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Kurt Kment

Leonhardifahrt

Kriminalroman

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © cloudless / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6680-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Rückschau 1: 3. Oktober 1895 – Arnold-Zeche Bad Tölz

Genau weiß man’s freilich nicht mehr, aber was man so bei den Nachkommen hat erfragen können, ist schon interessant. Eine Geschichte hier, ein Foto da. Ein Opa erzählt dem Enkel. Die Uroma hat gewusst, dass … und so weiter … Da kann man sich schon allerhand zusammenreimen. Es müsste so gewesen sein:

Der Melchior Unterweger, Kaspar Schelling und Melchiors Cousin, der Dietrich von Kronen, saßen in absoluter Dunkelheit und machten Brotzeit. Das Gespräch ging mal wieder um Dietrichs Namen.

»So ein preußisches Bluat da herin in Tölz und auch noch verwandt sein damit, das ist eine Schand!«, sagte Melchior in überzeugtem Ton, entrüstet. Ob er danach lächelte und es damit aus Spaß gesagt war, sah man in der Dunkelheit nicht. Dietrich wusste aber aus vergangenen Gesprächen, dass Melchior das schon zum größten Teil ernst meinte. Das Thema nervte von Kronen ungemein. Er redete inzwischen besser Bayerisch als manch andere Tölzer, vor allem solche, die meinten, was Besseres zu sein als das gemeine Volk. Und Melchi, der blöde Stänkerer …

»Wenn ich dir deine Lore hinausschiebe, macht’s dir nix aus, du bayerischer Quadratschädel! Dass meine Mutter einen anderen Geschmack hatte als deine und meinem Vater nach Hannover folgte, kann ich auch nicht ändern. Warum meinst, dass wir jetzt wieder hier in Tölz sind? Mit dem ›von‹ im Namen und ein paar Hektar Ackerland ist keine Sau mehr zu ernähren! Meinst, ich bin freiwillig gekommen? Inzwischen bin ich aber mehr ein Einheimischer als du! Wir können das nachher ja mal ausrankeln! Mein Papa ist wenigstens ehrenhaft in Frankreich gefallen, deiner hat sich im Bergwerk versteckt. Mit solchen Drückebergern als Verbündete gewinnst du keinen Krieg!«

»Jetzt gebt’s Ruhe!«, echauffierte sich jetzt auch der Dritte, der Kaspar. »Des bringt Unglück, wenn man sich unter Tage streitet! Der Berg mag so was gar nicht! Ich mach jetzt die Grubenlampe wieder an und dann gebt’s ihr euch die Hand! Seid’s froh, dass der Krieg vorbei ist!«

Die Mutter von Dietrich hatte inzwischen wieder geheiratet, und zwar einen Schmalzner, von denen es in Tölz eine ganze Dynastie gab, zuoberst vier Brüder. Den Schmalzner-Brüdern gehörten eine große Brauerei mit Wirtshaus, allerhand Grund und zufällig auch dieses Stück von Tölz, wo Kohle gefunden wurde. Die drei waren über diese Beziehungen zum Grundeigentümer zu ihrer Arbeit gekommen und heilfroh. Einige ihrer gleichaltrigen Freunde lebten als Tagelöhner von der Hand in den Mund.

Sie hatten das Licht gelöscht, was eigentlich gar nicht erlaubt war. Aber in diesem recht kurzen Erkundungsstollen, da konnte nichts passieren. Und in absoluter Dunkelheit über interessante Dinge reden, das war einfach ein bisschen Abenteuer.

Sie waren zusammen mit 27 anderen Kumpeln auf der Suche nach Kohleflözen im Süden von Tölz. Ergiebige Pechkohle-Vorkommen in Marienstein, nur 15 Kilometer Richtung Osten entfernt, und ebensolche in Penzberg, genauso weit im Westen, ließen hoffen, dass auch in Tölz damit das große Geld zu machen war. Doch die Flöze waren zu dünn, nicht rentabel.

Die drei verfolgten gerade ein solches Flöz in den Berg hinein, weil es anfangs immer dicker geworden war: von zehn Zentimeter auf 20 und dann fast 30 Zentimeter. Doch plötzlich wurde das Flöz wieder dünner und verschwand fast, es keilte aus, wie die Bergleute sagen. Sie waren inzwischen 50 Meter vorangekommen und wussten auch ohne besondere Ausbildung, dass das keinen Sinn mehr hatte.

Gerade als sich Melchior und Dietrich die Hand ein wenig widerwillig schüttelten und die Grubenlampen wieder brannten, kam ein Licht den Stollen entlang: Der sogenannte Steiger war’s, der hier in der Zeche das Sagen hatte.

»Und, wie schaut’s aus, Jungs?«, fragte er die jungen Männer. Keiner war älter als 19, da war die Anrede schon angemessen.

»Das Flöz bleibt bei etwa 15 Zentimeter«, sagte Dietrich, der etwas mutiger als die anderen war.

Der Steiger nickte. »Ich hab’s befürchtet. Das hat dann keinen Sinn mehr. Meldet euch morgen im östlichen Stollen II, da werdet ihr dann eingewiesen. Heute reißt’s noch die hinteren zwei Meter der Grubenzimmerung raus, dass jeder sieht, dass das hier eine Sackgasse war. Aber Vorsicht auf eure Köpfe! Kapiert?«

»Jawoll!«, sagte Dietrich, die anderen streckten auch die Brust heraus.

»Euch kann man inzwischen schon brauchen, euch Milchbubis! Wer hätt des letztes Jahr denkt!«, meinte der Steiger kopfschüttelnd und ging.

Die Grubenzimmerung bestand aus Stützelementen aus Fichtenstämmen und seitlich und oben grob gesägten Brettern. Die musste man vorsichtig herausschlagen, weil es sein konnte, dass der Stollen sofort einstürzte.

Sie begannen ganz hinten und hebelten auf zwei Meter Länge die Querverstrebungen am Boden weg. Als Nächstes kamen einige der seitlichen Bretter dran. Als nur noch ein Gerippe der wesentlichen Stützelemente übrig war, holte Melchior den großen Hammer und schlug einen der senkrecht stützenden Stämme, einen sogenannten Stempel, in Bodennähe Zentimeter für Zentimeter zur Seite weg. Die anderen hatten um seinen Bauch ein Seil gebunden und waren bereit, sofort anzuziehen, sollte der Stollen plötzlich komplett zusammenfallen. Und tatsächlich war es kurz darauf so weit. Der inzwischen schräg stehende Stempel wurde vom Gewicht der auflastenden Decke seitlich weggedrückt und prallte mit einem lauten hölzernen Geräusch an den gegenüberstehenden. Gleichzeitig kam die Decke im hinteren Bereich nach unten und Melchior wurde von seinen Kumpeln nach hinten weggerissen, dass ihm die Luft wegblieb.

