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ISBN 978-3-86191-195-1

The Journey Home

Atria Books, Simon & Schusters, New York

© 1996 Phillip L. Berman

Kammer 11 ● D-83123 Amerang

www.crotona.de

Verwendung von ringo / photocase.com

Inhalt

Einführung

Was der Tod uns lehrt

Teil 1

Das Flüstern der Ewigkeit

Eins

Die Seele wiederfinden

Zwei

Ein neuer Geist der Zugehörigkeit: Berichte über Nahtod-Erfahrungen

Drei

Absturz in den Himmel: Eine kurze Geschichte der Nahtod-Forschung

Teil 2

Reisen der Seele – in Vergangenheit und Gegenwart

Vier

Der Flug der Seele

Fünf

Zur Hölle und zurück

Sechs

Begegnungen mit dem Licht Gottes

Sieben

Der Film Ihres Lebens

Acht

Neuer Glaube, neues Leben

Teil 3

Spiegel des Herzens: Mystik und Nahtod-Erfahrung

Neun

Eines in Allem, Alles in Einem: Wahre Geschichten mystischer Erfahrungen

Zehn

Durchsichtige Fenster: Mystische Erlebnisse und Nahtod-Erfahrungen im Vergleich

Elf

Heilsame Visionen: Nahtod-Erfahrungen, mystische Erlebnisse und seelische Gesundheit

Zwölf

Wir sind nicht getrennt vom Himmel – eine ewige Theologie

Dreizehn

Zu Hause im Haus des Lebens

Epilog

Der Blick in die Ferne

Danksagungen

Über den Autor

Bibliographie und Literatur-Empfehlungen

In liebevoller Erinnerung an

Channa Rose Berman

8. Juni 1993

Über die Erfahrungsberichte

Die Erfahrungsberichte in diesem Buch gehen zum großen Teil auf Material aus Gesprächen zurück, die ich in den vergangenen acht Jahren mit Amerikanern unterschiedlichster Herkunft und Ausbildung geführt habe. Alle hatten Nahtod-Erfahrungen oder mystische Erlebnisse. Wann immer möglich, verwende ich die richtigen Namen und persönlichen Angaben meiner Gesprächspartner. Einige wenige haben jedoch darum gebeten, ihre Namen sowie bestimmte Einzelheiten in ihren Berichten so zu ändern, dass ihre Anonymität gewahrt bleibt. Dieser Bitte bin ich nachgekommen.

Gelegentlich zitiere ich auch kurze Ausschnitte aus Berichten von Menschen, mit denen ich nicht selbst gesprochen habe. Die Quellen dieser Zitate sind jeweils in den Fußnoten vermerkt. Für alle Leserinnen und Leser, die sich eingehender mit den Themen dieses Buches beschäftigen möchten, habe ich entsprechende Literatur-Empfehlungen zusammengestellt.

Einführung

Was der Tod uns lehrt

Am 8. Juni 1993, etwa gegen 19 Uhr, stand ich in einem winzigen Aufwachraum, einem Einzelzimmer mit weiß gefliesten Wänden, im Boulder Community Hospital und wiegte in meinen Armen den zarten, nur 2980 Gramm schweren Körper meiner neugeborenen Tochter Channa Rose Berman. Channa ist Hebräisch und bedeutet „Gnade“, und Channas Geburt hätte für unsere Familie ein großes Fest werden sollen. Doch nun mussten wir der traurigen Wahrheit ins Gesicht sehen, dass Channa vor wenigen Stunden nach einem hektischen Kaiserschnitt in der Notaufnahme des Krankenhauses gestorben war. Meine Frau Anne hatte einen heroischen Kampf gefochten, und die Ärzte und Pflegekräfte im Krankenhaus hatten getan, was in ihrer Macht stand, aber Channa konnte nicht mehr gerettet werden.

Mit tränenüberströmtem Gesicht stand ich nun an Annes Bett, in meinen Armen Channas stillen Körper. Anne war noch ganz benommen von den Sedativa, die man ihr verabreicht hatte, und konnte kaum die Augen öffnen. Nach Kräften, wenngleich vergebens, versuchte sie mit diesem verheerenden Verlust zurechtzukommen. Sie stand unter Schock, genau wie ich. Doch sie brauchte mich jetzt, und das machte es mir unmöglich, mich ganz meiner Trauer hinzugeben. Ja, unsere Tochter war gestorben, und ich war tief gebeugt vor Gram und schrecklichem Schmerz; aber Anne brauchte mich jetzt mehr denn je. Und auch unser dreieinhalbjähriger Sohn Aaron brauchte mich.

Wie jeder weiß, der schon einmal einen Todesfall in der Familie erlebt hat, bleibt die Welt nicht automatisch stehen, wenn jemand stirbt. Anders als im Theater oder in Büchern fällt kein Vorhang und es endet kein Kapitel. Das Leben geht weiter. Zum ersten Mal erfuhr ich dies 1970, als ich im Alter von vierzehn Jahren mitansehen musste, wie meine Stiefmutter durch das Zerstörungswerk der Leukämie allmählich verfiel, und noch einmal 1974, als ich kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag meinen Vater an den Darmkrebs verlor. Wenn jemand stirbt, dann läuft die Zeit trotzdem einfach weiter. Es wird 18 Uhr, 19 Uhr, 19 Uhr 20, 19 Uhr 21 … und man muss etwas mit sich anfangen. Nach Channas Tod galt meine vordringlichste Sorge Anne; ich wollte sie trösten. Doch als sie irgendwann nach halb neun unter dem Einfluss der Beruhigungsmittel in Schlaf gesunken war, rückte Aaron in den Vordergrund. Ich musste dafür sorgen, dass er etwas zu essen bekam, und ihm helfen zu begreifen, was mit seiner sehnlichst erwarteten Schwester geschehen war. Außerdem musste ich zusehen, dass er ein wenig schlief.

