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ÜBER DEN AUTOR:

Falk Mieschendahl arbeitet als Coach, Seminarleiter und ist der HumanFlow Gründer. Er ist Heilpraktiker, Betriebswirt, ehemaliger Investment Banker und von Kindesbeinen an mit östlichen Heilwegen vertraut. Ziel seiner Arbeit ist es, den Menschen zu unterstützen, sich kennenzulernen und in seinen »natürlichen Fluss« zu finden.

Umschlaggestaltung: Petra Philipps, abendroth Kommunikation

für meinen Vater

Inhalt

Ein Wort zum Geleit von Ralph Skuban

Einführung

Meine Geschichte

Irrtum

Umkehr

Alles entwickelt sich

Die Psyche in Bewegung

Die Vertreibung aus dem Paradies

Der natürliche Grundzustand: Flow

Menschliche Irrtümer

Das Orakel von Delphi: Erkenne dich selbst!

Was nun unterscheidet uns von allen anderen Lebewesen?

Die Energiediebe – Wurzeln der Erschöpfung

Energiedieb 1: Zu viele und zu einseitige Gedanken

Energiedieb 2: Destruktive Glaubensmuster

Energiedieb 3: Unterdrückte Ur-Ängste

Energiedieb 4: Fälschlicher oder fehlender Selbstwert

Energiedieb 5: Unauthentischer Ausdruck

Energiedieb 6: Fehlendes Urvertrauen

Zurück nach Hause

Die Umkehr

Wissen sammeln

Hindernisse vor der Reise

1. Zweifel

2. Aufschieben

3. Opferverhalten

4. Perfektionismus

Reisevorbereitungen

Die innere Reise – 6 Wirkprinzipien

Prinzip der Aufmerksamkeit: »Im Hier und Jetzt leben«

Nutzen

Forschungsmethode

Makropraktik

Mikropraktiken

Zusammenfassung

Das Prinzip der Selbsterforschung: »Wer bin ich?«

Der Nutzen der Ich-Erforschung

Methodik

Schritt 1: Der negative Weg

Schritt 2: Wer bin ich?

Schritt 3: Die Ich-Erfahrung

Schritt 4: Im Raum der reinen Bewusstheit

Schritt 5: Selbst-bewusst-sein

Das Prinzip der sanften Konfrontation: »Im Auge des Sturms«

Das Angstsystem – Hintergründe und Nutzen

Der Angstkörper

Die Angst der Wertlosigkeit

Die Angst der Hilflosigkeit

Die Angst, nicht geliebt zu werden oder nicht liebenswert zu sein

Die Angst, allein zu sein

Die Angst, ein Niemand zu sein

Die Angst der Machtlosigkeit

Zusammenfassung der Ängste

Methodik: Das offene Herz

Anregung der Gefühle

Der Gefühlsfokus

Im Zentrum der Angst

Zusammenfassung:

Das Prinzip der Hinterfragung: »Gedanken sind nicht wahr«

Kurze Liste mit Formen gedanklicher Irrtümer

Personalisierung

Polarisierung

Wahrsagen

Gedankenlesen

Übertreibungen

Methodik

Zusammenfassung

Das Prinzip der Authentizität: »Wahrhaftig leben«

Methodik

Zusammenfassung

Das Prinzip des Urvertrauens: »Du trägst und liebst mich«

Techniken

Zum Einstieg: Wiederholungen

Zur Vertiefung: Fühlen

Zusammenfassung

Flowstyle: Eine Zusammenfassung

Missverständnisse beim Forschen: Die Top 9

1. Die allgemeine Wachstumsbesoffenheit

2. Alleinsein

3. Die eigene Wachstumsbesoffenheit

4. Fehlende Worte

5. Doppelwelten

6. Achtsamkeits-Nazis

7. Erleuchtungswahn

8. Lineare Entwicklung

9. Spirituelles Ego

Flowstyle: Ein Leben im Flow

Andere Energiequellen – vom Feinen zum Groben

Körperliche Bewegung und Aktivität

Gesunde Ernährung

Entspannen und Lächeln

Pures Atmen

Nach der Reise ist vor der Reise

Schlussgedanken

Danksagungen

Ein Wort zum Geleit

Viele Jahre ist es her, dass ich Falk in Norddeutschland erstmals begegnete, eine Begegnung, die als „Therapeut und Patient“ begann und aus der dann eine wunderbare Freundschaft werden sollte.

Ich reiste an als einer, dem es erging, wie es so vielen heute ergeht: Ausgebrannt und leer war ich, kaum noch ein Lebenslicht leuchtete in mir. Als ich Falk von meinen Herausforderungen beruflicher und zutiefst persönlicher Art berichtete, packte er nicht etwa einen „therapeutischen Standardwerkzeugkasten“ aus, er bot mir keine „Therapie von der Stange“ an, sondern erkannte intuitiv, getragen von tiefer eigener Erfahrung, was ich brauchte: Psychologische und vor allem spirituelle Begleitung in dunklen Tagen. Und so geriet meine Burnout-Therapie zu einer intensiven Begegnung mit Gesprächen über Gott und die Welt, über den Sinn des Seins, über inneres Wachstum. Falk führte mich in manche Verwirrung – und doch viel näher zu mir selber.