»Einwandfrei angezogen, danke«, keuchte er auf dem Rücken liegend. Sie hielten sich ihre Hemden vor Mund und Nase und warteten ein paar Minuten, bis sich der Staub einigermaßen legte. Das wäre erledigt!

Doch die drei staunten nicht schlecht: Die eingestürzte Decke bildete nicht wie normal einen Schuttkegel, der alles verstopfte, sondern mehr eine Rampe und dahinter beziehungsweise darüber war ein schwarz gähnendes Loch – ein Hohlraum!

»Des schau ich mir an!«, rief Dietrich. »Kimm, Melchi!«

Der antwortete kopfschüttelnd: »Da geh ich nicht nei. Des kann jeden Augenblick zusammenfallen! Was machst dann? Dann bist hin! Bleib da!«

Aber Dietrich war schon unterwegs und kraxelte den losen Schutthaufen hinauf ins Ungewisse. Sie leuchteten ihm nach, bis er verschwunden war, und lauschten atemlos auf irgendwelche Geräusche. Jedes »Plupp«, mit dem sich ein Stein löste und irgendwo herabfiel, ließ sie zusammenzucken. Jedes Rieseln von kleinen Steinen ließ sie frösteln. »Schick di!«, rief leise Kaspar.

Nach endlosen Minuten der Warterei plötzlich ein grinsendes Gesicht und ein Dietrich darunter, der sich mit einer kleinen Kiste in den Händen an den Abstieg machte.

»Jetzt erzähl endlich!«, drängelte Melchior.

»Da oben ist ein Gang, wie es ausschaut, der aber in der einen Richtung komplett eingefallen ist. In der anderen endet er bald nach 15 Metern – eine Sackgasse! Ein paar solcher Kisten stehen herum. Zehn hab ich gezählt. In allen sind nur so Lederrollen mit irgendwelchen Dokumenten. Na ja, in fast allen. In der da …«, er deutete auf die Kiste, »sind auch ein paar andere Sachen mit dabei.«

Hinter ihm rumpelte und polterte es. Der Stollen stürzte weiter ein.

Rückschau 2: 3. Oktober 1945 – ehemalige SS-Junkerschule Bad Tölz

Man kann sich gut vorstellen, wie der General Patton (George S.), Militärgouverneur von Bayern, in seinem Büro auf dem Gelände der ehemaligen SS-Junkerschule in Bad Tölz saß und träumerisch in die Berge blickte. Das kann den nicht kaltgelassen haben: das Brauneck, die Benediktenwand, der Blomberg mit Heigelkopf. Die sagenhafte Landschaft! Na gut, das große Hakenkreuz auf dem Gipfel des Heigelkopfs ist Geschmackssache gewesen. Ein paar »innovativen« Bürgern hat’s gefallen, auch wenn sie sich nach dem Einmarsch der Amis irgendwie nimmer dran erinnerten, dass der Heigelkopf sogar eine Zeit lang »Hitlerberg« geheißen hatte. Den meisten Isarwinklern, die schon der Napoleon nicht wirklich hat umbiegen können, ist immer schon ein einfaches, althergebrachtes Gipfelkreuz das Liebste gewesen. Im Falle des Heigelkopfs von einem Gipfel zu sprechen, ist natürlich ebenfalls Ansichtssache. Na ja, der Patton hätte gewiss ganz schön geschnauft bis hinauf. Die Generäle sind ja die meiste Zeit immer mit ihrem Jeep herumgefahren. Da kann der Arzbacher Bursch, der – bekleidet mit Lederhose und weißem Hemd – schnell nach der Feldarbeit in 20 Minuten auf den Heigelkopf hinaufrumpelt, um seiner Liebsten einen Juchitzer hinunterzuschicken, halt gar nicht mitreden. Der Patton war schon ein Schlauer, der hat den Arzbacher Burschen sicherlich ein bisserl beneidet. Dafür hat er andere Sachen erlebt. Das besagte Gipfelkunstwerk war jedenfalls inzwischen entfernt worden, das war, wenn wir ehrlich sein wollen, eine echte optische Beleidigung für den Isarwinkel.

Ein weiteres Nazisymbol, der Reichsadler von der Isarbrücke, war auch entfernt worden und wurde jetzt gerade eingeschmolzen und umgegossen in eine Marienfigur. Den Entwurf hatte Patton genehmigt. Also wirklich ein schlauer Mensch: hat trotz Weltpolitik nicht den Sinn für kleine Dinge verloren.

Er sinnierte gewiss oft darüber, was er schon alles erlebt hatte in den letzten Jahren: die Invasion, der entscheidende Durchbruch an der Westfront, seine Ankunft in Tölz, sein Entschluss, hierzubleiben. Das war wahrscheinlich die beste Idee seines Lebens, dachte er – könnte man sich vorstellen!

Er hatte seitdem ordentlich zugenommen. Das gute Essen und die Ruhe taten ihm gut.

Aus Briefen weiß man, dass er einen großen Respekt vor diesem Alpenvolk hier im Isarwinkel hatte. Einige wenige einflussreiche Tölzer zum Beispiel hatten ihr Schicksal selbst in die Hand genommen und mutig die Stadt den Besatzern übergeben. Sie hatten Leib und Leben riskiert, weil immer noch fanatische SS-Gruppen die Stadt und die Umgebung »besetzten«. Er hatte mit den Mutigen lange gesprochen und ein paar Biere getrunken. Er kam sich als General gar nicht mehr so draufgängerisch vor. Er hatte eine Armee dabei, die betroffenen Tölzer standen quasi allein gegen ihre Mitbürger. Hätte jemand in der Bevölkerung deren Part übernommen, wenn sie von Nazi-Fanatikern erschossen worden wären? Er bezweifelte es.

Ein weißes Laken aus dem Turm der Stadtpfarrkirche, drei städtische Abgesandte auf der Isarbrücke, und schon war alles erledigt. Die Stadt war, ohne Schaden zu nehmen, den Besatzern übergeben worden. Na ja, ein paar Granaten hatten sie ein bisschen außerhalb schon auf uneinsichtige Kleinstverbände abfeuern müssen. Der Effekt war maximal, der Schaden gering.

