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ANDREAS BOPPART (HRSG.)

Hoffnung

ZUVERSICHT IN ZEITEN
VON CORONA

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SCM ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

INHALT

PROLOG FÜR HOFFNUNGSMENSCHEN

ANDREAS BOPPART

NOTSTAND IST NORMAL

ANDREA WEGENER

LOCKDOWN: LEKTION GELERNT

PATRICK KNITTELFELDER

PLÖTZLICH ALLES ANDERS

INKA HAMMOND

QUELLE DER HOFFNUNG

WERNER KÜBLER

DAS GROSSE FEUER

DORIS LINDSAY

WILD UND BEFREIT

DANIEL SCHÖNI

HOFFNUNG TRÄGT KIRSCHEN

DANIELA MAILÄNDER

ANSPORN ZUR AKTION

GUNNAR ENGEL

KRISE STATT CONTEST

ELENA SCHULTE

PERSPEKTIVE DER EWIGKEIT

TOBIAS TEICHEN

JETZT ERST RECHT

MIHAMM KIM-RAUCHHOLZ

WARTEN AUF GODOT

SAMUEL KOCH

FRIEDEN IM ZERBRUCH

DÉBORAH ROSENKRANZ

VERANKERT IN JESUS

KONSTANTIN KRUSE

AUF EINMAL AUSGEBREMST

JANA HIGHHOLDER

TIPPS UND TRICKS

JOHANNES HARTL

ÜBERRASCHT VON HOFFNUNG

ELKE WERNER

GOTT DER HOFFNUNG

ANDREAS BOPPART

BILDNACHWEIS

PROLOG FÜR HOFFNUNGSMENSCHEN

Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen? Diese Frage prägte der Meteorologe Edward N. Lorenz. Als ich seine Theorie des Schmetterlingseffekts zum ersten Mal hörte, war ich fasziniert von dem Wahrheitsgeruch dieser simplen Fragestellung und gleichzeitig konnte ich kaum an die globale Auswirkung solch minimaler Auslöser glauben.

Vor allem schien es mir undenkbar, dieses Phänomen einmal am eigenen Leib und dermaßen drastisch zu erleben. Ganz unabhängig davon, was diese hartnäckige Form des Coronavirus tatsächlich in Gang gesetzt hat – es überstieg schlicht meinen Vorstellungshorizont, dass ein mikroskopisch kleines Virus, das Tausende von Kilometern von meinem Garten entfernt beginnt, seine Runden zu drehen, auch nur den geringsten Einfluss auf meinen Freiraum und meine Hobbys haben könnte, auf mein Beziehungsnetz, meine Agenda, meine Arbeitssituation, meine Gesundheit, meine Frisur, meine Finanzen (nicht zuletzt durch überteuerte Online-Versandgebühren für billigste Artikel) und auf meine Stresshormonproduktion, weil plötzlich vier Kinder von heute auf morgen stundenlang von uns Eltern beschult werden müssen und wir dabei auf gefühlten 73 Kommunikationskanälen mit gefühlten 83 Lehrpersonen in einer Dauerkommunikationsschleife hängen.

Mit ungeahnter Vehemenz wird nun das Netz sichtbar, dass wir global und unzertrennbar gespannt haben. Ich bin kein Gegner dieser weltweiten Vernetzung – solange wir uns der Kosten bewusst sind. Und wir tun gut daran, das Preisschild nicht einfach heimlich verschwinden zu lassen, um dann überrascht auszurufen, dass es uns nun doch zu teuer werde.

Immer wieder ist es vorgekommen, dass Menschen unserem Planeten mit einem Flügelschlag einen zusätzlichen Spin gegeben und die Weltgeschichte mit ihrer Lebenslinie in ein »Vorher« und ein »Nachher« geteilt haben. Im Guten wie auch im Schlechten. Da waren die Entdeckungen des Penicillin durch Alexander Flemming (1928) und der Radioaktivität durch Marie Curie (1898). Der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi leitete mit seiner Selbstverbrennung 2010 den arabischen Frühling ein und der Slogan »Me too« der Menschenrechtsaktivistin Tarana Burke ging 2017 als Hashtag um die Welt. Adolf Hitler stürzte die Welt 1939 in einen Krieg, der Millionen Menschen das Leben kostete, Mutter Teresa erhielt 1979 den Friedensnobelpreis für ein Leben der Aufopferung für Menschen in Not, das Millionen inspirierte.