Ich bin in meinem Leben kaum je einem begegnet wie ihm, der ein so großes Feld des Geistes abgeschritten hat, der das Getragensein in spiritueller Glückseligkeit ebenso erleben durfte, wie er den Abstieg in die dunkelsten Tiefen ertragen musste – um letztlich beides sinnhaft in das persönliche Sein zu integrieren.

Es ist Falks große Authentizität, seine persönlichen Erfahrungen und sein großes Wissen, die Eingang in dieses wertvolle Buch gefunden haben. Möge es die Herzen vieler Menschen erreichen, möge es sie berühren, sie begleiten und ihnen helfen auf ihrem Weg, um wieder in den Flow des Lebens zu kommen – und damit zu sich selbst.

Dr. Ralph Skuban,

Bichl im November 2015

Die wichtigste Beziehung, die du haben kannst, ist die Beziehung mit dir selbst.

Tief in dir existiert ein grenzenloses Universum, das du erfahren, Wissen, das du ergründen und Impulse, die du setzen kannst, die derart kraftvoll sind, dass sie deinem Leben einen neuen Sinn eröffnen können. Die Zeit dafür ist reif. Möge dieser Text dir helfen, die verborgenen Schätze in dir zu entdecken und sie inmitten deines Alltags auszuleben.

Zwei Kämpfe, ein Frieden

Ein junger Krieger sagte zu der alten Medizinfrau seines Stammes:

»Ehrwürdige Großmutter, du hast in deinem Leben vieles erlebt. Was war die Essenz deines Erlebens?« Die knorrige Alte hielt in ihrer Aktivität inne und ergründete still seine funkelnden Augen.

Dann entgegnete sie: »In jedem Menschen befinden sich zwei Kämpfe und ein Frieden.« Der erste Kampf ist der Kampf des Körpers. Er möchte leben. Er kämpft dafür und gegen das Erlöschen. Alles Leben möchte überleben. Dieser Kampf findet nur manchmal statt, bei Krankheit, Verletzung, Hunger und Tod. Das ist das biologische Selbst.

Der zweite Kampf findet immer statt. Er ist der Kampf in deinem Kopf und deinem Herzen. Es ist die Idee von dir und deinem Leben, die ebenfalls überleben möchte und gegen das Erlöschen kämpft. Die Idee von dir ist jedoch lediglich eine Sammlung von Gefühlen, Gedanken, Erinnerungen, Ängsten und Hoffnungen, die zu einem Selbst verschmolzen sind. Das ist das psychologische Selbst.«

Dann wurde die Alte still.

»Großmutter, und wo bleibt der Frieden?«, fragte der junge Krieger leicht verwundert.

»Der Frieden liegt darin, dass du den ersten Kampf annimmst und den zweiten Kampf verlierst.« »So, so! Danke dir Mütterchen«, sprach der Krieger ungeduldig, verabschiedete sich und ging schnell davon. Die Alte hatte in Rätseln gesprochen.

Die Alte schmunzelte.

Einführung

Das warme, wohlige Gefühl zog sich wie ein lebendiger Strom durch meinen ganzen Körper. Es war ein feines, lebendiges Kribbeln, das ich in Armen, Beinen, Oberkörper, Händen und Füßen spürte. In diesem Strom badend, lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf das Fühlen der besonders lauten Körperbereiche, etwa den Druck in der unteren linken Bauchhälfte und die Berührung meiner Hand mit der kalten Oberfläche der schwarz polierten Tischplatte aus Granit. Die Schultern entspannt und die Atemzüge tief und vollständig, ruhte ich in mir wie in einem wohltuenden Bad. Gedanken zogen durch den inneren Raum in einen unfassbaren Hintergrund. Im Vordergrund stand jedoch die alles ausfüllende Erfahrung des Hierseins. Ich war wach und klar. Im rechten Brustbereich nahm ich das In-mir-Ruhen am stärksten wahr, auch wenn dort überhaupt nichts Greifbares zum Wahrnehmen vorhanden war. Aber genau das war es. Nichts greifen zu können, war völlig normal in diesem inneren Raum der lebendigen Stille. Es war, wie es war. Keine Zweifel, keine Angst, keine Suche und kein Tun waren wichtig in diesem Raum. Er war leer und frei von jeder Form. Aber nicht leer wie tot, sondern sicher, heil und fließend. Flow.

So klar mir der Wert dieser Erfahrung war, wusste ich zugleich, dass ich diese unendliche Weite nie jemand anderem zutreffend würde beschreiben können; denn Worte allein würden nicht ausreichen, um die Immensität dieser Erfahrung wiederzugeben. Ich nahm bewusst wahr, dass es möglich war, in diesem neuen und zugleich uralten Raum zu ruhen, und hatte mich in diese Möglichkeit verliebt. Anders als in vertrauter Manier, war mein Dasein zum ersten Mal in meinem Leben nicht aus meinem Denken, Tun oder Erreichen heraus bestimmt, sondern aus der Erfahrung des Hierseins selbst. Das Hiersein brauchte nichts; ich war einfach nur hier und jetzt. Die Erfahrung war wirklich und wahr, nur hatte ich sie früher noch nicht bewusst erlebt. Ein neuer Zugang in und zu mir selbst hatte sich aufgetan. Hin und wieder traten besonders intensive Gefühle wie Friedlichkeit, Einheit, Dankbarkeit oder Mitgefühl für gewisse Momente näher an mich heran. Ich nahm sie wahr, ohne nach ihnen greifen zu müssen. Sie kamen und gingen. Ich ruhte in einer stillen Nähe zu mir selbst, die bis wenige Wochen zuvor für mich noch unvorstellbar gewesen wäre; zu unruhig waren mein Gerenne, Gemache und Gehoffe noch vor kurzem gewesen. Ich wusste aus dem Kontrast, dass ich mich verloren hatte. Jetzt aber war ich hier.