Man sieht ihn förmlich vor dem Fenster stehen und hinausschauen: Er atmet tief durch. »Schnauffa« sagt man hier, fährt es ihm durch den Kopf. Die Alpenbewohner wachsen ihm allmählich ans Herz.

Sogar die Verfolgung des Reichsgoldschatzes aus Berlin hatte er maßgeblich beeinflussen können. Inzwischen war das meiste davon in der Nähe des Walchensees gefunden worden und gesichert.

Und dann bekam er jetzt wegen seiner Äußerungen zum deutschen Soldatentum aus seiner Heimat zunehmend Gegenwind.

Wie sich herausgestellt hat, muss er sich schon auf die Ankunft von Major Miller gefreut haben – gefreut wie blöd sozusagen! Der hatte vor einigen Tagen abschließende Recherchen in München anstellen wollen. In vielen persönlichen Gesprächen und in mehreren Briefen hatte Patton wirklich Erstaunliches erfahren. Es ging um eine Sache, die zwar kein Vergleich zum Goldschatz aus Berlin war, aber für den Standort der amerikanischen Truppen hier in Bad Tölz angeblich von höchster Wichtigkeit. Er sprach vom zentralen Stützpunkt der Amerikaner in Mitteleuropa. Miller hielt sich aber hinsichtlich weiterer Erklärungen immer noch bedeckt; es war einfach nichts aus ihm herauszubekommen. Er wollte in den nächsten Tagen die Bombe platzen lassen, wie er sich ausgedrückt hatte. Jetzt war aber noch etwas »Dienstliches« dazwischengekommen und Miller war für vier Tage erst einmal weiter nach Nürnberg gefahren.

Er hatte nie gefragt, woher Miller die vielen Informationen hatte, die ihn zuerst in die Berge nach Hausham und andere kleine Ortschaften in der Umgebung, schließlich bis in eins der Archive nach München führten. Oder was er als Major da überhaupt zur Standortfrage der amerikanischen Truppen zu sagen hätte. Andererseits, mit einem guten Konzept, wer weiß? Ihn hatte er eh schon fast überzeugt – nur durch seine Begeisterung! Gewiss war Patton furchtbar neugierig.

Er hoffte sicherlich, das Projekt von Major Miller würde ihm wieder einen Bonus bei seinen Vorgesetzten einbringen. Nicht, dass er ihn persönlich nötig gehabt hätte, aber als Soldat aus Überzeugung freute er sich natürlich über jede gewonnene Schlacht.

Vielleicht fiel ihm plötzlich ein, dass er die letzte Korrespondenz mit Miller noch gar nicht verbrannt hatte. Wo war die nur? Sie hatten sich geeinigt, dieses inoffizielle Projekt geheim zu handhaben, bis es spruchreif war.

Hatte er wirklich alle Briefe vernichtet? Und wenn schon, dachte er bei sich. In einer Woche ist das längst Geschichte. Geschichte schreiben war schließlich seine Spezialität!

Er nahm sich die Mappe mit den Unterlagen des Tagesgeschäfts vor, die er unterzeichnen musste. An der Front zu sein und seinen Leuten zur Seite zu stehen, war sicher wesentlich interessanter gewesen, als hier den Politiker und Beamten zu verkörpern! Er war ein guter Soldat, keine Frage. »So ein Hund!«, würden die Isarwinkler anerkennend sagen (oder haben es gesagt. Sicher sogar!).

Drei Tage später wurde er dann seines Kommandos in Tölz enthoben. Der Brief, der von Miller daraufhin eintraf, erreichte Patton nie. Er wanderte mit den anderen Dingen aus dem Büro des Generals zuerst nach Berlin, dann auf Umwegen ins Stadtarchiv in Bad Tölz.

Bis zu seinem überraschenden Tod im Dezember fragte sich Patton sicher vergeblich, was eigentlich aus der Sache geworden war. Schade. Man hätte ihm den Erfolg bei seinen Vorgesetzten gegönnt! Warum da auch so eine blöde Geschichte passieren musste, die dann mehr als 60 Jahre später solche Folgen hatte! Wer hätte das gedacht?

Kapitel 1

Sonntag, 3. Oktober – Gasthof Schmalz-Bräu, Bad Tölz

Das ist jetzt schon ein Schlamassel, weil man ihn nicht mehr fragen kann, was eigentlich genau passiert ist am Tag der Deutschen Einheit. Einiges kann man sich schon zusammenreimen, anderes halt nicht. Auf besagten Feiertag, der in dem Jahr auf einen Sonntag fiel, wollte Andreas Schmalzner am liebsten verzichten. Er bewirtschaftete in 14. Generation den Schmalz-Bräu, eine Gaststätte in der historischen Marktstraße in Bad Tölz. Trotz der ganzen Griechen, Italiener und Kroaten, die Bad Tölz mit ihren einheimischen Leckereien verwöhnten und die Bayern nicht selten locker links liegen ließen, hatte sich der Schmalz-Bräu bis heute behaupten können. Das einfache Konzept, das bereits Andreas’ Großvater erkannt und praktiziert hatte, war inzwischen das am besten gehütete Geschäftsgeheimnis, das nur jeweils vom Chef an den Nachfolger (vom Vater auf den Sohn) übergeben wurde. Erstens: Leiste dir einen hervorragenden Koch und gut aussehende Bedienungen. Zweitens: Halte Maß mit den Preisen. Drittens: Der Service ist heilig. Nur ein zufriedener Gast kommt wieder.

So einfach kann es sein, dachte Andreas. Er war inzwischen ein Geschäftsmann mit leidlichem Talent. Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters musste er den Betrieb kurzfristig übernehmen. Zu dieser Zeit war er auf dem besten Wege, Polizeibeamter zu werden, und hatte vom wahren Leben keine Ahnung. Er war fit ohne Ende und hatte sich den Jugendspeck mit viel Mühe wegtrainiert. Ein Frauenschwarm war er trotzdem nicht, da störte die dicke, unansehnliche Schmalzner-Nase, die alle Schmalzners mehr oder weniger stolz vor sich hertrugen.

