Kalmann

strahlend kalte Tage

habe ich gesucht

es ist der Menschen Saga

Jónas Friðrik Guðnason,
ljóðskáld

1 Schnee

Ich wünschte, Großvater wäre bei mir gewesen. Er wusste immer, was zu tun war. Ich stolperte über die endlose Ebene Melrakkaslétta, hungrig, erschöpft, blutverschmiert, und fragte mich, was Großvater getan hätte. Vielleicht hätte er sich eine Pfeife gestopft und die Blutlache einfach zuschneien lassen, hätte seelenruhig zugeschaut, einfach um sicherzugehen, dass sie sonst niemand finden würde.

Immer wenn ein Problem anstand, stopf‌te er sich eine Pfeife, und sobald uns der süße Rauch benebelte, war alles gar nicht mehr so schlimm. Vielleicht hätte Großvater beschlossen, niemandem davon zu erzählen. Er wäre nach Hause gegangen und hätte sich keine Gedanken mehr darüber gemacht. Denn Schnee ist Schnee, und Blut ist Blut. Und wenn einer spurlos verschwindet, ist das vor allem sein Problem. Neben dem Eingang unseres Häuschens hätte Großvater sich die Pfeife an der Schuhsohle ausgeklopft, die Glut wäre im Schnee erloschen, und damit wäre die Sache erledigt gewesen.

Aber ich war ganz alleine da oben, Großvater war hunderteinunddreißig Kilometer entfernt, und durchs verschneite Hinterland der Melrakkaslétta wandern konnte er schon lange nicht mehr. Also gab es auch keinen Pfeifenrauch, und weil es schneite und einfach alles, mal abgesehen

Großvater war Jäger und Haifischfänger. Jetzt war er es nicht mehr. Er saß meistens auf einem gepolsterten Stuhl im Pflegeheim in Húsavík und schaute den ganzen Tag aus dem Fenster – und schaute doch nicht, denn wenn ich ihn fragte, ob er etwas Bestimmtes sehe, gab er meistens keine Antwort oder brummte und guckte mich komisch an, als störte ich ihn bei irgendwas. Sein Gesicht war nun die meiste Zeit verdrossen, die Mundwinkel zeigten nach unten, die Lippen zusammengepresst, so dass man gar nicht sah, dass ihm vier Zähne fehlten, oben, die ganz vorne. Er konnte niemanden mehr beißen. Manchmal fragte er mich, was ich hier zu suchen habe, ziemlich barsch fragte er das, worauf ich ihm erklärte, ich heiße Kalmann und sei sein Enkel und besuche ihn einfach nur, wie jede Woche. Also kein Grund zur Sorge. Doch Großvater warf mir misstrauische Blicke zu und schaute wieder aus dem Fenster, total mürrisch. Er glaubte mir nicht. Ich sagte dann nichts mehr, denn Großvater guckte wie jemand, dem man die Pfeife weggenommen hatte, und darum war es besser, ich sagte nichts.

Eine Pflegefrau hatte mir geraten, Geduld mit Großvater zu haben, so, als wäre er ein kleines beleidigtes Kind. Ich müsse ihm immer wieder alles erklären, das sei ganz normal, und so sei das Leben nun mal, denn manche, die das

Ich fragte mich, wie das mit mir sein wird, wenn ich mal so alt bin wie Großvater. Denn es war noch nie richtig vorwärtsgegangen mit mir. Man vermutete, dass die Räder in meinem Kopf rückwärtslaufen. Kam vor. Oder dass ich auf der Stufe eines Erstklässlers stehengeblieben sei. Ist doch mir egal. Oder dass in meinem Kopf bloß Fischsuppe sei. Oder dass mein Kopf hohl wie eine Boje sei. Oder dass meine Leitungen falsch verbunden seien. Oder dass ich den IQ eines Schafes habe. Dabei können Schafe gar keinen IQ-Test machen. »Run, Forrest, run!«, riefen sie früher im Sportunterricht und lachten sich krumm. Das ist aus einem Film, in dem der Held behindert ist, aber schnell laufen und gut Pingpong spielen kann.