Auf der Bank vor mir streckten sich die fünf weißen Blüten elegant dem Licht entgegen. Garniert waren die Blütenblätter von vielen kleinen blutroten Flecken, die die stille Eleganz der Orchidee zusätzlich betonten. Der lange, gebogene Hals der Blume verband den Blütenkörper mit dem braunen Wurzelwerk, das teilweise aus dem lockeren Boden in der schneeweißen Blumenvase aus Keramik schaute. Ich konnte die Schönheit in all dem sehen, und in diesem Schauen verweilen. Ein feiner Strom von Verbundenheit floss zwischen der Pflanze und mir. Aber auch die Vase und ich waren uns zugetan. Es war, als ob ein feiner Austausch über die Begegnung stattfand. Ein Zirkulieren von Energie, die für mich und alles um mich herum heilsam war. Aus der Verbundenheit entstand ein Gefühl von sanfter Dankbarkeit in mir. Ich war dankbar, klar sehen zu können und zu dürfen. Alles war verbunden.

Der ältere Mann am Tisch rechts von mir trank eine Tasse Kaffee und wischte sich dann mit einem Stofftaschentuch seinen Mund ab. Seine Gehhilfe stand unweit des Tisches, und ein brauner Filzhut lag auf der Ablage des Gestells. Ich spürte seine Einfachheit, seine Einsamkeit und seine Suche nach etwas, das so sehr Teil seines Lebens geworden war, dass sie ihm selbst wohl nicht mehr auffiel. Ich nahm seine Energie in mich auf und spürte in ihm mein eigenes vertrautes, schmerzhaftes Verlorensein. Aber auch das durfte sein und wurde in den unendlichen Raum des Hierseins absorbiert. Jede Erfahrung durfte sein, ich spürte keinen inneren Widerstand und keine Wertung. Alles war willkommen, in diesen Erfahrungsraum mit einzutreten, aber auch, ihn jederzeit wieder zu verlassen. Ich fühlte mich im Fluss und spürte, dass ihm eine grenzenlose Freiheit und bedingungsloser Frieden innewohnte. Nichts in meinem Leben oder an mir war anders geworden als noch vor ein paar Wochen oder zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in meinem Leben, ob während meiner Zeit als aufstrebender Investment-Banker, als ehrgeiziger Fußballspieler, als unsicherer Jugendlicher oder als Yogi. Und genau das war das Besondere für mich. Alles war gleich wie immer, nur konnte ich mich selbst und daher das Leben anders wahrnehmen, so, als ob ich eine alte, zerbrochene und verzerrte Brille mit einer neuen, klaren ersetzt hätte. Ich konnte aus stiller Weite heraus schauen und wusste, dass diese Perspektive wahrer war als die Perspektive der vergangenen dreißig Jahre. Die Brille war immer schon auf meiner Nase gesessen, ich hatte sie nur nicht gesehen. Was für ein Glück, nicht mehr länger nach ihr suchen zu müssen!

Jetzt, da ich mit der Möglichkeit der bewussten Verbundenheit experimentierte und forschte, durchdrangen mich immer wieder Wellen von Energie. Ein Gefühl der Gänsehaut. Ich durfte sehen, ohne dass mir der Filter der persönlichen Geschichte dazwischenfunkte. Ich war innerlich berührt. Das Natürlichste, Normalste und das am meisten Übersehene war für mich besonders geworden. Ich spürte Kraft in mir, unendliche, freie und pure Lebenskraft.

Die alten Meister hatten recht gehabt: Ich bin keine getrennte Welle, alleine, verloren, abgeschnitten von allen anderen, sondern mit allem und allen verbunden – ich bin Ozean und Welle zugleich.

Meine Geschichte

Ich ging mit feinen schwarzen Lloyd-Schuhen sportlichen Schrittes über die Wall Street und las beeindruckende Schilder an beeindruckenden Gebäuden: Merill Lynch, Lehman Brothers, New York Stock Exchange und andere. Ich war genau am richtigen Ort.

Beschwingt von der Dynamik des Erfolgs und den anderen dunklen Anzügen und Kostümen, die geschäftig und zielstrebig an mir vorbeieilten, war ich auf dem Weg zu einem Geschäftstreffen im Rockefeller-Center. In einen dunklen Anzug mit einer breiten tiefblauen Seidenkrawatte gekleidet, war ich da, wo ich ursprünglich hinwollte: Ich fühlte mich wie ein Dealmaker und war beschwingt von den Möglichkeiten. Ich war jemand Erfolgreicher. Noch keine Bundesliga, aber immerhin schon Regionalliga, auf dem Weg zu höheren Aufgaben. Als Juniorpartner in der Firma hatte ich bereits einen Fuß in der Tür des Erfolgs. Ich dachte, ich sei kurz davor, angekommen zu sein. Noch ahnte ich nicht, dass diese Zeit nur ein kurzer Zwischenstopp sein sollte auf dem Weg, mich selbst und meine Berufung zu finden. Ich wusste noch nicht, dass ich von meiner natürlichen Veranlagung her gar kein Investment-Banker war und auch nie einer werden würde, trotz akademischer Ausbildung, kognitiver Fähigkeiten, Wünsche und Bemühungen. Angefangen hatte sowieso alles ganz anders – im elterlichen Meditationszentrum.

