images

images

ISBN 978-3-86191-198-2

© der deutschen Ausgabe:

Crotona Verlag GmbH & Co.KG • Kammer 11 • 83123 Amerang
www.crotona.de

First published in the United States by Rowman & Littlefield Publishers, Inc.,
Lanham, Maryland U.S.A.

Translated and published by permission. All rights reserved.

The Estate of Martin Buber

Titelphoto: © Tita Binz/DHM, Berlin

D as ist es, worauf es letzten Endes ankommt: Gott einlassen. Man kann ihn aber nur da einlassen, wo man steht, wo man wirklich steht, da wo man lebt, wo man ein wahres Leben lebt. Pflegen wir heiligen Umgang mit der uns anvertrauten kleinen Welt, helfen wir in dem Bezirk der Schöpfung, mit der wir leben, der heiligen Seelensubstanz zur Vollendung zu gelangen, dann stiften wir an diesem Ort unsere Stätte für Gottes Einwohnung, dann lassen wir Gott ein.

Martin Buber
Der Weg des Menschen
nach der chassidischen Lehre

WIDMUNG

Für Mechthild Gawlick,
die sich zu mir hinwendet, um mich
auf dem „schmalen Grat“ echten Gesprächs
vorbehaltlos zu fordern.

INHALT

Vorwort

Danksagungen

Einführung

Einleitung • Bubers chassidische Spiritualität

Teil Eins • Vorbereitende Praxis

Kapitel Eins • Selbstbesinnung

Kapitel Zwei • Dein besonderer Weg

Kapitel Drei • Entschlossenheit

Teil Zwei • Gegenwärtigkeit praktizieren

Kapitel Vier • Bei dir beginnen

Kapitel Fünf • Dich zum anderen hinwenden

Kapitel Sechs • Hier, wo du stehst

Schluss • Bubers Geheimnis in die Praxis umsetzen

Anhang • Dialog-Tagebuch

Glossar

Anmerkungen

VORWORT

Von Maurice Friedman

Kenneth Paul Kramer hat ein wunderbares Buch über Martin Bubers Werk Der Weg des Menschen geschrieben. Es ging ihm nicht darum, Bubers Buch leichter lesbar zu machen, denn das ist es bereits. Vielmehr ging es ihm darum, es so anzureichern und zu erweitern, dass Leserinnen und Leser vieler Glaubensrichtungen und sogar Menschen ganz ohne Glauben darin einen für sie sinnvollen Lebensweg finden können. Deshalb hat Kramer seinen Besprechungen der sechs Vorträge Bubers jeweils einen Fragenkatalog angefügt, damit diejenigen Leserinnen und Leser, die diesen Weg einschlagen möchten, die praktische Bedeutung des jeweiligen Vortrags leichter erfassen können. Denn der Dreh- und Angelpunkt des Buches ist die Sorge um den Menschen, der darin einen Weg für sich findet, der ihn weiterbringt. Obwohl Kramer sehr wohl weiß, dass und warum Buber die weltabgewandte Mystik seiner frühen Jahre aufgegeben hat, stellt er Der Weg des Menschen doch auf eine Stufe mit Klassikern der frommen Mystik wie Die Übung der Gegenwart Gottes1 und Die Wolke des Nichtwissens.

Martin Buber war ein Philosoph und Gelehrter von Weltrang. Seine persönliche Bibliothek umfasste vierzigtausend Bände, von denen er die meisten mit seinem nahezu fotografischen Gedächtnis auswendig kannte. Er stammte nicht aus einer chassidischen Familie, fand nie einen Rebbe und wurde auch nicht selbst Chassid. Und doch beschäftigten sich seine ersten beiden Bücher – Die Geschichten des Rabbi Nachman und Die Legende des Baalschem – mit wichtigen Gestalten des Chassidismus. Sein Leben lang bewahrte Buber sein Interesse am Chassidismus; unablässig sammelte er chassidische Geschichten und schrieb Bücher darüber. In Hasidism and modern Man und The Origin and Meaning of Hasidism habe ich wichtige Werke Bubers zum Chassidismus zusammengestellt und aus dem Deutschen ins Englische übersetzt.2 Außerdem habe ich eine überarbeitete Version der Legende des Baalschem übersetzt. Sie ist besser als diejenige, die ich Jahre zuvor gelesen und die mein lebenslanges Interesse am Chassidismus geweckt sowie mein Engagement dafür begründet hatte.

Als Martin Buber im Jahr 1948 eine neue Sammlung chassidischer Geschichten herausgab, schlug der große deutsch-schweizerische Schriftsteller Hermann Hesse, dem selbst der Nobelpreis verliehen worden war, Martin Buber für diese Auszeichnung vor. In einem Brief an einen Freund erklärte er, er betrachte Bubers Erzählungen der Chassidim als unübertroffenen Beitrag zur Weltliteratur und hob Buber als einen der ganz wenigen Weisen seiner Zeit hervor. Kramer gewährt uns in seinen Betrachtungen Einblicke in diese Größe, bewahrt dabei aber die Schlichtheit und Schönheit von Der Weg des Menschen.

Als ich mich bereit erklärte, ein Vorwort zu Kenneth Kramers Arbeitsbuch zu Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre zu schreiben, hätte ich mir niemals träumen lassen, dass daraus ein so kraftvolles Werk würde wie es jetzt vor uns liegt, und zwar einfach deshalb, weil Der Weg des Menschen oder – wie Kramer übersetzt – Der menschliche Weg ein so schmales Bändchen ist. Dennoch hatte ich bei meiner Lektüre von Kenneth Kramers Buch nie das Gefühl, dass er über das hinausgeht, was für diese kleine Perle, die ich schon seit dem ersten Lesen vor über sechzig Jahren als einen Klassiker betrachte, angemessen und sinnvoll ist. Ähnliche Werke gelangen meist nicht über eine sorgfältige Lektüre und Textinterpretation hinaus. Kenneth Kramer hingegen schöpft aus Psychologie, Philosophie, Literatur, einem tiefen Verständnis von Martin Bubers Philosophie des Dialogs sowie Bubers anderen, umfassenderen Büchern über den Chassidismus und erschafft daraus ein Werk, das für Menschen aller Denkrichtungen zugänglich und auf ihr spirituelles Leben anwendbar ist.

