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Heike Behrend

MENSCHWERDUNG EINES AFFEN

Eine Autobiografie
der ethnografischen Forschung

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Für meine Enkelinnen Hanna,
Lili und Emma

Inhalt

EINFÜHRUNG

MENSCHWERDUNG EINES AFFEN

In den Tugenbergen im Nordwesten Kenias

AUFSTAND DER GEISTER

Feldforschung in einem Kriegsgebiet im Norden Ugandas

IM HERZEN DER POSTKOLONIE

Die katholische Kirche im Westen Ugandas und die Figur des Kannibalen

GETEILTE FOTOGRAFIE

Fotografische Praktiken an der ostafrikanischen Küste

EPILOG

Rückkehr zum Affen

Anmerkungen

Literatur

Dank

EINFÜHRUNG

Ihr Affentum, meine Herren, soferne sie etwas derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine: An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht, den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles.

Franz Kafka1

1

Der Affe, der Mensch werden will, bin ich, eine (Berliner) Ethnologin. »Affe« nannten mich die Bewohner der Tugenberge im Nordwesten Kenias, als ich 1978 zu ihnen kam. »Affe«, »Närrin« oder »Clown«, »Hexe«, »Spionin«, »satanischer Geist« und »Kannibale« waren Namen, die mir auch auf späteren Forschungen in Ostafrika gegeben wurden. Über diese ethnografischen Forschungen möchte ich hier berichten. Mein Text ist also dem Genre des autobiografischen Feldforschungsberichts zuzuordnen und folgt ethnologischen »Vorfahren« wie Hortense Powdermaker, Laura Bohannan, Claude Lévi-Strauss, Paul Rabinow, Alma Gottlieb, Harry West oder Roy Willis, um nur einige zu nennen. Doch während bei ihnen der Ethnograf im Feld meist als heroischer Wissenschaftler und Meister der Forschung in Erscheinung tritt, behandle ich in diesem Buch vor allem die Geschichte der eher unheroischen Verstrickungen und kulturellen Missverständnisse, der Konflikte und Fehlleistungen, die sich während meiner Feldforschungen in Ostafrika ereigneten. Es geht um die Irritationen, Zufälle, unglücklichen Erfahrungen und blinden Flecken, soweit sie mir überhaupt bewusst geworden sind, die in den publizierten Monografien fast immer ausgeschlossen werden.2 Zur ethnografischen Praxis gehören jedoch wesentlich Situationen des Scheiterns. Sie tun weh und zwingen die Ethnografin, den Kurs ihrer Forschung zu ändern, einen anderen Ort, einen anderen »Informanten« oder auch ein anderes Feld des Wissens zu suchen. Doch in publizierten Texten ist das Scheitern meist ausgelöscht; die Ethnografin erzählt vor allem eine Erfolgsgeschichte. Die Produktivität, die auch im Scheitern liegen kann, wird selten anerkannt und der Reflexion unterzogen.

Tatsächlich aber bestimmten Irritationen, Missverständnisse und Zufälle wesentlich den Forschungsprozess, denn sie zwangen mich, in nicht vorhersehbare Richtungen zu denken und den Gegenstand der Forschung immer wieder neu zu fassen.

2

Feldforschungen nehmen ihren je eigenen Verlauf, da auch die Menschen vor Ort Interessen und Projekte haben, in die sie die Ethnografin einzubinden suchen. »Meine« Forschung gehörte mir nicht. Sie wurde weitgehend, wie ich zeigen werde, von den Ethnografierten bestimmt, verlief weder nach Plan noch ohne Konflikte. Denn mein »Wille zum Wissen« (Foucault) kollidierte nicht selten mit lokalen Interessen und Vorstellungen von Höflichkeit, Moral, Macht, Geschlecht und Geheimnis. Gerade die Akzeptanz, das Sich-Einlassen auf Kollisionen und deren Reflexion, erwies sich als äußerst produktiv und eröffnete Felder des Wissens, die ich mir zu Hause nicht hätte ausdenken können. Das heißt aber auch, dass ich ein Anderes postuliere, das in der Beziehung zum Eigenen nicht aufgeht. Es gibt ein Außen, das über die narzisstische Spiegelung des Eigenen im Fremden hinausweist und den Kreis der Selbstreflexion durchbricht.