In der endlosen Liste von Persönlichkeiten, die unsere Weltgeschichte für immer verändert haben, darf allerdings auch Jesus Christus nicht ungenannt bleiben, der vor rund 2000 Jahren ein völlig neues Konzept von Vergebung sowie eine bahnbrechende Dimension der Nächstenliebe einführte und gleichzeitig eine persönliche und intime Gottesbeziehung vorlebte, wie sie bis dahin unbekannt war. Sein Leben, seine Taten bis hin zu seinem Sterben waren dermaßen signifikant, dass wir selbst unsere Zeitrechnung nach ihm ausgerichtet haben.

Die Frage ist: Wie gehst du persönlich damit um, wenn du plötzlich selbst von einem solchen Einschnitt betroffen bist? Wie gehst du damit um, wenn du dich unerwartet in eine Krise katapultiert siehst? Was lösen große umwälzende Bewegungen bei dir aus? Vor allem Ängste oder auch Hoffnung? Stürzt du dich in verschenkende Solidaritätsaktivitäten oder flüchtest du instinktiv in einen Überlebensmodus? Schreibst du die Situation dem Leben zu, Gott oder irgendwelchen bösartigen Machenschaften von Menschen?

Es ist erstaunlich zu beobachten, wie unterschiedlich wir Menschen auf diese Krisensituation reagieren. Natürlich spielt die jeweilige Persönlichkeit eine große Rolle, gleichzeitig aber auch unsere Lebensumstände. Das war und ist auch in der gegenwärtigen Krise zu beobachten: Während die einen entspannt die gähnende Leere ihrer Agenda in ihrem Privatgarten genießen und die Vorzüge des Auseinanderfallens des öffentlichen sozialen Lebens feiern, ringen die anderen mit existenziellen Herausforderungen – dem Verlust des Jobs, der Firma oder von geliebten Menschen. Während Singles in ihrer Einzimmerwohnung an der Isolation leiden, leiden manche Beziehungen darunter, dass man sich nicht mehr aus dem Weg gehen kann. Manche suchen nach einem tieferen Sinn, andere versuchen, der Sache einen tieferen Sinn zu geben. Und wieder andere leben sinnfrei drauflos.

Ich persönlich entdecke in all dem, dass es meist gewinnbringend ist, die Frage »Warum, Gott?« mit der Frage »Wo bist du, Gott?« auszutauschen. Es ist wohltuend, im Leben immer wieder einmal innezuhalten – egal, ob wir uns gerade in einer angespannten oder entspannten Phase befinden – um ganz ehrlich dieser Frage Raum zu geben: »Wo bist du, Gott?«

Gerade in diesen Einschnittszeiten, wenn nichts mehr ist, wie es vorher war, ist erfahrbar, dass dieser Gott der Bibel ein Gott der Hoffnung ist und für uns zur Quelle der Hoffnung werden will. Genau darum geht es in diesem Buch: Es kommen Menschen zu Wort, die an dieser Quelle verändert worden sind, die selber Krisen durchlebt haben, die oftmals abgetaucht, aber immer wieder zur Hoffnung durchgedrungen sind. Es sind ehrliche Lebensausschnitte, eine Sammlung hilfreicher Erfahrungen in einer unglaublichen Farbpalette. Vielleicht werden dir nicht alle Farben zusagen, aber gut möglich, dass dir ein, zwei Farben – gemalt von diesen Hoffnungsmenschen – sehr lieb werden.

Ihre Erfahrungen können dir dabei helfen zu entdecken, dass Hoffnung nicht an deine Lebensumstände geknüpft sein muss. Unabhängig von unseren inneren und äußeren Voraussetzungen ist es möglich, mit einem Grundrauschen der Hoffnung durchs Leben zu gehen. Und nötig. Denn Hoffnung ist der Herzschlag des Lebens.

Für mich sind die Autorinnen und Autoren die verkörperte Hoffnung, die jeweils auf ihre Art und mit ihrer Persönlichkeit einen unglaublichen Horizont der Hoffnung malen. Es sind Hoffnungsstimmen, die diesen essenziellen Antriebsstoff des Lebens in unsere Gesellschaft hineinsprechen.