Ich kann nicht schnell laufen und auch nicht Pingpong spielen und früher wusste ich nicht mal, was ein IQ ist. Großvater wusste es zwar, aber er sagte, das sei nichts als eine Zahl, um Menschen in Schwarz und Weiß einzuteilen, eine Messmethode wie Zeit oder Geld, eine Erfindung der Kapitalisten, dabei seien wir alle gleich, und dann verstand ich überhaupt nichts mehr, und Großvater erklärte mir, dass nur das Heute zähle, das Hier, das Jetzt, das Ich,

Das sah ich ein.

Aber manchmal kapierte ich einfach nicht, was gemeint war. Kam vor. Dann sagte ich lieber nichts. Das brachte es dann einfach nicht. Denn niemand konnte die Sachen so gut erklären wie Großvater.

Zum Glück bekam ich dann einen Computer mit Internetanschluss, und damit wusste ich schlagartig viel mehr als früher. Denn das Internet weiß alles. Es weiß, wann du Geburtstag hast und ob du den Geburtstag deiner Mutter vergessen hast. Es weiß sogar, wann du das letzte Mal auf dem Klo gewesen bist oder dir einen runtergeholt hast. Das sagte zumindest Nói, der mein bester Freund war, als sich die Sache mit dem König zutrug. Aber was genau in meinem Kopf los war, konnte mir niemand erklären. Ärztepfusch, sagte meine Mutter einmal, als sie noch in Raufarhöfn lebte und ihr das so rausrutschte, wahrscheinlich als ich Elínborgs Katze abknallte und zerlegte, weil ich von Großvater gelernt hatte, wie man das machte, und üben wollte. Meine Mutter wurde sehr wütend, denn Elínborg hatte sich bei ihr beschwert und gedroht, zur Polizei zu gehen, und wenn meine Mutter wütend war, sagte sie nichts

Aber wer nun glaubt, dass ich eine schwierige Kindheit hatte, weil in meinem Kopf Fischsuppe ist, liegt falsch. Großvater übernahm das Denken für mich. Er passte auf mich auf. Aber eben, das war einmal.

Jetzt guckt mich Großvater mit farblosen, wässrigen Augen an und erinnert sich an nichts. Und vielleicht werde ich auch verschwinden, wenn Großvater nicht mehr ist, werde mit ihm begraben, ganz so wie das beste Pferd eines Wikingerhäuptlings. Das haben sie früher nämlich gemacht, die Wikinger; das Pferd einfach mit dem Häuptling beerdigt. Die gehörten einfach zusammen. So würde der Wikingerhäuptling über Bifröst nach Walhall reiten können. Das machte dann Eindruck.

Aber der Gedanke machte mich nervös. Begrabensein, meine ich. Zugedeckt unterm Sargdeckel. Da bekommt man Platzangst, und dann ist es besser, man ist tot. Darum blieb ich meistens nicht lange im Pflegeheim. In Húsavík bekam ich wenigstens etwas Anständiges zu futtern. Im Tankstellenimbiss bei Salvör gab es nämlich die besten Hamburger für eintausendachthundertfünfundvierzig Kronen. Den Betrag hatte ich immer passend, immer, und das wusste auch Salvör, der das Münzgeld gar nicht mehr zählte. Aber manchmal schmeckte mir der Hamburger dann doch nicht, weil ich traurig war, weil Großvater nicht mehr wusste, wer ich war. Und wenn er es nicht mehr wusste, wie bitte sollte ich es dann wissen?

Das sei eine Droge, sagte Nói, mein bester Freund, als er noch mein bester Freund war. Ich müsse vorsichtig mit Lob umgehen und mich bloß nicht daran gewöhnen. Nói war ein Computergenie, aber sein Körper machte ihm Probleme. Er sagte, er sei mein Gegenteil, mein Gegenstück, mein Gegenspieler, und ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Er sagte, wenn wir beide eine Person wären, wären wir unschlagbar. Schade, dass er in Reykjavík wohnte.

Aber dann passierte die Sache mit Róbert McKenzie, der war bei uns der Quotenkönig, und das war dann der Anfang vom Ende, und niemand hat gerne, wenn etwas zu Ende geht. Darum will man lieber an früher denken, wo etwas seinen Anfang genommen hat und das Ende in weiter Ferne ist.

