Cover

Lily King

Writers & Lovers

Roman

Aus dem Englischen
von Sabine Roth

C.H.Beck

Zum Buch

Nach dem gefeierten Bestseller «Euphoria» erzählt Lily King in «Writers & Lovers» treffsicher, intelligent und mit ureigenem Humor die Geschichte einer ebenso starken wie zerbrechlichen jungen Frau – und von der Zerrissenheit zwischen den Zwängen der Gesellschaft und den eigenen Träumen von einem anderen Leben.

Als ihre Mutter plötzlich stirbt und Luke sie aus heiterem Himmel verlässt, verliert Casey den Boden unter den Füßen. Ohne wirklichen Plan landet sie mit einem Schuldenberg aus dem Studium in Massachusetts, wo sie beginnt, als Kellnerin zu arbeiten. Bei ihren Versuchen, sich aus einem Netz von Abhängigkeiten zu befreien, gerät sie immer wieder in Situationen mit Männern, die ihre Macht gegen sie ausspielen. Die einzige Konstante in ihrem Leben bleibt das Schreiben: Der Roman, an dem sie seit sechs Jahren arbeitet, wird ihr Fluchtort, ihr Schutzraum. Aber ist sie mit 31 Jahren nicht zu alt, um sich an den losen Traum eines Lebens als Schriftstellerin zu klammern? Ihre Entscheidung für das richtige Leben ist auch eine Entscheidung zwischen zwei Männern.

Über die Autorin

Lily King,

geboren 1963, wuchs in Massachusetts auf und lebt heute mit ihrer Familie in Maine. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Preise, u.a. den New England Book Award for Fiction und den Maine Fiction Award. Ihr Bestseller Euphoria (C.H.Beck 2015) wurde mit dem Kirkus Prize ausgezeichnet und von der New York Times unter die fünf besten literarischen Bücher des Jahres 2014 gewählt.

Über die Übersetzerin

Sabine Roth

ist seit 1991 als Übersetzerin tätig. Sie hat u.a. Jane Austen, Henry James, Agatha Christie, John Le Carré, V.S. Naipaul, Elizabeth Strout und Lemony Snicket übersetzt. Diese Übersetzung wurde gefördert durch ein Arbeitsstipendium des Deutschen Übersetzerfonds.

Für Lisa, meine Schwester,
in Liebe und Dankbarkeit

Ich verbiete mir strikt, schon am Morgen an Geld zu denken. Wie ein Teenager, der sich den Gedanken an Sex zu verbieten versucht. Wobei ich an Sex auch nicht denken darf. Oder an Luke. Oder an den Tod. Das heißt, keine Gedanken an meine Mutter, die in ihrem Urlaub letzten Winter gestorben ist. Ich darf an sehr vieles nicht denken, wenn ich morgens schreiben will.

Adam, mein Vermieter, schaut mir zu, wie ich seinen Hund Gassi führe. In Anzug und blitzenden Schuhen an seinen Mercedes gelehnt, verfolgt er unseren Weg die Einfahrt entlang. Er braucht morgens seine Bestätigung. Wie wohl jeder von uns. Jetzt kann er sich in dem Kontrast zu mir mit meiner Jogginghose und den verstrubbelten Haaren sonnen.

Als der Hund und ich nah genug sind, sagt er: «Du bist ganz schön früh auf.»

Ich bin immer früh auf. «Du aber auch.»

«Vorabbesprechung mit dem Richter, um sieben s. t.»

Bewundert mich. Bewundert mich. Bewundert Vorabbesprechung und Richter und sieben s. t.

«Irgendwer muss sich ja opfern.» Ich bin mir selbst unsympathisch in Adams Gesellschaft. Ich glaube, darauf legt er es an. Ich lasse mich von dem Hund ein paar Schritte an ihm vorbeizerren, einem Eichhörnchen nach, das sich durch die Zaunlatten an der Seite von Adams großem Haus zwängt.

«Und?», sagt er, bevor ich zu weit von ihm weggelangen kann, «was macht der Roman?» Er sagt es, als wäre das Wort meine Privaterfindung. Dabei bleibt er an seinem Auto lehnen und dreht nur den Kopf in meine Richtung; seine Pose gefällt ihm zu gut, um sie aufzugeben.

«Geht so.» In meiner Brust fangen die Bienen zu summen an. Ein paar krabbeln an der Innenseite meines Arms hinab. Ein kurzes Gespräch kann meinen ganzen Morgen aus den Angeln heben. «Ich muss mich gleich noch mal dransetzen. Nicht viel Zeit heute. Doppelschicht.»

Ich schleife den Hund Adams Hintertreppe hoch, mache ihn von der Leine los, schubse ihn durch die Tür und bin mit einem Satz die Stufen wieder hinunter.

«Wie viele Seiten hast du jetzt schon?»

«So was wie zweihundert.» Ich bleibe nicht stehen. Bis zu dem Anbau an der Garage sind es nur noch ein paar Schritte.

«Weißt du», er stößt sich von seinem Auto ab, wartet, bis er meine volle Aufmerksamkeit hat, «ich staune nur immer wieder, dass du glaubst, du hättest etwas zu sagen.»

Ich sitze am Schreibtisch und starre die Sätze an, die ich vor dem Hundespaziergang zu Papier gebracht habe. Sie sagen mir nichts. Ich kann mich nicht erinnern, sie hingeschrieben zu haben. Ich bin so müde. Ich schaue hinüber zu der Leuchtanzeige des Radioweckers. Keine drei Stunden mehr, bis ich mich für meine Mittagsschicht umziehen muss.

Adam hat zusammen mit meinem großen Bruder Caleb studiert – der damals, glaube ich, latent verliebt in ihn war –, deshalb nimmt er nicht ganz so viel Miete von mir. Für das Gassigehen am Morgen lässt er mir noch mal ein paar Dollar mehr nach. Mein Zimmer war früher der Gartenschuppen und riecht bis heute nach Erde und modrigem Laub. Der Platz reicht gerade für eine Einzelmatratze, den Schreibtisch mit Stuhl, eine Kochplatte und den Tischbackofen im Bad. Ich setze den Kessel auf, um mir noch eine Tasse schwarzen Tee aufzubrühen.

Ich schreibe nicht, weil ich glaube, ich hätte etwas zu sagen. Ich schreibe, weil sich ohne das Schreiben alles noch trostloser anfühlt.