Zur Krönung reichert Professor Kramer dann sein Arbeitsbuch mit anschaulichen Beispielen aus seinem eigenen Leben an. Dieses Leben ist ein bemerkenswertes. Als ich Kenneth Kramer 1967 kennenlernte, war er überzeugter Protestant, der soeben die Divinity School der Yale University abgeschlossen hatte, wo er auf seine Aufgaben als kirchliche Führungskraft vorbereitet worden war. Damals schrieb er sich für den Promotions-Studiengang „Religion und Literatur“ ein, den ich an der Theologischen Fakultät der Temple University in Philadelphia eingerichtet hatte. Für seine Dissertation tauchte Kramer tief in T. S. Eliots klassische Dichtung Vier Quartette ein. Ich empfahl seine Dissertation der University of Chicago Press, die 1955 auch mein erstes Buch Martin Buber: The Life of Dialogue verlegt hatte, zur Veröffentlichung. Obwohl ich sein Doktorvater war, spielten die Philosophie und das Denken Martin Bubers in Kramers Studien und Überlegungen ganz und gar keine zentrale Rolle. Vielmehr pflegte er ein lebenslanges Interesse an T. S. Eliot, und Kramers eingehende Auseinandersetzung mit ihm gipfelte in seinem bemerkenswerten Buch Redeeming Time: T. S. Eliot’s Four Quartets.

In dieser Zeit veränderte sich Kramers religiöse Orientierung jedoch mehrmals grundlegend. Sein Protestantismus wich zunächst dem Hinduismus (wobei er beträchtliche Zeit in Indien verbrachte), dann dem Buddhismus und dem Zen sowie viele Jahre lang dem Katholizismus und schließlich, zu meiner großen Überraschung, Martin Bubers Chassidismus. (Doch wie auch mir, war es ihm unmöglich, tatsächlich Chassid zu werden.) Kramers Interesse an Martin Bubers Philosophie veranlasste ihn zu einem Buch, mit dem er eine Lesart von Bubers Ich und Du vorlegte, die das Werk seiner Meinung nach für den allgemein gebildeten Leser leichter zugänglich machte. Darauf folgte ein von Buber inspiriertes Werk über Eliots Vier Quartette. Trotz meiner Liebe zu den Quartetten und der Philosophie Martin Bubers habe ich mir ein solches Buch nie vorstellen können. Doch Kramers Werk beeindruckte mich so sehr, dass ich eine Rezension dazu veröffentlichte, in der ich seine Betrachtung der Quartette aus diesem für mich ganz unerwarteten Blickwinkel nachdrücklich empfahl.

Als sein nächstes Werk hat Kramer nun ein bemerkenswertes Buch über den Weg des Herzens im Chassidismus verfasst. Ich kann diesem Buch nur das Beste wünschen und hoffen, dass es die breite Leserschaft erreicht, die es verdient hat und für die es große Bedeutung haben kann.

DANKSAGUNGEN

In tiefster Dankbarkeit möchte ich mich Martin Buber (1878-1965) erkenntlich zeigen für seine lebendige Lehre des vorbehaltlosen Gesprächs. Das Erbe, das ich aus Bubers Leben und Werk mitnehme, ist eine profunde Achtsamkeit, wie ich am besten in diesem Augenblick vollkommen gegenwärtig sein kann – offen, ehrlich, unmittelbar, gegenseitig.

Dankbare Anerkennung erweise ich Lehrern, Kollegen und Freunden, mit denen ich über Ideen aus diesem Buch gesprochen habe, insbesondere meinen Töchtern Leila und Yvonne, die mich in der gesamten Entstehungszeit immer wieder sehr ermutigt haben.

Höchst dankbar bin ich Maurice Friedman, meinem ehemaligen Lehrer, der mich als Erster auf den unschätzbaren, lebensverändernden Wert von Bubers Philosophie des Dialogs hinwies und dessen Freundschaft mit Buber, Übersetzungen für und Schriften über Buber bis heute Bubers befreiendes Lebenswerk verständlich machen. Doch nicht nur dies, einige unserer Begegnungen sind für mich nach wie vor wahre „Prüfsteine der Wirklichkeit“.

Tiefe Wertschätzung empfinde ich für die Friedman-Schülerin Professor Pat Boni, für ihre klar und deutlich vorgebrachten kritischen Fragen und kreativen Anmerkungen als Antwort auf einen Entwurf zu diesem Buch. Ihren Vorschlägen verdanke ich Verbesserungen in Formulierung und Aufbau.

Dankbar bin ich auch meinem ehemaligen Studenten James Brown, der meine Sprache wie ein Landschaftsgärtner bearbeitet, ausuferndes Geschwafel wie Unkraut herausgerissen und den guten Ausdruck so kultiviert hat, dass man nun leichter und schneller zur wesentlichen spirituellen Substanz des Buches vordringen kann.

Meine Wertschätzung gilt den zahlreichen Studentinnen und Studenten – sowohl an der San Jose State University als auch in privaten Seminaren – mit denen ich über einzelne Elemente jedes Vortrags gesprochen habe und deren Fragen, Bedenken und Erkenntnisse Eingang in die jeweiligen Kapitel dieses Buches gefunden haben.

Dankbar bin ich Sheila Willey, meiner opernerprobten Schreibkraft, die mich mit der unerschütterlichen Geduld der Menschen aus dem mittleren Westen bei den zahlreichen Durchgängen jedes Kapitels begleitet und dabei sogar übersehene Tippfehler, grammatisch falsche Zeiten und schiefe Vergleiche entdeckt hat. Meine Wertschätzung gilt auch Taylor Skillin, der sich selbst als „Faulpelz-Schreibkraft“ bezeichnet, für seine abschließenden Korrekturen und sein Gemisch aus Musik und Worten.

Dankbare Anerkennung geht an The Ward & Balkin Agency Inc. für die Erlaubnis zum Abdruck von Auszügen aus Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre.

Mehrere Abschnitte aus Kapitel Eins finden sich in leicht veränderter Form auch in meinem Artikel „Tasting God: Martin Buber’s Sweet Sacrament of Dialogue“ (Gott schmecken: Martin Bubers süßes Sakrament des Dialogs) im Horizons Journal 37/2 (2010), S. 224-245.

Der Kern des Schluss-Kapitels enthält ausgewählte Ausschnitte aus meinem Artikel „Praying Dialogically: Practicing Martin Buber’s Secret“ (Dialogisch beten: Martin Bubers Geheimnis in die Praxis umsetzen) aus Interreligious Insight, Vol. 8, Nummer 1, Januar 2010.

