Heino Falcke

mit Jörg Römer

Licht im Dunkeln

Schwarze Löcher, das Universum und wir

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © Event Horizon Telescope Collaboration; shutterstock, Dima Zel

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98355-5

E-Book: ISBN 978-3-608-12024-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Prolog

Und wir sehen sie doch

Plötzlich verdunkelt sich der große Pressesaal der Europäischen Kommission in Brüssel(1). Der langerwartete Augenblick ist da, für den wir alle viele Jahre und bis zur Erschöpfung gearbeitet haben. Es ist Dienstag, der 10. April 2019, 15:06 Uhr und 20 Sekunden. Noch 40 Sekunden, dann wird die Weltöffentlichkeit zum ersten Mal die Aufnahme eines riesigen Schwarzen Lochs bewundern. 55 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt befindet es sich im Zentrum der Galaxie Messier(1) 87 – oder kurz M87. Lange schien das tiefe Dunkel Schwarzer Löcher unseren Augen für immer verborgen zu bleiben, aber heute würde es zum ersten Mal ins helle Licht der Öffentlichkeit treten.

Die Pressekonferenz hat begonnen, aber wir begreifen noch gar nicht, was sie alles auslösen werden würde. Eine tausendjährige Entdeckungsreise der Menschheit hin zu den Grenzen unseres Wissens, revolutionäre Theorien über Raum und Zeit, modernste Technologien, die Arbeit einer jungen Generation von Radioastronomen und mein gesamtes Forscherleben werden sich heute im Bild dieses Schwarzen Lochs bündeln. Astronomen, Naturwissenschaftler, Journalisten, und Politiker verfolgen gebannt, was wir hier und in anderen Hauptstädten der Welt zeigen werden. Erst später erfahre ich, dass Millionen Menschen weltweit an Bildschirmen ausharren und dass in nur wenigen Stunden etwa vier Milliarden Menschen unser BILD sehen werden.

In der ersten Reihe des Saales sitzen verdiente Kollegen und junge Wissenschaftler, darunter viele meiner Studenten. Jahrelang hatten wir intensiv zusammengearbeitet; jeder hatte sich selbst und mich weit übertroffen; etliche waren nur für dieses Ziel, manchmal unter Lebensgefahr, in die entlegensten Weltgegenden gereist. Und heute steht das Ergebnis, der Erfolg ihrer Arbeit, im Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit, während sie im Dunkeln sitzen. Ihnen allen möchte ich jetzt danken, denn jede und jeder von ihnen hat diesen Durchbruch ermöglicht.

Doch die Uhr tickt. Ich befinde mich in einem Tunnel, jeder Eindruck fliegt an mir vorbei wie der Fahrtwind an einem Rennfahrer. Das Handy in der dritten Reihe, dessen Linse auf mich gerichtet ist, bemerke ich nicht. Der Clip taucht später auf einer der populärsten Webseiten für Kids als »Trending Topic« auf – zwischen vulgären Witzen über den Hintern des amerikanischen Präsidenten und dem Joint eines bekannten Rappers. Die wachsame Spannung der Journalisten springt auf mich über: jeder Blick eine Erwartung. Mein Puls rast. Alle schauen mich an.

Vor mir hat Carlos Moedas(1) gesprochen, der EU-Kommissar für Wissenschaft. »Nicht zu lange reden«, hatten wir ihm eingebleut. Moedas facht mit seinen Worten die Neugier des Publikums an, und jetzt ist er zu früh fertig. Aus dem Stand muss ich die Zeitlücke füllen, versuche, meine Nervosität zu überspielen.

Synchron soll weltweit die allererste Aufnahme gezeigt werden. Punkt 15:07 Uhr mitteleuropäischer Zeit wird das Bild auf der riesigen Leinwand hier im Saal aufscheinen. Gleichzeitig stehen meine Kollegen in Washington(1), Tokio(1), Santiago de Chile(1), Shanghai(1) und Taipei(1) bereit, dieses Bild eines Schwarzen Lochs vorzuführen, zu kommentieren und Fragen der Journalisten zu beantworten. Computerserver auf allen Kontinenten sind programmiert, um Fachpublikationen und Pressemitteilungen in alle Welt zu schicken. Unaufhaltsam läuft die Zeit. Alles hatten wir zuvor präzise koordiniert und geplant – die geringste Abweichung würde alles durcheinanderbringen, so wie es auch bei unseren Messkampagnen der Fall gewesen war. Jetzt komme ich direkt am Anfang ins Stolpern.

Ich beginne mit meinen Eröffnungsworten, während ein Film hinter mir immer schneller und tiefer in das Herz einer riesigen Galaxie hineinzoomt. Vor Aufregung beginne ich mit einem dummen Versprecher. Ich verwechsle Lichtjahre mit Kilometern – keine Kleinigkeit für einen Astronomen, aber auch keine Zeit, im Boden zu versinken, es muss weitergehen.

Die Anzeigetafel springt um – es ist exakt 15:07 Uhr. Aus der Tiefe und der unendlichen Dunkelheit des Weltalls, aus dem Zentrum der Galaxie Messier(2) 87, taucht ein rot glühender Ring auf. Schemenhaft zeichnen sich seine Konturen ab, verharren leicht verschwommen auf der Leinwand, der Ring leuchtet auf, zieht alle Zuschauer in seinen Bann und lässt erahnen: Dieses Bild, das aufzunehmen für unmöglich gehalten wurde, hatte mittels Radiowellen aus 500 Trillionen Kilometer Entfernung seinen Weg endlich zu uns auf die Erde gefunden.