Um halb zehn schiebe ich meinen Stuhl zurück, schrubbe die Steak- und Blaubeerflecken aus meiner plissierten weißen Bluse, bügle sie auf dem Schreibtisch trocken, hänge sie auf einen Bügel und fädle den Haken durch die Schlaufe oben am Rucksack. Ich ziehe meine schwarze Arbeitshose und ein T-Shirt an, binde die Haare zusammen und setze den Rucksack auf.

Das Fahrrad muss ich rückwärts aus der Garage schieben, so voll steht sie mit all dem Krempel, den Adam dort aufhebt: alte Kinderwagen, Hochstühle, Babywippen, Matratzen, Kommoden, Skier, Skateboards, Liegestühle, Petroleumfackeln, einen Kickertisch. Den restlichen Platz braucht der rote Minivan seiner Ex-Frau. Sie hat sich letztes Jahr nach Hawaii abgesetzt und ihm alles dagelassen außer den Kindern.

«Traggisch, so gutes Auto», war der Kommentar der Putzfrau, die hier neulich den Gartenschlauch suchte. Sie heißt Oli, kommt aus Trinidad und hebt sogar die Plastikmessbecher aus den Waschpulverkartons auf, um sie nach Hause zu schicken. Adams Garage hat Oli nachhaltig erschüttert.

Ich radle die Carlton Street entlang, dann bei Rot über die Beacon Street und weiter die Ivy Street vor zur Commonwealth Avenue. Autos donnern vorbei. Ich rutsche aus dem Sattel und warte in einem wachsenden Pulk von Studenten auf Grün. Ein paar von ihnen bewundern mein Fahrrad. Es ist ein altes Bonanzarad, das ich im Mai in Rhode Island auf dem Sperrmüll gefunden und gemeinsam mit Luke hergerichtet habe – ihm eine neue Kette verpasst, die Bremskabel nachgezogen und das rostige Sattelrohr hin und her geruckelt, bis ich endlich hoch genug saß. Die Gangschaltung ist in die Stange eingebaut, wodurch es sich nach mehr anfühlt, als es ist, als hätte es irgendwo einen versteckten Motor. Ich mag dieses Harley-Gefühl, das man darauf hat, durch den Chopperlenker und den gesteppten Bananensattel mit dem hohen Rohr dahinter, an das ich mich beim Ausrollen anlehnen kann. Als Kind hatte ich kein Bonanzarad, aber meine beste Freundin hatte eins, und teils tauschten wir ganze Tage am Stück. Diese Boston-University-Studenten kennen gar keine Bonanzaräder mehr. Es hat immer noch etwas Seltsames, nicht mehr zur jüngsten Kategorie von Erwachsenen zu gehören. Ich bin einunddreißig, und meine Mutter ist tot.

Die Ampel schaltet auf Grün, und ich hieve mich wieder in den Sattel, überquere die sechs Spuren der Commonwealth Avenue und strample weiter, über die Boston University Bridge auf die Cambridge-Seite des Charles River. Manchmal geht es schon vor der Brücke los. Manchmal erst oben auf der Brücke. Aber heute habe ich mich im Griff. Heute halte ich durch. Ich rolle hinunter auf den Gehsteig zwischen Memorial Drive und Fluss. Es ist Hochsommer, und der Fluss scheint am Ende. Schmutziger weißer Schaum schwappt gegen das Uferschilf. So ähnlich sah die weißliche Schmiere aus, die sich in den Mundwinkeln von Pacos Mutter bildete, wenn sie in ihrer Küche saß und den ganzen Tag durchjammerte. Wenigstens da bin ich raus. Gegen diese Klitsche in den Außenbezirken von Barcelona ist selbst Adams Schuppen ein Fortschritt. Ich kreuze River Street und Western Avenue und schwenke hinüber auf den Lehmweg dicht am Flussufer. Ich habe mich im Griff. Ich habe mich so lange im Griff, bis ich die Gänse sehe.

Sie sind an ihrem üblichen Platz beim Pfeiler der Fußgängerbrücke, zwanzig oder dreißig, geschäftig wie immer – verdrehen die Hälse und stoßen die Schnäbel ins eigene Gefieder oder in das ihrer Nachbarn, picken nach den letzten paar Hälmchen im Lehm. Ihre Geräusche werden lauter, als ich näher komme, Schnarren, Grummeln, aufgebrachtes Quaken. Sie sind Störungen gewohnt und weichen kaum zur Seite, als ich zwischen ihnen durchradle; ein paar schnappen zum Schein nach meinen Knöcheln oder lassen die Schwanzfedern durch meine Speichen streifen. Nur die ganz hysterischen flüchten ins Wasser, kreischend, als wollte ihnen jemand ans Leder.

Ich liebe diese Gänse. Mein Herz schwillt an, wenn ich sie sehe, und fast kann ich glauben, dass vielleicht doch alles ins Lot kommt, dass ich diese Zeit überstehen werde, wie ich auch schon andere Zeiten überstanden habe, dass die unendliche, bedrohliche Leere vor mir bloßer Einbildung entspringt und das Leben leichter und lustiger ist, als mir das im Moment möglich scheint. Aber diesem Gefühl, dieser Ahnung, dass nicht alles verloren ist, folgt der Drang, meiner Mutter davon zu erzählen, ihr zu sagen, dass es mir heute gar nicht so schlecht geht, dass ich etwas empfunden habe, das fast als Glück durchgehen könnte, dass ich eventuell doch noch glücklich sein kann. Sie wird das wissen wollen. Aber ich kann es ihr nicht sagen. Das ist die Wand, gegen die ich an guten Tagen wie heute laufe. Meine Mutter wird sich um mich sorgen, und ich kann ihr nicht sagen, dass das nicht nötig ist.

Die Gänse stört mein Weinen nicht. Sie kennen mich nicht anders. Sie schnauben und glucksen und übertönen meine Geräusche. Eine entgegenkommende Joggerin deutet die Anzeichen richtig und schlägt einen Bogen um mich. Ab dem großen Bootshaus werden die Gänse weniger. Bei der Larz Anderson Bridge biege ich nach rechts, die JFK hoch Richtung Harvard Square.

Sie hat etwas Kathartisches, diese Radfahrt, und in der Regel hält es ein paar Stunden vor.

Das Iris liegt im zweiten Stock einer großen Backsteinvilla, die einem der Harvard-Klubs gehört. Die Räumlichkeiten werden vermietet, seit vor zehn Jahren aufflog, dass der Klub Steuerrückstände von beinahe hunderttausend Dollar hatte. Jetzt im Sommer sind nicht viele von den Studenten da, und sie benutzen einen separaten Eingang auf der anderen Seite des Gebäudes, aber ich höre sie manchmal beim Proben. Sie haben ihr eigenes Theater, in dem sie Stücke aufführen, bei denen sich Männer als Frauen verkleiden, und ihren eigenen A-cappella-Chor, eine Gruppe wichtig herumflitzender Jünglinge, die Tag und Nacht Smoking tragen.