EINFÜHRUNG

Wann befindest du dich in tiefer Kommunion mit Gott? Was bereitet dir die meisten Schwierigkeiten, wenn du versuchst, Gott zu begegnen? Wie reagierst du, wenn jemand, den du achtest, über spirituelle Praxis spricht? Möchtest du dann mehr darüber erfahren? Wann kannst du mit den letzten Fragen des Lebens, sogar mit dem Tod, am gelassensten umgehen? Dieses Buch bietet dir Gelegenheit, auf solche Fragen praktische und dennoch überzeugende Antworten zu finden. Dazu werden wir sechs gut anwendbare spirituelle Möglichkeiten, Gott zu begegnen, die uns der angesehene Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965) vorstellt, in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit stellen und dabei entdecken, warum es nicht nur möglich, sondern für eine Neubelebung des spirituellen Lebens auch notwendig ist, Antworten auf diese Fragen zu finden.

Im Jahr 1947, neun Jahre nachdem er Deutschland verlassen hatte und als Professor für Sozialphilosophie an die Hebräische Universität in Jerusalem gegangen war, hielt Buber auf einer Tagung in den Niederlanden einen Vortrag in sechs Abschnitten (der ein Jahr später in Buchform veröffentlicht wurde). Thema der kleinen Vortragsreihe mit dem Titel „Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre“ war die chassidische Spiritualität des 18. Jahrhunderts, Bubers Spezialgebiet als Forscher und religiöser Denker. Der Chassidismus ist eine volksgemeindliche mystische Bewegung innerhalb des osteuropäischen Judentums, die im 18. Jahrhundert (1750-1810) in Polen entstand und in Erzählungen und Geschichten die spirituelle Weisheit großer Lehrer, der Zaddikim, in sich vereint. Der Chassidismus war gelebte Realität und Lehre zugleich und betonte, dass Gott gegenwärtig ist und in jedem Ding erschaut sowie durch jede Tat liebender Güte erreicht werden kann. In seinen Vorträgen gibt Buber uns die Schlüssel zur chassidischen Spiritualität an die Hand, wenn er betont, wie wichtig es ist, einzigartig und ganz menschlich zu werden. Buber sagte seinen Zuhörern, der authentische Mensch zu werden, zu dem man erschaffen wurde, sei der „ewige Kern“ chassidischer spiritueller Lehre und Praxis. Diese Authentizität vollzieht sich, wenn man mit Gott in eine einzigartige, rückhaltlose Beziehung tritt. Deshalb lehrte der Rabbi von Kozk, dass Gott uns aufruft: „Menschlich heilig sollt ihr mir sein.“3

Wenn man auf Bubers schmalen Klassiker Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre stößt, so ist das, als entdecke man Gemälde eines europäischen Meisters des beginnenden 20. Jahrhunderts, die in irgendeinem Archiv verwahrt und vergessen wurden. Jedes Werk verkörpert eine stille, heitere Kraft; doch jedes muss auch restauriert werden. Genau wie solche Bilder neu untersucht, sorgfältig dokumentiert und gereinigt werden müssen, damit sie wieder öffentlich ausgestellt werden können, muss auch die Sprache von Bubers sechs Vorträgen aktualisiert werden, damit sie auf unsere Zeit und unsere kulturelle Situation anwendbar wird. Denn die chassidischen Geschichten verwenden nicht nur eine Sprache, die Leserinnen und Lesern des 21. Jahrhunderts ein wenig befremdlich erscheinen muss, sie spiegeln auch die spirituelle Weltsicht des ausgehenden 17. Jahrhunderts wider, die voller Dämonen und Engel war. Heute würde man den Titel Der Weg des Menschen vielleicht eher als Der menschliche Weg wiedergeben.4 Der Weg des Menschen ist Bubers knappste und tiefgründigste Darstellung spirituellen Lebens und Glaubens. Bei meiner Restaurierung von Bubers Vorträgen war ich bestrebt, die Einblicke, die er uns damit in den unschätzbaren Wert der chassidischen spirituellen Substanz gewährt, zu erhalten.5

Bubers Vorträge konzentrieren sich bei dieser Gelegenheit bewusst auf die Bedeutung des menschlichen Handelns, darauf, wie wichtig es ist, dass du und ich mit Intention (Kawwana)6 zu Werke gehen, um Raum zu schaffen, damit Gott in unser Leben treten kann. Indem wir Gott in unser Leben einlassen, werden wir authentisch und rückhaltlos menschlich. Je öfter man Bubers Vortrag hört, darüber nachsinnt und in einen Dialog mit ihm tritt, desto klarer richtet man sich auch selber auf das Handeln aus. Die spirituellen Lehren der Chassidim lassen sich, so Buber: „In einem Satz vereinigen: Gott ist in jedem Ding zu schauen und durch jede reine Tat zu erreichen.“7 Dabei stellt der Chassidismus klar, dass man nicht Jude, ja noch nicht einmal im klassischen Sinne religiös sein muss, um aus seinen Lehren Nutzen zu ziehen. Buber wählte sechs miteinander zusammenhängende spirituelle Praktiken aus, in denen diese Gottdurchdrungenheit aller Sphären anklingt und die seiner Überzeugung nach den Glauben festigen, das Mitgefühl vertiefen und Schranken zur Gegenwart Gottes aufheben können.

Wenn ich „Praktiken“ sage, dann spreche ich von der aktiven, pragmatischen Dimension, die untrennbarer Bestandteil des Lehre-Praxis-Kontinuums ist. Tatsächlich ist „Lehre“ stets durch und durch von „Praxis“ durchdrungen. Ohne „Lehre“ verliert die Praxis ihre Struktur, ihre Ausdruckskraft; und ohne „Praxis“ bleibt die Lehre unvollständig und unerfüllt. Deshalb spreche ich von einer durch Bindestrich verbundenen „Lehre-Praxis“, um damit die nicht-dualistische Sichtweise im Chassidismus und bei Buber anzudeuten, die eine lebendige Praxis einschließt; Praxis wird durch Lehre angeleitet und ist zugleich ihr Ausdruck.8 Die Praktiken, die an späterer Stelle in diesem Buch noch ausführlich beschrieben werden, sind Folgende: (1) Selbstbesinnung, (2) Dein persönlicher Weg, (3) Entschlossenheit, (4) Bei dir beginnen, (5) Dich zum anderen hinwenden und (6) Hier, wo du stehst.