Hoffnung ist ansteckender als jedes Virus. Und kraftvoller. Denn anstatt Leid und Sterben bringt sie Leben. Ich wünsche mir, dass dieses Buch – unabhängig davon, wie aussichtslos und verzweifelt deine Situation vielleicht auch sein mag – in deinem Inneren Hoffnung zum Leben erweckt. Möge dich das Durchlebte dieser Hoffnungsmenschen zum Weinen, Lachen und Nachdenken bringen – und immer wieder zur Frage »Wo bist du, Gott?« führen.

Auf dass die folgenden Seiten zu einem Schmetterlingsflügelschlag in deinem Leben werden, die Hoffnung wachsen lassen und die Sehnsucht wecken, selbst zu einem Hoffnungsmenschen zu werden.

Andreas »Boppi« Boppart, April 2020

NOTSTAND IST NORMAL

ANDREA WEGENER

Es hat gestern geregnet. Und wie so oft war die Kanalisation überfordert: Vor dem Eingang zum Camp schwimmen in einer Pfütze aus Abwasser Flöckchen von Exkrementen. Der Gestank lässt mich würgen, als ich möglichst schnell hindurchstapfe. Der Polizist, der sonst mein Namensschild kontrollieren würde, hält sich angeekelt seine Corona-Gesichtsmaske vor Mund und Nase und winkt mich entnervt durch. Willkommen in Moria!

Seit eineinhalb Jahren arbeite ich im berühmt-berüchtigten Hotspot Moria auf der Insel Lesbos am Rande Europas. Bis zu 20 000 Menschen aus rund 60 ethnischen Gruppen von Sierra Leone über Afghanistan bis Bangladesch hausen hier auf einem Gelände, das ursprünglich für knapp 3000 angelegt war, die meisten illegal in Olivenhainen um das eigentliche Camp herum, ohne Strom und manchmal mit einigen hundert Metern Fußweg zum nächsten Waschbecken. Viele haben Fieber, psychische Probleme oder schlimme Hautausschläge, aber zu den Ärzten auf dem Gelände kommt man inzwischen nur noch mit lebensbedrohlichen Notfällen. Messerstechereien sind die übliche Methode, Konflikte zu klären; gerade letzte Woche ist wieder einer der unbegleiteten Minderjährigen dabei umgekommen. Die Polizei patrouilliert schon lange nicht mehr im Olivenhain; dort herrscht das Recht des Stärkeren. Viele, gerade auch Familien mit kleinen Kindern, leben in ständiger Anspannung. Sie wissen nicht, wie viele Monate oder gar Jahre sie hier ausharren müssen, nur um am Ende vielleicht doch in ihre von Terror und Armut zerfressene Heimat deportiert zu werden.

Hinter dem, was einige Sätze hier nur grob skizzieren, stecken 20 000 Einzelschicksale: Die 13-jährige Afghanin, die den Geschäftspartner ihres Vaters heiraten sollte und mit ihrer Mutter vor ihrem Clan geflüchtet ist. Die sechsköpfige Familie, deren Ältester vor vier Jahren beim Heimweg von der Schule von einer Mine zerrissen wurde und deren andere Kinder seither keinen Unterricht mehr besucht haben – die Jüngste hat seither kein Wort gesprochen. Der hochrangige Mitarbeiter eines Ministeriums, der um sein Leben fürchten muss, seit sich eine neue Regierung an die Macht putschte. Der Elfjährige, der mit seinem 16-jährigen Cousin nach Moria gekommen ist und nun ohne diesen in der Schutzzone für unbegleitete Kinder unter 14 Jahren untergekommen ist.

Die Dunkelheit und Perspektivlosigkeit sind mit Händen zu greifen. Was anderswo Ausnahmezustand wäre, ist hier so normal, dass Krisen ineinander verschwimmen. Was war vorletzte Woche noch einmal zuerst: Das Feuer, bei dem ein Kind umkam und 200 Menschen obdachlos wurden, oder der Streit der verfeindeten afghanischen Banden? Mit wie vielen Panikattacken haben meine jungen Ehrenamtlichen es in dieser Woche unter den unbegleiteten Minderjährigen zu tun gehabt und mit wie vielen Selbstmordversuchen unter den Frauen? Ist es wirklich erst wenige Wochen her, dass Hilfsorganisationen unter Beschuss gerieten und auch einige meiner Helferinnen von Einheimischen angegriffen wurden? Es kommt mir ganz surreal weit weg vor.