Die Irrungen und Wirrungen, die »im Feld« akkumulierten, nahmen schemenhafte Gestalt an und verlangten, so scheint es mir, wie Geister nach Anerkennung. Sie führten zur Herausbildung von einem »Gegenstand«, der gemeinhin Forschungsthema genannt wird. Der war nicht einfach gegeben, sondern musste erst im Austausch – manchmal auch im Streit – mit den Männern und Frauen vor Ort gefunden werden. Dabei waren, wie ich feststellen musste, meine Gesprächspartner höchst interaktiv und überhaupt nicht indifferent; sie veränderten sich bereits, während wir noch miteinander sprachen. Und sie veränderten mich; auch ich bin heute das, was sie während der Forschungszeit in Afrika aus mir gemacht haben.

3

Ein autobiografischer Bericht beruht auf einem einzigen Namen. Da ich die Autorin, Erzählerin und Protagonistin des Textes bin, halte ich den »autobiografischen Pakt«3 ein und bin verantwortlich für den Text. Gleichzeitig aber sprenge ich den Rahmen, denn ich füge dem einen Namen, der den Pakt garantiert, andere, fremde Namen hinzu. Diese Namen, die mir in Afrika von den Subjekten meiner Forschung gegeben wurden, stelle ich ins Zentrum meiner Autobiografie der ethnografischen Forschung. Es sind Namen, die nicht schmeicheln und in denen ich mich nicht unbedingt wiedererkenne. Ich versuche, meine Subjektivität bis ins Äußerste zu steigern und zu erweitern, indem ich mich zum Objekt der Ethnografierten machen lasse und zeige, wie sie mich sahen und benannten. Vor diesem Hintergrund fällt es mir schwer, das »Auto-« in Autobiografie stark zu machen. Ist es nicht so, dass die eigentliche Signatur des Textes aufgebrochen, fragmentiert, erweitert und verfremdet wird, wenn fremde Namen ins Zentrum rücken? Ist ein Text noch eine Autobiografie, wenn er sich bemüht, Elemente einer ethnografischen Fremdbeschreibung zu liefern?

Tatsächlich ist mein Text der Versuch nachzuvollziehen, wie im Austausch mit den Subjekten meiner Forschungen zahlreiche sehr befremdliche und beunruhigende »Ichs« entstanden, die mich fragen ließen, welche Wahrheit, welche Kritik, welches Versprechen und welches Versagen diese fremden Namen bergen, die mir gegeben wurden. Mein Text ist zugleich ein Versuch, die ethnografische Produktion von Wissen – manchmal sehr unwissenschaftlich – erzählbar zu machen. Vor diesem Hintergrund erhebe ich auch nicht den Anspruch, einen wissenschaftlichen Bericht zu produzieren, denn höchst unwissenschaftlich halte ich manchmal an beiden Seiten eines Gegensatzes fest und falle mir selbst in zahlreichen Aussagen immer wieder in den Rücken.

Die kritische Beschäftigung mit der westlichen autobiografischen Tradition, unserer »biografischen Illusion«4, wie Pierre Bourdieu sie nannte, veranlasste mich, auch den Vorstellungen von (Auto-)Biografie, Leben und Lebensweg der Subjekte meiner Forschung nachzugehen und sie in diesen Text mit aufzunehmen.