Ich sperre mein Rad an einem Straßenschild fest, steige die Granitstufen hoch und stoße die schwere Tür auf. Tony, einer der Oberkellner, ist schon fast oben am Treppenabsatz, seinen Sack von der Reinigung überm Arm. Er sahnt all die guten Schichten ab, deshalb kann er es sich leisten, seine Livree richtig reinigen zu lassen. Es ist eine imposante Treppe, mit einem schmuddeligen, bierverfleckten Läufer darauf, der früher vermutlich von einem vornehmen Purpurrot war. Ich warte mit dem Weitergehen, bis Tony um die Ecke verschwunden ist und ich ihn auf der nächsten Treppe höre. An der Wand hängen die Porträts der Präsidenten, die dem Klub angehört haben: Adams, Adams, Roosevelt, Roosevelt, Kennedy. Der zweite Treppenabschnitt ist schmaler. Tony braucht lang, er ist noch nicht mal auf halber Höhe. Ich werde noch langsamer. Vor das Licht am oberen Ende der Treppe schiebt sich eine Gestalt. Gory kommt herunter.

«Tony, alter Junge», tönt er. «Wie geht’s, wie steht’s?»

«Wie ’ne Eins steht er, kennst mich ja.»

Gory kichert. Die ganze Treppe schwankt unter seinen Tritten.

«Mal wieder spät dran, Mädel.»

Ich bin pünktlich wie immer. Das ist seine Art, Frauen zu begrüßen. Ich glaube nicht, dass er meinen Namen weiß.

Ich spüre die Stufe nachgeben, als er an mir vorbeiläuft.

«Viel zu tun heute Abend. Hundertachtundachtzig Vormerkungen», sagt er über die Schulter. Denkt er, wir haben schon Nachmittag? «Und die Bereitschaft hat sich gerade krankgemeldet.»

Die Bereitschaft ist Harry, mein einziger Freund im Iris. Er ist allerdings nicht krank. Er ist mit dem neuen Hilfskellner auf dem Weg nach Provincetown.

«Zieh die langen Eisen auf», sagt er.

«Ohne die geh ich doch nie aus dem Haus, Gory.»

Das mit dem Golfen hat er beim Vorstellungsgespräch aus mir rausgekitzelt. Er selbst spielt Krocket, hat er mir verraten. Nicht auf Gartenfesten, sondern profimäßig, bei Turnieren. Angeblich ist er einer der besten Krocketspieler landesweit. Das Iris konnte er mit einer seiner Siegprämien eröffnen.

Unten angelangt, schnieft er lautstark dreimal, räuspert den Rotz hoch, schluckt, holt tief Luft und tritt hinaus auf die Straße, am Arm eine Tasche mit den kompletten Einnahmen von gestern Abend und dem riesigen Aufdruck CAMBRIDGE SAVINGS BANK. Jemand hat ihm ein Post-it auf den Rücken geklebt, auf dem steht: «Überfall lohnt sich!»

«Ah, der alte Casey Kasem höchstpersönlich», sagt Dana, als ich oben ankomme. «Hat dich immer noch keiner gefeuert?» Sie steht über Fabianas Empfangstisch gebeugt und macht den Sitzplan. Er ist kaum zu entziffern und unter Garantie ungerecht.

Ich gehe den Gang hinter zu den Toiletten, wo ich die weiße Bluse anziehe und mein Haar zu dem vorgeschriebenen hoch sitzenden Dutt zusammenschlinge, der so straff sein muss, dass die Kopfhaut schmerzt. Als ich zurückkomme, schieben Dana und Tony die Tische herum, schanzen sich selber die großen Gruppen zu, sichern sich alles, was lukrativ ist – die Geschäftsrunden, die Stammgäste, die Investoren, die hier Geld angelegt haben und nichts zahlen, aber astronomisch hohe Trinkgelder geben. Ob sie auch außerhalb des Restaurants Freunde sind, weiß ich nicht, aber sie tun sich bei jeder Schicht zusammen wie zwei üble Skatbrüder, die einander die Stiche zuspielen und sich ins Fäustchen lachen, wenn ihnen wieder ein diabolischer Coup geglückt ist. Ein Paar sind sie definitiv nicht. Dana mag es nicht, angefasst zu werden – als sie neulich einen steifen Hals hatte und der neue Hilfskellner ihr den Nacken massieren wollte, hat sie ihm praktisch den Arm gebrochen –, und Tony redet andauernd von seiner Freundin, begrapscht aber bei jeder Schicht sämtliche Kellner. Sie haben Gory und den Restaurantleiter, Marcus, in der Hand, zumindest ein Stück weit – durch die Drogen, vermuten Harry und ich, die ihnen Tonys Bruder beschafft, ein Dealer, der regelmäßig im Knast sitzt und von dem Tony nur spricht, wenn er einen im Tee hat; dann muss man ihm Schweigen geloben, als hätte er einem die Geschichte nicht schon x-mal erzählt. Wir nennen Dana und Tony die Twisted Sister und gehen ihnen nach Möglichkeit aus dem Weg.

«Ihr habt grade zwei Tische aus meiner Station geklaut», schimpft Yasmin.

«Wir brauchen zwei Achter», sagt Tony.

«Dann nehmt verdammt noch mal eure eigenen. Das hier sind meine, ihr Arschlöcher.» Yasmin ist in Eritrea geboren und in Delaware aufgewachsen, aber sie hat jede Menge Martin Amis und Roddy Doyle gelesen. Gegen die Twisted Sister hilft ihr das leider nichts.

Bevor ich mich auf Yasmins Seite schlagen kann, zeigt Dana mit dem Finger auf mich. «Hol die Blumen rein, Casey Kasem.»

Sie und Tony sind die Oberkellner. Sie haben das Sagen.