Gegen viertel nach neun kamen Aaron und ich aus der Klinik nach Hause, das war bereits eine gute Stunde nach seiner Schlafenszeit. Ich bereitete ihm rasch einen Teller Käsemakkaroni zu, setzte ihn an den Küchentisch und schlich mich still ins Schlafzimmer, um mit meiner Trauer allein zu sein. Es ging mir nicht darum, dass mein Sohn mich nicht weinen sehen sollte, sondern ich wollte ihm diesen Tag, der für uns beide ohnehin schon traumatisch verlaufen war, nicht noch schwerer machen. Ich machte mir Sorgen, wie er den Tod seiner Schwester verkraften würde, und fragte mich, ob ich der Aufgabe gewachsen wäre, ihm alles zu erklären. Kann ein Dreijähriger wirklich verstehen, was der Tod bedeutet? Kann das überhaupt jemand?

Aaron brachte es tatsächlich fertig, sein Essen schneller in sich hineinzuschaufeln, als ich erwartet hatte, und schlich sich dann in unser Schlafzimmer, wo er mich leise schluchzend auf dem Bett antraf. Mit einer erstaunlichen Ruhe und Zuversicht krabbelte er aufs Bett, schlang seine Ärmchen um mich und fragte, ob ich wegen Channas Tod so traurig sei.

„Ja, Aaron, ich bin sehr traurig. Channa hatte nicht genug Kraft zum Leben, und deshalb ist sie gestorben.“

„Ich bin auch traurig, Dad“, antwortete er ruhig.

Ein paar Minuten lang saßen wir schweigend beieinander auf dem Bett und hielten uns im Arm. Dann machte Aaron mir klar, dass er genauso sehr damit beschäftigt war, Channas Tod zu begreifen, wie ich. Völlig unvorbereitet traf er mich mit einer Frage, über die er anscheinend lange nachgegrübelt hatte.

„Wo war ich, bevor ich geboren wurde?“

Schon vor Jahren hatte mir der angesehene unitarische Geistliche Forester Church gesagt, diese Frage beschäftige kleine Kinder sehr. Als sie jetzt von meinem eigenen Sohn kam, war ich allerdings völlig verblüfft. Doch wenn ich es mir recht überlege, ist sie absolut sinnvoll. Die Frage, wo wir vor unserer Geburt waren, ist für ein Kind verständlicherweise wesentlich drängender als die Frage, die wir Erwachsenen uns so häufig stellen: „Wohin gehe ich, wenn ich tot bin?“

Ohne sich wirklich darüber klar zu sein, hatte Aaron erkennen können, dass im Kern unserer Geburt wie unseres Todes ein Geheimnis liegt und die Antwort auf die eine Frage zugleich auch die auf die andere ist. Ja. „Wo war ich, bevor ich geboren wurde?“, ist im Grunde dieselbe Frage wie: „Wohin gehe ich, wenn ich tot bin?“

Ich war selbst überrascht, wie schnell ich Aarons Frage beantworten konnte: „Du bist aus deinem Zuhause gekommen, mein Sohn, von einem Ort voller Geborgenheit und Liebe, und genau dort geht auch Channa wieder hin.“ Dann wurde mir klar, dass der Übergang ins Leben derselbe ist wie der Übergang aus dem Leben – er ist eine Heimreise. Im Grunde ist dieses Buch also eine Erforschung des Paradoxons, das im Kern dieser Wahrheit liegt.

Wir alle erleben Zeiten, die für uns in gewisser Weise eine Offenbarung sind und in denen verschwommene, hinter Nebelschleiern verborgene Wahrheiten klarer hervortreten. Für mich war dies ein solcher Moment, denn mitten in meinem unsäglichen Schmerz über den Verlust unserer Tochter Channa merkte ich plötzlich, dass ich mich im Universum unsagbar aufgehoben fühlte, was auf einen tiefsitzenden Glauben an die Einheit der Schöpfung hinauslief. Ich hatte mir nicht bloß eine schöne Geschichte ausgedacht, um Aaron zu trösten oder um mich um das Thema Tod herumzudrücken, sondern ich hatte ihm weitergegeben, was ich im Grunde meines Herzens für wahr halte. Das überraschte mich selbst, denn bisher hatte ich diesen Glauben noch nie so bewusst ausformuliert.

Glaube ist mir nie einfach so zugefallen. Ich war seit jeher ein recht vorsichtiger, skeptischer Charakter, was ich von meinem wissenschaftlich denkenden Vater geerbt habe. Als ausgesprochen nüchterner Strafverteidiger und historisch höchst interessierter Mensch genügte es ihm nie, an etwas zu glauben, bloß weil es ihm ins Konzept passte. Es musste auch wahr sein, also streng naturwissenschaftlichen Kriterien standhalten. Wie viele seiner Generation, wuchs mein Vater als überzeugter Anhänger einer Haltung auf, wie sie sich im Werbeslogan der E. I. Dupont Company in den 1950er Jahren widerspiegelt: „Besser leben mit Chemie.“ Durch die Wissenschaft, so glaubte mein Vater, könnten wir ganz ohne Gottes Hilfe den Himmel auf Erden erschaffen. Warum dann also auf die mysteriöse Welt der Spiritualität zurückgreifen?