Supermassereiche Schwarze Löcher sind Weltraumfriedhöfe. Sie entstehen aus verglühenden, ausgebrannten und erlöschenden Sternen. Das All füttert sie aber auch mit gigantischen Gasnebeln, Planeten und Sternen. Sie krümmen durch ihre schiere Masse den leeren Raum in extremer Weise und scheinen selbst den Lauf der Zeit anhalten zu können. Was ihnen zu nahe kommt, geben Schwarze Löcher nie wieder frei – nicht einmal Lichtstrahlen können ihnen entkommen.

Aber wie können wir überhaupt Schwarze Löcher sehen, wenn kein Lichtstrahl von dort zu uns dringen kann? Woher wissen wir, dass dieses Schwarze Loch 6,5 Milliarden Sonnenmassen verdichtet hat und dadurch supermassereich geworden ist? Schließlich hüllt doch der glühende Ring die tiefdunkle Schwärze ihres Inneren ein, dem kein Lichtstrahl und kein Wort entkommen können.

»Dies ist das erste Bild eines Schwarzen Lochs«, sage ich[1], als es endlich in seiner ganzen Fülle auf der Leinwand erscheint. Im Saal brandet spontaner Applaus auf. Von mir fällt die ganze Anstrengung der letzten Jahre ab. Ich fühle mich frei – endlich ist das Geheimnis gelüftet! Eine kosmische Fabelgestalt hat jetzt für jeden sichtbar Form und Farbe angenommen.[2]

Die Zeitungen verbreiten am nächsten Tag, wir hätten Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Uns sei es gelungen, der Menschheit einen gemeinsamen Moment der Freude und des Staunens zu schenken: Und es gibt sie doch, diese supermassereichen Schwarzen Löcher! Sie sind keine Hirngespinste abgedrehter Science-Fiction-Autoren.

Das Bild konnte nur gelingen, weil Menschen auf der ganzen Welt über alle Schwierigkeiten und Unterschiede hinweg über Jahre ein gemeinsames Ziel verfolgt hatten. Sie alle wollten Schwarzen Löchern auf die Spur kommen, einem der größten Geheimnisse der Physik. Dieses Bild hat uns an die Grenze unseres Wissens geführt. So verrückt es klingt: Am Rand von Schwarzen Löchern endet unsere Möglichkeit zu messen und zu forschen, und es ist eine große Frage, ob wir diese Grenze jemals überschreiten können.

Generationen von Wissenschaftlern hatten vor uns dieses neue Kapitel der Physik und der Astronomie aufgeschlagen. Vor 20 Jahren galt der Wunsch, das Bild eines Schwarzen Lochs einzufangen, noch als überspannter Traum. Auf der Jagd nach den Schwarzen Löchern war ich damals als junger Forscher in dieses Abenteuer hineingestolpert, das mich bis heute in seinen Bann zieht.

Wie aufregend es werden, wie es mein Leben bestimmen und verändern würde, ahnte ich nicht im Entferntesten. Eine Expedition an das Ende von Raum und Zeit, eine Reise in die Herzen von Millionen Menschen wurde es, auch wenn ich selbst dies als Letzter begriff. Mithilfe der Welt war uns dieses Bild gelungen, jetzt teilten wir es mit der Welt, und die Welt umarmte es – stärker, als ich es jemals für möglich gehalten hatte.

Begonnen hat für mich alles vor fast 50 Jahren. Seit ich als kleiner Junge zum ersten Mal ins nächtliche Firmament aufschaute, träumte ich vom Himmel, wie nur ein Kind vom Himmel träumen kann. Die Astronomie ist eine der faszinierendsten und ältesten Wissenschaften, die uns heute immer noch dramatisch neue Einsichten schenkt. Von der Frühzeit bis heute haben Forscher unser Weltbild immer wieder grundlegend verändert – angetrieben von Neugier und Notwendigkeit. Seither erkunden wir das Universum mit unserem Geist, mit Mathematik und Physik und immer neuen Teleskopen. Mit modernster Technik machen wir uns auf zu Expeditionen an alle Enden der Welt und sogar ins All, um das Unbekannte zu erforschen. Im unergründlichen Weltall, im unendlichen Universum und im göttlichen Kosmos sind Wissen, Mythen und Mythos, Glaube und Aberglaube schon immer so eng miteinander verwoben, dass heute kein Mensch in den Nachthimmel schaut, ohne sich zu fragen, was uns in dieser dunklen Weite noch alles erwartet.

Über dieses Buch

Dieses Buch ist eine Einladung auf eine persönliche Reise mit mir durch dieses – durch unser – Universum. Wir starten im ersten Teil auf der Erde, fliegen vorbei an Mond und Sonne, passieren die Planeten und lernen aus der Geschichte der Astronomie, die bis heute unser Weltbild prägt. Der zweite Teil des Buches ist eine Reise durch das Wissen der modernen Astronomie. Raum und Zeit werden relativ. Sterne werden geboren, vergehen und werden manchmal zu Schwarzen Löchern. Schließlich verlassen wir unsere Milchstraße, bis wir ein unvorstellbar großes Universum sehen, in dem es von Galaxien und monsterhaften Schwarzen Löchern nur so wimmelt. Galaxien erzählen vom Anbeginn von Raum und Zeit, dem Urknall. Schwarze Löcher stehen für das Ende der Zeit.