Meine Kindheit und Jugend waren geprägt von einem Vater, der sein Leben der spirituellen Entwicklung und dem Weg der Yogis gewidmet hatte. Im Nachfolgen eines indischen Gurus und dem Lehren von Meditation, Yoga und den vedischen Schriften hatte er seine Berufung gefunden und dafür die Sicherheit eines gymnasialen Oberstudienrates eingetauscht. Mitte der 70er Jahre zog die Entfernung von der Norm noch ein erhebliches Missvertrauen aus der Umgebung bis hin zur offenen Anfeindung nach sich. Auch wirtschaftlich musste er dafür einen Preis zahlen, den er jedoch ohne Zögern entrichtete. Seine Eltern konnten seinen Schritt weg vom sicheren Ufer damals nicht verstehen; aber es war offensichtlich, dass er in seiner Anziehung keine Wahl hatte. Für etliche andere auf diesem Weg war er ein Vorbild gewesen. Sein Ziel für mich war die spirituelle Erleuchtung im Alter von fünfzehn Jahren. Die Familie lebte dafür vegetarisch, vedisch – und ohne Fernsehen. Wir vier Kinder wurden mit sechs Jahren in die Nutzung eines Kinder-Mantras eingewiesen, und mit acht Jahren meditierte ich bereits regelmäßig morgens und abends mit den Erwachsenen. Es gab damals viele Verhaltensregeln der guten Lebensweise. Mein Vater glaubte, wie die meisten Menschen damals, dass Kinder erst geprägt werden müssten, damit etwas Gutes aus ihnen entstehen kann. Seine Prägung für uns und vor allem für mich als den Erstgeborenen war der yogische Weg. Eigenständigkeit spielte dabei keine besondere Rolle. Vielleicht sollte sie deswegen später für mich umso wichtiger werden.

Als mein Vater mit zweiundvierzig Jahren plötzlich und unerwartet an einem Herzversagen verstarb, war die Zeit der starren Prägung über Nacht vorbei. Ich weinte bitterlich, während ich innerlich lachte. Es war eine verwirrende Zeit.

Als junger Heranwachsender wollte ich jetzt vor allem eines: Einen freien individuellen Ausdruck. Ich wollte ein besonderer Mensch werden. Bald reifte der Plan in mir, ein Wirtschaftsstudium in den USA zu beginnen. Ich wollte ein erfolgreiches Leben führen, die amerikanische Erfolgsgeschichte vom Tellerwäscher zum Millionär nachleben. Die optimistische »you-can-do-it«-Einstellung der Amerikaner zog mich dabei an wie frische Atemluft. Alles lag ab jetzt an mir: Meine Perspektive war rosarot. Ich startete an der Uni als Student in einem Work-Study-Programm, da wir uns ein Vollzeit-Studium nicht leisten konnten. Morgens studierte ich, nachmittags malerte ich in den Studentenwohnheimen und abends arbeitete ich wöchentlich in der Spülküche der Uni-Mensa. Es war eine aufregende Zeit. Ich hatte ein Ziel und war auf einem guten Weg. So motiviert fiel es mir leicht, gute Zensuren zu schreiben, wodurch ich nach einem Jahr mit einem Presidential Scholarship in das Vollzeit-Business-Administration-Programm der Uni belohnt wurde. Vier Jahre später graduierte ich dann mit einem cum laude-Abschluss in Business Administration.

Während des Studiums begleitete mich weiterhin die Spiritualität. Das lag vor allem daran, dass ich die Maharishi-University of Management, eine kleine Privatuniversität in Iowa, besuchte. Dort wurde neben dem üblichen Curriculum eine tägliche Praxis von Meditation, Yoga und Bewusstseinsentwicklung gelehrt. Auch darin wollte ich gut werden und es verstehen. Ich befasste mich erstmals ausführlich und aus eigenem Willen mit Theorie und Praxis der persönlichen inneren Entwicklung.

Nach meinem Studium ging alles schnell in Richtung meiner beruflichen Karriere. Der akademische Erfolg half beim Berufseinstieg, und ich begann meine Laufbahn als Assistent der Geschäftsführung in einem jungen und an die Börse strebenden Telekom-Unternehmen. Dort stieg ich schnell zum Manager und später zum Direktor auf. Ich war selbst-motiviert, schnell in der Auffassung, konnte mich klar ausdrücken, war begabt in der Synthese, kreativ und, in der Rückschau betrachtet – vor allem naiv. Aber das wusste ich ja nicht. Ich folgte einfach der Richtung, welche die Mächtigen und Erfolgreichen vorgaben. Es war die nächste Norm, der ich folgte, und ich zweifelte nicht daran, sie in absehbarer Zeit zu übertreffen. Ich würde nur noch mehr lernen müssen, dachte ich. Das Höchste, das ich mir damals vorstellen konnte, war eine Beschäftigung im schillerndsten Wirtschaftsbereich: Investment Banking. Ich wollte ein Dealmaker werden.