Als ich zunächst mit Studierenden, die mit Bubers Philosophie des Dialogs bereits ein wenig vertraut waren, über Bubers Vorträge zum Weg des Menschen sprach, zeigten ihre Reaktionen, dass die spirituelle Weisheit dieser Vorträge von allen Schriften Bubers am leichtesten zu verstehen ist. Das hat folgenden Grund: Diese Vorträge drehen sich alle um die zentrale Frage: „Wie können wir den Sinn unserer persönlichen Existenz auf Erden erfüllen?“ Die chassidische Antwort auf diese Frage lautet klipp und klar: Indem wir „den Alltag heiligen“. Das heißt, indem wir alltägliche Ereignisse heiligen (das Leben als heilig betrachten), laden wir Gott dazu ein, auf erlösende Weise an unserem Leben mitzuwirken. Mit anderen Worten, für Buber ist Spiritualität weder etwas, das wir von anderswoher unserem Leben hinzufügen, noch ist sie etwas „Übernatürliches“.

Es ist nicht weiter überraschend, dass die spirituelle Entfremdung und unsere Unfähigkeit, sinnvolle Antworten darauf zu finden, seit Bubers Tod im Jahr 1965 weiter zugenommen haben. Immer weniger Menschen wenden sich etablierten religiösen Traditionen zu; und wenn doch, dann sind sie nur allzu oft enttäuscht, weil sie formalisierte Rituale mit feststehendem Ergebnis vorfinden statt authentischer spiritueller Substanz; unüberlegtes Festhalten an Traditionen statt kreativer Ausdrucksformen der Höchsten Wirklichkeit. Würde Buber noch leben, dann würde er zweifellos auf die heutige spirituelle Unterernährung ebenso antworten wie er auf den spirituellen Hunger seiner Zeit geantwortet hat, doch nun mit einem zusätzlichen Schwerpunkt. In diesem neuen Schwerpunkt würde er, so glaube ich, die chassidische Lehre-Praxis der zutiefst erneuernden Verbindung zwischen Personen und der „Absoluten Person“ besonders hervorheben.

Damit gelangen wir zu einem ausschlaggebenden Moment – die Herzmitte von Bubers chassidischem Empfinden entspringt einer entscheidenden Wende in seinem eigenen Leben. Sie entwickelte sich, je mehr er sich in die chassidischen Geschichten vertiefte. Abgesehen von allem anderen, das mit dieser grundlegenden Veränderung verbunden gewesen sein mag, bewirkte sie auch eine Reinigung von den gnostischen Elementen, die er im Chassidismus entdeckte. Remi Braque schreibt: „Diese Reinigung war ein Prozess, den Buber an einem, wie er später einräumte, Wendepunkt in seinem Denken selbst durchlaufen musste.“9 Diese Veränderung erläutert Buber später sehr präzise in einem Aufsatz, in dem er gnosis von devotio unterscheidet. Vor dem Hintergrund religiöser Überlieferungen bedeutete gnosis für Buber „ein wisserisches Verhältnis zum Divinum, wisserisch vermöge einer anscheinend nie wankenden Sicherheit, im Selbst die zulängliche Divinität zu besitzen“.10 Buber erkannte, dass gnosis in Akten des Dienens (devotio) von sich selbst geläutert werden musste. Das heißt: „Die devotio hat im Chassidismus die gnosis absorbiert und überwunden.“11 Aus diesem Grund beschreibt Buber den Chassidismus wiederholt als eine praktizierte weltliche Spiritualität, in welcher der Chassid dafür verantwortlich ist, Gott durch Heiligung alltäglicher Situationen und Ereignisse in die Welt hineinzuziehen.

Doch was bedeutet „Spiritualität“ eigentlich? Und warum sollte man solchen Wert darauf legen? In der chassidischen Spiritualität geht es für Buber um eine tiefe Wechselseitigkeit zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Geist. Spiritualität bedeutet eine dauerhafte Partnerschaft mit dem unsichtbaren, nicht beweisbaren, nicht substanziellen und sich doch schöpferisch offenbarenden und erlösenden Geist, der in unser Leben eindringt. Nach Buber entsteht in und zwischen Menschen, die das falsche Absolute ablehnen, um „die nie verschwindende Erscheinung des Absoluten“ zu schauen, ein neues Gewissen, eine dialogische Spiritualität.12 Daher ist also chassidische Spiritualität nicht auf eine bestimmte religiöse Lehre oder Praxis, auf ein Glaubenssystem oder auf rituelles Verhalten begrenzt, sondern sie bedeutet stattdessen „die Verwirklichung des Göttlichen im Zusammenleben der Menschen“.13

Das Wort „spirituell“ deutet für Buber nicht bloß auf einen bestimmten Bereich der Existenz oder einen höheren Bewusstseinszustand hin und ist auch von keiner Lehre oder Praxis vollständig zu erfassen, ganz gleich wie tief sie verstanden, wie intensiv sie ausgeübt wird. Im Gegenteil, Bubers chassidische Spiritualität meint schlicht, doch bedeutungsvoll: Den Alltag zu heiligen, indem man Gott in die Welt einlässt, und dies dadurch, dass man alles Leben als heilig begreift. Die erschaffene Welt ist keine Illusion, nichts, was überwunden werden muss. Sie ist erschaffen, um geheiligt zu werden. Oder, wie Buber wortgewandt formuliert:

„Alles Geschöpfliche ist als solches der Heiligung bedürftig und der Heiligung fähig: alle geschöpfliche Leiblichkeit, aller geschöpfliche Trieb, alle geschöpfliche Elementarkraft. Durch die Heiligung empfängt die Leiblichkeit die Erfüllung ihres Schöpfungssinns.“14

Doch Heiligung ist nicht bloß ein subjektiver Akt innerhalb des Menschen selbst. Es gehört wesentlich mehr dazu.

Bubers chassidische Spiritualität ist dialogisch. Doch Dialog bedeutete für Buber nicht bloß, dass zwei Menschen sich miteinander unterhalten. Mit „Dialog“ meinte Buber gegenseitige Offenheit, Direktheit und Gegenwärtigkeit in Beziehung. Bei einem echten Dialog erlebt man die Situation des Anderen und wird dadurch vollkommen gegenwärtig. „Wenn die Bereitschaft zum Gespräch vorhanden ist“, sagt Bubers Freund, Übersetzer und Biograph Maurice Friedman, „muss man von Augenblick zu Augenblick ‚navigieren‘. Es ist ein Zuhörensprozess.“15 Obwohl „echtes Gespräch“ mehr ist als bloß eine Idee, umfasst es auch einige Grundprinzipien. Dazu gehört, sich rückhaltlos zum Anderen hinzuwenden, füreinander „völlig“ gegenwärtig zu sein, dem Gesagten aufmerksam zuzuhören und verantwortlich zu antworten, ohne sich zurückzuhalten. Zugleich kann Dialog auch in der Begegnung mit einem Sonnenuntergang über dem Meer entstehen, im Schrei einer Eule, in der Erhabenheit eines Berges mit schneebedecktem Gipfel oder im Kontakt mit Malerei, Bildhauerei, Dichtung, Tanz, Musik, Film und Literatur – und ganz genauso in den Herausforderungen unseres Alltagslebens.