Und zu all dem kommt nun also auch noch Corona hinzu! Die Aussicht, dass das Virus im Camp ankommen könnte, wo es sich angesichts der Enge und der hygienischen Zustände ungehindert ausbreiten würde, während die medizinische Versorgung auf der Insel und erst recht im Camp jetzt schon völlig unzureichend ist, hat bei manchen Helfern und Camp-Bewohnern große Angst ausgelöst. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, die Hochrisikogruppen zu evakuieren und wenigstens notdürftige Quarantäne- und Isolierstationen aufzubauen, während gleichzeitig immer mehr Helfer die Insel verlassen. Als eine der wenigen Hilfsorganisationen, die noch in Moria aktiv sind und für einen Rest Stabilität sorgen, gelten wir wohl als systemrelevant und dürfen zur Arbeit gehen. Ansonsten herrscht eine strenge Ausgangssperre: Unsere Freizeit verbringen wir in unseren Wohnungen. Fast alle Treffen und Aktivitäten, die uns früher einen Ausgleich zur emotional aufreibenden Arbeit geschaffen haben, sind nun unmöglich. Es ist anstrengend! Zu unserem »normalen« Ausnahmezustand hat sich der globale Corona-Ausnahmezustand hinzugesellt.

»Wie hältst du das nur aus?«, fragen mich Freunde manchmal, oder auch: »Was gibt dir Hoffnung?« Es stimmt: Ohne Hoffnung kann man hier nicht lange überleben – auch als Helfer nicht. Es läge so nahe, die Koffer zu packen oder zumindest innerlich aufzugeben, bitter oder zynisch zu werden oder nur noch Dienst nach Vorschrift zu machen, ohne Liebe zu den Menschen.

Ein paar Dinge buchstabiere ich in den letzten anderthalb Jahren immer wieder neu, die mir helfen, die Zuversicht aufrechtzuerhalten.

Ich bin immer wieder begeistert, wie tragfähig das christliche Welt- und Menschenbild ist, das mir meine Eltern und die Gemeinde meiner Kindheit vermittelt haben. Darin ist Platz für das Unordentliche, das Dunkle, die Ungerechtigkeit, all das Hässliche und die Gewalt, die uns in Moria zu schaffen machen – all das, was die Bewohner unseres Camps bei ihrer Flucht hinter sich lassen wollten und das sie in ihren Herzen dann doch selbst mitgebracht haben. Die Bibel behauptet nicht, dass wir Menschen im Grunde alle eigentlich ganz gut sind und dass wir alle friedlich miteinander leben würden, wenn es nur keinen religiösen Extremismus, keine patriarchalischen Strukturen, westlichen Imperialismus oder – hier kann man jetzt das Feindbild seiner Wahl einsetzen – gäbe.

Wir Menschen sind mit uns selbst, miteinander und mit der Welt nicht im Reinen, weil wir mit unserem Schöpfer nicht im Reinen sind. Wir sind Opfer und machen andere zu Opfern. Selbst als Helfende können wir uns manchen Dynamiken von Ungleichbehandlung und Machtmissbrauch kaum entziehen. Politische Lösungen sind wichtig und ich bin sehr dankbar für meine Aktivistenfreunde, die sich für diese großen Lösungen leidenschaftlich einsetzen. Aber meine Hoffnung ist nicht, dass wir die Welt damit stückweise immer besser machen, bis sie irgendwann ganz im Lot ist.

Die Bibel ist ganz realistisch: Ungerechtigkeit, Naturkatastrophen, Krieg, Armut und – obwohl uns die Corona-Krise so unvorbereitet traf! – Seuchen wird es immer geben. Wir sind nicht die ersten, die irgendwie damit umgehen müssen. Wie gut, dass es vor uns schon Generationen von Menschen gab, die in schwierigen Situationen die Hoffnung aufrechterhalten haben!

Im Römerbrief gibt es einige Verse, die mich sehr berühren:

Ich bin aber davon überzeugt, dass unsere jetzigen Leiden bedeutungslos sind im Vergleich zu der Herrlichkeit, die er uns später schenken wird. (…) Aber die ganze Schöpfung hofft auf den Tag, an dem sie von Tod und Vergänglichkeit befreit wird zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt, wie unter den Schmerzen einer Geburt. Und selbst wir, obwohl wir im Heiligen Geist einen Vorgeschmack der kommenden Herrlichkeit erhalten haben, seufzen und erwarten sehnsüchtig den Tag, an dem Gott uns in unsere vollen Rechte als seine Kinder einsetzen und uns den neuen Körper geben wird, den er uns versprochen hat. Nachdem wir nun gerettet sind, hoffen und warten wir darauf. Denn wenn man etwas schon sieht, muss man nicht mehr darauf hoffen. Und was ist die Hoffnung auf etwas, das man schon sieht? (…) Der Heilige Geist hilft uns in unserer Schwäche. Denn wir wissen ja nicht einmal, worum oder wie wir beten sollen. Doch der Heilige Geist betet für uns mit einem Seufzen, das sich nicht in Worte fassen lässt. (Römer 8,18ff.)