Das erste Bild eines Schwarzen Lochs war ein Kraftakt der Wissenschaft, für den Hunderte Forscher jahrelang zusammengearbeitet haben. Die Idee zum Bild, die von einem kleinen Senfkorn zu einem großen Experiment wuchs, die spannende Expedition zu den Radioteleskopen auf der ganzen Welt und die aufregende Zeit, bis endlich das Bild ins Licht der Öffentlichkeit trat – meine Erlebnisse dieses Abenteuers beschreibe ich im dritten Teil.

Im vierten Teil wollen wir uns dann an ein paar der letzten großen Fragen der Wissenschaft wagen: Sind Schwarze Löcher das Ende? Was passierte vor dem Beginn von Raum und Zeit und was an deren Ende? Und was macht dieses Wissen mit uns kleinen Menschen hier auf dieser unscheinbaren, aber wunderbaren Erde? Bedeutet der Triumph der Naturwissenschaft für uns, dass wir bald alles wissen, messen und vorhersagen können? Ist da noch Platz für Unsicherheiten, Hoffnungen, Zweifel und für einen Gott?

Teil I

Reise durch Raum und Zeit

Ein kurzer Überblick über unser Sonnensystem und die Frühgeschichte der Astronomie.

Kapitel 1

Der Mensch, die Erde und der Mond

Der Countdown

Machen wir uns gemeinsam auf zu einer spannenden Reise durch Raum und Zeit. Wir beginnen auf der Erde. Furchteinflößend ragt dort eine Rakete aus der grünen Landschaft empor. Vögel flattern ahnungslos um dieses Glanzstück der Technik. Befangene Stille vor dem Sturm; über dem Weltraumgelände liegt noch die Düsterheit der gerade einsetzenden Morgendämmerung. Die Natur ahnt noch nichts von dem höllischen Inferno, das sich in wenigen Sekunden hier zutragen wird.

Aufgeregt, aber noch müde versammeln sich das Personal und die Zuschauer auf einer Beobachtungsplattform. Von dort oben sehen jeder Gegenstand, die Menschen und das ganze Geschehen niedlich wie eine Puppenstube aus. Ein Zuschauer zückt sein Handy, streamt die Szene auf eine Internetseite, die mit chinesischen Zeichen und blinkenden Logos übersät ist. Genau diesen Stream verfolge ich hoffend und dankbar im Internet, während ich auf der anderen Seite der Erde mitten in der grünen Natur Irlands(1) in einem behaglichen Bed and Breakfast sitze. Gebannt beobachte ich die weiteren Ereignisse.

Aus dem Off kreischt plötzlich eine Stimme, sie ist unverständlich und abgehackt, klingt blechern und geht durch Mark und Bein. Ein Countdown wird monoton heruntergeleiert, und obwohl ich die Sprache nicht verstehe, zähle ich mit. Mit einem dröhnenden Schlag erhellt ein rötlich-gelbes Leuchten am Fuß der Rakete die Dunkelheit, die Zündung der Triebwerke löst selbst noch im beschaulichen Irland(2) einen ohrenbetäubenden Lärm aus – obwohl der Ton nur aus meinem Notebook kommt. Der Boden bebt, die Halterungen der Rakete sind gefallen, sie löst sich und hebt majestätisch ab, zieht wie ein umgekehrter Komet einen grellen Hitzeschweif hinter sich her, verschwindet aus dem Blick und schießt hinaus ins Weltall.

Ich fühle mich zum Start des Spaceshuttle »Discovery« zurückversetzt, den ich mit meiner müden, aber aufgeregten Familie am frühen Morgen des 11. Februar 1997 in Cape Canaveral beobachten konnte. Noch heute sehe ich den stolzen Blick meiner vierjährigen Tochter(1), wie sie am Tag zuvor die turmhohe Rakete von fern betrachtete. Im Leuchten ihrer Augen entdeckte ich mein eigenes Leuchten.

21 Jahre später, an diesem 20. Mai 2018, sehe ich nur eine verpixelte, stockende Liveübertragung aus China(1). Dennoch weiß ich genau, wie es sich dort jetzt anfühlt, und es ist ein ganz besonderer Start. Denn an Bord ist ein Stück von mir: ein Experiment von meinem Team in Nimwegen.(1) Wieder bin ich wie ein Kind. Die Rakete hat ein besonderes Ziel – die Rückseite des Mondes.

In Gedanken fliege ich mit – zum Mond und noch viel weiter –, so wie ich es schon viele Male zuvor getan habe. Ich fliege, wohin meine Sehnsucht mich schon immer gezogen hat: ins Weltall.