4

In Deutschland und Frankreich gibt es eine kleine Tradition, die als »inverse Ethnografie« beschrieben worden ist. Vor und nach dem Zweiten Weltkrieg haben Julius Lips, Hans Himmelheber, Michel Leiris, Jean Rouch, Fritz Kramer und Michael Harbsmeier und andere sich für die Frage interessiert, wie die Konfrontation mit fremder Fremderfahrung europäisches – und vor allem – koloniales Selbstverständnis erschüttern konnte. Sie kehrten die Perspektive um, vertauschten die kolonialen Positionen von Beobachter und Beobachteten und thematisierten in verschiedenen Medien, wie die Kolonisierten die Kolonisatoren, deren Lebensweise und Technologien zum Objekt ihrer eigenen Ethnografien machten. Diese Figur der Umkehrung, des inversen Blicks der Ethnografierten auf die Ethnografin und ihre Forschung, liegt auch diesem Bericht zugrunde und treibt ihn an. Welche Kategorien bemühten die Subjekte meiner Forschung, um mich und meine Arbeit zu bezeichnen? Welche Möglichkeiten der Eingliederung boten sie mir als einer zunächst Fremden an? Wann und unter welchen Bedingungen wurde ich als Person angenommen oder zurückgewiesen? Welche Grenzen setzten sie mir? Gab es Augenblicke, in denen sich ihre und meine Perspektiven trafen oder sogar zur Deckung kamen? Welches Wissen, welche Begriffe und Theorien schenkten sie mir? Welche Allianzen gingen wir ein, und welche Widerstände bildeten sich bei ihnen wie bei mir heraus? Konnten sie sich in meinen Texten wiedererkennen? Und wie ging ich mit den Namen um, die sie mir gaben? Affe, Närrin oder Clown, Hexe, Spionin, böser Geist und Kannibale – diese irritierenden Bezeichnungen, die mir während meiner Aufenthalte in Afrika gegeben wurden, verunsicherten, verwirrten und trafen mich. Welche Kraft und Dynamik gewannen diese Namen während der Forschung und im Schreiben darüber?

Wie ich im weiteren Verlauf meiner ethnografischen Arbeit feststellte, hatten die Namen bereits eine lange Geschichte. Sie waren mehr oder weniger klassische Stereotype der Fremdheit, die in interkulturellen Begegnungen, beschrieben in Reiseberichten bereits aus dem 19. Jahrhundert (manchmal sogar weit früher), auftauchen und von den Beteiligten – Kolonisatoren und Kolonisierten – hin und her gespielt wurden. »Alterisierung« ist eine Praxis, die nicht nur (koloniale) Ethnologen betrieben haben, auch die Subjekte ihrer Forschung haben Fremde – Ethnologen eingeschlossen – »verandert«, sie als Kannibalen bezeichnet, als Fremdgeister in Ritualen der Besessenheit tanzen lassen, als Colon-Figuren auf Altäre gestellt oder mit Namen verspottet.

Die Namen, die mir gegeben wurden, gewähren also Einblick in fremde Fremderfahrung und zeigen, wie die Subjekte meiner Forschung mich in ihren Kategorien in Besitz genommen haben. Gegen eigene Selbstwahrnehmung, Intentionen und Forschungspläne vervielfachten sie Versionen von mir, die ich mir nicht im Traum vorgestellt hätte. Vielleicht sind es aber gerade diese eher destabilisierenden Erfahrungen, die ein Verständnis des Differenten ermöglichen.5

Ich präsentiere mich dem Leser also weniger als autonomes Subjekt und Beobachterin, sondern vielmehr als sehr genau beobachtetes Objekt in einem Feld von Zufällen, Unsicherheiten, Konflikten und höchst unterschiedlichen Machtverhältnissen. Dennoch bin ich es, die schreibt und beschreibt. Ich bin es, die sich als erinnerndes Subjekt in einer Beziehung der Differenz zu den vielen fremden Versionen meines Selbst befindet. Und ich bin es, die dem Genre der Reise– und Forschungsliteratur folgt – dieser »Schundliteratur«, wie Lévi-Strauss sie genannt hat –, ihre Konventionen manchmal aber auch bricht oder persifliert. Ich bin beides, Opfer und Akteurin in fremden Komödien und Dramen, und steige, als Affe oder Kannibalin, in immer niederere Genres hinab – ohne eine erhabene Umkehr am Ende.