Mittags braucht es noch keine Profis. Den Mittagstisch schmeißen die Neuzugänge und die alten Arbeitspferde, die Doppelschichten schieben und so viele Stunden machen, wie sie von der Restaurantleitung nur kriegen können. Ich kellnere, seit ich achtzehn bin, deshalb bin ich in nur sechs Wochen von der Neuen zum Arbeitspferd mutiert. Finanziell ist die Mittagsschicht lausig, verglichen mit den Abenden, es sei denn, man bedient eine Clique von Anwälten oder Pharmatypen, die mit ein paar Runden Martinis auf ihre Erfolge anstoßen und entsprechend spendabel gestimmt sind. Durch den Speisesaal scheint die Sonne, was sich unnatürlich anfühlt und alle Farben verändert. Ich mag die Abendstimmung lieber, wenn die Fenster sich langsam mit Schwärze füllen und das warme gelbliche Licht aus den vergoldeten Wandleuchten die Fettspritzer auf den Tischdecken und die Kalkflecken kaschiert, die wir vielleicht auf den Weingläsern übersehen haben. Das blaue Mittagslicht blendet uns. Jeder Gast braucht, kaum dass er sitzt, seinen Kaffee. Und man hört tatsächlich die Musik, die Mia, unsere Mittags-Barfrau, auflegt. Meistens spielt sie Dave Matthews. Mia hat einen Dave-Matthews-Fimmel. Gory ist oft nüchtern, und Marcus sitzt in seinem Büro, kümmert sich um seinen Kram und lässt uns machen. Es ist eine verkehrte Welt mittags.

Aber es geht schnell. Noch ehe die Turmuhr im Harvard Yard zwölf schlägt, sind von meinen Tischen schon drei Zweier und ein Fünfer besetzt. Zum Nachdenken kommt keiner. Alle werden wir wie Tennisbälle zwischen Küche und Speisesaal hin und her gedroschen, ohne Pause, bis der letzte Gast weg und die Mittagsschicht durch ist und man am Taschenrechner sitzt und seine Kreditkarten-Trinkgelder addiert und den Anteil für Barfrau und Hilfskellner ausrechnet. Die Tür wird abgesperrt, Mia dreht «Crash Into Me» voll auf, und wenn schließlich sämtliche Tische abgeräumt, sämtliche Gläser poliert und sämtliche Gedecke für das morgige Mittagessen gerollt sind, habe ich eine Stunde Ausgang, bevor ich zur Abendschicht antreten muss.

Ich gehe zu meiner Bank neben dem Coop. Vor dem Schaltertisch ist eine Schlange. Nur ein Schalter ist besetzt. LINCOLN LUGG, steht auf dem Messingschild. Bei meinen Stiefbrüdern hießen Kackwürste Lincoln Logs, wie die langen braunen Bausteine. Der Jüngste zerrte mich immer ins Bad, um mir zu zeigen, wie sensationell lang er sie hinbekam. Manchmal mussten wir alle kommen und schauen. Wenn ich jemals mit einem Therapeuten meine Kindheit aufarbeite und der Therapeut mich auffordert, mich an einen frohen Moment mit meinem Vater und Ann zu erinnern, kann ich ihm erzählen, wie wir alle ums Klo herumstanden, um eines von Charlies abnorm langen Lincoln Logs zu bestaunen.

Lincoln Lugg passt mein amüsierter Gesichtsausdruck nicht, als ich an den Schalter trete. Solche Leute gibt es. Sie denken, jeder amüsiert sich auf ihre Kosten.

Ich lege ihm meinen Packen Geldscheine hin. Das passt ihm auch nicht. Man sollte meinen, Schalterbeamte würden sich mit dir freuen, erst recht, wenn du zu Abend- und Doppelschichten aufgestiegen bist und sechshunderteinundsechzig Dollar auf dein Konto einzahlen kannst.

«Sie wissen schon, dass Sie Einzahlungen am Automaten vornehmen können?», sagt er, während er mit spitzen Fingern mein Geld zählt. Hat er denn nicht gerne Geld in den Händen? Welcher Mensch genießt es nicht, Geld in den Händen zu halten?

«Ich weiß, aber weil es ja Bargeld ist, wollte ich –»

«Niemand nimmt Ihnen Ihr Bargeld weg, wenn es einmal im Automaten ist.»

«Ich will einfach nur sichergehen, dass es auf meinem Konto landet und nicht auf einem fremden.»

«Wir haben streng regulierte, hochsystematisierte Abläufe. Und jeder Vorgang wird auf Video aufgezeichnet. Das, was Sie hier machen, ist um einiges weniger sicher.»

«Ich bin einfach so froh, das Geld einzahlen zu können. Bitte vermiesen Sie mir das nicht. Diese Dollars können gar nicht so schnell auf meinem Konto ankommen, wie sie von den Zinshaien abgesaugt werden, also machen Sie’s mir nicht kaputt, ja?»

Lincoln Lugg zählt murmelnd die Scheine und antwortet nicht.

Ich habe Schulden. Ich habe so schwindelnd hohe Schulden, dass Marcus mir jede Mittags- und Abendschicht dieser Welt geben könnte, und ich könnte sie trotzdem nicht abbezahlen. Meine Kredite fürs College und für den Master sind während meiner Spanienjahre in Verzug geraten, und bei meiner Rückkehr hatte sich der anfängliche Betrag durch Strafen, Gebühren und Inkassokosten fast verdoppelt. Jetzt schaffe ich es mit Hängen und Würgen, den Status quo zu halten, das Minimum abzustottern, bis – ja, bis was? Und bis wann? Darauf gibt es keine Antwort. Das ist Teil des bedrohlichen schwarzen Lochs, das meine Zukunft ist.

Nach der kleinen Szene mit Lincoln Lugg weine ich auf einer Bank vor der Unitarierkirche. Ich weine diskret, ohne Geräusche, aber die Tränen laufen mir übers Gesicht, ohne dass ich etwas dagegen tun kann.

Ich probiere es mit einem Abstecher zu Salvatores Fremdsprachenbuchhandlung in der Mount Auburn Street. Hier habe ich vor sechs Jahren gearbeitet, 1991. Nach Paris und vor Pennsylvania und Albuquerque und Oregon und Spanien und Rhode Island. Vor Luke. Bevor meine Mutter mit vier Freundinnen nach Chile gereist ist und als Einzige nicht zurückkam.

Der Laden wirkt verändert. Sauberer. Die Regale stehen anders, und die Kasse ist jetzt da, wo früher die alten Sprachen waren, aber der hintere Teil, wo ich immer mit Maria saß, sieht noch genauso aus wie damals. Ich war als Marias Assistentin für französische Literatur eingestellt worden. Ich war frisch aus Frankreich zurückgekommen in diesem Herbst, und irgendwie dachte ich, obwohl Maria Amerikanerin war, würden wir die ganze Zeit nur Französisch sprechen, über Proust und Céline und Duras, von der zu der Zeit alle sprachen. Stattdessen redeten wir Englisch, hauptsächlich über Sex, was auf seine Art vielleicht auch sehr französisch war. Das Einzige, was ich aus den acht Monaten Geplänkel mit ihr noch weiß, ist ein Traum, den sie hatte, in dem Kitty, ihre Katze, es ihr mit der Zunge besorgte. Diese raue Zunge hätte sich so gut angefühlt, sagte sie, aber die Katze ließ sich ständig ablenken. Sie leckte ein bisschen, dann schleckte sie sich die Pfote, und Maria wachte davon auf, dass sie schrie: «Bleib einmal bei der Sache, Kitty, verdammt!»