Im All

Himmlische Ruhe. Wer im Weltall angekommen ist, dem fällt als Erstes die unendliche Stille auf. Die Triebwerke sind ausgeschaltet, draußen erstirbt jedes Geräusch. 550 Kilometer über dem Erdboden schwebt das Hubble(1) Space Telescope – fast 70-mal höher als der Mount Everest –, gleitet durch eine Atmosphäre, die etwa fünf Millionen Mal dünner als auf der Erdoberfläche ist.[1] Schallwellen, eigentlich Schwingungen der Luft, sind mit menschlichen Ohren nicht mehr zu hören: Kein Rascheln, kein Wort, nicht einmal die stärkste Explosion auf Erden könnte hier vernommen werden.

Als Astronom benutze ich Weltraumteleskope, die um die Erde kreisen, lausche den Geschichten der Astronauten, die selbst dort waren, und sehe ihre Bilder, die sie zurückgebracht haben. In Gedanken schwebe ich scheinbar leise und schwerelos mit im All, dabei rase ich mit tollkühnen 27 000 Kilometern pro Stunde um die Erde. Die starken Fliehkräfte könnten mich aus der Umlaufbahn schleudern, aber die machtvolle Erdanziehung gleicht diese Kräfte genau aus und hält mich auf Kurs. Das ist das Geheimnis jeder orbitalen Bewegung um einen Himmelskörper. Schwerelosigkeit bedeutet nicht, von der Schwerkraft los zu sein. Im Orbit hat uns die Schwerkraft noch im Griff, aber wir fühlen uns schwerelos, weil Flieh- und Anziehungskraft genau austariert sind. Eigentlich befinden wir uns im freien Fall, aber wir verpassen die Erde immer wieder, weil wir auf großen, wie mit einem riesigen Zirkel gezogenen Bahnen um die Erde kreisen. Bremsten wir ab, würden die Bahnen immer kleiner und steiler, bis der freie Fall irgendwann einmal abrupt in einem Einschlagkrater auf der Erde endete. Aber das will ja keiner!

Die geringe verbliebene Luftreibung auf das Raumschiff ist so minimal, dass wir fast ungebremst noch jahrelang um die Erde kreisen könnten[2], ohne auch nur ein Mal unsere Raketen zu zünden.

Solange wir im Weltraum kreisen, können wir von dort oben den einzigartigen Blick auf die Erde genießen. Gottgleich sehen wir diese blaue Perle auf dem schwarzen Samt des Universums. Kontinente, Wolken und Meere entfesseln ein reiches, wildes Farbenspiel. Nachts erhellen Blitze, strahlende Städte wie auch glimmende Polarlichter die Weltbühne und bieten einen spektakulären Anblick. Grenzen verschwinden, und mit einem allumfassenden Blick erkennen wir die Erde als die gemeinsame Heimat aller Menschen. Klar und scharf ist der Rand, der uns von der Kälte des Weltraums abgrenzt. Wie dünn diese Luftschicht ist, die uns vor dem lebensfeindlichen Weltall schützt und das Leben ermöglicht, begreifen wir erst jetzt, erst von hier oben. Wetter und Klima spielen sich nur in einem schmalen Band oberhalb der Erde ab. Wie fragil und zerbrechlich erscheint auf einmal dieser stolze Planet! Solche faszinierenden Ein- und Ausblicke verdanken wir moderner Technologie im All. Durch ihren rücksichtslosen Gebrauch auf der Erde zerstören wir aber auch unsere Lebensgrundlage und diesen einzigartigen Blauen Planeten.

Wenn ich diese wunderschönen Bilder von der Erde sehe, spüre ich jedes Mal auch Einsamkeit und Leere, Leid und Elend, die auf ihr herrschen. »Gott spannt den Norden aus über dem Leeren und hängt die Erde über das Nichts«, rief der leidgeprüfte Hiob[3] vor Jahrtausenden aus. Mitten im Nichts des Himmels, das wie ein schwarzes Zelttuch aufgespannt ist – unser Erdball! Dieser Blick von oben war dem biblischen Schreiber nicht vergönnt, und doch nahm er die Erde in seinen Visionen bereits als Ganzes wahr. Die alten Visionen der Menschheit werden heute mit neuen Bildern gefüllt, die uns die heutige Technik liefert. Permanent peilt ein Satellitenschwarm unseren Planeten an und nimmt Wolken, Kontinente und Meere atemberaubend detailliert auf.

Hiob, der die Erde im Nichts hängen sieht, klagt vor Gott über etwas zutiefst Menschliches – das sinnlose Leiden. Auch heute noch ist dieser Planet ein Nebeneinander von Leid und Schönheit. Ein einzelner Mensch ist vom All aus nicht zu sehen. Leid begreift man nur aus der Nähe – aus der Ferne sieht auf der Erde alles erhaben und einzigartig aus. Selbst Hurrikans, Überschwemmungen und brennende Wälder entfalten von oben eine morbide Faszination. Im All ist man weit weg vom Leid der Einzelnen, das sich tausendfach dort unten abspielt, und unbegreiflich sind unsere irdischen Probleme. Geht dieser ›Allmachtsblick‹ nicht oft am Menschen selbst vorbei?