Die Tage mit Großvater auf dem Meer und auf der Melrakkaslétta waren die schönsten meines Lebens. Manchmal durf‌te ich auch mit Großvaters Flinte schießen, die jetzt

Aber meine Mutter hätte es so nicht sagen sollen. Denn wenn mich jemand anbrüllte, selbst wenn dieser Jemand meine eigene Mutter war, verlor ich die Beherrschung. Dann stellte mein Kopf ab. Und wenn ich die Beherrschung

 

Ich erlegte meinen ersten Polarfuchs mit elf. Füchse sind eine Plage, auch wenn sie schon hier waren, bevor die Wikinger kamen. Die darf man schießen, die Füchse. Es ging eigentlich ganz schnell, und ich war so überrascht, dass ich gar keine Zeit hatte, aufgeregt zu sein. Wir spazierten querfeldein, als plötzlich einer vor uns auf‌tauchte, seinen Kopf hinter einem Grashöcker hervorstreckte, uns also

Ich fühlte mich seltsam. Großvater sagte noch immer kein Wort, klopf‌te mir aber zufrieden auf die Schulter, und dann schauten wir dem Tier beim Sterben zu. Es hatte nämlich bald ausgezuckt und lag mit dem Fell im dickflüssigen Blut, das aus seiner Schnauze quoll. Anfangs hob und senkte sich sein Brustkorb schnell, aber sein Atmen wurde dann immer langsamer, ruckartiger, bis der Fuchs schließlich ganz starr dalag. Er tat mir eigentlich leid, aber als ich auf dem Gemeindebüro die fünf‌tausend Kronen entgegennahm, wusste ich, was Berufung war. Berufung ist, wenn man wie gerufen für etwas kommt.

Großvater hatte nicht mehr lange zu leben. Jedes Mal, wenn ich mich von ihm verabschiedete, sah ich ihn vielleicht zum letzten Mal. Das hatte mir eine Pflegefrau mitgeteilt. Und sie hatte auch gesagt, dass ich dann sehr traurig sein werde, was aber ganz normal sei, weinen auch, also kein Grund zur Sorge. Nói erklärte mir einmal, dass mein Großvater für mich die Vaterrolle übernommen habe, was meine Mutter bestimmt abgestritten hätte. Aber Nói hatte recht,

Quentin Boatwright. So hieß er, ihr Samenspender. Und wenn ich seinen Namen bekommen hätte, hätte ich Kalmann Quentinsson geheißen. Das ging aber nicht, weil es diesen Namen und den Buchstaben Q in Island nicht gab. So wie meinen Vater. Den gab es hier auch nicht. Wenn ich in Amerika gelebt hätte, hätte ich Kalmann Boatwright geheißen. Das mit den Namen ist da verkehrt.

Wenn ich einmal Kinder haben würde, würde ich für sie da sein. Ich wollte so sein, wie Großvater für mich war, und ich würde ihnen erzählen, was mir Großvater erzählt hatte. Ich würde meinen Kindern zeigen, wie man jagt, wie man Polarfüchsen auf‌lauert, Schneehühner im Schnee erkennt oder Grönlandhaie fängt. Wie man sich selbst versorgt. Ganz egal, ob ich Jungen oder Mädchen haben würde. Aber wenn man Kinder haben will, braucht man eine Frau. Das geht gar nicht anders. Das ist die Natur.

Ich war jetzt schon dreiunddreißig Jahre alt, es dauerte nur noch ein paar Wochen bis zu meinem vierunddreißigsten Geburtstag. Ich brauchte dringend eine Frau. Aber das konnte ich mir an den Cowboyhut streichen, denn hier in Raufarhöfn gab es keine Frauen, die so einen wie mich wollten. Die Frauenauswahl war hier etwa so üppig wie die Gemüsekiste im Dorf‌laden. Bis auf Karotten, Kartoffeln, zwei schrumpelige Paprika und braunen Salat gab’s da nichts. Und dass sich meine zukünftige Frau nach Raufarhöfn verirren würde, sechshundertneun Kilometer von Reykjavík entfernt, war eher unwahrscheinlich.