»Hals-Nasen-Ohren-Schmalz« hatten ihn seine Klassenkameraden lange genannt. Oder »Da Gschmoizne«. Kurz vor dem Abitur dann nur noch »Schmoizä«. Da war man ja schon erwachsen – mehr oder weniger. Das Abi hatte er gerade so geschafft, bis fast zum Schluss war er zwar gern zur Schule gegangen, aber trotzdem nicht wirklich fleißig gewesen. Er musste immer viel in der Metzgerei und im Gasthof helfen, obwohl er lieber Bücher über die Stadtgeschichte und die Besiedelung des Isarwinkels gelesen hätte. Am liebsten war er draußen in der Natur, stieß da aber immer schnell an seine Grenzen, weil er einfach zu dick war. Kurz nachdem er den Führerschein hatte, fuhr er nach Lenggries und wollte zur alten Hohenburg hinauf. Total nass geschwitzt und kurzatmig kam er oben an, dabei waren das nur ein paar Meter! Einige, das wusste er sicher, verlachten ihn immer noch wegen seiner Statur damals. Einer davon saß sich jetzt den Arsch platt bei der örtlichen Polizei. Immer blöd dahergeredet und es nie zu etwas gebracht.

Der Schwendner, der Depp. Sucht sich einen Schwächeren und hackt dann darauf herum.

Ein Trost war es auf jeden Fall, dass es besagter Polizist nie zu etwas bringen würde. Wahrscheinlich nicht einmal zu einer Frau. Na gut, Schmalzner selbst hatte hier auch seine Probleme. Ein paar kurze Beziehungen, die irgendwie alle schiefgegangen waren. Freunde aus der Schulzeit hatte er jedenfalls keine.

Erst bei der Bundeswehr traf er neue Leute, die seine Vorgeschichte nicht kannten. Die Torturen (und das waren sie mit 130 Kilogramm Lebendgewicht) schweißten ihn mit den Kameraden zusammen. In den 18 Monaten bei der Gebirgstruppe schaffte er es, bis auf 110 Kilogramm abzuspecken. Er und seine engsten Freunde beim Bund sangen damals »I bin da Schmalzner« in Anlehnung an das Lied von Georg Danzer vom Doppelgänger »I bin da Danzer«. Es war eine schöne Zeit, trotz der ganzen Entbehrungen.

Da war er auf den Geschmack gekommen und hatte bei der Polizei angeheuert. Ein eingeschworener Haufen, eine respekteinflößende Uniform, den Leuten helfen, gutes Geld verdienen und noch viel mehr sprach für diese Laufbahn statt die eines Metzgers oder Gastwirts. Sogar ein paar seiner Bundeswehrkameraden hatten mitgezogen. Er war erst ein, zwei Jahre dabei gewesen, da starb plötzlich sein Vater an einem Herzinfarkt. »Die Wampn muass weg«, hatte der Arzt immer wieder gesagt, aber der alte Schmalzner hatte es fleißig ignoriert.

Nur mit viel Papierkram konnte er innerhalb von drei Monaten seine polizeiliche Laufbahn beenden. Er hatte das seinem Vater zuliebe gemacht und sich dann aber, soweit möglich, aus dem Betrieb zurückgezogen. Er war Realist. Sein teures, aber gutes Personal hielt den Laden am Laufen. Jetzt hatte er seine alte Figur wieder, na ja, ein wenig mehr davon, und war eine stattliche bayerische Erscheinung. Ein gestandenes Mannsbild halt. Eine zur Nase passende Frau gab es immer noch nicht.

Die alten Träume waren immer noch da – aber alles hinzuschmeißen und irgendwo neu anzufangen, dazu war er zu feige. Er fühlte sich in der Pflicht, den Betrieb, der seit Jahrhunderten im Familienbesitz war, weiterzuführen.

Demnächst musste er einen Nachfolger organisieren, am besten auch gleich noch adoptieren. Die Schmalzner-Linie musste weitergehen und er wurde nicht jünger! Mangels Nachkommen ging es vielleicht nur so. Seine Verwandtschaft war überschaubar, da gab es keine geeigneten Kandidaten.

Trotz der mangelnden Ausbildung im Hotel- und Gaststättengewerbe war er der Chef. Feiertag oder Sonntag hin oder her, er war trotzdem unentbehrlich und hatte erreichbar zu sein. Der Erfolg gab seiner Unternehmensführung recht. Heute musste er im ersten Untergeschoss das Mauerwerk besichtigen. Zwei Wochen Dauerregen hatten am Samstag plötzlich einen großen feuchten Fleck an der Ostwand hervorgerufen, ausgerechnet da, wo das große Weinregal stand.

Der Küchenchef hatte den Fleck bemerkt und sich zuerst nichts gedacht. Sonntag früh um acht war der Fleck bereits stark angewachsen. Das war dann seinem Personal nicht mehr geheuer und der Chef wurde informiert. Schmalzner kam sich eh oft genug wie der Hausmeister vor.

Ausgerechnet der Olaf musste den Fleck bemerken. Er ist schließlich mein Küchenchef und ich nicht sein Hausl. Warum war ich nicht selber im Keller zu der Zeit? Der Olaf, der gut aussehende, sportlich braun gebrannte Depp. Dem die feschen Bedienungen immer nachschaun, sogar während sie mit mir, DEM CHEF!, reden. Und aus Osnabrück is er aa no. Der Preiss, der. Ich müsste mal wieder mehr Sport machen.

Er musste handeln. Gleich früh um sieben ging er die ausgetretenen Steinstufen in den Keller hinunter. Er musste aufpassen, wo er hintrat, denn die wenigen Lampen spendeten nur unzureichend Licht. Und wenn er gerade an einer vorbei war, wurde es merklich dunkler, weil er mit seiner Körperfülle (klein war er auch nicht gerade) fast den ganzen Gang einnahm.

Der recht große Kellerraum wurde dominiert von zwei dicken Säulen, die den Raum in der Mitte zu jeweils einem Drittel abstützten. Dass es noch zwei handgeschlagene Kellergeschosse darunter gab, wussten wenige. Das weiche Gestein im Untergrund machte solche Bauten möglich, danach wurden die Keller mit reichlich vorhandenem Quelltuff ausgemauert. Durch die vielen Löcher im Gestein hatte es Eigenschaften wie ein natürlicher Ziegel: wärmeisolierend und sehr stabil. In diesen Kellern ließ sich früher das Bier in den Holzfässern besonders lang lagern, indem man im Winter Eis hinunterbrachte, das oft im August noch nicht ganz geschmolzen war. Die Münchner zahlten Höchstpreise für den Tölzer Gerstensaft damals. Sie konnten in der Stadt im Sommer nicht so viel beziehungsweise wochenweise gar nichts brauen, weil das Bier nicht ausreichend gekühlt werden konnte. Die Flöße fuhren täglich und die Tölzer wurden wohlhabend. Der sechste Schmalzner, ein Gotthold, baute zu dieser Zeit großzügig auf der vom Markt abgewandten Seite an: einen großen Saal im Erdgeschoss, darüber Wohnraum für viele noch folgende Generationen. Der Markt, die »Marktstraße«, sieht heute immer noch so aus wie damals. Sie verläuft vom Isar­ufer (Isarbrücke) nach Osten den Berg hinauf, gesäumt von zwei parallelen Reihen Häusern, die so gut wie keine Lücke frei lassen. Freilich gab es seit damals kleine Aufstockungen, öfter ein neues Pflaster und so weiter … Gebrannt hat es ja auch immer wieder mal oder ein Haus in der Reihe musste einer neuen Straße weichen. Zum Beispiel wurde für die Hindenburgstraße zum neu angelegten Bahnhof Anfang des 20. Jahrhunderts ein Haus aus der südlichen Reihe herausgerissen. Gabriel von Seidl, der berühmte Baumeister, hat ebenfalls einige Gebäude in Bad Tölz umgestaltet. Auch dem hat es offensichtlich im Oberland gefallen.