Tatsächlich geht es um mehr als Umkehrung. Denn die Namen, die mir gegeben wurden, brachten weniger das Andere der anderen zum Ausdruck – wie ich zumindest während meiner ersten Feldforschung annahm – als vielmehr die wechselseitigen Spiegelungen von Fremd- und Selbstbildern. In der langen Geschichte kolonialer Begegnungen und Konfrontationen sprang der Affe als Unruhestifter zwischen den verschiedenen Akteuren hin und her. Er war Beschimpfung und subversive Figur zugleich, eingelassen in eine Hierarchie von Alteritäten in einem kolonialen Mosaik von Anziehung und Abweisung. Als die Ältesten in den Tugenbergen mich »Affe« nannten, bezog sich diese Namensgebung eben nicht nur auf mein ungehobeltes, wildes und äffisches Benehmen, wie ich ursprünglich angenommen hatte, sondern war auch eine Replik auf die eigene koloniale Erniedrigung und Diskriminierung, die sie erlitten hatten. Offensichtlich stehen die Namen nicht mehr nur eindeutig in Relation zu dem, was wir »ihren eigenen kulturellen Kontext« nennen. Die scheinbar klare Trennung zwischen ihnen und uns und zwischen ihren und unseren Vorstellungen vom Anderen ist instabil geworden. Das eine ist mit dem anderen bereits verwoben. Die einfache Umkehrung der Perspektive, so wie ich sie am Anfang dieses Textes ins Spiel brachte, muss also vor dem Hintergrund einer langen Geschichte von Globalisierungs-, Austausch- und Aneignungsprozessen eher einer Vielfalt von miteinander verflochtenen Alteritäten Platz machen, die sich wie in einem Kaleidoskop brechen, spiegeln und umherwirbeln, aber nicht leicht zu isolieren sind und immer wieder neue Differenzen hervorbringen.6

5

Bronisław Malinowski, der Gründerheros der modernen Ethnologie, forderte von seinen Schülern einen mindestens zweijährigen Aufenthalt in der Fremde. Meine Forschungsaufenthalte in Ostafrika dauerten sehr viel länger; mit Unterbrechungen kehrte ich in einem Zeitraum von sieben bis acht Jahren immer wieder an denselben Ort zurück. Meist hielt ich mich nur zwei bis vier Monate am Stück in Afrika auf, weil ich Mann und Kind nicht zu lange alleinlassen wollte. Der Aufenthalt zu Hause erlaubte mir, Distanz zu gewinnen, zu lesen und nachzudenken, um mich dann mit neuen Fragen wieder nach Afrika zu begeben. Das Verschwinden und die wiederholte Rückkehr an den Ort der Forschung stellten sich als unerwartete Maßnahme der Vertrauensbildung heraus. Ich verschwand nicht auf Nimmerwiedersehen, sondern kam zurück; die Rückkehr war kein leeres Versprechen, denn ich brachte auch die Geschenke mit, die ich versprochen hatte. Was das Wiederkommen betraf, stellte ich mich als verlässlich heraus. Tatsächlich gab dieses Hin und Her zwischen Europa und Afrika meinem Leben einen festen Rhythmus der Zerrissenheit.

Während die ethnografische Feldforschung auch als eine Art Besessenheit beschrieben werden kann – die fremde Kultur ergreift von mir Besitz und die Subjekt/Objekt-Relationen lösen sich teilweise auf –, so geht das Schreiben der Monografie zu Hause mit einem Rückgewinn der im Feld verlorenen Macht einher. Dieses Schreiben hat Michael Harbsmeier als »Heimkehrritual«7 bezeichnet, durch das die Heimgekehrte »gereinigt« wird und sich reintegriert. Während sich im Feld Ethnografin und Ethnografierte im Idealfall einander annähern und gemeinsam die zu ethnografierende Kultur erfinden8, vollzieht sich im Schreibprozess ein Exorzismus, der oft genug die Freunde und Gesprächspartner in der Fremde in den Hintergrund treten lässt. Stattdessen rücken die Kollegen, für die oder gegen die man schreibt, ins Zentrum. Im partiellen Ausblenden der Gesprächspartner im Feld behauptet sich die Ethnologin als Autorin; sie tritt wieder ganz und gar in den wissenschaftlichen Diskurs ein, den sie nie völlig verlassen hatte. Sie bleibt im Genre des Forschungsberichtes gefangen und damit im schriftlichen Diskurs mit seinen kolonialen und postkolonialen hierarchischen Ordnungen, auch noch oder gerade in der Umkehrung.

Ich werde jedoch im Folgenden weniger über den Prozess des ethnografischen Schreibens als vielmehr über das Nachleben der ethnografischen Texte berichten. Sie zirkulierten nicht nur im akademischen Milieu, sondern kehrten auch – übersetzt – als Gegengabe zu den Ethnografierten zurück. Denn der Dialog und die Auseinandersetzung hören auch nach der Publikation einer Monografie nicht auf. Die Texte, die gefüllt sind mit dem Wissen der Ethnografierten, finden den Weg zu ihnen zurück; sie werden (hoffentlich) auch von ihnen gelesen, und dann können die Subjekte der Forschung, wenn sie wollen, Rache nehmen, Kritik üben, den Text umschreiben, ihn aufnehmen oder auch weiterschreiben.