Dialogische Spiritualität ist einzigartig. Sie verkörpert eine Transformation von der Selbst-Zentriertheit zur Beziehungs-Zentriertheit, von der ichbesessenen Individualität zu ewig-neuen, echten Beziehungen zwischen uns und der Welt, zwischen uns und Gott. Verglichen mit anderen spirituellen Praktiken ist die dialogische Spiritualität deshalb einzigartig, weil sie sich immer dann vollzieht, wenn wir offen bleiben für die göttliche Gegenwart in ewig-neuen Ereignissen, Tätigkeiten oder Gesprächen. Für Buber befindet sich der Mensch in einem fortwährenden Prozess des Werdens, der sich bei jeder aufrichtigen Auseinandersetzung mit anderen verwirklicht, was wiederum zugleich anderen hilft, völlig menschlich zu werden. Rabbi Pinchas von Korez formulierte dies folgendermaßen:

„Wenn ein Mensch singt und kann die Stimme nicht erheben, und es kommt ein andrer mit ihm singen und erhebt die Stimme, dann kann auch er die Stimme erheben. Das ist das Geheimnis des Haftens von Geist an Geist.“16

Wie ein Chor manifestiert sich dialogische Spiritualität durch ein Anhaften, ein gemeinsames Verbindendes zwischen Geist und Geist. Dieses Verbindende, das Buber als „das Zwischen“ oder „elementare Gemeinschaft“ oder „vitale Gegenseitigkeit“17 bezeichnet, drückt sich als der Geist der Harmonie zwischen den beiden Stimmen aus, als ein Geist, der größer ist als ihre Summe. Dieses gemeinsame Verbindende – die wechselseitige „Einwohnung“ von Wille und Hinwendung, von Mitgefühl und Weisheit, die zwischen uns entsteht – ist das spirituelle Geheimnis.

Buber verbindet eine tiefe Kenntnis chassidischer Weisheitserzählungen mit erhellenden, wichtigen Erkenntnissen für ein erfüllendes Leben. Bubers spirituelle Praktiken werden in diesem Buch stets – soweit dies möglich ist – so vorgestellt, als ob er heute zu uns spräche. Ich ergänze sie mit Fragen, Beispielen und Übungen für die Praxis, damit du diese Methoden in deinen Umgang mit dem Leben integrieren kannst. Um die schöpferische Originalität von Bubers Vorträgen zu erhalten und wiederzugeben und zugleich meinem eigenen Dialog mit ihnen treu zu bleiben, hält sich dieses Buch an die Reihenfolge, in der Buber sie hielt. Seine Vortragsreihe begann mit einer Darstellung der vorausgehenden Stufen, die uns auf die spirituelle Veränderung vorbereiten (Kapitel Eins bis Drei). Daraufhin erörtert er, wie wir vollständig, gegenwärtig, dialogisch, ja sogar erlösend am Leben teilhaben können (Kapitel Vier bis Sechs).

images

Die ersten drei Vorträge handeln davon, dass Menschen auf dem spirituellen Weg langsamer machen müssen, damit sie ihre Willenskraft darauf konzentrieren können, im Dialog weiter zu gehen. Wenn wir vor unseren üblichen Ängsten und Widerständen die Flucht nach vorne ergreifen – die in diesem Fall ein Rückzug ist –, sehen wir allmählich die Möglichkeit zum echten Gespräch in diesem gegenwärtigen Augenblick vor uns. Das heißt, die vorbereitenden Praxis-Schritte Selbstbesinnung, Dein persönlicher Weg und Entschlossenheit bereiten den Boden für die letzten drei Vorträge: Dafür, dass wir vollständig gegenwärtig werden, indem wir bei uns selbst beginnen, uns zum Anderen hinwenden und hier stehen. Das ist der entscheidende Punkt: Die Erfüllung deines Daseins, seine geheimnisvolle spirituelle Substanz, vollendet sich genau da, wo du in echter Beziehung zu lebendigen Ereignissen und Personen und zugleich zum Absoluten stehst. Wenn wir diese sechs Schritte spiritueller Praxis umsetzen, können wir uns dadurch aus chassidischer Sicht zu authentischen Menschen entwickeln.

Wenn du die Original-Titel von Bubers Vorträgen mit denjenigen vergleichst, die in diesem Buch verwendet werden, wirst du feststellen, dass die neuen Titel Bubers Sinn wahren. Um Bubers Vortrag persönlicher zu machen, habe ich „der“, „sich“ und „man“ durch die entsprechenden Formen von „du“ ersetzt. Die auffälligste Veränderung betrifft Kapitel Fünf. Doch selbst hier spiegelt der neue Titel den Kern der Aussage in Bubers Vortrag wider und fügt sich seinem Gesamtaufbau reibungslos ein. Für neue Titel habe ich mich entschieden, um Bubers chassidische Lehre-Praxis auf eine Art und Weise in Worte zu fassen, die heutige Leserinnen und Leser anspricht und zu einer einzigartigen Antwort herausfordert.

Die Titel von Bubers Vorträgen

Bubers ursprüngliche Titel

Neuere Titel

(1) Selbstbesinnung

(1) Selbstbesinnung

(2) Der besondere Weg

(2) Dein besonderer Weg

(3) Entschlossenheit

(3) Entschlossenheit

(4) Bei sich beginnen

(4) Bei dir beginnen

(5) Sich mit sich nicht befassen

(5) Dich zum anderen hinwenden

(6) Hier wo man steht

(6) Hier, wo du stehst

Um Bubers chassidische Weisheit so klar wie möglich darzustellen, folgen die einzelnen Kapitel jeweils einem ähnlichen sechsteiligen Aufbau:

(1)

Zusammenfassung von Bubers Rede in einem Absatz

(2)

Einleitende chassidische Erzählung, die den Anstoß zu Bubers Kommentar gibt.

(3)

Erklärung einer wichtigen Lehre-Praxis für das spirituelle Leben

(4)

Anekdote aus Bubers Leben, die seine Kernaussage veranschaulicht.

(5)

Abschließende Erzählung, die Bubers Kommentar vertieft und auf den nächsten Abschnitt vorausweist sowie

(6)

Miteinander zusammenhängende Übungen für die Praxis zur Bereicherung und Vertiefung des spirituellen Lebens.