Zwar war mein Glaube an die Tugenden der Wissenschaft nie ganz so stark wie der meines Vaters (schließlich hat sie uns zum Mikrowellenherd auch die Atombombe beschert), doch für meine Arbeit als Autor, Soziologe und Forscher auf dem Gebiet der mündlichen Geschichtswissenschaft habe ich diese kritische Haltung übernommen. Das gilt insbesondere für meine Tätigkeit als Direktor des Center for the Study of Contemporary Belief (Zentrum zur Erforschung von Glaubensformen der Gegenwart), einer kleinen akademischen Forschungsgruppe, die ich 1982 mitgegründet habe. Das Zentrum widmet sich vornehmlich der Kartierung der sich rasch wandelnden Glaubenslandschaft in Amerika. Am bekanntesten wurde es vielleicht durch seine 1986 unter dem Titel The Courage of Conviction erschienene vielgerühmte Anthologie der Glaubensformen prominenter Zeitgenossen. Der achtköpfige Beirat ist mit seriösen Wissenschaftlern besetzt, die sämtlich Mitglieder der American Academy of Religion sind.

Wie kommt also ein Mensch wie ich zu einem solchen Glauben an die Einheit der Schöpfung und das ewige Leben? Diese Frage lässt sich nur schwer in einem einzigen Satz beantworten, denn wie bei den meisten Menschen, ist auch mein Glaube erst nach und nach gewachsen. Einige wenige habe ich kennengelernt, denen ein einzelner Augenblick tiefer Erleuchtung zuteil wurde, der sie für immer verwandelt hat (wie es oft bei Nahtod-Erfahrenen geschieht). Doch wir übrigen, also die meisten Menschen, müssen eher auf mehrere „ausschlaggebende Wandlungsepisoden“ verweisen, wie ich sie nenne. Diese Episoden können durch die unterschiedlichsten Umstände ausgelöst werden, führen aber unweigerlich dazu, dass sich unser Denken so rapide verändert oder Gefühle von einer solchen Intensität geweckt werden, dass wir gezwungen sind, unsere grundlegendsten Überzeugungen – und daher auch unser Leben – neu zu bewerten.

Die ausschlaggebende Episode, die mich zum ersten Mal anregte, über ein mögliches Leben nach dem Tod nachzudenken, ereignete sich im Frühjahr 1972, als ich im Hafen von Los Angeles unter einem gekenterten Segelboot eingeklemmt war und beinahe ertrunken wäre. Ich war damals sechzehn Jahre alt und segelte alleine auf einem kleinen Vierzehn-Fuß-Katamaran in einer Region bei San Pedro, die unter ortskundigen Seglern liebevoll „Hurricane Gulch“ (Orkan-Schlucht) genannt wird. An jenem Tag tobte zwar eindeutig kein Orkan, aber die Brise, die mit etwa achtzehn Knoten1 blies, reichte aus, um meinen Lee-Bug in die Welle zu drücken, während ich mit dem Wind dahinraste, wodurch der kleine Katamaran seitlich wegkippte, als wolle er ein Rad schlagen, und durchkenterte.

Dass ein kleiner Katamaran kentert, ist an einem windigen Tag nichts Ungewöhnliches, und im Allgemeinen lassen sich diese temperamentvollen kleinen Boote recht leicht wieder aufrichten. Ich hatte jedoch das Problem, dass in dem Moment, in dem das Boot kenterte, ein Haken an meinem Trapez (so heißt die Weste, mit deren Hilfe ich mich an einer Leine seitlich weit über das Boot hinauslehnen kann, wenn ich hart am Wind dahinrase) sich in der Verspannung des Trampolins, also des Decks aus Kunstfaserplane, verfing. Als das Boot schließlich kopfüber auspendelte, war ich unter der Wasseroberfläche festgezurrt. Beide Fiberglasrümpfe meines Bootes waren mit Luft und Auftriebsschäumen gefüllt, wodurch es zwar praktisch unsinkbar war, doch ich konnte meinen Kopf nicht durch das Trampolin hindurchstoßen. Das Verrückte an der Sache war, dass ich mich so dicht unter der Wasseroberfläche befand – nicht einmal dreißig Zentimeter trennten mich von ihr –, dass ich sehen konnte, wie zwischen der Verspannung des Trampolins hindurch helle Lichtstrahlen gespenstisch ins Wasser fielen.

Etwa eine Minute lang versuchte ich mit aller Kraft, mich zu befreien, dann bemächtigte sich mit brutaler Gewalt das schiere Entsetzen meiner Seele, und ich geriet in Panik. Ich erinnere mich, dass ich mir dachte: Das kann doch einfach nicht sein. Ich bin keine dreißig Zentimeter weit weg von der Luft und kann dennoch nicht atmen. Ich sterbe. Bald darauf verlor ich das Bewusstsein und hatte eine außerkörperliche Erfahrung, wie Nahtod-Forscher dies inzwischen nennen. Ich schwebte über dem Boot und schaute durch das Wasser und die Verspannung des Trampolins auf meinen Körper hinunter, der dort festsaß. Dann zog wie in einem einzigen Augenblick mein ganzes Leben an mir vorüber, und ich schrie laut auf, ich wolle nicht sterben, zum Sterben sei ich noch viel zu jung. Anschließend, so erinnere ich mich vage, stand mir eine Ausgabe des Newport Daily Pilot (der Zeitung, die ich als kleiner Junge ausgetragen hatte) vor Augen, auf deren Titelseite in riesigen Lettern die Schlagzeile zu lesen war: „Anwaltssohn aus Newport Beach im Hafen von Los Angeles ertrunken.“ Das ist das Letzte, woran ich mich erinnere, denn in dem Moment kam ich wieder zu Bewusstsein, machte einen letzten mächtigen Satz nach oben und konnte mich dabei tatsächlich vom Trampolin lösen.