Man braucht Regeln im Leben, das ist wichtig, sonst hätten wir Anarchie, und Anarchie ist, wenn es keine Polizei und keine Gesetze mehr gibt und alle machen, was sie wollen. Ein Haus anzünden zum Beispiel. Einfach so, ohne Grund. Niemand arbeitet mehr, niemand repariert die defekten Maschinen, die Waschmaschinen zum Beispiel, die Schiffsmotore, die Satellitenschüsseln und die Mikrowellen. Und dann sitzt man mit leerem Teller vor dem schwarzen Fernsehbildschirm in einem abgebrannten Haus, und die Leute bringen sich wegen eines Chicken Wings oder Cocoa Puffs gegenseitig um. Aber ich hätte so was überlebt, denn ich konnte mich verteidigen. Ich konnte Grönlandhaie so verarbeiten, dass das Fleisch genießbar wurde. Und ich konnte ein Schneehuhn rupfen. Das Haus meines Großvaters war groß genug, und vielleicht hätte dann eine Frau bei mir leben wollen, denn hier in Raufarhöfn wäre die Anarchie nicht so schlimm gewesen, weil wir einfach zu weit weg gewesen wären. Meine Frau hätte jünger sein

2 Blut

Großvater machte den besten Gammelhai auf der ganzen Insel. Ich machte den zweitbesten. Das haben mir schon mehrere bestätigt, Schafbauer Magnús Magnússon von Hólmaendar zum Beispiel, der seinen Gammelhai direkt von mir bezog und gut Akkordeon spielen konnte. Er sagte es jedes Mal: »Kalmann minn«, sagte er, »dein Großvater hat den besten Gammelhai in ganz Island gemacht. Aber deiner ist fast genauso gut!« Und das war nur logisch, weil ich ja vom Besten gelernt hatte.

Ich wünschte, Großvater wäre bei mir gewesen, als die Sache mit Róbert McKenzie passierte. Großvater hätte Rat gewusst. Und ich war, ganz ehrlich gesagt, ein bisschen sauer auf ihn, dass er mich in diesem Schlamassel einfach alleinließ. Ich wünschte, ich wäre an jenem Tag gar nicht auf Fuchsjagd gegangen. Ich wünschte, Róbert wäre so spurlos verschwunden wie ein Schiff am Horizont. Auf dem Meer gibt es nämlich keine Spuren. Ein Meer sieht immer so aus, als wäre es noch nie von jemandem berührt worden, ausgenommen dem Wind. Ist es nicht seltsam, dass man nur mit Luft Spuren auf dem Wasser machen kann?

Ausgerechnet ich musste an der Stelle beim Arctic Henge Monument vorbeikommen. Dabei folgte ich bloß der Fährte eines Polarfuchses, dem ich den Namen Schwarzkopf

Also einer mit blauem Fell, ging mir durch den Kopf, denn zu diesem Zeitpunkt hätte er noch weiße Flecken im Winterfell gehabt, wenn er die Farbe gewechselt hätte. Hafdís kannte sich mit Tieren nicht so gut aus, obwohl sie die Schulrektorin war. Aber ich sagte nichts, denn eine Schulrektorin darf man nicht belehren. Das würde die auch gar nicht zulassen.

Schwarzkopf war also ein Polarfuchs mit blauem Fell. Das sagt man so, obwohl das Fell gar nicht blau ist. Es ist braun, grau oder dunkelgrau. Die blauen Füchse ändern ihre Fellfarbe zum Saisonwechsel nicht, weil sie sich