Zurück zum Gotthold. Während seiner Zeit wurde ein Großprojekt in Tölz abgeschlossen: Zu beiden Seiten der Marktstraße gab es in den Kellern der Häuser einen durchgehenden Gang, in denen vierspännige Pferdefuhrwerke passieren konnten. Sie fuhren an der Isarbrücke hinein und kamen oben am Kahnturm wieder heraus. Fast jedes Haus hatte einen Kellerzugang. So bekamen die Bürger nicht mit, wann oder wie die Waren geliefert wurden. Natürlich war das auch der zwielichtigen Gestalten wegen gemacht worden. Der moderne Andreas Schmalzner schüttelte den Kopf und vertrieb den Gotthold aus seinen Gedanken und damit auch die Träume der – interessanten, aber gewiss beschwerlichen – alten Zeiten.

Um 8 Uhr, als der Kochlehrling anfing, schnappte er ihn sich und verdonnerte ihn zum Weinregal-Ausräumen. Bei der Gelegenheit konnte er gleich was lernen über den Umgang mit den edlen Tropfen und die Systematik der Ablage.

Schmalzner, der schon immer historisch interessiert war, kam an diesem frühen Sonntag gleich wieder ins Schwelgen und dachte an diesen Gang, als er die feuchte Stelle inspizierte.

Genau hier muss es gewesen sein. Ich höre schon beinahe die Pferde wiehern. Vierspännige Fuhrwerke werden mit Bier vom Schmalz-Bräu beladen, die stämmigen Pferde scharren ungeduldig mit den Hufen … Mein stattlicher Vorfahr dirigiert seine Lakaien und alles klappt reibungslos. Das Fuhrwerk macht sich mit zehn großen Fässern auf den Weg. Hüah! Das nächste wartet schon: Ein klösterlicher Zweispänner bringt 25 Säcke Gerste aus der Gegend von Freising. Das waren Zeiten!

Zwei Stunden dauerte es, bis das zwei mal drei Meter große Regal leer war. Es war aus Schmiedeeisen und konnte im leeren Zustand gerade so zu zweit verrückt werden. Weitere zwei Stunden erforderte es, die Nordwand von diversem Gerümpel zu befreien (hier muss ich auch mal ausmisten), das Regal dorthin zu schieben und wieder einzuräumen. Jan, den er als wortkargen Burschen kannte, packte gut an, wenn auch mit lustlosem Gesicht. Ein rechtes Gespräch kam nicht auf, obwohl Schmalzner allerhand erklärte. Verstand der Bursche, was gesagt wurde, oder dachte er an das nächste Stadelfest? Oder an Facebook? Beides wahrscheinlich. Oder gab’s schon was Neueres, Wichtigeres? Schmalzner wusste es nicht. Er hatte aber wohl bemerkt, wie Jan manchmal kurz sein Smartphone gezückt hatte. Natürlich gab’s in diesen Gewölben keinen Empfang irgendwelcher Art. So konnte man die jungen Leute wenigstens unabgelenkt bei der Arbeit halten. Er ertappte sich dabei, dass er schadenfroh grinste.

Um 13 Uhr schließlich war das Malheur klar und deutlich: Durch das östliche Mauerwerk sickerte sichtbar Wasser, dahinter stieg der Hang vermutlich weiter an. Wenn nicht hier das Grundwasser drückte, wo dann? Was lag eigentlich weiter in dieser Richtung? Da müsste man ganz nah an der Kirche sein. Er schnappte sich ein loses Stück Schmiedeeisen und kratzte an der Mauer herum. Die Ziegel waren weich wie Butter unter einer fünf Millimeter dicken Kruste von Sinterkalk. Spontan, aus einem männlichen Spieltrieb heraus, holte er aus und ließ das ein Meter lange, am Ende verschnörkelte Stück Schmiedeeisen mit Schwung auf die Mauer prallen. Es prallte aber nicht ab, sondern drang einfach ein. Mit einem leisen »Flupp« stürzte ein halbkreisförmiger Teil von etwa 50 Zentimeter im Durchmesser ein. Und zwar nach hinten! Seine Vermutung hatte sich bestätigt: Dahinter war der alte Gang, der irgendwann nur zugemauert worden war.

Ein munteres kleines Bächlein spülte durch das neu entstandene Loch Ziegelreste in den Keller und eine rote Brühe, die an Blut erinnerte. Der Gully hinten in der Ecke schluckte alles, bis es zwei Stockwerke tiefer im Nirwana verschwand. Die drei Holzkisten, die dem natürlichen Bachlauf im Weg standen, waren schnell weggeräumt. »Da würd ich am liebsten einen schönen Staudamm bauen wie vor zehn Jahren immer«, sagte der Lehrling. Der Jan. Aus Dietramszell. Jetzt auf einmal begann er, gesprächig zu werden!

»G’scheiter is’, du ziagst di um und meldest dich in der Küchn! Danke fürs Helfen. Den Rest schaff ich allein«, sagte Andreas mit seiner ganzen Autorität.

Jan trödelte zur Tür.

»Eins noch – bring mir vorher noch eine Taschnlampn, die liegt im Schrankl unterm Telefonanschluss.«

Andreas meinte, ein missbilligendes Seufzen zu hören.

Die Lehrlinge können froh sein, dass Watschen nicht mehr erlaubt sind. So einer gehört zur Bundeswehr. Die ganze aktuelle Generation ist so was von verwöhnt!

Jan latschte zur Tür hinaus.