Wie nachhaltig diese nüchterne und technische Forschung selbst abgehärtete Raumfahrer verändert, ist mehr als erstaunlich. Nach dem Kosmonauten Juri Gagarin(1) 1957 waren etwa 550 Menschen im Weltall und fast alle berichten, wie ihr Staunen über die erhabene Zerbrechlichkeit der Erde sie tief beeindruckt und sie selbst persönlich tiefgreifend verändert hat. Den Globus mit einem Blick erfassen zu können scheint einem Rauschzustand gleichzukommen. »Overview Effect«, so nannte der US-Publizist Frank White(1) dieses Phänomen, das er untersuchte und psychologisch eingehend beschrieb. Was löst der Anblick der Erdkugel bei uns aus? Wie verändern wir uns? Wie können wir diesen Effekt nutzen? Mediziner erforschen den »Overview Effect«, seit er zum ersten Mal beschrieben wurde. Die Erde ist einzigartig, es gibt im Weltraum, soweit wir wissen, nichts Vergleichbares. So empfinden es auch Raumfahrer. Engelsgleich über der Erde zu schweben und alles von oben zu sehen, lässt uns Menschen nicht kalt. Lassen wir uns also von den neuen Bildern aus dem All und vom All inspirieren, ohne dabei den Menschen zu übersehen.

Zeit ist relativ

Sobald wir den Orbit erreicht haben, ändert sich aber auch unsere Perspektive auf Raum und Zeit. Wir erlangen nicht nur einen anderen Blick auf unseren Heimatplaneten, die Erde, sondern auch darauf, wie wir Tag, Monat und Jahr wahrnehmen. »Tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist«[4], heißt es in einem berühmten alten Psalmvers. Zeit ist relativ. Menschen ahnen das schon seit Urzeiten, aber nirgends erleben wir das drastischer als im Weltall.

Als ich meine ersten Beobachtungsprogramme für das Hubble(2) Space Telescope schrieb, musste ich die Kommandosequenzen in 95-Minuten-Blöcke aufteilen, weil das Teleskop in dieser Zeit einmal die Erde umkreist. Alle 95 Minuten ging die Sonne auf und wieder unter. Ein solcher Tag im All dauert 95 Minuten. Auch die Astronauten auf der Internationalen Raumstation ISS erleben Sonnenaufgänge im Anderthalbstundentakt, und ich erlebte sie am Schreibtisch, als ich meine Beobachtungen vorbereitete und in Gedanken durchs Universum schwebte.

Die Relativität der Zeit bedeutet aber mehr, als nur ein anderes Maß für die Dauer eines Tages zu haben. Im Weltall gehen, auch wenn es kaum jemand für möglich hält, die Uhren tatsächlich anders als auf der Erde. In einer Umlaufbahn von 20 000 Kilometern über der Erde laufen sie 39 Mikrosekunden pro Tag schneller. In 70 Jahren gehen unsere Erduhren also eine Sekunde langsamer als unsere Weltalluhren. Das klingt wenig, aber wir können diesen minimalen Unterschied heute problemlos messen. Genau diese unscheinbare Differenz offenbart schon einen Kerngedanken der Allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein(1): Zeit ist wirklich relativ. Diese Theorie beschreibt nicht nur unser Sonnensystem, sondern auch Schwarze Löcher und das Raumzeitgewebe des gesamten Alls.

Es war ein außergewöhnlich langer Weg bis zu dieser Erkenntnis. Er beginnt im Großen mit so grundlegenden Entdeckungen wie der Struktur und den Gesetzmäßigkeiten unseres eigenen Sonnensystems und reicht bis zum Verständnis unseres ganzen Kosmos. Im Kleinen beginnt dieser Erkenntnisweg damit, das paradoxe Wechselverhalten von Licht als Welle wie auch als Teilchen zu verstehen, und ist selbstverständlich mit Einsteins berühmter Relativitätstheorie verbunden.

Der Schlüssel für all dies ist das genaue Verständnis der merkwürdigen Eigenschaften von Licht. Besonders erstaunlich ist: Licht ermöglicht nicht nur das Schauen, mit dem wir Erde, Mond und Sterne entdeckt haben, sondern Licht, Zeit, Raum und Gravitation sind auch aufs Engste miteinander verknüpft.

Blicken wir für einen Moment in die Geschichte der modernen Physik zurück. Für Isaac Newton(1), den Urvater der Gravitationstheorie, bestand Licht nur aus kleinen Korpuskeln, also kleinsten Körperchen. Im 19. Jahrhundert entwickelte dann der schottische Physiker James Clerk Maxwell(1), basierend auf den genialen Pionierarbeiten von Michael Faraday(1), die Theorie, dass Licht und alle Formen von Strahlung elektromagnetische Wellen sind. Die Radiostrahlung von WLAN, Handys oder Autoradios, die Wärmestrahlung der Nachtsichtgeräte, die Röntgenstrahlung, mit der wir Knochen sichtbar machen, oder eben das sichtbare Licht, das unsere Augen wahrnimmt – sie alle sind demnach Schwingungen elektrischer und magnetischer Felder. Nur durch die Frequenz der Schwingungen und die Art der Erzeugung und Messung unterscheiden sie sich voneinander. Aber im Grunde repräsentieren diese Schwingungen alle dasselbe Phänomen – Licht: Radiolicht, Infrarotlicht, Röntgenlicht und sichtbares Licht.