Das alles hätte ich Hafdís erklären können, machte ich aber nicht. Ich tippte nur mit dem Zeigefinger an die Krempe meines Cowboyhutes – so sagt man in Amerika »Okidoki«, denn von da war mein Cowboyhut – und nahm hinterm Gemeindehaus die Fährte auf, kletterte den Hang hoch und überblickte das ganze langgezogene Dorf, das neuere Holtquartier mit dem Schul- und Sportgebäude zu meiner Rechten, der Hafen und die Kirche zu meiner Linken. Der Hüttenteich war noch immer mit einer matschigen Eisschicht überzogen, aber aufs Eis hinausgewagt hätte ich mich nicht. Ich ging der Kante des Hanges entlang, bis ich auf der Höhe des Schulhauses war, kletterte wieder runter, ging am Schulhaus und am leeren Campingplatz vorbei, weiter zur Küste und von da der Strandlinie entlang bis in die Bucht von Vogar. Außer ein paar Eiderenten, Heringsmöwen und Dreizehenmöwen, die auf dem Wasser saßen und nichts machten, sah ich jedoch keine Tiere. Ich malte mir aus, wie ich Schwarzkopf das Fürchten lehren würde. Insgeheim hoffte ich aber, dass der Fuchs zutraulich war, ich mich mit ihm befreunden und ihn als Haustier würde halten können. Das gibt es nämlich. Zum Beispiel in Russland. Ich glaube, wenn ich einen gezähmten Fuchs als Haustier gehabt hätte, hätte ich bei den Frauen bessere Chancen gehabt.

Ich sang gerne. Aber das wusste eigentlich niemand. Schwarzkopf wusste es vielleicht, weil er mich gehört und sich darum versteckt haben muss, denn an jenem Tag bekam ich ihn nicht zu Gesicht, obwohl ich stundenlang da draußen herumstolperte, um die ganze Bucht herum, in die Melrakkaslétta hinein, zu den Glápavötn-Seen hoch und im Zickzack zum Arctic Henge rüber, dem halbfertigen arktischen Steinkreis, den Róbert McKenzie vor ein paar Jahren hatte errichten lassen. Ich ging gar nicht mehr davon aus, dass ich überhaupt einem Säuger begegnen würde, denn das Wetter war ungeeignet, die Sicht schlecht. Ich sah nicht einmal Schneehühner. Aber es war nicht mehr so kalt wie im Winter, nur etwa null Grad. Die Märzhelligkeit war angenehm. Und außerdem hatte ich es Hafdís versprochen, und ein Versprechen, das man einer Schulrektorin gibt, hält man.

Die Leute stellen sich die Jagd immer so spannend vor, glauben, dass man Spuren liest, die Nase in den Wind hält, die Sinne anstrengt, die Tiere schließlich aufschreckt und ihnen hinterherjagt. Quatsch. Man sitzt meistens auf dem kalten Boden und hofft, dass einem etwas vor den Lauf gerät. Dazu braucht man eine gute Portion Geduld. »Des

Doch an jenem Tag hatte ich keine Lust, irgendwo auf dem kalten Boden zu sitzen, denn ich vermutete, dass Schwarzkopf in seinem warmen Bau meinem Gesang zuhörte und sich die Ohren zuhielt. Ich frage mich, wieso ich ausgerechnet an jenem Tag zum Arctic Henge hochging. Wieso bog ich nicht einfach ab und ging heim? Es wäre besser gewesen. Denn da oben, ganz in der Nähe des Arctic Henge, stieß ich auf die Stelle mit dem Blut. Und es war viel Blut. Erstaunlich eigentlich, wie viel Blut in einem Menschen drin ist.

Das Blut glänzte rot und dunkel im weißen Schnee. Die Schneeflocken legten sich unaufhörlich darauf und schmolzen in der Blutlache. Mir war ganz heiß vom Gehen, ich schwitzte, aber weil ich jetzt plötzlich stillstand und einfach nur bewegungslos auf die Blutlache starrte, begann ich zu schlottern. Erschöpfung machte sich in mir breit. Meine Glieder waren plötzlich bleischwer, als hätte ich eine anstrengende Arbeit gemacht. Ich dachte an Großvater, während ich zuschaute, wie das Blut die Schneeflocken aufsog, bis die rote Stelle unterm Neuschnee verblasste. Eine ganze Weile muss ich einfach nur dagestanden haben, aber schließlich gab ich mir einen Ruck, steif vor Kälte, und erwachte wie aus einem Traum. Ich schaute mich um und wusste erst gar nicht, wo ich mich befand, bis ich die Steinblöcke des Arctic Henge erkannte und mich an Schwarzkopf erinnerte. Ob er das Blut gerochen hatte? Vielleicht konnte ich ihm hier auf‌lauern.