Als ich endlich wieder über der Wasseroberfläche war und mich an einen der beiden umgekehrten Rümpfe klammerte, war mir, als hätte mir jemand einen schweren Schlag auf die Brust versetzt, und ich rang nach Luft, um meine kollabierten Lungen wieder zu füllen. Innerhalb kürzester Zeit schleppte die Hafen-Patrouille von Los Angeles mein Boot ans nahe Ufer. Ein Passant, der alles beobachtet hatte, rannte sofort zu mir herüber, um sich zu vergewissern, ob es mir gut ginge. Er sagte, er habe mit Sicherheit geglaubt, ich sei ertrunken, denn ich sei schätzungsweise fünf Minuten unter Wasser gewesen. Ich war zutiefst erschrocken und erschüttert von meinem Erlebnis, hatte zugleich aber große Angst, was meine Eltern und meine Freunde sagen würden, wenn ich ihnen von meiner unbegreiflichen Begegnung mit dem Tod berichtete – und daher erzählte ich niemandem etwas. Innerhalb weniger Monate hatte ich das Trauma tatsächlich überwunden. Doch in meinem Hinterkopf saß eine bohrende Frage: Hatte ich meinen Körper wirklich verlassen oder nur halluziniert?

Sechs Jahre später, im Herbst 1978, kam ich der Antwort ein wenig näher. Damals hatte ich ein tiefgreifendes „Gipfelerlebnis“, das meinen weiteren Lebensweg unwiderruflich verändern sollte. Ich studierte Sozio-Ökologie an der University of California in Irvine und arbeitete gerade an meiner Abschlussarbeit. Eines sonnigen Nachmittags stieß ich bei einem Strandspaziergang ganz in der Nähe auf einen kleinen Staubteufel, der für mein Empfinden recht lange vor mir herschwebte. Ich blieb stehen und war augenblicklich ganz gefesselt von der erstaunlichen Schönheit dieses Mini-Tornados, der da vor mir her tanzte. Schlagartig wurde mir bewusst, dass dieser Staubteufel ein verschwindend kleiner Punkt unermesslicher Schönheit war, der von heute an bis in alle Ewigkeit nie wieder am selben Ort oder in derselben Form auftreten würde. Ich schaute tiefer in den Staubteufel hinein und spürte plötzlich, wie ich erst mit ihm und dann von ihm aus mit der gesamten Schöpfung verschmolz. Wie Ihnen jeder sagen wird, der einmal ein solches Gipfelerlebnis gehabt hat, lässt sich mit Worten kaum beschreiben, welches Gefühl des Friedens und der Geborgenheit einen erfasst, wenn man sich einen Augenblick lang im Universum voll und ganz zu Hause und so tief mit der gesamten Schöpfung verbunden fühlt, dass die Zeit stehen bleibt und die Tore der Ewigkeit aufschwingen, den Geist von jeglicher Furcht befreien und mit einem unvorstellbaren Hochgefühl erfüllen.

Die Intensität dieser ausschlaggebenden Episode zwang mich geradezu dazu, mich sofort eingehender mit dem Thema Gipfelerlebnisse zu befassen. Dies führte mich zu den Schriften des Psychologen Abraham Maslow, zu William James‘ bahnbrechender Studie über mystische Erlebnisse mit dem Titel Die Vielfalt religiöser Erfahrung sowie zu Martin Bubers tiefen Gedanken über das spirituelle Leben in seinem Buch Ich und Du. Rasch erkannte ich, dass ich nicht alleine war, dass auch andere ähnliche Erfahrungen gemacht und eine tiefe Verbundenheit mit der Schöpfung verspürt hatten. Außerdem wurde mir klar, dass der materialistischen Perspektive, die ich als Student der Sozio-Ökologie eingenommen hatte, etwas Entscheidendes fehlte. Da ich mehr lernen wollte, wechselte ich in meine Hauptfächer und schrieb mich schnurstracks in Philosophie und Religion ein. Ich erinnere mich, dass ich damals meinen Freunden sagte: „Ich glaube, ich sollte lieber erst einmal lernen, wie man lebt, bevor ich beschließe, wovon ich leben will.“

Sieben Jahre später schloss ich mein Graduiertenstudium in vergleichender Religionswissenschaft in Harvard ab. Im Auftrag des Center for the Study of Contemporary Belief begann ich, nach der Methode der mündlichen Geschichtswissenschaft eingehend über amerikanische Glaubensformen und Werte zu forschen. Dieses Projekt, das schließlich den Titel The Search for Meaning (Die Sinnsuche) tragen sollte, wurde offiziell im Winter 1986 aufgenommen. Im Laufe der folgenden drei Jahre sollte es mich in dreiundzwanzig Bundesstaaten führen, wo ich über fünfhundert mehrstündige Interviews mit Männern und Frauen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen führte, darunter unter anderem auch mit dem Grand Wizzard (Großen Hexenmeister) des Ku-Klux-Klan, mit Benediktinermönchen, Farmern, Hausfrauen und Börsenmaklern von der Wall Street.