Irrtum

Was damals bereits auffällig war, war mein häufiges Gefühl, zu wenig Substanz zu besitzen, trotz meines guten akademischen und wirtschaftlichen Erfolges. Es lebte in mir ein ständig nagender Hintergrundgedanke, nicht genug zu wissen, nicht genug zu können und irgendwie, trotz all des äußeren Erfolges, nicht wirklich zu genügen, so wie ich war. Gut verankert in mir war der eigene Anspruch, perfekt zu sein, und gleichzeitig die Angst, dass das Nicht-Perfekte von anderen entdeckt werden würde. Ich überspielte dieses Gefühl mit einer dynamischen Marketing-Kampagne aus Leistung, Einsatz, Witz und Kreativität. Insgeheim wunderte ich mich jedoch über meinen inneren Konflikt, da doch äußerlich alles nach Plan lief.

Im Investment-Banking geht es ums Geldverdienen. Geld ist eine Form von Energie, ein Zwischenspeicher sozusagen. Es geht somit beim Geldverdienen um das Energiesammeln, mit dem Ziel, möglichst viel anzuziehen, zu horten und gleichzeitig möglichst wenig zu verlieren. Das Geld wird sozusagen geerntet wie auf einem Feld und mit möglichst wenig Einsatz in den eigenen Besitz gezogen.

Diese Perspektive ist im Grunde nicht verwerflich, sondern nur ein ganz normales Geschäftsbestreben. Für mich passte die Kluft zwischen Geben und Nehmen jedoch auf Dauer nicht. Meine Langzeitperspektive als Mensch, der einen tieferen Sinn suchte, bekam erste Risse, die bald größer wurden. Bei jedem weiteren Treffen mit den Bossen verlor ich ein Stückchen Naivität, und es fiel mir zunehmend schwerer, mich zu motivieren. Die Realität war anders, als ich sie mir im spirituellen Himmelsschloss vorgestellt hatte. Dazu kam, dass, obwohl ich ein überdurchschnittliches Einkommen hatte und hohes Ansehen unter Freunden und Kollegen genoss, ich mich innerlich keineswegs besonders fühlte. Ich war immer noch derselbe – einer, der sich selbst nicht genügte. Wie konnte das sein, obwohl doch äußerlich alles nach Plan gelaufen war?

Ich vermutete, es läge vielleicht daran, dass ich noch nicht bei Lehmann Brothers arbeitete, vielleicht aufgrund meiner fehlenden Erfahrung oder wegen fehlender Seniorität. Die erfahrenen Senioren, die bei den Schwergewichten der Branche angestellt waren, die hatten es doch geschafft – oder etwa nicht? So begann mein innerer Zweifel an der eingeschlagenen Richtung immer mehr in mir zu nagen. Das hintergründige Gefühl des Mangels verdichtete sich schließlich zu einer regelmäßigen Unruhe, zu Druck und mir unerklärlichen gelegentlichen Unsicherheits- und Angst-Attacken. Eine Veränderung lag in der Luft, und nach zehn Jahren Studium und Karriere in den USA zog ich wieder zurück nach Deutschland.

Umkehr

Ich wollte etwas Sinnvolles, etwas Neues beginnen und war bereit, dafür auch meinen bis dahin sorgfältig modellierten Lebenslauf aufzugeben. Die Ayurveda-Klink meiner Mutter und die dortige Arbeit am Menschen schien mir der richtige Ort für einen Neuanfang zu sein.

Es begann eine Zeit mit Höhen und Tiefen im Familienunternehmen. Das Leidvollste jener Zeit war jedoch die Erkenntnis, trotz meiner Veränderung nirgendwo angekommen zu sein und eigentlich weiterhin in einem luftleeren Raum zu schweben. Die Tatsache, dass ich zurück bei meiner Mutter war und nach ihren Vorstellungen arbeiten sollte, verstärkte das Gefühl der Bodenlosigkeit. Das war es nicht, was ich gesucht hatte. Mein Leben war zu einem Missverständnis geworden.

Es folgte eine schmerzliche Zeit der ›verlorenen Unschuld‹, aber mitten darin, plötzlich, passierte etwas. Danach änderte sich vieles…

Und das kam so. Meine Suche nach dem Wesentlichen trug mich ganz unerwartet eines Abends zu einem Vortrag zum Thema »Leben im Hier und Jetzt«. Auf Anraten eines Freundes war ich nach Münster gefahren, um mir den Vortrag eines spirituellen Lehrers anzuhören. Ich kannte ihn zuvor nicht. Es war eigentlich kein richtiger Vortrag, sondern ein Frage-Antwort-Format mit kurzen und langen Phasen der Stille. Er nannte es »Satsang«. Ich saß mit etwa vierzig anderen interessierten Menschen in einem engen Raum. Wie an Kleidung und Verhalten unschwer zu erraten, waren viele von ihnen spirituelle Sucher oder esoterisch interessierte Personen. Dieser Typ Mensch war mir von Kindheit an vertraut. Wir harrten auf dem Boden aus, und ich erwartete die Dinge, die da kommen mochten.