Im Bereich der Handyfrequenzen schwingen die Wellen eine Milliarde Mal pro Sekunde, und ihre Wellenlänge erstreckt sich über 20 Zentimeter. Im sichtbaren Licht schwingen die Wellen einige Trilliarden Mal pro Sekunde und sind hundertmal kleiner als der Durchmesser eines Haares. Weil Lichtwellen einer bestimmten Farbe und Frequenz immer im gleichen Takt schwingen, ist Licht auch der perfekte Taktgeber für eine Uhr und das Maß aller Dinge, wenn es darum geht, die Zeit zu messen. Die genauesten optischen Uhren sind heute auf einen Bruchteil von 10–19 justiert.[5] Zwei solcher Uhren würden über die bisherige Lebensdauer des Universums von etwa 14 Milliarden Jahren hinweg gerade mal eine halbe Sekunde auseinandergehen! Eine Exaktheit, von der frühere Generationen nicht einmal zu träumen wagten.

Aber was schwingt da eigentlich? Lange Zeit dachte man, der ganze Weltraum sei mit dem sogenannten Äther gefüllt. Dabei handelt es sich jedoch um kein Lösungsmittel, sondern um ein hypothetisches Medium, in dem sich elektromagnetische Wellen, also Licht- und Radiowellen, wie Schallwellen in der Luft bewegen und ausbreiten.

Eine der Eigenschaften der Maxwell(2)-Gleichungen, die am meisten überrascht und bis heute Physiker verblüfft, war der Umstand, dass sich Licht jeder Couleur im leeren Raum immer mit genau der gleichen, konstanten Geschwindigkeit bewegen sollte, egal wie schnell man selbst ist. Röntgenlicht ist genauso schnell wie Radiolicht oder wie ein Laserstrahl, und die Lichtgeschwindigkeit hing in den Maxwell-Gleichungen nicht von der Geschwindigkeit des Empfängers oder Senders ab. Dass Licht nicht unendlich schnell ist, wusste man spätestens seit Messungen der Bewegungen der Jupitermonde durch Ole Rømer(1) und Christiaan Huygens(1) Ende des 17. Jahrhunderts.[6] Aber muss sich die Lichtgeschwindigkeit nicht ändern, wenn man mit hoher Geschwindigkeit durch den geheimnisvollen Äther gleitet oder relativ zu ihm stillsteht?

Bin ich mit einem Surfbrett bei stürmischem, auflandigem Wind auf dem Meer unterwegs und paddle mit dem Brett quer zur Brandung, dann kommen die Wellen mit hoher Geschwindigkeit auf mich zu – und zwar genauso schnell, wie sie auf die Küste prallen. Ändere ich aber meine Richtung und surfe rasant mit Wind und Wellen, bin ich genauso schnell wie die Welle unter meinem Surfbrett. Relativ zu meinem Surfbrett ist die Wellengeschwindigkeit gering, relativ zum Ufer ist die Surfgeschwindigkeit jedoch sehr hoch.

Genau das Gleiche gilt auch für Schallwellen. Fahre ich mit meinem Fahrrad mit Rückenwind, erreicht mich der Schall eines hupenden Autos hinter mir etwas schneller als ohne Wind, und ich werde etwas früher gewarnt. Radle ich gegen den Wind, erreicht mich das Hupen von hinten etwas später. Der Schall muss gegen den Wind laufen. Könnte ich mit Überschallgeschwindigkeit relativ zum Wind strampeln, würde ich das Hupen gar nicht erst hören. Werde ich immer schneller und überhole meinen eigenen Schall, dann durchbreche ich die Schallmauer und erzeuge einen Knall, weil viele meiner Töne gleichzeitig den Hörer erreichen. Im Gegensatz zu Jetpiloten ist der Überschallknall allerdings bis heute noch keinem Fahrradfahrer gelungen.

Radiowellen müssten sich, dachte man vor über 100 Jahren, genauso verhalten. Der Äther fülle – wie die Luft in unserer Atmosphäre – den leeren Weltraum, und die Erde entspräche meinem Fahrrad oder meinem Surfbrett, das auf seiner Bahn um die Sonne mit 100 000 Kilometer pro Stunde durch den Äther pflügt. Misst man die Lichtgeschwindigkeit in Richtung der Erdbewegung um die Sonne, müsste diese ›Lichtgeschwindigkeit‹ eigentlich eine ganz andere Größe annehmen, als wenn man sie im rechten Winkel oder genau entgegengesetzt zur ersten Richtung misst – je nachdem, ob die Erde mit Rücken- oder Gegenwind durch den Äther surft.

Genau diesen Effekt wollten die amerikanischen Physiker Albert A. Michelson[7](1) und Edward W. Morley(1) am Ende des 19. Jahrhunderts nachweisen. Sie maßen daher die relative Lichtgeschwindigkeit in zwei Röhren, die im rechten Winkel zueinander standen. Das Experiment scheiterte grandios. Kein nennenswerter Unterschied in der Lichtgeschwindigkeit ließ sich nachweisen. Damit gab es keinen Hinweis, dass der Äther existiert – er war nur eine Illusion.