Wenn du dir einen Überblick über den Inhalt von Bubers Vorträgen verschaffen möchtest, kannst du mit diesem Buch auch so beginnen, dass du zuerst jeweils den ersten Absatz der sechs Kapitel liest, in dem die entsprechende Rede zusammengefasst wird. Der letzte Satz jeder Zusammenfassung – sozusagen der Firstbalken, der den Aufbau des Vortrags trägt – bezeichnet die Stelle, an der Lehre und Praxis sich überschneiden. Es kann auch lohnend sein, gleich im Anschluss weitere Unterabschnitte zu lesen, etwa die Anekdoten aus Bubers Leben. Die Übungen für die Praxis, die jedes Kapitel beschließen, sind im Anhang noch einmal aufgeführt. Dort findest du auch einige Antworten auf die erste Frage in Kapitel Eins, die ich bei meinen Buber-Seminaren gesammelt habe.

Kapitel Eins, „Selbstbesinnung“, stellt die Frage, die Gott Adam gestellt hat und die er, wie Buber glaubte, jedem einzelnen Menschen (im Hinblick auf dessen eigenes Leben) ebenso stellt: „Wo bist du?“ Kapitel Zwei, „Dein besonderer Weg“, beantwortet die Frage: „Wie soll ich Gott dienen?“ Dazu spricht es deine besondere Aufgabe im Leben an, nämlich deinen eigenen, einzigartigen spirituellen Weg zu finden und zu gehen. Als Antwort auf die Frage „Wie kann ich geeint (also ganz) werden?“ bittet dich Kapitel Drei, „Entschlossenheit“, dich innerlich zu ordnen, bevor du dich an einer wichtigen Aufgabe versuchst. Kapitel Vier, „Bei dir beginnen“, befasst sich mit der alles entscheidenden Frage „Woher kommen Konflikte?“ und behauptet, dass der Ursprung des Konflikts in uns selbst liegt. Kapitel Fünf, „Dich zum anderen hinwenden“, beantwortet die Frage „Wozu soll ich mein Wesen einen?“ und zeigt Möglichkeiten, wie man sich selbst nicht ganz so ernst nehmen kann. Als Antwort auf die Frage „Wo wohnt Gott?“ spricht Kapitel Sechs, „Hier, wo du stehst“, von dem, was für Buber unser höchstes Ziel als Menschen ist – Gott in unser Leben einzulassen, genau da, wo wir stehen, indem wir hier und jetzt vollkommen gegenwärtig sind. Das Hauptthema von Bubers Vortrag – die Beziehung zwischen Gott und Mensch – bewegt sich also, wie T. S. Eliot sagte, „rhythmisch … wie ein Tänzer“18 mit unserem liebevollen unendlichen Partner.

Wenn du dich fragst, woher wir wissen können, dass diese Lehre-Praxis funktioniert, dann kann ich nur sagen: „Probiere sie aus und sieh selbst.“ Es könnte sein, dass die sechs Methoden, die in diesem Buch aufgezeigt werden, deinen Glauben erneuern, deinen Geist vertiefen und deine Achtsamkeit dafür, wer oder was dir begegnet, erhöhen. Sieh selbst, ob, wie Bruder David Steindl-Rast so überzeugend formuliert, wahre Spiritualität zu pulsierender Lebendigkeit, zu Erfüllung an Körper, Geist und Seele und zu einer in erneuerter Weise umsetzbaren Erkenntnis unserer Zusammengehörigkeit mit der gesamten Schöpfung führt.19

Der englischen Übersetzung seines Vortrags hat Buber eine kurze, aber provokative Einführung vorangestellt. Da sie die sechs Vorträge perfekt einleitet, soll sie hier vollständig wiedergegeben werden:

In den meisten Glaubenssystemen meint der Glaubende, er könne eine vollkommene Beziehung zu Gott erlangen, indem er die sinnliche Welt ablehnt und sein eigenes natürliches Wesen überwindet. Nicht so der Chassid. Gewiss, „Gott anzuhaften“ ist für ihn das höchste Ziel des Menschen, doch um dies zu erreichen, muss er sich nicht von der äußeren und inneren Wirklichkeit irdischen Daseins fernhalten, sondern sie in ihrer wahren, auf Gott ausgerichteten Essenz bejahen und sie damit so transformieren, dass er sie Gott darbringen kann.

Chassidismus ist kein Pantheismus. Er lehrt die absolute Transzendenz Gottes, doch als eine mit seiner bedingten Immanenz verbundene. Die Welt ist eine Ausstrahlung Gottes, doch da ihr in Existenz und Bestreben Eigenständigkeit verliehen wurde, neigt sie dazu, immer und überall eine Kruste um sich herum zu bilden. Daher lebt ein göttlicher Funke in jedem Ding und jedem Wesen, doch jeder solche Funke ist von einer isolierenden Hülle umgeben. Nur der Mensch kann ihn befreien und wieder mit dem Ursprung verbinden: Indem er ein heiliges Gespräch mit dem Ding führt und es auf heilige Weise gebraucht, das heißt so, dass seine Intention dabei stets auf Gottes Transzendenz gerichtet bleibt. So tritt die göttliche Immanenz aus dem Exil der „Hüllen“ hervor.

Aber auch im Menschen, in jedem Menschen, ist eine göttliche Kraft. Und im Menschen kann sie weit mehr als in allen anderen Wesen entarten, durch ihn missbraucht werden. Dies geschieht, wenn er sie, statt sie zu ihrem Ursprung zu lenken, richtungslos laufen und sich all dessen bemächtigen lässt, was sich ihr bietet; statt die Leidenschaft zu heiligen, macht er sie böse. Doch auch hier steht ein Weg zur Erlösung offen: Wer mit der ganzen Kraft seines Wesens zu Gott „umkehrt“, erhebt an diesem, seinem Punkt im Universum die göttliche Immanenz aus ihrer Erniedrigung, die er verursacht hat.