Aber hinten ist keine Maria. Niemand von früher ist da, nicht einmal Manfred, der zynische Ostdeutsche, der sich jedes Mal aufregte, wenn Kunden nach Günter Grass fragten, weil Grass gegen die Wiedervereinigung opponiert hatte. Wir sind alle durch Kinder ersetzt worden, einen Jungen mit Baseballmütze und ein Mädchen mit Haaren bis über den Hintern. Es ist Freitag um drei, deshalb trinken sie Bier, Heineken, genau wie wir damals.

Aus dem Lagerraum kommt Gabriel mit der nächsten Runde. Er sieht aus wie immer: silberne Locken, der Oberkörper zu lang für die Beine. Mein Gott, habe ich für ihn geschwärmt: Er war so intellektuell, liebte seine Bücher, verhandelte mit all den ausländischen Verlegern am Telefon in ihren eigenen Sprachen. Sein Humor war trocken und rabenschwarz. Jetzt verteilt er die Flaschen. Er sagt etwas, halblaut, und sie lachen alle. Das Mädchen mit den Haaren himmelt ihn genauso an wie damals ich.

Zu meiner Zeit bei Salvatore war ich noch nicht pleite. Jedenfalls nicht wissentlich. Meine Schulden waren überschaubar und Sallie Mae, EdFund, Collection Technology, Citibank und Chase noch nicht hinter mir her. Ich wohnte bei Freunden zur Untermiete in einem Haus in der Chauncy Street, achtzig Dollar im Monat. Wir wollten alle Schriftsteller werden und hielten uns mit irgendwelchen Jobs über Wasser. Nia und Abby arbeiteten an ihren Romanen, ich schrieb Kurzgeschichten und Russell Gedichte. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass Russell am längsten von uns allen durchhalten würde. Mit eiserner Disziplin stand er jeden Morgen um halb fünf auf, schrieb bis um sieben und joggte dann fünf Meilen, bevor er zu seiner Arbeit in der Widener Library aufbrach. Aber er gab als Erster auf und schrieb sich für Jura ein. Heute ist er Steueranwalt in Tampa. Als Nächste sprang Abby ab. Ihre Tante überredete sie, die Immobilienmaklerprüfung zu machen, rein spaßeshalber. Später versuchte sie mir zu erzählen, durch die Häuser zu gehen und ein neues Leben für ihre Kunden zu erfinden sei etwas ungeheuer Kreatives. Vor einem Monat habe ich sie in Brookline gesehen, in der Einfahrt eines palastartigen Hauses mit weißen Säulen, wo sie sich überschwänglich nickend ins Fahrerfenster eines schwarzen SUV beugte. Nia geriet an einen Milton-Experten mit ausgezeichneter Körperhaltung und einem Treuhandfonds, der ihr ihren Roman nach fünfzehn Seiten zurückgab und ihr sagte, mit weiblicher Innensicht könne man ihn jagen. Sie warf das Manuskript in den Müll, heiratete ihn, und als er einen Ruf an die Rice University bekam, ging sie mit ihm nach Houston.

Ich kapierte es nicht. Ich verstand keinen von ihnen. Einer nach dem anderen zogen sie aus und wurden durch MIT-Ingenieure ersetzt. Irgendwann kam ein Typ mit Pferdeschwanz und spanischem Akzent in den Buchladen und fragte nach Barthes’ Sur Racine. Wir unterhielten uns auf Französisch. Englisch hasste er, sagte er mir. Er sprach besser Französisch als ich – sein Vater stammte aus Algier. Er hatte ein Zimmer am Central Square, wo er mir katalanischen Fischeintopf kochte. Als er mich küsste, roch er für mich nach Europa. Sein Lehrauftrag endete, und er fuhr heim nach Barcelona. Ich begann meinen Master in Pennsylvania, und wir schrieben uns Liebesbriefe, bis ich mich mit einem Kommilitonen aus meiner Schreibwerkstatt einließ, der witzig war und düstere Zweiseiten-Geschichten über Textilstädte in Maine schrieb. Als es mit ihm aus war, verschlug es mich eine Zeit lang nach Albuquerque und dann nach Bend, Oregon, wo ich bei Caleb und seinem Freund Phil wohnte. Dort erreichte mich ein Brief von Paco, und wir nahmen unsere Korrespondenz wieder auf. Seinem fünften Brief an mich lag ein Ticket nach Barcelona bei.

Ich stöbere in dem Regal mit den alten Griechen. Das ist die nächste Sprache, die ich lernen will. Um die Ecke, bei den Italienern, sitzt die einzige andere Kundin im Schneidersitz auf dem Boden, auf dem Schoß einen kleinen Jungen, dem sie Cuore vorliest. Ihre Stimme ist gedämpft und schön. In Barcelona hatte ich eine Freundin, Giulia, die ein bisschen Italienisch mit mir geübt hat. Ich komme zu der langen Wand mit französischen Autoren, nach Verlagen unterteilt: Reihen von Gallimard-Ausgaben, Rot auf elfenbeinfarbenem Grund, dann die Éditions de Minuit, Blau auf Weiß, die Livres de Poche, wie Groschenromane, und dann, in einer Vitrine für sich, die prächtigen Ledereinbände der Pléiades mit ihrer Goldprägung und den schmalen goldenen Streifen: Balzac, Montaigne, Valéry, die Buchrücken funkelnd wie Juwelen.

All diese Titel habe ich seinerzeit eingeräumt, die Kisten aufgeschlitzt, sie in die Eisenregale im Lager geschichtet und packenweise nach vorn geholt, die halbe Zeit mit Maria streitend, über À la recherche, das mir über alles ging, während Maria fand, nur Middlemarch sei noch langweiliger. Middlemarch habe sie nur durch Dauerwichsen überlebt, in dem Sommer, als sie siebzehn war. Achtzehn Mal, sagte sie. Mir ist fast die Hand abgefallen.