Nach Abschluss dieser umfassenden Studie zu amerikanischen Moralvorstellungen im Jahr 1989 fielen mir zwei Erkenntnisse daraus besonders ins Auge – und meine Neugier war geweckt. Zum einen hatten mir einzelne Männer und Frauen im Rahmen der Befragungen ausführlich von Nahtod-Erfahrungen berichtet. Anscheinend bestätigten also meine zufälligen Begegnungen die Ergebnisse einer großen Gallup-Umfrage aus dem Jahr 1981, wonach nahezu acht Millionen Amerikaner (zum Zeitpunkt der Umfrage war das jeder Zwanzigste) eine Nahtod-Erfahrung gehabt haben. Zum zweiten ähnelten die Berichte der Nahtod-Erfahrenen sehr stark dem, was Menschen, die mystische Momente erlebt hatten, mir davon erzählten. Zu diesen Ähnlichkeiten gehörten das Erlebnis des Einswerdens mit einem unbeschreiblichen Licht, ein tiefes Gefühl der Verbundenheit mit der gesamten Schöpfung, intensiv empfundene Zugehörigkeit und Dankbarkeit sowie ein vertieftes Bewusstsein von Sinn und Ziel des Lebens.

Zwar gab es auch einige bedeutende Unterschiede zwischen den Berichten von Nahtod-Erfahrenen und Menschen mit mystischen Erlebnissen (worauf ich an späterer Stelle noch näher eingehen werde), aber eben auch viele gemeinsame Elemente. Noch verblüffender war allerdings die Tatsache, dass sich bei so gut wie allen Befragten, die solche Erfahrungen gemacht hatten, die spirituelle Einstellung danach grundlegend gewandelt hatte. Damals nahm ich mir vor, mich eingehender mit diesem Thema zu befassen, war dann aber in den darauffolgenden beiden Jahren vollauf und höchst befriedigend mit zwei Projekten über die spirituellen Perspektiven im höheren Lebensalter beschäftigt: The Courage to Grow Old (1989) und The Ageless Spirit (1993).

In den Monaten nach dem Tod meiner Tochter nahm ich mir endlich die Zeit – zweifellos aufgrund einer inneren Notwendigkeit – mich in die Literatur über Nahtod-Erfahrungen zu vertiefen. Stutzig machte mich dabei allerdings, dass eine nicht geringe Anzahl der Bücher, die ich dazu las, eher die Existenz eines Lebens nach dem Tod zu beweisen suchte, statt die tiefgreifenden spirituellen Folgen dieser Erfahrungen zu erforschen. Natürlich verstehe ich, wie wichtig es für uns Menschen ist, eine Bestätigung dafür zu finden, dass unsere Überzeugungen auch tatsächlich der Wahrheit entsprechen. Andererseits erscheint es doch recht offensichtlich, dass wissenschaftliche Bemühungen, einen Beweis für das Leben nach dem Tod zu finden (ähnlich wie die Versuche eines Gottesbeweises) von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Teilweise ist das schon aus rein semantischen Gründen so. Denn solange der Tod nachdrücklich so definiert wird, wie es vor kurzem in der britischen Medizin-Fachzeitschrift Lancet zu lesen war, nämlich als „unmittelbar den Punkt überschreitend, von dem jemand wieder zurückkehren und uns berichten kann“, werden die Berichte Nahtod-Erfahrener wenig dazu beitragen, dass überzeugte Skeptiker ihre Meinung ändern. Die Definition des Todes im Lancet ist natürlich so subjektiv und unwissenschaftlich wie alle anderen auch. Doch solange wir das Privileg, Leben und Tod zu definieren, materialistisch eingestellten Wissenschaftlern überlassen, gibt es keinerlei Hoffnung, die Existenz des Lebens nach dem Tod zur allgemeinen Zufriedenheit zu beweisen (oder auch zu widerlegen) – das steht fest. Trotz ihrer sorgfältig kontrollierten Forschung ist dies eine Tatsache. Das gibt die überwiegende Mehrheit der klinischen Nahtod-Forscher inzwischen auch zu, wenngleich ungern. Die Debatte geht also weiter.

Es erschien mir daher nicht sinnvoll, das x-te Buch zu denselben Fragen zu schreiben: Hatten die Betroffenen Halluzinationen? Haben sie ihren Körper wirklich verlassen? Sind Nahtod-Erfahrungen eine Folge von Sauerstoffmangel? Oder von psychischem Stress? Oder sind es lediglich die Wunschträume geplagter Seelen? Das sind unbestreitbar interessante Fragen. Wir könnten uns stundenlang damit beschäftigen, geradeso wie wir stundenlang Schach spielen könnten. Doch wie uns der Philosoph Sören Kierkegaard einst ermahnte, verlieren diejenigen, die das spirituelle Leben ernst nehmen, schließlich das Interesse an „interessanten Fragen“ und übrigens auch an „interessanten Leuten“. Das könnte erklären, warum die großen Heiligen und Seher der Menschheit sich selten zu gedanklichen Endlosschleifen hingezogen gefühlt haben, mit denen sie lediglich „die Zeit totschlagen“ konnten. Stattdessen gab es nur eine einzige Frage, die ihnen ständig aus der Seele schrie: Wie ist der Sinn zu finden? Mit anderen Worten, sie wollten nicht nur leben, sondern voll und ganz, wesentlich und sinnerfüllt leben – sie wollten spirituell leben.