Fehlschläge können bahnbrechend sein. Und dieser Fehlschlag wurde zu einem der richtungsweisenden Schlüsselexperimente für die Geschichte der Physik und der Astronomie. Denn das völlig unerwartete Scheitern der Äthertheorie ließ ganze Theoriegebäude wanken, ermöglichte es, alte Denkmuster über Bord zu werfen und nach ganz neuen Ideen Ausschau zu halten.[8] Am besten passten dazu die neuen Ideen des jungen Albert Einstein(2), der am radikalsten(3) bereit war, um- und neu zu denken und die Physik theoretisch auf ein neues Fundament zu stellen. Während andere Physiker noch mit dem Kopf gegen die Wand liefen, eilte Einstein(4) schon in ein neues Zeitalter, in dem es keinen absoluten Raum und keine absolute Zeit mehr gibt. Eine kühne Theorie entstand – die Relativitätstheorie –, und mit ihr verwarf Einstein(5) gleichsam ein jahrhundertealtes physikalisches Weltbild.

Ein kleiner Junge träumt vom Mond

Nach ausreichend vielen Erdumrundungen können wir nun endlich die nächste Stufe unserer Raumkapsel zünden und Kurs Richtung Mond nehmen. Die ›Reise zum Mond‹ ist ein alter Menschheitstraum. Am 21. Juli 1969 betrat Neil Armstrong(1) die Mondoberfläche mit dem vielleicht berühmtesten Schritt eines Menschen, und aus einem Traum wurde Wirklichkeit. Wie bedeutend dieser Augenblick war, konnte ich noch einige Jahre später spüren.

Es ist ein heißer Sommertag 1971 in der idyllischen Gemeinde Strombach(1) im Bergischen Land(1). Grüne sanfte Hügel und Wälder zieren den Horizont, fröhlich spielt eine Gruppe von Kindern auf der Straße in einer kleinen Siedlung von Einfamilienhäusern. Eimerchen und Schäufelchen, ein Dreirad mit einer Schiebestange und ein paar Bälle sind alles, was sie zum Glücklichsein brauchen. Die Erwachsenen sitzen auf Gartenstühlen im Vorgarten und schauen entspannt zu.

Nur ein kleiner, leicht pausbäckiger Junge spielt nicht mit. Allein in einem dunklen Zimmer starrt er gebannt auf die flimmernden, verrauschten Schwarz-Weiß-Bilder eines großen Röhrenfernsehers. »Falcon«, die Apollo-15-Mondlandefähre, war soeben auf dem Mond gelandet und funkte ihre Bilder zur Erde. Die große Aufregung um die Mondlandungen war in der Familie Falcke nach den ersten spektakulären und höchst erfolgreichen Weltraumfahrten schnell verpufft.

Allein, der kleine Junge kann sich nicht vom Bildschirm losreißen. Im Alter von fast fünf Jahren hat er noch keine Vorstellung von der Größe des Weltalls oder von der Entfernung, welche die NASA-Astronauten zum Mond zurücklegten. Welche Energie diese technische Meisterleistung erforderte und wie bedeutend diese wissenschaftliche Leistung war, kann er noch nicht einmal erahnen. Und doch spürt er tief in seinem Innersten, wie faszinierend und ungeheuerlich zugleich dieses verwegene Unternehmen sein musste. Jede Sekunde dieses Abenteuers saugt dieser kleine Junge in sich auf, jede Sekunde befeuert seine Phantasie. Was muss noch alles möglich sein, wenn jetzt schon ein Mensch auf dem Mond herumlaufen, springen und sogar mit einem Mondauto durch die Gegend fahren kann, wie es die Astronauten der Apollo 15 tatsächlich taten? Was könnte der Mensch in diesem unendlich großen Himmel noch alles entdecken?

Der kleine Junge war natürlich ich. Für ein paar Tage waren wir in der Wohnung meiner Großtante Gerda. Wie Superhelden aus einem Comic erschienen mir die Astronauten um Kommandant David Scott(1) damals. Er und die Crewmitglieder James Irwin(1) und Alfred Worden(1) setzten mit der »Falcon« ganz nah an den Apenninus-Bergen(1), einem der mächtigsten Mondgebirge, auf. Als David Scott seinen Fuß auf die Oberfläche setzte, sagte er etwas zutiefst Menschliches: »I sort of realize there’s a fundamental truth to our nature: Man must explore!« – »Dies ist eine grundsätzliche Wahrheit des menschlichen Wesens: Der Mensch muss forschen!« – »Ja«, denke ich, »das bin ich!«

Astronaut wollte ich werden, so wie viele Kinder. Später begriff ich wohl intuitiv, dass ich dafür nicht wirklich geeignet war. Ich bin recht vielseitig, sportlich, konnte zusammenarbeiten, war gut in theoretischen und experimentellen Arbeiten, mit Technik kannte ich mich aus und war stressresistent. Aber meine Hände zittern ganz leicht, und unter hohem Druck mache ich zu viele Fehler. Etliche Jahre später tauschte ich mich darüber bei einer Raumfahrtkonferenz mit den deutschen Astronauten Ulrich Walter(1) und Ernst Messerschmid(1) aus. Sie wussten, was sie konnten, ohne arrogant zu sein. »Wir Raumfahrer müssen uns einem endlosen Auswahlverfahren stellen – alle Parameter müssen stimmen«, sagte einer zu mir. Bei mir stimmten sie nicht alle. Trotzdem – mein Traum, dem Mond nahe zu kommen, erlosch nie.