Die Aufgabe des Menschen, jedes Menschen, ist es, nach der Lehre der Chassidim, um Gottes Willen die Welt und sich selbst zu bejahen und gerade dadurch beide zu transformieren.

images

EINLEITUNG

Bubers chassidische Spiritualität

Eines wolkenverhangenen Freitags um die Mittagszeit kam Virginia, eine Krankenschwester meines Pflegedienstes, die ich bisher noch nicht kannte, um die Druckgeschwürverbände an meinen Fußgelenken zu wechseln. Während der letzten beiden Monate hatte üblicherweise Linda jede Woche nach dem Verbandswechsel am Esstisch gesessen und ihren Computer mit Daten gefüttert. Das tat Virginia jetzt auch. Den Büchern in meinen Regalen und unserem Gespräch hatte sie entnommen, dass ich emeritierter Professor für Vergleichende Religionswissenschaften war und gerade ein Buch schrieb. Irgendwann sah sie auf und sagte: „Ich wurde katholisch erzogen, empfinde Religion heute aber als etwas Böses. Im Namen Gottes wird viel Unheil angerichtet.“

„Ja“, erwiderte ich, „leider trennen die institutionalisierten Religionen oft das Heilige vom Alltäglichen – das Heilige hierhin (in die Kirche, in den Gottesdienst, an besondere Orte oder in bestimmte Handlungen) und das Alltägliche dorthin (in die weltlichen Dinge, wo sich das Leben wirklich abspielt). Unter anderem deshalb schreibe ich dieses Buch, damit nämlich der religiöse Irrtum dieser Trennung zwischen dem Heiligen und dem Normalen überwunden werden kann.“

„Worum geht es in dem Buch?“, fragte sie mit spürbar wachsendem Interesse.

„Es geht um die chassidische Spiritualität in Bubers schmalem Klassiker Der Weg des Menschen. Es geht darum, wie wir auf Gottes Frage „Wo bist du in der Welt?“ antworten.“

„Ich habe keine Beziehung zu Gott“, erwiderte sie. „Ich habe verschiedenen Kirchen angehört und stand sogar eine Zeit lang in Verbindung mit einer religiösen Gemeinschaft, die den Franziskanern ähnelt. Aber es hat nie etwas genützt.“

„Das ist nur zu verständlich“, sagte ich. „Religiöse Lehren und Praktiken, Regeln und Vorschriften, machen eine Beziehung zu Gott oft noch schwieriger; sie stellen sich ihr förmlich entgegen. Das ist einer der Gründe, warum ich mich nach fünfundzwanzig Jahren aus der Lehre und gleichzeitig vom praktizierenden Katholizismus zurückgezogen habe und nun dieses Buch schreiben will.“

„Und was sind Sie jetzt?“, fragte sie.

„Einfach ein Mensch. Ein gläubiger Mensch, der in ständiger Beziehung mit Gott lebt. Doch wenn ich Gott auch, geprägt durch meine frühkindliche religiöse Erziehung, als „Himmlischer Vater“ anbete, so weiß ich doch, dass Gott geschlechtslos und namenlos ist. Die Moslems haben es erfasst. Im Koran heißt es, Gott habe neunundneunzig Namen und Attribute, aber Gottes wahrer Name sei der hundertste. Und diesen Namen kennt niemand. Gerade weil Gott jenseits aller Namen, Beschreibungen, Definitionen oder Vorstellungen ist.“

„Was mich anbelangt“, erwiderte sie, „ich respektiere die Erde und versuche, hier und jetzt verantwortlich zu leben.“

„Da haben wir es. Hier ist Gott für Sie gegenwärtig. Gott ist für jeden Menschen einzigartig.“

„Hm …“

„Für mich ist es eine Glaubenszusage. Ich erlebe, dass ich zu einer dialogischen Partnerschaft mit dem namenlosen Ewigen Partner berufen bin, der auf ewig-einzigartige, ewig-überraschende Art und Weise offenbar wird.“

„Wo kann ich etwas über dieses Denken nachlesen?“, fragte sie. „In der Kirche habe ich so etwas nie gehört.“

„Ganz sicher können Sie dies zum Beispiel in den Geschichten und Lehren der Chassidim nachlesen …“

„Sie meinen die Fundamentalisten mit den Schläfenlocken?“, fragte sie erstaunt.

„Nein, die mittlerweile ausgestorbene mystische Bewegung in den osteuropäischen Volksgemeinden des 18. Jahrhunderts. Martin Buber hat ihre Geschichten gesammelt und nacherzählt; es sind Geschichten über die Heiligkeit des Alltags. Wenn man etwas über die Lehre der Chassidim lesen will, dann fängt man am besten mit Bubers schmalem Klassiker Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre an. Es sind sechs Vorträge, die Buber vor den Teilnehmern einer religiösen Tagung hielt. Es ist, als habe Buber sein Jackett ausgezogen, die Hemdsärmel aufgekrempelt und in einfacherer Sprache gesprochen, als er das sonst tut.“

Diese kurze Begegnung nehme ich hier mit auf, weil sie beispielhaft für viele Gespräche steht, die ich über die Bedeutung von Bubers chassidischer Spiritualität geführt habe. Doch bevor wir mit unserer Besprechung dieser Lehren beginnen, ist es gut, etwas über den Menschen Martin Buber zu erfahren. Wer ist er?

Warum Buber?

Warum ist es im 21. Jahrhundert noch wichtig, die Religionsphilosophie von Martin Buber zu studieren, der im letzten Jahrhundert schrieb? Buber ist ein jüdischer Religionsphilosoph und gilt als einer der größten Denker des 20. Jahrhunderts, vergleichbar mit Gandhi, Albert Schweitzer und Einstein. Der ehemalige UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld schlug ihn für den Literatur-Nobelpreis vor. Auch Hermann Hesse nominierte Buber für den Literatur-Nobelpreis mit der Begründung, er sei „einer der wenigen Weisen, die in der Welt von heute leben“, ein Schriftsteller von höchstem Rang, der die Weltliteratur mit seinen Erzählungen der Chassidim bereichert habe. Von seinem amerikanischen Biographen Maurice Friedman als eines der „Universalgenies unserer Zeit“ bezeichnet, zählt Buber zu den bedeutendsten Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts.20

Buber war ein außergewöhnlicher Mensch. Braucht man zum Verständnis seiner Schriften Kenntnisse in mindestens drei oder vier Sprachen (alten und modernen), so genügt zum Verständnis seines Wesens allein die Sprache der Menschlichkeit. Er war von innen heraus so voller Leben, dass von seinem Gesicht ein Strahlen ausging. Als Friedman Buber in einem New Yorker Hotel (wo Buber während seines Lehrauftrags am Jewish Theological Seminary wohnte) zum ersten Mal begegnete, begrüßte ihn Buber mit Handschlag und einem tiefen Blick in die Augen. Friedman verspürte unmittelbar, welch vollkommen „Anderer“ Buber anscheinend war. Seine Augen waren von einer Tiefe, Sanftheit und Direktheit, wie sie Friedman weder zuvor noch danach je wieder begegnet sind. 1961, ein Jahr nachdem Friedman vier Monate bei Buber in Jerusalem verbracht hatte, fragte er sich: „Was habe ich erlebt, als ich Buber in die Augen sah?“21 Friedman erkannte, dass Buber ihn wirklich einbezog und damit die Anforderung an ihn richtete, völlig gegenwärtig zu sein. Noch anschaulicher schreibt Bubers Freund Aubrey Hodes, Bubers Augen seien „grau, stolz, fest, zärtlich und nah“22 gewesen.