Nahtod-Erfahrungen und mystische Erlebnisse können uns viel über den Sinn des Lebens lehren. Ich sage das deshalb, weil ich überzeugt bin, dass solche Erfahrungen Momente tiefer spiritueller Erleuchtung sind, die uns erste Eindrücke einer Antwort gewähren und erste Hinweise auf eine Erklärung geben, nicht nur wie unser Tod sein wird, sondern auch wie unser Leben sein sollte. Deshalb schreibe ich dieses Buch weniger mit dem Ziel, die Existenz des Lebens nach dem Tod zu belegen, sondern vielmehr um zu beweisen, dass der Tod für diejenigen, die zu leben gelernt haben, deutlich geringeren Schrecken birgt. Wie ich zu zeigen hoffe, hat jeder Mensch die Fähigkeit, in seinem Alltag ein vertieftes Sinnempfinden zu entwickeln – auch ohne Nahtod-Erfahrung. Ich glaube fest, dass wir, wenn wir unsere spirituellen „Sinne“ schärfen, die Einheit des Lebens so intensiv sehen, schmecken und riechen können, um uns im Universum vollkommen aufgehoben zu fühlen; und alle Ängste, der Tod könnte in irgendeiner Hinsicht das Ende bedeuten, zerstreut werden. Der endgültige Beweis für das Leben nach dem Tod wird wohl kaum im Labor erbracht – er muss aus unseren eigenen spirituellen Erfahrungen hervorgehen.

Ohne eine Fülle spiritueller Erfahrungen wäre unser Leben leer. Ich sage dies deshalb, weil mein kurzer Aufenthalt auf der Erde mich gelehrt hat, dass wir alle mit einer tiefen Sehnsucht, einem unstillbaren Bedürfnis geboren werden, uns wieder mit dem zu verbinden, das größer ist als wir. Und ich füge unumwunden hinzu, dass ich dieses Größere sehr gerne Gott nenne. Doch ich bin auch mit jedem anderen Begriff einverstanden, mit dem Sie diese geheimnisvolle, umfassende Realität im Innersten allen Lebens, aller Dinge, der gesamten Schöpfung umschreiben möchten. Brahma, Jahwe, Allah, Tao, die Göttliche Quelle – alles ist mir recht. Der Stamm des Wortes Religion (re-ligio) bedeutet „binden“ oder „verbinden“, und wie unschwer zu erkennen ist, sind wir alle mit dem „Bemühen um Verbindung“ zu dieser Umfassenden Realität beschäftigt, die wir im Westen Gott zu nennen übereingekommen sind. Gleich ob wir uns nun als Jude, Christ, Buddhist oder Atheist bezeichnen, wir sind auf der Suche nach dem Sinn; und allein spirituelle Erfahrungen von Einheit, Zugehörigkeit bzw. Aufgehobensein und Gemeinschaft können ihn uns vermitteln.

Die gute Nachricht ist, dass spirituelle Erlebnisse nicht nur levitierenden Heiligen, verzückten Mystikern oder magischen Gurus vorbehalten sind, sondern uns allen offenstehen, weil wir alle mit der Fähigkeit geboren wurden, ein tiefes Gefühl der Verbundenheit mit allem Leben zu erfahren. In diesen Momenten der Verbundenheit spüren wir Sinn und „begegnen Gott“. Jedes Erlebnis, das erfüllt ist von einem tiefen Gefühl der Zugehörigkeit sowie der unweigerlich daraus resultierenden Freude, kann daher als spirituelle Erfahrung bezeichnet werden. Ein Kind zu küssen, in einer Kirche eine Kerze anzuzünden, einen geliebten Menschen zu umarmen, eine Wanderung im Wald zu unternehmen, einen Baum zu pflanzen, einem einsamen Menschen ein mitfühlendes Ohr zu schenken – all das sind spirituelle Erlebnisse. Mögen sie sich auch in ihrer Art und Intensität unterscheiden, so dienen sie doch alle dazu, uns derselben grundlegenden Wahrheit zu versichern – der Schönheit, Verbundenheit und Heiligkeit des Lebens.

Da ich nun einmal überzeugt bin, dass spirituelle Erfahrungen die Grundlage eines sinnvollen Lebens sind, sollte es nicht überraschen, dass ich einen Teil dieses Buches der Religions- und Mythologiegeschichte gewidmet habe. Insbesondere werde ich kurz darauf eingehen, wie die Religionen von der Antike bis heute mit dem Tod umgegangen sind. Schließlich ist der Tod das Hauptthema dieses Buches, zugleich aber wohl auch der große Dreh- und Angelpunkt, um den sich alle Religionen drehen. Bedeutung und Sinnhaftigkeit des Todes anzuerkennen, ist integraler Bestandteil fast jeder alten Kultur. Sehr beeindruckend ist doch, dass in den alten Kulturen des Westens wie auch des Ostens das Wissen um den Tod als notwendige Voraussetzung für das Erlangen von Weisheit gilt. Platon ging sogar so weit zu behaupten, Philosophie sei nichts anderes als die Kunst, sich auf den Tod vorzubereiten.

Mit diesen kurzen Ausflügen in Mythos und Geschichte hoffe ich, unter anderem zeigen zu können, dass Nahtod-Erfahrungen seit Jahrhunderten genauestens aufgeschrieben werden und die Berichte, die uns die Menschen aus früherer Zeit hinterlassen haben, den vielen bewegenden Geschichten, an denen meine Zeitgenossen mich Anteil haben ließen, sehr ähnlich sind. Insbesondere der Übergang von der Dunkelheit ins Licht, von einem Gefühl der Angst und Entfremdung zu einem Gefühl der Freude und des Nachhause-Kommens, sind Motive, die seit Anbeginn der Geschichte universell in den Religionen der Welt auftreten. Warum das so ist, ist eine wichtige Frage. Ihr werde ich auf den folgenden Seiten nachgehen.