6

Seit Langem erreichen wechselseitige Informationen und Wissen übereinander die Peripherien unserer Welt. Alle Regionen, in denen ich ethnografisch gearbeitet habe, waren bereits von anderen Ethnologen besucht und erforscht worden. In den Antworten meiner lokalen Gesprächspartner traf ich also nicht unbedingt nur auf vermeintlich authentisches Wissen, sondern manchmal auch auf die Spuren meiner Kollegen. Auf diese Weise sind Ethnologen und die Subjekte ihrer Forschung einander sowohl a priori vertraut und bekannt wie auch fremd. Ihre Geschichten und die der Ethnografierten sind lange schon eng miteinander verwoben und Transformationen voneinander. Es mag in Zukunft vor allem darum gehen, in einem Prozess nicht endender Reflexivität vor allem die Gemeinsamkeiten und weniger die Differenzen zwischen den verschiedenen Versionen so genau wie möglich zu bestimmen.

Mit dem Bericht über meine vier ethnografischen Forschungen in Kenia und Uganda in einem Zeitraum von fast fünfzig Jahren enthält dieses Buch auch ein Stück Ethnologiegeschichte, eine Geschichte der Veränderungen des Machtgefüges und der Debatten sowie eine eher implizite Auseinandersetzung mit ihren Theorien, Methoden, Medien und deren Kritik. Dies ist auch ein Versuch der Dekolonialisierung der ethnografischen Arbeit. Die (post-)kolonialen Verhältnisse im Verlauf dieser fünfzig Jahre haben zwar eine radikale Veränderung erfahren, aber das »Elend der Welt«9, wie Pierre Bourdieu den Zustand der Globalisierung bezeichnet hat, ist nicht beendet. Im Gegenteil, neue Formen der Abhängigkeit und Kolonialisierung bildeten und bilden sich heraus, die ein Elend produzieren, das in manchen Regionen heute vielleicht noch größer ist als zur Zeit des klassischen Kolonialismus. Unter diesen Bedingungen bleibt die Dekolonialisierung ein nicht abzuschließendes Projekt.

Während ich im Folgenden die vier verschiedenen Feldforschungen chronologisch in einzelnen Kapiteln darstelle, bleiben die jeweiligen Berichte fragmentarisch und springen in der Zeit vor und zurück, sodass das Alte manchmal näher erscheinen kann als die jüngere Vergangenheit. Die einzelnen Fragmente haben den Status von Vignetten. Da die Monografien, die ich über die verschiedenen Forschungen geschrieben habe – mit einer Ausnahme –, auf Englisch (und Französisch) publiziert wurden, ist dieser Text auch eine Rückkehr zur deutschen Sprache. Er stützt sich wesentlich auf bereits veröffentlichte Texte, die umgeschrieben und erweitert eine neue Fokussierung erfahren.

Eine Autobiografie schreiben heißt, in einer rückläufigen Bewegung am Anfang anzukommen. Deshalb erfährt im Epilog der Affe ein Comeback. Er erscheint noch einmal in seiner Vieldeutigkeit als »Wilder«, als Nachahmer, als Forscher und als »akademischer Affe« – so wie Franz Kafka ihn in seinem »Bericht für eine Akademie« von 1917 auftreten ließ.

MENSCHWERDUNG EINES AFFEN

In den Tugenbergen
im Nordwesten Kenias

1978–1985

Der Mensch ist auch die Summe aller Tiere, in die er sich im Lauf seiner Geschichte verwandelt hat.

Elias Canetti, im Gespräch mit Theodor W. Adorno1

1

Claude Lévi-Strauss hat Ethnologen als die letzten mehr oder weniger heroischen Abenteurer bezeichnet. Und es war das Abenteuerliche an der ethnografischen Feldforschung, das mich immer wieder nach Afrika führte, die Herausforderung, mich in der Fremde, in Situationen, die ich nicht oder kaum kontrollieren konnte, zu bewähren und dabei herauszufinden, ob es mir gelänge, das Interesse und Vertrauen von Fremden zu erlangen und sie in Freunde zu verwandeln. Dabei vergaß ich, dass Abenteurer auch leiden müssen, ehe sie nach unzähligen Missgeschicken nach Hause zurückkehren.