Eisbären sind in Island selten anzutreffen, aber trotzdem gefährlich. Sehr gefährlich. Die sind dann hungrig, wenn sie kommen. Doch ich war zu erschöpft, um mich zu sorgen. Ich hatte genug. Ich wollte heim. Ich wollte mich auf die Couch legen, vielleicht mit Nói quatschen. Die Blutlache war nun fast nicht mehr zu erkennen. Wenn es so weiterschneite, war sie bald weg. Gut so.

Ich stapf‌te Richtung Dorf, schaute bei Hafdís in der Schule vorbei und teilte ihr mit, dass ich Schwarzkopf nicht hatte aufspüren können.

»Schwarzkopf?«, fragte sie und klappte ihren Laptop zu. Ich wurde rot. Eigentlich hatte ich nicht gewollt, dass sie den Namen erfuhr. Das war eine Sache zwischen mir und

Ich entzog ihr meine Hände und bemerkte nun selber, dass sie zwar blutig, aber trocken waren.

»Nicht meins«, sagte ich. Ich erinnerte mich, dass ich in das Blut hineingefasst hatte. War ich gestolpert?

»Nicht deins?«

»Ich habe eine Blutlache gefunden, oben, beim Arctic Henge«, gestand ich rundheraus und fragte mich, ob Großvater gewollt hätte, dass ich davon erzählte. Vielleicht hätte ich lügen sollen, aber lügen darf man nur, wenn man jemanden beschützen will, zum Beispiel einen Freund oder eine Freundin.

»Blut?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Nur Blut. Sonst nichts. Kein Grund zur Sorge.«

»Hast du dich ganz sicher nicht verletzt?«

»Ganz sicher«, sagte ich.

Wir schauten uns meine Hände genauer an, fanden zwar keine Wunden, aber sie waren etwas geschwollen von der Kälte.

»Blut.« Hafdís war ganz nachdenklich. »Von einem Tier?«

»Möglich«, sagte ich und schob noch ein »bestimmt« nach.

»Du bist mir ein Jäger!«

Ich grinste. Ich mochte es, wenn man mich »Jäger« nannte.

Hafdís ließ mich ziehen, und ich ging nach Hause, beschloss, nachdem ich meine Hände gründlich gewaschen hatte, den Rest des Tages mit Fernsehen zu verbringen. Es war erst drei Uhr, aber Dr. Phil schaute ich gern, denn dieser Seelenklempner konnte echt Gedanken lesen! Wenn die Leute einen Lügendetektortest machten, war Dr. Phil nie überrascht von dem Resultat, denn er wusste genau, welche Spielchen da gespielt wurden. Da gab es Männer, die in ihre Schwestern verliebt waren oder nicht von zu Hause ausziehen wollten, sogar älter waren als ich, aber noch immer bei ihren Müttern wohnten, die sich dann bei Dr. Phil beschwerten. Und es gab Frauen, die fremdgingen und mit den anderen Männern auch noch Kinder zeugten und es nicht zugaben, obwohl ein DNA-Test das Gegenteil bewies. Einmal war da eine weiße Frau und ein weißer Mann, und die Frau hatte ein schwarzes Baby, bestritt aber, mit einem schwarzen Mann gevögelt zu haben. Und ihr Mann glaubte ihr sogar, sagte, er vertraue ihr und er liebe sie, gehe mit ihr bis ans Ende der Welt. Aber Dr. Phil durchschaute die Frau und schimpf‌te mit ihr, bis sie alle weinten und das schwarze Kind dann weder einen schwarzen noch einen weißen Vater hatte. Und dann klatschte und jubelte das Publikum, und Dr. Phils Frau begleitete ihren Mann zum Studio raus und lobte ihn, auch wenn man nicht genau hörte, was sie sagte. Aber sie war immer ganz begeistert

Ich machte mir eine Tiefkühlpizza in der Mikrowelle und schaute den ganzen Abend fern, bis ich auf der Couch einschlief. Ich war so müde, dass ich sogar vergaß, Nói auf Messenger anzurufen.