Der Mann trug ein graues langärmeliges Hemd mit einem leichten Seidenglanz. Er wäre mir auf der Straße nicht besonders aufgefallen. An seinen verschmitzten Mund- und Augenwinkeln konnte ich erahnen, dass er gern lachte. Er strahlte eine ungekünstelte Ruhe aus, die eine natürliche Selbstverständlichkeit hatte. Ja, es schien mir, als ob er in sich ruhte. Immer, wenn ich solche Menschen traf, war ich neugierig, denn ich wollte sie verstehen und ergründen. »Wer eine Frage hat, kann jetzt nach vorne kommen und sie stellen« – das war seine einführende Einleitung. Ich war gespannt, da ich solch ein Format nicht kannte.

Bald stand die erste Person aus dem Publikum auf. Sie schilderte, dass sie Krebs habe und ihr die Ärzte empfohlen hatten, eine Chemotherapie zu machen, was sie aber ablehne, da sie einen alternativen Behandlungsweg gehen wolle. Die Ärzte rieten ihr mit dem Argument der Verantwortungslosigkeit davon ab, was die Situation noch verkomplizierte. Sie hatte eine junge Tochter und war eine alleinerziehende Mutter. Was sollte sie tun? Verglichen mit ihrer Situation erschien mir die meinige wie ein Spaziergang im Park. Statt jedoch auf ihre ausweglose Geschichte einzugehen, öffnete er eine andere Tür.

Er fragte sie: »Wie geht es dir hier und jetzt?« »Das habe ich doch gerade erzählt«, antwortete sie mit einem leichten Unverständnis. »Hast du jetzt Schmerzen oder irgendwelche gegenwärtigen Probleme?«, fuhr er sanft und geduldig fort. Sie entgegnete: »Nein, im Moment geht es mir gut.« Daraufhin schlug er ihr vor, mehr in diesem, was momentan gut war, also im Hier und Jetzt, zu verweilen. Und er begann es ihr zu erklären. Sie verstand nicht, was er meinte, in mir jedoch regte sich etwas – eine neue Möglichkeit! Ich begann, ganz genau zuzuhören. In einer humorvollen Art und Weise fuhr er geduldig fort und erklärte ihr, wie sie in der Praxis des Alltages mit ihrer Aufmerksamkeit mehr bei sich selbst verweilen konnte, wie zuträglich das für den Heilungsprozess sein und auch die Beziehung zu ihrer Tochter vereinfachen und stärken würde. Seine Worte und Hinweise waren für mich wie Lichter in der Dunkelheit. Als die Frau an ihren Platz ging, kam es mir vor, als könnte ihre zweite Chance groß sein, möglicherweise größer noch als es ihre erste war, die Chance vor ihrer Erkrankung. Ich war verblüfft von dieser Perspektive meiner Aufmerksamkeit, denn sie war mir neu.

Danach ging eine andere Person mit einer Frage nach vorne. Sie erzählte von einem ausweglosen Beziehungsdrama, in dem sie steckte. Auch hier waren seine Antworten humorvoll, weise und mitfühlend. Trotz der Schwere des Themas vermittelte er Hoffnung und einen konkreten Weg: Die innere Ausrichtung auf das Hier und Jetzt.

Schließlich ging ich nach vorn und berichtete über meinen Werdegang, meine Suche, die Enttäuschung und die alltägliche Symptomatik. Ich berichtete vor versammelter Zuhörerschaft, dass ich so weit von mir und von dem, wo ich eigentlich hinwollte, entfernt sei. Sein Blick ruhte auf mir. Dann entgegnete er mit wachen Augen, einem fast amüsierten, warmen Lächeln und klarer Stimme: »Dann lasse uns einmal schauen, wie weit du von dir weg bist.« Ich fühlte, dass ich ihm trauen konnte, auch wenn ich ihn nicht kannte. Er wolle und brauche nichts von mir, er wolle mir nur etwas zeigen. Ich war inzwischen nicht mehr so leichtgläubig wie einst und suchte nach praktikablen Ansätzen, auch in einer spirituellen Umgebung. Ich war offen. Er lud mich ein, die Augen zu schließen. Für etwa fünf Minuten ließ er mich einfach so sitzen, ohne Worte und inmitten all der Zuschauer. Ich konnte ruhen, ließ mich darauf ein und saß einfach neben ihm, in Stille, so wie ich es in tausenden Meditationen bereits erlebt hatte, nur – ohne eine spezielle Technik. Ich saß und ruhte einfach, weitgehend ohne Gedanken. Ich war still im Vordergrund, und meine Gedanken waren distanziert im Hintergrund.

In diesem Zustand der momentanen Klarheit begann er, mir Fragen zu stellen, und ich forschte im Inneren nach den Antworten – zum ersten Mal in meinem Leben. Er riet mir, über die Antworten nicht nachzudenken, sondern nur zu schauen und sie aus mir aufsteigen zu lassen. Was seine genauen Fragen waren, erzähle ich an dieser Stelle nicht, da sie dein eigenes individuelles Forschen später möglicherweise erschweren würden. Es waren relevante Fragen, die in mir auf einen fruchtbaren Boden fielen. Die Wirkung öffnete in mir die Tür in einen davor nie wahrgenommenen inneren Raum, den ich für mich selbst aber sofort als essenziell erfuhr.