Das klingt für moderne Ohren ein bisschen verschwurbelt und es lohnt sich unbedingt, etwas länger auf diesen Versen herumzukauen. Aber einige Gedanken stecken darin, die ich sehr hoffnungsvoll finde.

Diese Welt mit ihrem Schmerz hat nicht das letzte Wort. Es geht hier nicht um eine billige Jenseitsvertröstung, sondern um eine Perspektive, die unserem Leben im Hier und Jetzt einen Anker verleiht. Am Ende wird tatsächlich alles gut werden und wir werden dabei sein! Menschen, die das wissen, müssen nicht aus FOMO (Fear of missing out, also der Angst, etwas zu verpassen) alles Schöne in dieses eine Leben packen, Leiden um jeden Preis vermeiden und die Erfüllung eigener Wünsche zum Lebensinhalt machen.

Das ist ungemein befreiend – so befreiend übrigens, dass hier und da vielleicht sogar noch ein Restchen Energie für die Nächstenliebe übrig bleibt, zu der wir aufgefordert und befähigt sind. Und dabei müssen wir gar nicht riesig denken. Mir ist bewusst: Ich werde Moria nicht retten und die Welt erst recht nicht! Aber ich kann das tun, was vor meinen Füßen liegt. Ich kann aus meiner Komfortzone heraus- und in die Exkrementenpfütze hineintreten und heute mit einer kleinen handfesten Tat das Leben von einem einzelnen Menschen ein kleines bisschen erträglicher machen.

Auch Seufzen ist laut Paulus, dem Autor des Römerbriefs, in Ordnung. Dass wir uns zusammenreißen, alles nicht so tragisch nehmen und Schmerz wegdrücken, ist nicht der Weg, den er hier vorschlägt. Es ist ein sehr starkes, drastisches Bild von einer ganzen Welt, die in den Wehen liegt, sich windet, seufzt und schreit – und wir mit ihr. Wir wollen, dass endlich, endlich alles gut wird. Und das ist auch gut so! Gott hat diese Sehnsucht in uns hineingelegt – wir sind »auf Hoffnung hin« gerettet.

Ebenso wenig müssen wir auf alles eine Antwort haben. »Wir wissen nicht, was wir beten sollen«, heißt es. Danke, Paulus! Wenn du schon nicht wusstest, welche Lösungen du im Gebet Gott vorschlagen solltest, muss ich das auch nicht! In einer höchst komplexen Situation, wie sie sich in Moria darstellt, weiß ich meistens nicht, was eine gute Lösung wäre oder wo ich mit dem Beten überhaupt anfangen soll. Dann ist dieses wortlose Seufzen in Ordnung, oder der Schrei um Gottes Eingreifen, den Generationen von Gläubigen schon vor mir ausgesprochen haben: Kyrie Eleison! Herr, erbarme dich! Ich habe in den letzten Monaten die Psalmen neu entdeckt, die so viele Gedanken und Emotionen in Worte fassen, die in mir ungeordnet durcheinanderpurzeln. Und die dann doch auch immer wieder zu dem Ergebnis kommen: Gott ist Gott und ich kann ihm vertrauen, auch wenn ich keine Antwort habe.

Schließlich ganz wichtig: Hoffnung bedeutet, das zu sehen, was man (noch) nicht sieht. Wenn alles schon klar wäre, bräuchte man ja keine Hoffnung mehr – so würde ich es ausdrücken. Das finde ich in Moria tatsächlich die spannendste Übung. Wenn ich mit Gottes Augen zu sehen beginne, stellt sich ein ganz anderes Bild dar als überquellende Abwasserrohre und messerschwingende Halbstarke.