Mein Blick fällt auf ein Exemplar von Sur Racine, das wir nicht dahatten, als Paco damals danach fragte. Ich musste es extra für ihn bestellen. Ich berühre das Fleckchen Leim oben am Buchrücken. Wegen Paco weine ich nie. Die zwei Jahre mit ihm wiegen leicht in meinem Leben. Wir wechselten von Französisch zu einer Mischsprache aus Spanisch und dem Katalanisch, das er mir beibrachte, und heute frage ich mich, ob er mir auch deshalb so wenig fehlt: weil alles, was wir zueinander sagten, in Sprachen gesagt wurde, die ich langsam, aber sicher vergesse. Vielleicht machten die Sprachen die Beziehung überhaupt erst aus, vielleicht begründeten sich ihr Reiz und ihre Intensität in dieser ständigen Herausforderung, Sprache aufzunehmen, nachzuahmen, umzuwandeln. Es ist eine Fähigkeit, die einer Amerikanerin nicht zugetraut wird, diese Kombination aus gutem Ohr, gutem Gedächtnis und Sinn für Grammatik, sodass ich genialer wirkte, als ich tatsächlich war. Jede Unterhaltung war eine Gelegenheit zu glänzen, sprachliche Pirouetten zu drehen, die mich stolz machten und ihn überraschten. Aber was wir sagten, weiß ich nicht mehr. Gespräche in fremden Sprachen prägen sich mir nicht auf gleiche Art ein wie Gespräche auf Englisch. Sie bleiben nicht haften. Sie sind wie der Stift mit der unsichtbaren Tinte, den meine Mutter mir zu Weihnachten schickte, als ich fünfzehn war und sie fort, eine Ironie, die ihr entging, aber nicht mir.

Ich gehe, bevor Gabriel mich erkennt oder einer von den anderen hinter der Auskunftstheke hervorkommt und helfen will.

Ich hatte nicht vorgehabt, nach Massachusetts zurückzukehren. Ich wusste nur nicht, wohin sonst. Ich meide die Erinnerung an meine Zeit in der Chauncy Street, als ich an meinem Gaubenfenster im zweiten Stock Geschichten schrieb, im Algiers türkischen Kaffee trank, im Plough & Stars tanzen ging. Das Leben war leicht und billig, und wenn es nicht billig war, nahm ich eben die Kreditkarte. Meine Darlehen wurden verkauft und nochmals verkauft, und ich zahlte den Mindestzins und machte mir um den Rest keine Gedanken. Meine Mutter lebte da schon wieder in Phoenix, und sie spendierte mir den Flug, wenn ich sie zweimal im Jahr besuchen fuhr. Die restliche Zeit telefonierten wir, manchmal stundenlang. Wir nahmen das Telefon mit aufs Klo, wir lackierten uns die Nägel, machten Essen, putzten uns die Zähne. Die Geräusche verrieten mir immer, wo in ihrem Häuschen sie gerade war – das Kratzen eines Kleiderbügels, das Klirren eines Glases, das sie in den Geschirrspüler stellte. Ich erzählte ihr von den Leuten im Buchladen, und sie erzählte mir von den Leuten in ihrem Büro im Parlamentsgebäude in Phoenix; sie arbeitete zu der Zeit für den Gouverneur. Zwischendurch ließ ich mir die Geschichten aus ihrer Jugend in Santiago de Cuba wiedererzählen, wohin ihre Eltern, beide gebürtige Amerikaner, ausgewandert waren; ihr Vater war Arzt, ihre Mutter Sängerin in einem Nachtklub. Ab und zu wollte sie wissen, ob ich meine Wäsche gewaschen hätte oder mein Bett regelmäßig abzog, und dann konterte ich, sie solle nicht so mütterlich tun, das passe nicht zu ihr, und wir lachten, weil es stimmte und ich ihr deshalb nicht mehr böse war. Im Rückblick fühlt sich das alles so verschwenderisch an, diese Fülle an Zeit und Liebe und Leben, die vor uns lag, mein Körper bienenfrei und meine Mutter am anderen Ende der Leitung.

Über den Motorhauben der parkenden Autos ballt sich die Hitze, sodass die Backsteinhäuser leicht wabern. Die Gehsteige sind jetzt überfüllt, überall Touristen, die sich im Kriechtempo vorwärtsschieben, mit ihren Crêpes und Eiskaffees und ihren Cola und Milchshakes schlürfenden Kindern. Ich weiche auf die Straße aus, quere hinüber zur Dunster Street und komme zurück zum Iris.

Die Treppe hinauf, an den Präsidenten vorbei und auf direktem Weg in die Damentoilette, obwohl ich meine Kellnerkluft schon anhabe. Außer mir ist keiner da. Mein Blick streift mein Gesicht im Spiegel. Er ist leicht gekippt angebracht, für die Rollstuhlfahrer, sodass ich mich in einem ungewohnten Winkel sehe. Ich sehe verhärmt aus, wie eine Kranke, die in nur wenigen Monaten um zehn Jahre gealtert ist. Ich schaue mir in die Augen, aber es sind nicht wirklich meine, nicht die, die ich einmal hatte. Sie gehören einer sehr müden, sehr traurigen Frau, und das zu sehen macht mich noch trauriger, und dann sehe ich diese Traurigkeit, die vom Mitleid kommt, in meinen Augen und sehe, wie sie sich mit Tränen füllen. Ich bin beides, die traurige Frau und die Frau, die die traurige Frau trösten will. Und dann packt mich Mitleid mit dieser Frau, die so mitfühlend ist, denn ganz klar hat sie das Gleiche durchgemacht wie ich. Und so geht es immer im Kreis. Als stünde ich in einer Umkleidekabine mit einem dreiteiligen Spiegel, dessen beide Flügel ich vorklappe, bis mich ein ganzer Korridor von sich ins Unendliche verschmälernden Doppelgängern ansieht. So ein Gefühl ist das – als bemitleidete ich eine unendliche Anzahl von Ichs.

Ich spritze mir Wasser ins Gesicht und tupfe mit Papiertüchern aus dem Spender daran herum, falls jemand hereinkommt, aber kaum bin ich fertig, verzieht es sich wieder. Ich knote meinen Dutt straffer und gehe hinaus.

In den Speisesaal komme ich mit leichter Verspätung. Die Twisted Sister ist schon wieder in Aktion.

Dana funkelt mich an. «Dachterrasse. Kerzen.»

Auf der Dachterrasse, vorbei an der Bar und durch die Glastür, ist die Luft feucht und duftet nach Lilien, Rosen und der pfefferigen Kapuzinerkresse, mit der die Köche die Teller verzieren. Aus allen Blumentöpfen läuft schlammiges Wasser, die Holzplanken rundherum sind patschnass. Es riecht wie im Garten meiner Mutter an einem verregneten Sommermorgen. Helene, unsere Chefpâtissière, muss gerade gegossen haben. Diese Oase hier oben ist ihr Werk.

