bringen wollte. Ohne einen Fluss durch die Stadt gehe das nicht, dachte er zunächst. Dann sah er in der Zeitung ein Foto, das vom Bahnhofsturm gemacht wurde. »Da hat es klick gemacht«, erzählt Müller. Die Leute vom Kaufhof konnte er rasch überzeugen, weil ein Strand gut fürs Image ist. Anders als im »Milaneo« ist das Parkhaus hier rund um die Uhr geöffnet. Renner an der Theke ist übrigens die selbst gemachte Sky-Beach-Limo (mit frischer Minze, Ingwer, Limetten, Holunderblütensirup und Wasser).

Achtung, hier kommt unnützes Stuttgart-Wissen: 730 Meter Luftlinie vom Kaufhof-Dach entfernt befindet sich die Terrasse der »Wolfram-Bar« im Hotel »Jaz in the City«. Dieser Aussichtsplatz ist eine grüne Oase, auf der abends die Außentheke lilafarben leuchtet. Rooftop-Fans fahren mit dem Aufzug in den sechsten Stock. Einmal blieb eine Kabine stecken. Als Italiener nach einem Wasenbesuch drinnen wild umherhüpften, ging nichts mehr. Die Feuerwehr musste die Touristen befreien.

Auf der Terrasse befindet sich ein abgesperrter Teil, der als Kinderspielplatz für die Bewohner der teuren Eigentumswohnungen ausgewiesen ist. Die Bauvorschrift verlangt dies, auch wenn gar keine Kinder in dem Luxusturm mit den 18 Etagen, der »Cloud No 7«, wohnen.

Nah an den Wolken muss die Freiheit grenzenlos sein. Noch mehr öffentliche Dachterrassen unterm freien Sternenhimmel könnte Stuttgart vertragen. Es spricht für eine Stadt, wenn sie offen ist, speziell nach oben offen. Orte für den kleinen Urlaubshunger zwischendurch tun gut!

STADTLIEBE

Sogar ein Münchner liebt Stuttgart

»Büro München-West.« So heißt bei der »Süddeutschen Zeitung« redaktionsintern der überraschenderweise nicht so begehrte Außenposten in Stuttgart. Bayern kommen halt nur ungern aus ihrem Freistaat raus.

Dass es sich aber lohnt, ein Stuttgarter zu werden, sei es auch nur für fünf Jahre, hat der »SZ«-Wirtschaftsjournalist Max Hägler in einem Feldversuch herausgefunden. Als er als Baden-Württemberg-Korrespondent zu den Schwaben zog, musste er sich daheim rechtfertigen. Das Image von Stuttgart sei allenfalls mit dem von Hannover vergleichbar gewesen, erinnert er sich. Jetzt weiß Max es besser. Wissensdurstigen Landsleuten, etwa seinen Münchner Chefs, hat er vor seiner Rückkehr in die Zentrale seiner Redaktion einen seiner Lieblingsorte in Stuttgart vorgeführt: Das »Theater Rampe« unweit des Marienplatzes ist die einzige Spielstätte der Welt, in die jeden Abend eine Zahnradbahn hineinfährt. Und zwar keine andere als die »Zacke«, die im Theater übernachtet. Die Schienen ziehen sich durchs Foyer.

Es ist ein Ort, »an dem Erfindertum und Kultur zusammenkommen«, wie in der Einladung zu seiner Verabschiedung stand. Im Theater mit Gleisanschluss war an diesem Abend viel Prominenz zu sehen: Vom Trigema-Chef Wolfgang Grupp über dm-Chef Götz Werner bis zur Politikerin Theresia Bauer und EnBW-Chef Frank Mastiaux, vom Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer bis zum früheren Daimler-Chef Edzard Reuter – Schlagzeilenmacher sprachen an diesem Abend über »Landei«-Themen. Grupp, der wenige Jahre später Helene Fischer zum 100. Geburtstag seines Unternehmens auf die Schwäbische Alb holte, berichtete vom Zerwürfnis in seiner Alb-Stadt Burladingen, wo der Bürgermeister seine Gemeinderäte als »Landeier« beschimpft hatte. Gern würde er den Streit schlichten, müsse aber erst das Disziplinarverfahren gegen den Schultes abwarten, sagte er. Der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn von den Grünen staunte über die Provinzposse. Weil Feinstaubalarm herrschte, war er mit dem Elektro-Smart in die Rampe gekommen, und sein Parteifreund Cem Özdemir himmelte die Zacke an, als die kurz nach 21.00 Uhr an ihren Schlafplatz rollte: »Da geht einem Grünen das Herz auf!«

Dass das gelbe Berggefährt etwas Einmaliges ist, wissen wir schon. Einmaligkeiten, so schwärmte Hägler zum Abschied, gibt es in Stuttgart viele. Doch was machen die Leute daraus? Der scheidende Korrespondent vermisst Selbstbewusstsein und Stolz in der grünen Metropole.

Dafür beherrschen wir Stuttgarter das Bruddeln ziemlich gut. Das ging Max Hägler so richtig auf, als er mit dem Kollegen Roman Deininger in seinem ersten Stuttgart-Jahr beim »Hate Slam« wie ein Comedian bejubelt wurde. War das eine Wohltat für den Zeitungsmann! Junge Menschen standen eine Stunde lang draußen in der Schlange, um einer Print-Veranstaltung beizuwohnen. Beim »Hate-Slam« lesen Journalisten böse Leserpost vor. Das Publikum ermittelt die Sieger. Hägler hat gewonnen mit Briefen wie: »Sie Wurm – bei Ihnen werde ich hasskrank!« Seine Leser prangerten »Blümchen-Journalismus« an und einen »von keinerlei Sachkenntnis geprägten Hochmut«.