»Aber heit no!«, rief ihm Schmalzner genervt hinterher.

Jan verschwand.

Im roten Wasser schwammen dunkle Plättchen. Schmalzner kniete sich nieder und sah genau hin: Es waren Lackreste! Der Entdeckergeist in ihm erwachte, die Neugier war unerträglich. Was war hinter der Wand? Ein altes Fahrrad, das Bernsteinzimmer oder etwas à la Indiana Jones, der die Welt rettet? Er sah sich schon mit einem Lederhut und Peitsche ausgerüstet durch die Giebel von Bad Tölz schwingen, als Jan plötzlich vor ihm stand: »Dei Lampn«, sagte er.

»Ihre Lampe, Herr Schmalzner, heißt des!«, polterte Schmalzner.

Aber Jan war schon wieder in der Tür. »Von mir aus«, sagte er leise.

»Vor 200 Jahren war es auf Hawaii bei Todesstrafe schon verboten, auf dem Schatten des Häuptlings zu stehen. Überleg amoi, Bürscherl!« Jetzt wurde es Schmalzner zu bunt.

Jan zuckte mit den Schulten und trollte sich. Die offene Tür störte ihn nicht.

»Tür zu!«, brüllte Schmalzner.

Wenigstens das laute »Rrumms«, mit dem Schmalzner sie zutrat, musste den Lehrling eines Besseren belehren. Die Tür war aus eisenbeschlagenen Eichenbohlen und schwerer als erwartet und krachte ordentlich. »So eine Schlaftablettn!«, schimpfte Schmalzner. »Wenn die Tür hin ist, kann er was erleben.«

Als er sich zur nassen Wand umdrehte, war sie von der Erschütterung zur Hälfte eingestürzt, und was er sah, ließ ihm den Kreislauf versagen. Er sank bewusstlos in die Knie, fiel dabei in das Bächlein und blockierte dessen Lauf so, dass es vom Knie am angewinkelten Bein über den Bauchnabel (der herausschaute!) bis zum Hals gestaut wurde, um dann knapp unterhalb des Mundes abzufließen und endlich wieder in Richtung Gully verschwinden zu können. Jan hätte seine Freude gehabt. Ein Eins-a-Staudamm! Als Schmalzner nach zwei Minuten wieder wach wurde, war sein erster Gedanke: Bäh, alles nass! Der zweite war: Ich muss den Hans-Jürgen anrufen.

Mittwoch, 6. Oktober – Stadtarchiv Bad Tölz

Eine schwarz gekleidete Gestalt schlich durch die enge Gasse. Die Glastür am Haupteingang war nur durch ein einfaches Zylinderschloss gesichert. So eines öffnete der Einbrecher normalerweise innerhalb weniger Sekunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Das gehörte schließlich zu seiner Ausbildung. Heute aber brach er eins seiner Werkzeuge ab und an ein spurloses Öffnen war nicht zu denken. Er holte den Plan B in Form einer Mini-Bohrmaschine heraus und öffnete die Tür nahezu lautlos.

Schnell fand er sich in den zahlreichen Regalen zurecht. 1920–1930–1940 …

Da gab es ein Sonderregal zum Jahr des Kriegsendes 1945, das für Bad Tölz besonders wichtig war. Die Stadt wurde friedlich den Besatzern übergeben, die übernahmen die Kaserne der SS-Junkerschule als Hauptquartier für Südbayern. General Patton, der nach der Invasion maßgeblich am Kriegsgeschehen beteiligt war, marschierte bis hierher und blieb da. Weil’s so schön war! Der Einbrecher schmunzelte: Heute blieben bloß noch wohlhabende Urlauber im Rentenalter hier und kauften sich eine Wohnung oder eine Villa aus den ehemals goldenen Kurstadt-Zeiten. Keine amerikanischen Generäle kamen mehr, die ganze Kasernen übernahmen. Man stelle sich vor: Ein Milliardär kauft das marode Kurviertel komplett. In Garmisch andererseits gab es so was inzwischen. Da waren ganze Ortsteile in ausländischer Hand. Von Tegernsee und Rottach-Egern wusste er es nicht sicher.

Schnell fand der Vermummte einen kleinen Packen Briefe und Telegramme, die von und an General Patton höchstpersönlich geschrieben waren, und ein paar Antworten. Sie beschränkten sich auf wenige Wochen, ein paar Monate vor seinem Tod.

Diese Briefe wird in den nächsten Monaten niemand vermissen, dachte er. Vielleicht würde er sie einfach später anonym in den Briefkasten werfen. Um vom wahren Einbruchsgrund abzulenken, fand er im Schreibtisch eine Geldkassette und räumte sie aus.

Genauso schnell, wie er kam, war er auch wieder verschwunden.

Was er nicht wusste: Die Überwachungskamera hinten in der Ecke des Stadtarchivs hatte alles aufgezeichnet. Sie war erst vor einer Woche installiert worden, weil demnächst eine kleine Ausstellung mit wertvollen Dokumenten stattfinden sollte. Hätte nicht der zuständige Polizist die Ermittlungen schleifen lassen, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Aber nur vielleicht.

Montag, 11. Oktober – Isarufer unterhalb des Kalvarienbergs, Bad Tölz

Rudi Eberhardt kämpfte sich durchs Gebüsch am steilen Abhang. Irgendetwas rieselte ihm ins Genick. Er ignorierte die Möglichkeit, dass es vielleicht Insekten sein könnten.

Ein paar Fichtennadeln oder irgendwelche Samen sind’s halt.

Beim Blick nach oben sah er aber nur Laubwald: Buchen vor allem.

Die Zeckenimpfung ist wie lange her? Meningitis oder Borreliose?

Was hatte er zuletzt in seinem Medizin-Lehrbuch »Die häufigsten Krankheitserreger« gelesen? Wie lange war die Inkubationszeit? Erste Symptome? Das sollte man mal wieder nachschlagen!

Weitere unangenehme Gedanken waren schnell weggewischt, als ein neues Hindernis auftauchte: eine Geländestufe, die etwa zwei Meter nach unten ging. Der einzige zumutbare Weg führte zwischen zwei halbwüchsigen Buchen hindurch. Das erste Augenmaß verriet schnell, dass zwar der Rudi längs durchpassen würde, der Rucksack aber nicht. Das stabile Alugestell bliebe unweigerlich hängen.

Ein Zwei-Meter-Absturz wäre das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. Am nächsten Tag sollte er wieder gesund im Büro sitzen.