Ich habe diesen furchtbaren Ort in den letzten eineinhalb Jahren immer mehr lieben gelernt, je mehr ich seine Menschen lieben gelernt habe: Ich habe ihr unglaubliches Durchhalten in außerordentlich widrigen Umständen bewundern gelernt. Ich schätze ihre Findigkeit, aus Nichts etwas zu machen: Aus Europaletten und Planen bauen sie Brücken, stabile Unterkünfte für ihre Familien und, ja, Kioske, Friseursalons und Restaurants! Und mich berühren das Lächeln und die Schönheit so vieler Männer, Frauen und Kinder aus aller Welt, die kein Trauma ganz zerstören konnte.

Gott hat jeden dieser Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen. Zusammen bilden sie so viel von seiner Kreativität und Vielfalt ab, dass ich staune! Er hat sie unendlich mehr lieb, als ich das je könnte. Und er hat meinen Kollegen und mir die ehrenvolle Aufgabe gegeben, im Camp die Hände und Füße von Jesus zu sein. Gott begegnet den Bewohnern durch uns, so dass sie ihn kennenlernen können. Das alles kann ich nur sehen, wenn ich mir von Gott Augen der Hoffnung geben lasse. Auch wenn ich mir das im Moment nicht vorstellen kann: Selbst Moria und alles Schwierige, was wir hier erleben, webt er in seinen großen Plan mit der Welt ein.

»Ich sehe was, was du nicht siehst …!«, scheint Gott manchmal zu sagen. Und dann schenkt er mir seine Sicht der Dinge und ich habe Hoffnung für den nächsten Tag.

Auch und gerade in Moria.

Andrea Wegener, von »Campus für Christus« nach Lesbos ausgesandt, ist die operative Leiterin der griechischen Hilfsorganisation »EuroRelief« im Camp Moria. Sie spricht Englisch mit ihrem Team, Deutsch mit Jesus und hofft, dass ihre Katze ihr schlechtes Griechisch versteht.

LOCKDOWN: LEKTION GELERNT

PATRICK KNITTELFELDER

Ein tolles Leben. Fast wie ein Vorzeigeleben. Nach außen kann es sich auf jeden Fall sehen lassen, siehe mein Profil bei Instagram: Hocherfolgreicher Volksschulschwänzer, schwerer Legastheniker, Firmengründer, Leiter der HOME Mission Base, Hotels, Immobilien & Restaurants, Autor. Vielleicht sollte man noch glücklicher Ehemann, beschenkter Vater und Vortragsredner dazu schreiben. Wobei man den Redner besser weglässt, denn damit ging das Drama los.

Seit Wochen denke ich an eine Geschichte aus der Bibel. Da heißt es, die Leute aßen und tranken, gingen ihren Geschäften nach. Sie heirateten, zeugten Kinder. Auf heute übertragen: Sie pflegten ihre Insta- und Facebook-Profile, vertrauten auf eine wachsende Wirtschaft, freuten sich auf Champagner und die nächsten Festspiele. Nur einer baute – mitten in den Bergen – eine Arche. Und dann kam der Regen. Oder fast noch blöder: Es kam ein winzig kleines, nanometerkleines bescheuertes Virus. Und vieles was ich hatte, was meine Identität, meine Unternehmerpersönlichkeit ausmachte, ist nicht mehr, hängt am seidenen Faden oder ist von Staatshilfe abhängig.

Einer hat eine Arche gebaut. Doch das war nicht ich. Einer war vorbereitet und mich hat es von hinten erwischt. Noch vor knapp zwei Monaten zwei Hände voll florierende Firmen mit 150 Mitarbeitern. Jetzt 130 von ihnen in Kurzarbeit und 20 entlassen. Und seit sechs Wochen nur Ausgaben und so gut wie keinen Cent Umsatz.

Und trotzdem lebe ich. Bin immer öfter wieder gut drauf und fest davon überzeugt, dass es ein höheres Wesen gibt, das es nicht nur gut, sondern sogar sehr gut mit mir und uns allen meint. Dass es einen Gott gibt, der einen Plan hat. Und in dem Plan darf auch so etwas Blödes wie Corona vorkommen. Und nein, es ist keine Strafe Gottes. Genauso wenig wie damals AIDS, genauso wenig wie der große Tsunami eine Strafe war. Auch kein Erdbeben und kein Hochwasser. Auch nicht Tschernobyl. Und doch bin ich mir sicher: Gott will mir, Patrick, und uns allen ganz klar etwas sagen. Aber was?