In der Ecke sitzt Mary Hand, vor sich einen Krug Wasser, einen Mülleimer und ein Tablett mit Teelichten, und bohrt mit einem Messer das Wachs vom Vorabend heraus.

«Kleine Truppenverstärkung wäre sinnvoll», sagt Mary Hand. Sie hat ihre eigene Art, sich auszudrücken. Sie kellnert schon länger im Iris als irgendwer sonst.

Keiner kann so recht sagen, wie alt Mary Hand ist. Älter als ich, das auf jeden Fall, aber um drei Jahre oder um zwanzig? Sie hat glattes braunes Haar ohne jede Spur von Grau, das sie mit einem beigen Gummi hochrafft, ein langes Gesicht und einen langen, schmalen Hals. Alles an ihr ist lang und gestreckt, mehr Fohlen als Arbeitspferd. Sie ist die beste Kellnerin, mit der ich je zusammengearbeitet habe: die Ruhe selbst, aber dabei schnell und effizient. Sie weiß über deine Tische so gut Bescheid wie über ihre eigenen, sie rettet dich, wenn du vergisst, die Hauptgänge für deinen Sechser abzurufen, oder deinen Korkenzieher zu Hause gelassen hast. Mitten in der größten Hektik, wenn alle nur kopflos durcheinanderwuseln, wenn deine Teller so lange unter der Wärmelampe gestanden haben, dass du sie selbst mit einem Handtuch nicht mehr anfassen kannst, und die Souschefs über dich lästern und die Gäste auf ihre Vorspeisen warten, auf die Rechnung, neues Wasser, ein extra Kännchen Bratensaft, dann hörst du Mary Hands Stimme, langsam und gedehnt. «Gewusst wie», sagt sie und lädt sich jeden einzelnen deiner Teller auf ihre langen Unterarme, ohne eine Miene zu verziehen.

«Na wird’s bald, du kleiner Homunculus», ermuntert Mary Hand ein ausgebranntes Teelicht. Niemand nennt sie jemals nur Mary. Sie dreht das Messer, und das Wachs löst sich mit einem befriedigenden Plop und einer Fontäne wachsigen Wassers, die uns beide vollsprüht, und wir lachen.

Schön ist es hier oben, so ohne Gäste, die Tische gefleckt von der Sonne hinter dem Ahornlaub, das die Hitze abhält, hoch über dem stickigen, lauten Chaos der Massachusetts Avenue, umgeben von Helenes Pflanzen, Hunderten von Pflanzen überall, in Kästen entlang der niedrigen Steinmauern, in Trögen am Boden, um Spaliere gewickelt, alle blühend, die Blätter dunkelgrün und saftig. Die Pflanzen wirken rundum zufrieden, strotzend, und ein bisschen fühlt man sich dadurch selbst so, als könnte es irgendwann wieder aufwärtsgehen.

Meine Mutter hatte einen grünen Daumen, möchte ich Mary Hand sagen, aber ich habe meine Mutter im Restaurant bisher nicht erwähnt. Ich will nicht die Neue mit der gestorbenen Mutter sein. Schlimm genug, dass ich die Neue bin, die von ihrem Freund abserviert worden ist. Als Dana mich angelernt hat, war ich so dumm, ihr von Luke zu erzählen.

«Ist das hier oben jedes Jahr so? So fekund?»

«Ist es.» Das Wort «fekund» gefällt Mary Hand. Darauf habe ich spekuliert. «Sie hat ein Händchen.» Lustig, aus ihrem Mund. Sie spricht von Helene. «Ein Händchen für die Flora.»

«Seit wann bist du eigentlich hier?»

«So ungefähr seit der Amtszeit von Truman.»

Sie knausert mit Einzelheiten über ihr Leben. Niemand weiß, wo sie wohnt oder mit wem. Die Frage sei nur, mit wie vielen Katzen, meint Harry. Aber da bin ich nicht sicher. Angeblich hatte sie mal etwas mit David Byrne. In der Highschool in Baltimore oder am Designcollege in Providence, da gehen die Meinungen auseinander. Einig ist man sich darüber, dass es ihr das Herz gebrochen hat, dass sie nie ganz darüber hinweggekommen ist. Wenn die Musik vor oder nach der Schicht aufgedreht wird und im Radio die Talking Heads laufen, stürzt, wer immer am nächsten dran ist, zu der Anlage an der Bar und wechselt den Sender.

«Wie bist du an den Job gekommen?», fragt sie. «Solche wie dich stellt Marcus normalerweise nicht ein.»

«Wie meinst du das?»

«Du bist mehr wie wir, wie die alte Garde.» Die alte Garde, das sind die Leute, die noch der ehemalige Restaurantleiter angeheuert hat. «Zerebral ausgerichtet.»

«Findest du?»

«Du kennst das Wort, was muss ich mehr sagen?»

Tony kommt heraus und gibt uns unsere Anweisungen. Nur ein großer Tisch hier draußen, zehn Mann, ein Geburtstag. Mary Hand und ich schieben zwei Tische zusammen. Zwei Lagen Tischtücher, die oberen kreuzweise über den unteren. Bei den kleineren Tischen ist es das Gleiche, dann decken wir ein, jede von uns ein Tuch in der Hand, mit dem wir das Besteck und die Gläser nachpolieren. Wir stellen auf jeden Tisch eine Kerze und holen die Blumen, die ich fürs Mittagessen arrangiert habe, aus dem Kühlraum. Der Küchenchef ruft uns alle zusammen, zählt uns die Gerichte auf, die nicht auf der Karte stehen, und erklärt die Zubereitungsarten und Zutaten für jedes. Die Küchenchefs, unter denen ich bisher gearbeitet habe, waren exaltiert und unberechenbar, aber Thomas ist ruhig und nett. Er behält immer den Überblick. Er hat keine Starallüren und keine böse Zunge. Er hat nichts gegen Frauen, nicht einmal gegen Kellnerinnen. Wenn mir ein Fehler unterläuft, nickt er nur, selbst wenn es noch so turbulent zugeht, nimmt den Teller zurück und gibt mir, was ich brauche. Und er kocht fantastisch. Alle lauern wir auf unsere Chance, eine überzählige Portion Carpaccio, gegrillte Kammmuscheln oder Bolognese abzugreifen. Die oberen Regale im Servicebereich sind voll mit unserer Beute, die wir ganz nach hinten schieben, wo Marcus es nicht sehen kann, und im Lauf des Abends heimlich herunterschlingen. Ich bin auf das Restaurantessen angewiesen – mehr als Cornflakes oder Nudeln kann ich mir im Laden nicht leisten –, aber selbst wenn ich nicht pleite wäre, würde ich mir dieses Essen stibitzen.