Rudi war der biedere Beamtentyp schlechthin: Er plante sein Leben, vor allem die Freizeit, war pünktlich, gewissenhaft und immer tadellos und freundlich. An dieser Stelle kam gewiss die Sinnfrage auf: Warum tue ich mir das überhaupt an? In diesem Scheißhang ist eh nichts Gescheites zu finden. Und irgendwas ist mir hinten hineingefallen …

Wie so oft biss der Rudi die Zähne zusammen und machte weiter. Er war heute in Sachen Fossilien und Geologie unterwegs und immer auf der Suche nach Neuigkeiten. Hier im Stadtgebiet von Bad Tölz am Fuße des Kalvarienbergs versuchte er gerade, die ihm noch unbekannten Stellen abzugehen, an denen die fossilreichen Sandsteine aus dem Oligozän aus dem Hang herausschauten.

Jaja, das Oligozän: Ein tropisches Meer lag damals vor der Haustür und die Alpen waren grad mal ein paar windige Inseln. Massenhaft kleine Turmschnecken, Muscheln, Fische, auch Haie und so allerlei tropisches Getier. Die Stellen im Hang sind bereits viele, viele Jahre der Witterung ausgesetzt, da sind wirklich keine besonderen Funde zu erwarten. Oder doch?

»Wenn man nicht da ist, kann man auch nicht finden, was herumliegt«, war Rudis Devise. Und in den vergangenen Jahren hatte er schon viel gefunden, was einfach so herumlag. Auch mal ein schönes Knabenkraut dazu – mit der Kamera dokumentiert und inventarisiert. Oder ein Waldvöglein – ebenfalls eine Orchidee –, und zwar das violette, nicht das weiße.

Hier zum Isarufer hinzukommen, war nicht leicht. Der Hang war gefährlich steil, unten gurgelte die Isar und verschlang alles: herabgefallene Blätter, Äste und natürlich auch gerne strauchelnde wilde Kraxler. Ein nimmersattes, nicht wählerisches Wassermonster! Seit er einmal eine Leiche in einem einsamen Bergbach gefunden hatte, rechnete er an solchen unzugänglichen Stellen immer mit dem Schlimmsten. Irgendwelcher Zivilisationsschrott führte da nicht selten zum kurzfristigen Herzstillstand. Einmal lag ein gelber Völkl-Ski in der Nähe eines Skigebiets im Bach. Rudi suchte damals den Fahrer dazu – Gott sei Dank vergeblich!

Plötzlich aus den Gedanken aufgeschreckt hörte er einige Meter oberhalb Leute reden. Dort oben verlief der Wanderweg entlang der Isar. Die bunt gekleideten und originell behüteten Touristen, die gummibesohlten Rentner, die hechelnden Jogger, keiner ahnte was von der Geologie unter ihren Füßen: Auf den fast senkrecht aufgefalteten Schichten aus dem Oligozän (damals war hier an dieser Stelle ein Karibik-Traum!) lagen mehr als 20 Meter Eiszeitschutt, sogenannter Nagelfluh, der wie Beton verfestigt war. Mancher Rentner dachte sich am Weg: »Was ham s’ denn da betoniert? Ob das der Hitler war?« Nein! – Ein großer Haufen Naturbeton von Tante Eiszeit.

Rudi ließ seinen Rucksack vorsichtig hinab und zwängte sich durch die beiden Buchen hindurch, rutschte mit dem rechten Fuß aus und landete seitlich verdreht mit dem Oberschenkel auf dem Boden. Ein kleiner Stich im Knie war die Belohnung seiner Unaufmerksamkeit. »Kruzifix!«, entfuhr es ihm. »So ein Scheißdreck da!« Und ganz leise: »Ich bläder Depp!« (Respekt, wer so was zugibt!)

Die erste Diagnose war schnell gestellt: leichte Bänderdehnung, kein Problem. Ja, das Interesse für Medizin ist Gold wert.

Rudi war immer sehr auf Sicherheit bedacht. Überhängende Felsen oder lockeres Geröll über gefährlichem Grund mied er. Am wenigsten konnte er sich damals vorstellen, in einen alten Bergwerksschacht einzusteigen, in dem das Grubenholz nur noch butterweich war und bei der leisesten Erschütterung alles zusammenfallen konnte. Er fühlte Beklemmung in engen Räumen. Hier aber war die Steigung überschaubar, große Bäume verhinderten einen unkontrollierten Absturz. Die Lage war berechenbar.

Er war überhaupt ein Mensch, der gerne alles im Voraus berechnete und überlegte. Seine Urlaubstage mit Programm, inklusive Ersatzprogramm bei schlechtem Wetter, plante er bereits im Januar. Und davon rückte er auch nicht ab. Ja, er musste auch auf niemanden Rücksicht nehmen. Eine Frau gab’s nicht (schon lange nicht mehr) und das genoss er. Jede unvorhergesehene Wendung des Tagesablaufs, vor allem am Wochenende, war ihm unangenehm. Freunde? Hatten keinen Platz. Sie hatten die schlechte Angewohnheit, einem die Zeit zu stehlen oder gar am Wochenende etwas unternehmen zu wollen.

Beim ersten Rundumblick an der neuen Stelle fiel außer ein paar zerbröselnden Schnecken im Gestein nichts Besonderes ins Auge, was Rudi dann auch augenblicklich aufgeben ließ. Das nächste Mal werden wieder ältere Gesteine aufgesucht, deren Versteinerungen weniger verwittert sind und wo der Hang nicht so unzugänglich ist, nahm er sich vor.

Mit einem Rucksack voll Werkzeug (Man weiß ja nie!), aber ohne Funde kraxelte er auf allen vieren zum Weg hinauf. Mit einem Sprung wollte er über das Holzgeländer setzen.

Obwohl Rudi sportlich einigermaßen trainiert und erst 56 Jahre alt war, berechnete er wegen des träge mitschwingenden Zehn-Kilogramm-Rucksacks den Schwung falsch und blieb mit dem linken Knöchel am Geländer hängen. Er lag schneller rücklings auf dem Weg, als er reagieren konnte. Ein Blick nach rechts und links: Gott sei Dank war kein hilfsbereiter Zeuge unterwegs: »Ham S’ Eahna wos doo?« Oder: »Was machen Sie für Sachen, in Ihrem Alter?« Den Fluch schluckte er hinunter. Das war insgesamt sein Pechtag, dachte er schon zu dem Zeitpunkt.