Vielleicht lässt sich alles, was ich auf den folgenden Seiten zu den Themen Tod und spirituelles Leben sagen will, in dem wenig gebräuchlichen hebräischen Begriff neschama yetera zusammenfassen. Er bedeutet „zusätzlicher Geist“ oder „zusätzliche Seele“. In längst vergangener Zeit pflegten die großen Rabbis zu sagen, der wahrhaft spirituelle Jude sei erfüllt von neschama yetera, ganz besonders am Sabbat. Wer wünschte sich nicht, von zusätzlichem Geist erfüllt zu sein? Im Christentum heißt es, die Heiligen seien davon erfüllt, gekrönt mit einem Heiligenschein von „durchdringender Leucht- und Strahlkraft“, wie meine Frau einmal geschrieben hat. Im Buddhismus sagt man, die Bodhisattvas seien erfüllt davon. Im Hinduismus sollen die Swamis davon erfüllt sein. Ähnlich glaube ich, dass auch die Menschen, die eine Nahtod-Erfahrung hatten, zeitweise von neschama yetera erfüllt waren; denn wie die großen mystischen Seher aller Zeiten erfuhren sie die Gnade einer tief beeindruckenden Begegnung mit Gott. Die gute Nachricht ist natürlich, dass wir alle mit solch einem zusätzlichen Geist erfüllt werden können, solange wir nur bereit sind, uns der Aufgabe zu widmen, „ein Geschöpf im Hauses des Gottes des Lebens“ zu werden, wie D. H. Lawrence es einmal so liebevoll ausgedrückt hat.

Der 8. Juni 1993 hat sich für immer als ausschlaggebende Episode des Schmerzes und der spirituellen Erleuchtung in meine Seele eingegraben. Als ich auf der Entbindungsstation meine kleine neugeborene Tochter sanft in den Armen wiegte, verstand ich vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben, was Albert Schweitzer mit seinem Begriff „Ehrfurcht vor dem Leben“ gemeint hat; denn der Tod vermag es, unser wunder-volles Leben in die richtige Perspektive zu rücken. Wenn mir heute einmal nach Jammern oder Klagen zumute ist, dann versuche ich, daran zu denken, was Channa verwehrt war. Das Leben als Mensch ist ein Privileg, das vielen vorenthalten bleibt. Wie ich inzwischen erkennen durfte, ist es oft allein unser Unvermögen, uns diese Tatsache bewusst zu machen, was unserem Leben alle Freude entzieht – und unserem Sterben nicht minder.

Da meine Tochter nicht die Gelegenheit erhielt, den Duft und die Herrlichkeit dieses kleinen blauen Edelsteins, den wir Erde nennen, in sich aufzunehmen, kann ich dieses Buch nur ihrem Andenken widmen – und der Aufgabe, unseren Geist wieder neu zu entflammen, damit wir unser Leben so leben, wie es gedacht war, mit Blick für das Ganze, mit Mitgefühl und Liebe sowie mit einem hohen Maß an Ehrfurcht und Dankbarkeit.

Schon Jesus ermahnte uns: Wenn die Zeit erfüllt ist, werden wir alle erkennen, dass das Geheimnis des Sterbens darin liegt, die Kunst des Lebens zu meistern.

1

Das entspricht etwa fünf Beaufort, also „Windstärke 5“. (Anm. d. Ü.)

Teil 1

Das Flüstern der Ewigkeit

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Eins

Die Seele wiederfinden

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Seht ihr, o meine Brüder und Schwestern?

Es ist nicht Chaos oder Tod, es ist Form, Einheit,

Bestimmung, ist ewiges Leben – ist Glückseligkeit!

Walt Whitman, Gesang von mir selbst

Wovor haben Sie beim Tod am meisten Angst?

Es gibt Fragen, die bei Einladungen zum Abendessen oder zum Sonntagsbrunch nicht gerade häufig Gesprächsthema sind. Mir begegneten sie vor kurzem bei einem Fortbildungsseminar in einem Hospiz, in dem es um die Kunst ging, gut für Sterbende zu sorgen. Die Seminarleiterin unterrichtete gerade den Abschnitt über „aktives Zuhören“. Bei einer der Übungen zur Demonstration dieser Fähigkeit ließ sie die Teilnehmenden in Zweiergruppen zusammenarbeiten. Dabei sollten sie einander diese aufwühlende Frage stellen.

Wie sich herausstellte, war meine Partnerin eine äußerst intelligente Sozialarbeiterin und alleinerziehende Mutter einer innig geliebten elfjährigen Tochter. Außerdem gehörte sie zu den Menschen, die die Aussicht auf den Tod stark beunruhigte.

„Wovor hast du beim Tod am meisten Angst?“, fragte ich sie.

„Meine Güte“, erwiderte sie. „Da gibt es so Vieles. Erstens habe ich Angst davor, was wohl auf der anderen Seite ist – wenn es überhaupt eine andere Seite gibt. Bin ich dann einfach nur eine körperlose Seele, die im Äther herumschwebt? Und was passiert mit meiner Tochter, wenn ich nicht mehr da bin? Wie fühlt sich das Sterben an? Wie kann ich mich auf den Tod freuen, wenn ich nicht sicher sein kann, ob er etwas Gutes oder etwas Schlechtes ist?“

Wird der Tod für mich etwas Gutes oder Schlechtes sein? Wie für die meisten Menschen, war dies auch für meine Übungspartnerin eine unleugbar beunruhigende Frage. Doch für die rund hundert Leute, die ich befragt habe und die entweder an der Schwelle zum Tod eine Nahtod-Erfahrung gehabt hatten oder bereits einmal in einem Krankenhaus für klinisch tot erklärt worden waren, stellt sich diese Frage nicht. Die nahtod-erfahrene Lynn Pielage-Kissel aus Dayton Ohio, die bei einem Unfall auf der Rollschubahn beinahe gestorben wäre, erklärte mir: „In der gesamten Literatur ist immer vom Todesschmerz die Rede. Aber ich weiß jetzt, dass der Tod überhaupt kein Schmerz ist. … Ich weiß es aufgrund meiner eigenen Nahtod-Erfahrung. … Ich weiß, wenn ich das nächste Mal sterbe, werde ich diesen menschlichen Körper ablegen und einen neuen Körper aus reinem Bewusstsein annehmen. Ich bin mir völlig sicher, dass mir dann ein neues großes Abenteuer bevorsteht.“