Was Buber von den meisten zeitgenössischen spirituellen Denkern abhebt, ist, dass er den „echten Dialog“ – die direkte, aufrichtige, spontane beidseitige Kommunikation – in den Mittelpunkt der Suche der Seele nach Gott gestellt hat. In diesem Licht bezeichnete Buber seine spirituelle Position in Beziehung zu anderen und zu Gott als ein Stehen auf dem unsicheren „schmalen Grat“ zwischen dem Heiligen und dem Alltag. Auf diesem schmalen Grat, „wo es keine Sicherheit aussprechbaren Wissens gibt“23, ereignet sich die Begegnung zwischen Gott und dem Menschen.

In den letzten Jahren seines Lebens fragte ein Bibelgelehrter Buber, ob er seine Bibel-Übersetzung und seine Bibelforschung für die Quintessenz seines Lebenswerks halte. Buber erwiderte:

„Wenn ich selber etwas als ein „Kernstück meines Lebenswerkes“ bezeichnen soll, so kann es nichts Einzelnes sein, sondern nur die eine Grundeinsicht, die mich sowohl zum Studium der Bibel als auch zu dem des Chassidismus, aber auch zu einer selbstständigen philosophischen Darlegung geführt hat: Dass die Ich-Du-Beziehung zu Gott und die Ich-Du-Beziehung zu den Menschen zutiefst aufeinander bezogen sind. Dieses Aufeinanderbezogensein ist … das Kernstück der dialogischen Realität, die sich mir immer mehr enthüllt hat.“24

Wenn Buber angesichts der breit gefächerten Thematik seines Denkens (er schrieb und sprach über Taoismus, Chassidismus, Mystik, Dialog, Erziehung, Psychotherapie, Ethik, Religion, Judentum, Christentum und mehr) und im Licht all seiner Preise, Ehrungen und Errungenschaften sagt, dass eine Grundeinsicht ihn bei seiner gesamten Arbeit stets geführt hat, dann sollten wir selbstverständlich sehr aufmerksam darauf achten, was diese Einsicht war.

Bubers Grundeinsicht lautet, dass Gottes ewig-neue, ewig-liebevolle Gegenwart uns im Leben erscheint. Buber bezeichnete das echte, rückhaltlose Gespräch als einen sakramentalen Akt, der den Bund zwischen den Menschen und dem Absoluten, zwischen dem menschlichen „Ich“ und dem göttlichen „Du“ verkörpert und zum Ausdruck bringt. Das echte Gespräch ereignet sich für Buber auf dem „schmalen Grat“ zwischen absoluten Wahrheiten, zwischen den Dualismen von Leben und Tod, Gut und Böse, Gott und der Welt. Buber sagte einmal:

„Ich akzeptiere keine absoluten Formeln für das Leben. … Keine vorgefasste Chiffre kann alles vorhersehen, was im Leben eines Menschen geschehen kann. Wie wir leben, wachsen wir, und unsere Überzeugungen ändern sich. Sie müssen sich ändern. Deshalb denke ich, dass wir mit dieser konstanten Entdeckung leben sollten. Wir sollten im vermehrten Gewahrsein des Lebens offen sein für dieses Abenteuer. Wir sollten unsere ganze Existenz einsetzen für unsere Bereitschaft zu forschen und zu erleben.“25

Dort, auf dem schmalen Grat, können wir, sofern wir uns nur auf das Zuhören einstimmen, in jedem echten Gespräch drei, nicht nur zwei Stimmen hören: Meine, deine und die Stimme der Beziehung.

Buber bezeichnete seinen dialogischen Glauben als „hebräischen Humanismus“ oder „gläubigen Humanismus“. Nach Bubers Verständnis erscheinen

„ …die Menschlichkeit und der Glaube nicht als zwei getrennte Bereiche, von denen jeder unter einem eigenen Zeichen und unter einem besonderen Gesetze steht: Sie durchdringen einander, sie wirken zusammen, ja sie sind so innig aufeinander bezogen, dass wir sagen dürfen: Unser Glaube hat unsere Menschlichkeit zur Grundlage und unsere Menschlichkeit hat unseren Glauben zur Grundlage.“ 26

Wie schlicht, wie profund: Der Glaube, dass Gott gegenwärtig ist, durchdringt und beseelt unser Menschsein, und rückhaltloses, spontanes Menschsein durchdringt unseren Glauben. In seinen letzten Lebensjahren sprach Buber oft von diesem Humanismus, den er als „gläubigen Humanismus“ bezeichnete.

Aubrey Hodes sagte einmal zu Buber: „Worüber Sie sprechen, ist ein von humanistischen Idealen durchdrungener Chassidismus, ein von chassidischem Eifer durchdrungener Humanismus. Kurzum, ein chassidischer Humanismus.“ Hodes berichtet, Buber habe darauf erwidert: „Ja, ich denke, das kommt dem sehr nahe. … Ein Humanist, der mit chesed, mit liebender Güte, handelt.“27 Bubers gläubiger oder chassidischer Humanismus bietet eine befreiende Alternative zu den anscheinend endlosen Trennungen, Zusammenbrüchen und Nöten in unserer heutigen Kultur. Tatsächlich wende ich mich Buber in der auf Erfahrung beruhenden Überzeugung zu, dass die Methode des echten Dialogs haltungsverändernde Wirkung auf zwischenmenschliche Beziehungen hat.

Obwohl er oft als „philosophischer Anthropologe“ oder „religiöser Existenzialist“ bezeichnet wird, war Buber seinem eigenen Verständnis nach Schriftsteller, sowohl im Sinne des Schreibenden als auch im Sinne dessen, der die Schrift stellt.28 Philosophie, Soziologie und Religion – sie alle gehörten zu seinem Weltbild, doch ging es Buber insbesondere in allen seinen späteren Schriften darum, einfach den Weg zu einem dialogischen Leben zu weisen. Ja, als er gegen Ende seines Lebens gefragt wurde, ob er nun Theologe oder Philosoph sei, antwortete Buber:

29