Um wenigstens noch die mitgebrachte Brotzeit samt Ausblick zu genießen, machte er sich auf den Weg zum Kalvarienberg hinauf, vorbei an Unmengen Naturbeton.

Als er oben in Sichtweite der Kirche den Wald verließ, stand er unvermittelt vor einem großen Gefährt mit seltsamen Aufbauten. Er erkannte es sofort: ein Bohrfahrzeug! Es war nicht größer als ein Kleinwagen, mit Kettenantrieb wie eine Planierraupe. An einem Ende ragte ein etwa sechs Meter langer Gestängeturm in die Höhe, in dessen Inneren sich ein etwa 20 Zentimeter dickes Metallstück drehte. In Sichtweite stand ein größerer Pick-up mit Pkw-Anhänger. Damit war das Fahrzeug offensichtlich hergebracht worden. Drei Leute waren tätig, alle mit einem grünen Kunststoffhelm. Es wurde eindeutig ein Loch gebohrt, allerdings konnte er auf die Schnelle nicht erkennen wie tief.

Von Haus aus neugierig ging Rudi näher heran und lauschte der eh recht dürftigen Konversation der Arbeiter. Die vielen zischenden Laute und Gesprächsfetzen, die er hörte, klangen nach einer Sprache aus dem Balkan. Die drei wurden auf ihn aufmerksam und einer sprach ihn an: »Geh du weg! Schleich di!« Die zwei Befehle waren eindeutig.

Bevor er noch irgendwas fragen oder schauen konnte, kam ein Vierter (mit weißem Helm) um das Fahrzeug herum und auf ihn zu. Er kaute gerade etwas, wahrscheinlich den letzten Bissen einer Brotzeit. Ein Anheben der Augenbrauen war die einzige Begrüßung, die Rudi erntete.

»Servus. Scheens Weda habt’s eich do ausgsuacht zum draussen Arbatn, ha? Da is ma gern unterwegs, gell? Des is ja ein sagnhaft’s Fahrzeig! Da hätt ich fei aa Verwendung dafia!«

Der Capo ignorierte ihn und popelte mit dem Zeigefinger im Mund herum.

»Warum bohrt ihr denn da? Das hab ich ja noch nie gesehen, so nah bei der Innenstadt.«

»Vorbereitung Thermalbohrung.«

»Was, da? Neben der Kirch? Brauchen’s a warm’s Weihwasser?« Rudi kicherte und lachte sich innerlich tot über seinen eigenen Witz.

Ein Achselzucken war die Antwort, als sich der Weißhelm schon wieder zum Gehen wandte. Rudi holte noch einmal Luft, um weiterzufragen, als in sein Ohr »Schleich di« geflüstert wurde. Er erschrak. Hinter ihm stand ganz nah einer der Grünhelme. Ein weiterer war in Sichtweite und hatte eine große Rohrzange in der rechten Hand, die er immer wieder in die Linke hineinklatschen ließ. Eine unmissverständliche Geste!

Da der Tag bisher eh schon so bescheiden verlaufen war, wollte Rudi nicht mit irgendwelchen Leuten streiten, die er von der Arbeit abhielt. Es konnte ja nicht jeder montags freinehmen. Außerdem knurrte ihm der Magen. Kopfschüttelnd entfernte er sich von den Grünhelmen, die ihm gefährlich erschienen und eh nur unfreundlich waren. Sie blickten ihm argwöhnisch hinterher.

Vor der – zugegeben – recht kitschigen Kirche aus dem 18. Jahrhundert, auf der Holzbank, schlug dann das Sammlerherz höher: zwei Debrecziner, ein halber Camembert und zwei Vollkornsemmeln vom Bäcker ums Eck, hurra! Die grandiose Aussicht auf das Isartal, Gaißach und Lenggries in der wärmenden Herbstsonne – spitze!

Die elegant gekleidete Frau im grünen Kostüm mit ihrem Collie störte das Bild anfangs auch nicht. Sie fiel ihm überhaupt nur auf, weil sie kurz einen Schatten auf ihn, den Brotzeiter, warf, als er gerade vor lauter Genuss die Augen zugemacht hatte. Er schaute ihr nach, ohne Grund, nur weil sich sonst nichts rührte in seinem Blickfeld auf der von der Sonne beschienenen Bank auf dem Kalvarienberg. Der Hund zerrte an der Leine in Richtung Wiese, die Frau hielt dagegen. Erst als der Hund mitten auf dem Weg ansetzte, ein Häufchen (einen Haufen!) zu machen, und dem Rudi der ganze Vorgang in zwei Meter Entfernung bei bester Sicht präsentiert wurde, wachte er aus seinen Träumereien auf. Bevor er bewusst wegschauen konnte, kam eine Plastiktüte zum Vorschein, die – zugegeben – recht großen und auch bissl weichen, nachgiebigen Würste wurden komplett eingetütet, was mehrere Versuche erforderte. Dann landete alles elegant versenkt im Mülleimer direkt rechts von seinem Sitzplatz. Da die Wurst wie gesagt sehr weich war, blieb ein hellbrauner Streifen auf dem Kiesweg zurück. Die Frau lächelte milde und grüßte freundlich.

Rudi dagegen war auf einmal schlecht. Warum hatte er nicht weggeschaut? Wie beim Fernsehen, wenn es plötzlich grausig wird beim Dr. House oder so. Wegschauen ist die Lösung. Rudis Hirn war aber irgendwie im Stand-by-Modus gewesen und bis er absichtlich reagieren konnte – zu spät! Das Stück Debrecziner in seinem Mund schmeckte plötzlich seltsam. Er packte seine Brotzeit wieder in den Rucksack und machte sich missgelaunt auf den 20-minütigen Heimweg.

Die blöde Kuh hatte sogar noch höflich gegrüßt! Er brauchte einen Schnaps.

Donnerstag, 14. Oktober – Blombergstraße, Bad Tölz

»Thermalbohrung in Geretsried wegen Insolvenz der Bohrfirma verzögert«, las Rudi dann ein paar Tage später beim Frühstück in der Zeitung. Irgend so ein Scheich wollte dem Nordlandkreis eine große Badelandschaft schenken und jetzt gab’s ständig Schwierigkeiten mit der Sache. Der Scheich hatte die Wirtschaftskrise wahrscheinlich auch zu spüren bekommen. Obwohl er so reich war, dass er sogar sein eigenes Öl kaufen könnte. Auch viele der im Mittleren Osten auf Verdacht gebauten Hotel-Wolkenkratzer standen leer, wusste Rudi. Da war also auch nicht mehr alles so rosarot.