Am nächsten Morgen schaute ich aus dem Fenster, alles weiß, das Meer tiefblau, fast schwarz, alles ganz normal, also kein Grund zur Sorge. Es musste schon in der Nacht aufgehört haben zu schneien, denn es sah nicht danach aus, als käme noch mehr vom Himmel runter.

Ich zog mich warm an und ging an den Hafen. Hier unten standen eine ganze Menge alter Lager- und Fischverarbeitungshallen, Gebäude, die in den Fünfzigern und Sechzigern errichtet worden waren und nun einknickten: die Britenbaracken und Arbeiterunterkünfte, die mächtigen Lebertran- und Öltanks. Alles leer. Ich konnte das Miami-Gebäude gratis benutzen, den hinteren Teil zumindest, obwohl der Rest des Gebäudes von niemandem sonst benutzt wurde. Das Gebäude hieß so, weil sein erster Besitzer Baldur ein paar Palmen auf die Fassade hatte malen lassen, die man jetzt aber fast nicht mehr sah, und die Palmen erinnerten die Leute an Miami, weil es da richtige Palmen gab.

Im Innern des Gebäudes war es dunkel und feucht. Ein großes Haus, das über die Abwesenheit der Menschen traurig war. Durchs Dach tropf‌te an vielen Stellen das Schmelz- und Regenwasser, darum benutzte ich nur die Stelle, die trocken blieb, ganz hinten.

Früher war hier in Raufarhöfn ein Heringsboom. Die Leute kamen sogar aus Reykjavík, denn es gab viel zu tun

Aber das war einmal. Heute versammeln sich manchmal alle Bewohner von Raufarhöfn im Gemeindesaal, beispielsweise zum Opferfest Þorrablót, und dann ist der Saal noch immer nur halbvoll.

Die Fischer fischten alle Heringe, die in Islands Küstenmeer zu finden waren, und als alle Heringe in Küstennähe weg waren, versuchte man, die Fischschwärme mit dem Flugzeug aufzuspüren, ganz weit draußen. Die Boote waren dann einen Tag lang unterwegs, um zu den Heringsschwärmen zu gelangen, und als die auch weg waren, waren die Fische eben weg, und die Leute zogen wieder nach Reykjavík und machten etwas anderes. Und es wurde ruhig in Raufarhöfn. Es gab dann zwar genug Platz zum Tanzen, aber die Zurückgebliebenen wollten nur noch saufen. Da

Ich machte mich an Petra zu schaffen. Sie brauchte einen Ölwechsel. Sæmundur kam rüber, schaute mir eine Weile zu, kletterte zu mir ins Boot und half, auch wenn ich das alleine schaffte. Einmal kam er mir so nahe, dass ich versehentlich mit meinem Gesicht in seine Haare geriet. Das kitzelte. Sæmundur hatte so ziemlich überall Haare, keinen richtigen Bart zwar, aber war immer unrasiert, hatte wuschelige Kopfhaare, sperrige Nasenhaare, buschige Augenbrauen, behaarte Unterarme und Handrücken, und er hatte nur wenige weiße Haare, obwohl er schon sehr alt war.

»Jetzt starr mich nicht so an!« Er lachte plötzlich. »Du machst mich ganz verlegen!«

Ich lachte auch. Doch als ich den Trichter auf den Öltank setzte und Sæmundur behutsam Öl in den Tank glucksen ließ, waren wir ganz konzentriert. Und vielleicht wurde Sæmundur deswegen nachdenklich, vielleicht wollte er einfach etwas loswerden, denn er sagte:

»Róbert, Róbert. Einfach so, puff, verschwunden. Unser hauseigener Hotelbesitzer. Unser Quotenkönig, Herrschaften!« Sæmundur stellte den Ölkanister ab und schüttelte den Kopf. »Das wird einen Tumult geben, wirst sehen. Jetzt ist der Friede endgültig draußen!«

Da hörte ich zum ersten Mal davon, dass Róbert McKenzie vermisst wurde. Und ich hätte über diese Neuigkeit auch gar nicht überrascht sein müssen, schließlich hatte ich tags zuvor eine enorme Blutlache gefunden, ganz in der Nähe des Arctic Henge, und den hatte er immerhin bauen lassen. Aber irgendwie war ich so überrumpelt,