In den fünf Jahren haben wir dem Max jeden Hochmut erfolgreich ausgetrieben. So sehr, dass er widersprach, als die Rede auf seine »Abschiedsfeier in der Rampe« kam. Nein, nein, nein, das sei keine Feier, erklärte er, seine Zeitung »begehe« vielmehr seinen »Ausstand«. Alles andere klinge zu »pompös«. Feiern und protzen, dachten wir bisher, ist eine Münchner Spezialität, während Schwaben eher schaffig ihre Ruhe suchen.

Der mangelnde Stolz und das verkümmerte Selbstbewusstsein, das Max Hägler als typisch für das schöne Stuttgart hält, ist in Wahrheit natürlich das Gegenteil von Schwäche. Unser Understatement ist wahre Größe. Max weiß es nun: Mir send obacha cool. Aber Münchner, die Stuttgart lieben, irgendwie auch.

Stuttgarter Glücksfälle

Die Tiere machen’s vor. In der Verhaltensbiologie wird eine Hierarchie als Rangordnung bezeichnet, die innerhalb einer sozialen Gruppe bestimmte Rechte und Pflichten regelt. Auch Menschen scheinen Rangordnungen zu lieben, zu denen sie gern »Ranking« sagen. Zu allen möglichen und unmöglichen Themen werden Städte-Rankings aufgestellt. Nicht selten stehen Unternehmen oder Institutionen dahinter, die Werbung für ihre Produkte wünschen und sich vor allem mal wieder ins Gespräch bringen wollen. Ein Bewerbungsportal etwa lässt den Gehaltszufriedenheits-Index ermitteln. Und welche Stadt steht da auf Platz eins? Natürlich Stuttgart! Bei den Schwaben wird gut verdient. Geld allein macht aber auch nicht glücklich, was in unserem Fall nicht so schlimm ist. Denn auch bei den Glück-Rankings gehört einer der ersten Plätze traditionell der Kesselmetropole.

Manche mögen rätseln, warum die Schwaben die Liga der Glückspilze immer wieder anführen, obwohl doch unser Volksstamm das Bruddeln so meisterhaft beherrscht. Die Suche nach dem Glück treibt viele um. Glück ist eine Momentaufnahme, kein Dauerzustand. Stuttgart, die Schöne, hat’s nicht leicht. Kaum einer sieht ihre Reize noch – die Stadt ist an vielen Ecken mit Bauzäunen umhüllt. Die Fülle an Baustellen – es wird nicht nur für das Bahnprojekt Stuttgart 21 gebuddelt, sondern für noch mehr Prestigearchitektur – lässt wenig Entspannung zu. Die Menschen sind ermattet von Staus, Feinstaub, Lärm. Und doch gibt’s in der genervten Stadt Glück, viel Glück sogar.

Das wird Jahr für Jahr quasi auch amtlich ermittelt, was mit den Rankings, die Firmen aus Eigeninteresse in Auftrag geben, nichts zu tun hat. Bei den Bürgerumfragen der Stadt kommen stets mindestens Zwei-Drittel-Mehrheiten heraus. Über 75 Prozent der befragten Stuttgarterinnen und Stuttgarter bezeichnen Jahr für Jahr die Lebensqualität im Kessel und drumrum als »gut« oder »sehr gut«. Im Jahr 2018 sagten 81 Prozent der Befragten: »Ich lebe gerne in Stuttgart.« Die Lebensqualität kann hier also so schlecht nicht sein.

Einheimische wissen es: In Stuttgart gibt’s viele Orte, die glücklich machen.

Einer dieser Glücksorte liegt unterhalb der Karlshöhe, ist fast versteckt und wie aus der Zeit gefallen. Nach Vorbildern italienischer Renaissancegärten hat Karl von Ostertag-Siegle, der Schwiegersohn des Industriellen Gustav Siegle, 1905 den Park angelegt, der heute als Städtisches Lapidarium zum Staunen, Träumen und zum Ruhefinden einlädt. Das lateinische Wort »lapis« bedeutet Stein. In diesem Freiluftmuseum erzählen 200 Skulpturen, Grabsteine und Steintrümmer abgerissener Bauten oft erstaunliche Geschichten.

Zu sehen ist etwa die Trophäenfigur, die auf dem Königstor thronte, auf dem letzten Stuttgarter Stadttor von 1809, das den Abschluss der unteren Königstraße bildete und 1922 abgerissen wurde. Auch Reste des Kronprinzenpalais können bewundert werden, das nach heftigem Streit vom heutigen Platz des Kunstmuseums in den 1960ern für den Verkehr verschwinden musste.

Stein ist verdichtete Vergangenheit. Stein, der nach Zerstörungen übrig geblieben ist oder für Neues weichen musste, regt zum Nachdenken an über das Wesen des Menschen und damit auch über Vergangenheit und Zukunft. Die schwäbische Seele – von Höhen und Tiefen geprägt – findet im Stein den Weg in die Ausgeglichenheit.

Von den Tiefen des Lapidariums im Stuttgarter Westen wechseln wir auf die Höhen eines steinernen Denkmals im Stuttgarter Norden. 95 Stufen müssen wir erklimmen, um von der Empore des Bismarckturms einen Wahnsinnsblick in alle Himmelsrichtungen zu genießen. Was für Glücksgefühle man hier oben spürt!