Zwei wesentliche Erkenntnisse nahm ich aus dieser Begegnung mit: Wie ich praktisch im bewegten Alltag in mir ruhen konnte – und dass ich bin. Einfach, absolut frei und ohne Fehler. Er hatte mir dies nicht mit Worten übermittelt, sondern ich hatte dies in mir selbst erfahren – das machte es so besonders.

Im Moment macht diese Aussage für dich vielleicht nur wenig Sinn, aber das wäre nicht ungewöhnlich. Diese für mich wesentliche innere Erkenntnis sollte der Anfang einer neuen Lebensphase und meines Perspektivwechsels sein, so grundlegend anders, dass es mir in der Rückschau vorkommt, als gäbe es für mich ein Leben vor dieser Begegnung und eines danach. Ich hatte einen Schlüssel gefunden – und ich wusste das unmittelbar. Endlich konnte ich klarer sehen.

In der nächsten Zeit entstanden Kaskaden von Veränderungen und eine neugierige Forschung im inneren Raum. Auch begann eine mehrjährige Zeit grundloser Freude, die mich manchmal stärker und manchmal schwächer begleitete. Mein stilles inneres Leiden, das verstand ich später, bot den notwendigen Nährboden als Voraussetzung für die Veränderung, die sich vollziehen sollte. Es war ein gesunder, ein geprägter und erfahrener Nährboden.

Ich fühlte das, als hätte ich einen Diamant in meiner Tasche entdeckt. Er war schon immer da, ich hatte ihn nur noch nicht entdeckt und wahrgenommen. Das Besondere an ihm war, dass er immer da sein würde, da war ich mir sicher. Und ich wusste sofort, dass es im Wesen aller Menschen auch so sein würde. Alle haben wir einen Diamanten in unserer Tasche, er muss nur entdeckt werden. Ihn zu entdecken, wird auch andere Menschen reich machen und erfüllen. Eine Art Reichtum, der zu grundlegender innerer Gelassenheit führt. Mein Entspanntsein begann sich in mir auszudehnen, denn ich hatte einen Raum aus Stille und Frieden in mir entdeckt – endlich.

Alles entwickelt sich

Die Psyche in Bewegung

Durch die Evolution haben wir uns schon immer weiterentwickelt, nur dass wir uns dessen nicht bewusst sind. Bis vor etwa 100.000 Jahren, und das ist in der Entwicklungsgeschichte des Universums ein relativ kleiner Zeitraum, sah der sich entwickelnde Mensch uns zwar bereits ähnlich, psychisch aber war vieles vermutlich anders als beim Menschen der Neuzeit. Jener Mensch konnte höchstwahrscheinlich noch nicht denken, und selbst wenn, dann wahrscheinlich in sehr einfachen und rudimentären Konzepten.

Die ersten Rituale, Verstorbene zu begraben und ihnen mit besonderen Grabbeigaben ein schnelles und sicheres Geleit zu wünschen, begannen vor etwa 100.000 Jahren. Dies weist bereits auf einen gewissen Wandel in der Fähigkeit des komplexeren Denkens hin. Vermutlich gab es Menschen, die von Alpträumen oder Erinnerungen geplagt wurden, in denen die Toten sie »besuchten«, und es gab gewisse Vorstellungen über das Leben nach dem Tod. Daher wurden die Toten unter der Erde versteckt und mit Beigaben zur baldigen Abreise aufgefordert. Für ein solches Verständnis oder auch für jedwede Ängste ist ein komplexes Denkvermögen nötig. Ein Tier etwa vergräbt seine toten Artgenossen in der Regel nicht, außer um sie vielleicht später zu fressen. Das Denken, wie es heute für uns selbstverständlich ist, hat sich erst entwickeln müssen.

Bis das Denken, wie bei uns heute üblich, in den Vordergrund des Daseins rückte, lebte der Mensch also eher instinktiv, primär gesteuert von der erlernten, instinktiven Intelligenz, die allen Tieren zugrunde liegt. Der Mensch lebte ähnlich wie ein Tier im Hier und Jetzt, von Moment zu Moment, und befand sich innerlich oft im Frieden, auch wenn dies kein bewusster Frieden war, sondern seine natürliche Realität. Dauerstress war ihm fremd. Er lebte aus dem Bauch heraus und machte sich keine Gedanken über sein Leben, er war einfach da. Die Menschen existierten im Einklang mit der Natur, und alles, was sie brauchten, war vorhanden und wurde von der Natur zur Verfügung gestellt. Es war ein natürlicher Kreislauf von Geben und Nehmen. Ein Kreislauf der fließenden, zirkulierenden Energie zwischen den Menschen und Tieren, der Erde, den Pflanzen und allen Naturphänomenen. Das war das Paradies, das die Pflanzen und Tiere nie verließen – wohl aber der Mensch.

Die Vertreibung aus dem Paradies

Der paradiesische Urzustand der friedvollen Einfachheit und Verbundenheit war dem Menschen nicht bewusst und wurde, mag man der Bibel Glauben schenken, mit einem »Apfelbiss« beendet. Der Apfel vom Baum der Erkenntnis war der symbolische Wendepunkt: Die Veränderung hin zu wertendem Denken, das zunehmend komplexer wurde und das menschliche Handeln, Verhalten und die Perspektive zu bestimmen begann. Manche natürliche Möglichkeiten, wie die Intuition oder das wortlose Verständnis untereinander, traten dadurch in den Hintergrund und verkümmerten. In den Traditionen der alten Schamanen, wie dem Ayurveda Vaidyas, bei den Druiden, indianischen Heilern und anderen, die auch heute noch weltweit verstreut zu finden oder zumindest überliefert sind, stoßen wir auf viele Überbleibsel dieser Verbundenheit und damit auf Nabelschnüre zu dem alten Wissen.