Je nachdem, wo sich der Mond auf seiner elliptischen Umlaufbahn befindet, muss ein Raumschiff zwischen 356 000 und 407 000 Kilometer zurücklegen, um unseren Erdtrabanten zu erreichen. Nur wenige Automotoren schaffen eine solche Kilometerleistung, aber das Licht benötigt für diese Entfernung gerade einmal 1,3 Sekunden. Astronomisch gesehen ist es etwas ernüchternd, zu erkennen, dass selbst die besten Autos kaum weiter als eine Lichtsekunde fahren.

Die Lichtgeschwindigkeit ist das einzige tatsächlich konstante Maß im Universum. So ist es durchaus sinnvoll, die Größe des Weltraums in Lichteinheiten auszudrücken. Das Lichtjahr ist also in Wirklichkeit ein Längen- und kein Zeitmaß, wie man aufgrund der Bezeichnung ›Jahr‹ annehmen könnte. Welche riesigen Abstände im All herrschen, lässt sich erahnen, wenn wir im Kosmos manchmal von vielen Milliarden Lichtjahren sprechen. Für Astronomen ist der Mond weder unser kosmischer Vorgarten noch unser kosmischer Hinterhof. Er bildet allerhöchstens die Türschwelle, die wir auf unserer Reise ins Universum überschreiten.

Der Abstand einer guten Lichtsekunde bedeutet auch, dass alles, was wir vom Mond auf der Erde sehen, immer schon über eine Sekunde alt ist. Wenn wir ins Weltall schauen, blicken wir immer in seine Vergangenheit. Beim Mond ist es nur eine starke Sekunde, bei den Galaxien, die wir erforschen, schauen wir Millionen und Milliarden Jahre zurück.

Licht erreicht uns also immer mit einer ›Verspätung‹ – mit einer kleinen Verzögerung für Lichtquellen hier auf der Erde und einer enorm großen für Licht aus den Tiefen des Alls. Niemals können wir daher wissen, was genau in diesem Augenblick irgendwo anders passiert – nicht im Universum und nicht einmal hier auf der Erde.

Die Lichtverzögerung zum Mond kann man übrigens durchaus praktisch messen und wahrnehmen. Ein niederländischer Kollege von mir feierte seine Hochzeit in einem Radioteleskop und schickte sein Jawort per Radiowelle zum Mond. Dort reflektierte es der Mondboden, und nach 2,6 Sekunden kam es wieder im Kontrollraum an. Das ging so schnell, dass es der Braut nicht gelang, in der kurzen Zeit wegzulaufen – seine Ehe wurde erfolgreich geschlossen. Es war wohl die erste Moon-Bounce-Hochzeit der Welt.[9]

Aus etwas weniger feierlichen, rein wissenschaftlich-technischen Beweggründen schießt man auch heute regelmäßig Laserstrahlen auf den Mond. Diese werden an Spiegeln reflektiert, die von den Apollo-Missionen aufgestellt wurden – allen Verschwörungstheoretikern zum Trotz, die behaupten, die NASA sei nie auf dem Mond gelandet. Die Spiegel funktionieren nach wie vor. Aus der Verzögerung des Lichtechos lassen sich die Mondbewegung und der Mondabstand äußerst genau messen und so Vorhersagen der Allgemeinen Relativitätstheorie testen.

Außerdem sah man, dass sich der Mond jedes Jahr vier Zentimeter von uns entfernt und die Erde etwas langsamer rotiert. Die Gravitation bindet Erde und Mond aneinander, und die Gezeitenkräfte führen dazu, dass sie sich gegenseitig in ihrer Eigenrotation etwas abbremsen. Monat und Tag dauern jährlich einen klitzekleinen Sekundenbruchteil länger. Im Prinzip altern wir dadurch etwas langsamer, sterben aber auch etwas früher – wenn man unser Alter in Monaten und Tagen ausdrückt. Vor 4,5 Milliarden Jahren dauerte ein Tag nur sechs Stunden[10] – eine Horrorvorstellung für Workaholics wie mich!

Die Rotation des Mondes ist so schon fast vollständig abgebremst. Während seiner Reise um die Erde dreht er sich nur genau einmal um sich selbst, weshalb er uns immer nur dieselbe Vorderseite zeigt. Daher lächelt uns immer dasselbe Gesicht des freundlichen Mannes im Mond an. Die Rückseite des Mondes können wir erst seit den ersten Mondmissionen sehen. Sie ist nicht die dunkle Seite des Mondes, wie sie poetisch oft genannt wird, denn die Sonne scheint dort einmal im Monat für zwei Wochen. Die Mondrückseite ist aber immer noch eine fast unerforschte und geheimnisvolle Welt geblieben.

Mein persönlicher Traum vom Mond hat mich nie ganz losgelassen, und in gewisser Weise hat er sich mit dem LOFAR-Radioteleskop[11], das ich in den Niederlanden(1) eine Zeit lang leitete, doch noch erfüllt. LOFAR steht für Low-Frequency Array und ist ein Netzwerk aus Radioantennen, die im Niederfrequenzbereich arbeiten. Sie werden zu einer einzigen Beobachtungsstation zusammengeschaltet – ein Hochleistungscomputer bündelt die Daten und erzeugt ein virtuelles Teleskop. Es soll uns den Blick zurück bis fast zum Urknall ermöglichen und uns helfen, alle aktiven Schwarzen Löcher im Weltall zu finden.

Das LOFAR-Netzwerk besteht heute aus 30 000 Antennen an verschiedenen Standorten in Europa(1)