Lynns Zuversicht, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, wird fast einhellig von allen acht Millionen Männern und Frauen geteilt, die eine Nahtod-Erfahrung hatten. Das macht sie zu außerordentlich ungewöhnlichen Menschen. Das sage ich deshalb, weil mir die vielen hundert Amerikaner, die ich im Laufe der vergangenen zehn Jahre befragt habe, im Allgemeinen gestanden, dass sie riesige Angst vor dem Tod haben. Genau das spricht auch der Schriftsteller Philip Wylie an, wenn er feststellt, dass viele Gespräche zwischen Ärzten und ihren älteren Patienten mit dem Satz beginnen: „Herr Doktor, in letzter Zeit fällt mir auf, dass …“ Und augenzwinkernd ergänzt er: „Denen fällt auf, dass ihnen der alte Freund Hein, Gevatter Tod, über die Schulter schaut.“

Früher glaubte ich, Philosophie begänne in dem Moment, in dem wir uns fragen, ob es wahr ist, was unsere Eltern uns gelehrt haben. Aber inzwischen begreife ich, dass Philosophie mit unserer völlig natürlichen, instinktiven Angst vor „Freund Hein“ beginnt, denn wir lernen alle sehr bald, dass für uns hier auf Erden, zwischen Zeit und Ewigkeit, nur eines sicher ist: Die Begegnung mit dem Schattenmann. Was man aus dieser Begegnung machen und wie man sich darauf vorbereiten kann, diese Frage beschäftigt nahezu jeden.

Die Angst vor dem Tod ist natürlich bereits seit Jahrtausenden ein bekanntes Leiden, und der moderne Mensch hat ganz gewiss nicht das Patent darauf. Doch wenn ich mich heutzutage umschaue, dann sehe ich eine Kultur, die geradezu einem Jugendwahn verfallen ist und enorme Angst vor dem Alter hat, weshalb ich glaube, dass die Angst vor dem Tod in unserer Zeit hoch akut ist, vielleicht sogar noch akuter als in jeder früheren Epoche. Dafür gibt es gewiss zahlreiche Gründe, unter anderem eine Werbebranche, die uns unablässig mit aufreizenden Bildern junger, aktiver Menschen bombardiert. Aber es wäre ungerecht, den Werbefachleuten die alleinige Schuld in die Schuhe zu schieben; denn am stärksten wird unsere Angst nicht von einzelnen Personen oder Gruppen geschürt, sondern vielmehr von dem verbreiteten Verlust der spirituellen Perspektive, der sich in allen Bereichen der Gesellschaft zeigt. Um es sinngemäß mit dem biblischen „Buch der Sprüche“ des Salomo zu sagen: Wo es keine spirituelle Perspektive gibt, fürchten sich die Menschen vor dem Tod.

Der Niedergang der spirituellen Weltanschauung in unserer Zeit lässt sich recht direkt auf die wissenschaftliche Revolution im 17. Jahrhundert zurückführen, durch welche die Haltung, dass es neben der physischen noch eine unsichtbare geistige Ebene geben könnte, nachdrücklich in Frage gestellt wurde. Seit jener Zeit geht die allgemeine Tendenz in der naturwissenschaftlichen Forschung dahin, alle Phänomene, einschließlich des menschlichen Geistes, als Nebenprodukte der Materie und physikalischer Kräfte zu erklären. Alles kann und muss verstanden werden und sich auf eine physikalische Ursache zurückführen lassen. Was nicht physikalisch ist – was nicht gemessen, gewogen oder gesehen werden kann, und sei es mithilfe eines Teleskops, Mikroskops oder Teilchenbeschleunigers – das gibt es nicht. Für diejenigen, die die Welt ausschließlich durch eine solche Brille sehen, ist das menschliche Bewusstsein nichts weiter als eine Funktion des physischen Gehirns: Wenn das Gehirn stirbt, sterben auch wir. Ende der Debatte. Leider beherrscht diese begrenzte Sicht des Lebens, des Todes und des menschlichen Bewusstseins bis heute die moderne Landschaft, und zwar aus dem einfachen Grunde, dass die vielen Triumphe, die die Wissenschaft im Laufe der letzten dreihundert Jahre errungen hat, schlichtweg überwältigend sind. Gegen den Erfolg lässt sich schlecht streiten.

Der schottische Philosoph David Hume erklärte einst aufschlussreich: „Jeder Vorteil ist mit einem Nachteil verbunden.“ Die Vorteile der wissenschaftlichen Sicht sind ziemlich leicht zu sehen. Wir genießen sie tagtäglich in Gestalt unserer Autos, Kühlschränke, Flugzeuge und Kaffeemaschinen. Die Nachteile sind schon schwerer auszumachen, denn gerade einige der gewichtigsten haben sich heimlich, still und leise im unsichtbaren Reich unseres Denkens eingenistet. Am schlimmsten von ihnen ist wohl der Schaden, den diese begrenzte Sicht an unserer Wahrnehmung der Welt angerichtet hat. Wenn meine Reisen quer durch Amerika mich eines gelehrt haben, dann dies, dass Millionen Menschen heute die Fähigkeit zu kindlichem Staunen und den Sinn für das Wunderbare im Leben nahezu verloren haben.