Mit der Zeit und Übung wurde das Denken und das Sprechen immer komplexer und brachte neue Möglichkeiten mit sich, wie die Analyse und Planung. Mit den entsprechenden Impulsen wurde diese Entwicklung von den Eltern an die nächste Generation weitergegeben. Aus dem neuronalen Entwicklungspotenzial und der Funktion des analytischen Denkens war eine starke Kraft geworden, welche die menschliche Dominanz und biologische Sicherheit festigte. Neben dem sich bildenden Gedankenteppich hatte sich jedoch noch etwas anderes typisch Menschliches entwickelt: Ein komplexer Gefühlsteppich. Das wertungsfreie Wahrnehmen der Realität und das pure Dasein wurden zunehmend durch Gedanken- und Gefühlsebenen überlagert. Irgendwann war es dem Menschen nicht mehr möglich, im stillen Frieden zu sein und sich natürlich getragen zu fühlen. Der Mensch ruhte nicht mehr in der Realität, sondern sah und fühlte innerlich ein durch die Gedankenkraft erzeugtes Abbild. Der Unterschied zwischen Interpretation und ursprünglicher Realität fiel dem Menschen nicht auf. Es war ein fließender Übergang in die Gedankenwelt. So geriet die ursprüngliche Perspektive in Vergessenheit. Das war der erste große und unbewusste Irrtum des Menschen: Er hatte begonnen, Gedanken und Gefühle mit der Realität zu verwechseln. Aus der Gedanken- und Gefühlsbildung kam noch ein weiterer großer Entwicklungsschritt hinzu: Der Mensch wurde sich seiner selbst als Individuum bewusst. Anfangs möglicherweise zuerst als Gruppengefühl wir, und später als individualistisches Ich. Das für uns heute so selbstverständliche Ich-Gefühl war also ebenfalls nicht immer schon vorhanden, es hat sich erst entwickeln müssen.

Dieser Prozess, den ich die schleichende Vertreibung aus dem Paradies nennen möchte, dauerte möglicherweise Tausende von Jahren und war derart fließend, dass er wohl nur wenigen Menschen auffiel, die es weiterhin vermochten, sich an den Ursprung und die Realität zu erinnern. Es war das eigene unbewusste Handeln, Denken und Fühlen, das den Menschen aus dem Paradies vertrieben hatte. Es war jedoch nicht seine Schuld. In diesem System gibt es keine Schuld, es gibt nur Entwicklung.

Der Schritt in den Irrtum war elementar und notwendig. Die steigende menschliche Bewusstheit und Erkenntnis bedurfte nämlich des Irrtums. Erst im absoluten Verloren-Sein kann der Mensch sich wieder finden. Die Reise dazwischen ist mehr oder weniger leidvoll. Aus dem unbewussten Paradies wird durch die menschliche Entwicklung ein bewusstes.

Der Mensch entwickelte also vor einigen zehntausend Jahren hintergründig ein Ich-Gefühl aus den gedanklichen und emotionalen Konzepten. Er verstand sich mehr und mehr als Individuum, getrennt von anderen Menschen und der Natur. Der Mensch entdeckte sich als er selbst. Bei einem Baby kann man diesen Entwicklungsschritt sehen, wenn es zu fremdeln beginnt. In den ersten Monaten weint ein Kind noch nicht, wenn die Mutter sich entfernt. Es weint nur bei Schmerz, Hunger oder anderen biologischen Notwendigkeiten, um Energie und Aufmerksamkeit zu erhalten. Dann jedoch beginnt eine andere Phase, und das Baby weint, sobald die Mutter geht. Für diese Reaktion muss das Baby den Reiz bereits interpretieren. Es trägt ein erstes psychisches Konzept in sich: Ich und du.

Es beginnt, aus der Einheit heraus die Mutter als separat und getrennt von sich zu erfahren. Wenn sie sich entfernt, wird die gedanklich-emotionale Ganzheit gestört. So wird der erste Trennungsschmerz erfahren, weil die Idee von Ich und Du im Baby erwacht ist – Dualität hat sich entwickelt. Das Leben ist nicht mehr eins ohne ein zweites, sondern zwei und unendlich viele. Die Welt der Formen hat begonnen. Das ist schmerzvoll. Damit ist das Leben gedanklich und emotional unsicherer geworden. Jeder Mensch geht unbewusst durch diesen Prozess hindurch. Auch bei manchen höher entwickelten Tierarten, wie bei Delphinen und Primaten, konnten Forscher die Möglichkeit der Selbsterkenntnis mit Hilfe von Spiegelexperimenten nachweisen, wenn auch nicht so komplex und tief entwickelt wie beim Menschen. Der Mensch verspürt ein Getrennt-Sein und findet dies normal. Mit dieser Perspektive stehen wir unter den Lebenwesen allerdings wahrscheinlich alleine da.