Eine halbe Stunde später ist meine Station bis auf den letzten Platz besetzt. Mary Hand und ich sind aufeinander eingespielt. Die Glastüren zur Dachterrasse dürfen nicht offen bleiben, weil der Speisesaal klimatisiert ist, und wenn unsere Gerichte bereitstehen und aufgeladen sind, halten wir uns gegenseitig die Tür auf. Sie bringt die Drinks zu einem meiner Vierer, und ich serviere ihrem Zweier den Lachs, während sie für den lärmenden Zehnertisch den Champagner entkorkt.

Ich mag diesen Wechsel von heißer Küche zu kühlem Speisesaal zu schwüler Terrasse. Ich mag es, wenn Craig die Bar macht, denn egal, wie dicht es Bestellungen hagelt, er schafft es immer, an die Tische zu kommen und über die Weine zu reden. Und ich mag dieses hirnlose Eingespanntsein, das keinen Raum für andere Gedanken lässt außer den, dass das Ossobuco für den Mann mit der Fliege ist und der Lavendelflan für das Geburtstagskind in dem rosa Kleid und die Sidecars für das Studentenpärchen mit den gefälschten Ausweisen. Die ganze Prozedur tut mir gut, mir die Bestellungen merken – schreiben Sie das gar nicht auf?, fragen die älteren Männer –, sie im Servicebereich in den Computer tippen, die fertigen Teller entgegennehmen, die Bons aufspießen, von links servieren, von rechts abtragen. Dana und Tony haben zu viel mit ihren großen Tischen zu tun, um herumzustänkern, und nachdem ich für Dana die Salate abgeliefert habe, während sie eine Bestellung aufnimmt, garniert sie sogar meine Vongole.

Ich bediene Gäste aus Ecuador und spreche Spanisch mit ihnen. Ihnen fällt mein Akzent auf, und sie wollen etwas auf Katalanisch von mir hören. Diese Sprache in meinem Mund zu spüren, bringt mir Paco zurück, die guten Erinnerungen – daran, wie sich sein ganzes Gesicht beim Lachen in Fältchen zog und wie er mich auf seinem Rücken einschlafen ließ. Ich erzähle ihnen, dass einer unserer Tellerwäscher aus Guayaquil kommt, und sie wollen ihn kennenlernen. Ich hole Alejandro, und dann sitzt er bei ihnen am Tisch und raucht und diskutiert über Politik, breit grinsend, und ich bekomme eine Ahnung davon, wer er abseits von Dampf und Fettdunst und Bergen ungegessenen Essens ist. Aber in der Küche stapelt sich der Abwasch, und schließlich stürmt Marcus auf die Terrasse hinaus und kommandiert ihn zurück auf seinen Posten.

Kritisch wird es nur einmal, als Fabiana bei der zweiten Belegung einen Zweiertisch aus Danas Station in meine verschiebt.

«Sie hat doch grad schon den Fünfer gekriegt», giftet Dana, «was soll der Scheiß?»

Fabiana kommt nach hinten zum Servicebereich, dessen Chaos sie für gewöhnlich meidet, um ihre Reinlichkeit nicht zu gefährden. Sie trägt seidene Wickelkleider und ist die einzige Frau, die ihr Haar offen tragen darf. Sie ist sauber und frisch geduscht und riecht nie nach Salatdressing.

«Sie haben ausdrücklich nach ihr gefragt, Dana. Du bekommst die Siebenergruppe um halb neun.»

«Diese verstrahlten Wellesley-Dozenten? Na toll! Eiswasser und ein Beilagensalat für drei Leute. Da hab ich Glück, wenn ein Fünfer rausspringt!»

Ich beuge mich an dem hohen Regal vorbei und spähe durch die Tür zur Terrasse. Eine große Frau und ein Mann mit schütterem Haar. «Die kannst du behalten. Keine Ahnung, wer das sein soll.»

Marcus nähert sich von der Bar.

«Was stehst du hier noch rum?», blafft mich Fabiana an, sodass er es hören kann. «Raus mit dir, Casey.»

Ich glaube, zwischen ihnen läuft was.

Ich gehe auf die Terrasse.

«Casey!» Beide stehen auf und ziehen mich fest an sich. «Du erkennst uns nicht», sagt die Frau. Der Mann schaut wohlwollend zu, rotbackig und entspannt nach vermutlich mehr als einem Cocktail. Sie ist füllig, Busen wie ein Schiffsbug, um den Hals eine kurze Goldkette mit einem Türkis. So etwas hätte auch meine Mutter tragen können.

«Tut mir leid.»

Der Tisch hinter ihnen wartet auf die Rechnung.

«Wir haben bei Doug im Büro gearbeitet. Mit deiner Mom.»

Es war ihre erste Stelle, nachdem sie meinen Vater verlassen hatte, bei einem Kongressabgeordneten. Liz und Pat. So hießen sie. Noch nicht verheiratet damals. Jetzt die Doyles.

«Sie hat uns verkuppelt, weißt du. Sie hat Pat gesagt, ich würde sehnlich darauf warten, dass er mich zu einem Rendezvous einlädt. Und mir hat sie gesagt, Pat wollte mich die ganze Zeit schon fragen, obwohl er das gar nicht vorhatte. Sich so was zu trauen! Und schau, was draus geworden ist.» Sie nimmt meine Hand. «Es tut uns so furchtbar leid, Casey. Wir waren am Boden zerstört, als wir es gehört haben. Am Boden zerstört. Wir waren in Vero, sonst wären wir natürlich zur Beerdigung gekommen.»

Ich nicke. Wenn es nicht gar so unvorbereitet käme, könnte ich vielleicht besser damit umgehen, aber dieser Überfall überfordert mich. Ich nicke wieder.

«Wir hätten dir geschrieben, aber wir wussten ja nicht, in welcher Ecke der Welt du gerade steckst. Und dann haben wir Ezra getroffen, der von irgendjemandem wusste, dass du wieder hier bist und im Iris arbeitest!» Sie legt mir die warme Hand auf den Arm. «Jetzt bist du ganz aus dem Tritt.»

Ich schüttle den Kopf, aber mein Gesicht spielt nicht mit, und meine Augenbrauen verziehen sich unkontrolliert.

«Die Kette da habe ich von ihr.»

Natürlich.

«Äm …?» Der Mann hinter ihnen hebt die Kreditkarte.