Aus einem diffusen Gefühl des Protestes begann ich 1966 das Studium der Ethnologie. Auch andere, spätere Entscheidungen in meinem Leben gründeten auf einer Haltung, die Kraft vor allem aus Opposition und Verweigerung gegen das Vorherrschende schöpft. Meine Eltern hatten – ohne Druck auszuüben – damit gerechnet, dass ich in ihre Fußstapfen treten und Ärztin werden würde. Ich hatte, im Alter von 12 oder 13 Jahren, den französischen Film Es ist Mitternacht, Dr. Schweitzer aus dem Jahr 1952 gesehen, ein koloniales, schwülstiges Machwerk in Schwarz-Weiß, das Albert Schweitzer zeigt, wie er mit einer hübschen, tapferen Krankenschwester Lambarene aufbaut. Noch bevor er das Krankenhaus überhaupt eingerichtet hat, kommt kurz vor Mitternacht ein Häuptling mit furchterregenden Kriegern, die seinen kranken, bereits bewusstlosen Sohn zur Station tragen, der, wie Dr. Schweitzer sofort feststellt, an einer Blinddarmentzündung leidet. Der Häuptling zeigt auf den Mond, der silbrig am Himmel steht, und erklärt, wenn der Mond hinter einer bestimmten, sich im Wind biegenden Palme verschwunden sei und der Sohn nicht mehr lebe, werde er dem Doktor und der hübschen Krankenschwester den Kopf abschneiden. Nachdrücklich macht er die entsprechende Geste mit einem großen, scharfen, im Mondlicht blitzenden Messer. Dr. Schweitzer und die Krankenschwester bauen den Küchentisch zu einem OP-Tisch um, und mit einem in kochendem Wasser notdürftig sterilisierten Küchenmesser schneidet der tapfere Doktor, Schweißperlen auf der Stirn, dem Häuptlingssohn den Bauch auf. Als Zwischenschnitt wird immer wieder der Mond eingeblendet, der sich viel zu schnell auf die Palme zubewegt. Die Spannung steigt ins fast Unerträgliche. Aber alles wird gut! Im Augenblick, als der Mond hinter der Palme verschwindet, gibt der Sohn ein Lebenszeichen von sich, und der Häuptling wird, wenn ich mich recht erinnere, nicht nur ein bester Freund des Doktors, sondern er konvertiert auch noch zum Christentum.

Dieser durch und durch koloniale Film hat mich entscheidend beeindruckt. Er verband sich auf heroische Weise mit dem Beruf meiner Eltern, verlegte aber das Geschehen in ein gefährliches, sehr fremdes Anderswo, nach Afrika. Dort wollte ich hin.

Die Ethnologie oder Völkerkunde, wie sie damals genannt wurde, war eine seltsame Disziplin. Sie hatte sich ihren Gegenstand aus einem verachteten Rest gebildet, aus einem Sammelsurium von Kulturen, die nicht zu den sogenannten Hochkulturen gehören, sondern durch Negation bestimmt wurden – keine Schrift, kein Staat und keine Geschichte. Tatsächlich erfuhr die Ethnologie damals eine gewisse Geringschätzung, die sich erst nach 1968 mit der Neudefinition der Sozialwissenschaften ändern sollte.

Im Winter 1966/67, meinem ersten Semester, habe ich in München als einzige Anfängerin mit dem Studium der Völkerkunde begonnen. Im Jahr davor hatte sich niemand für das Fach eingeschrieben, Nachwuchs und Zukunft des Instituts verkörperten sich für ein Semester in meiner Person. Ich wurde äußerst freundlich, zuvorkommend und nachsichtig behandelt und musste mich nicht von Unter- in Oberseminare hocharbeiten, sondern durfte an allem teilnehmen, was mich interessierte.

Ich hatte damals keine Ahnung, wie tief der Ordinarius Hermann Baumann in die Ideologie des Nationalsozialismus verstrickt war. Die älteren Studenten und Assistenten schwiegen über Baumanns Vergangenheit. In seinen Vorlesungen und Seminaren standen »Kulturkreise« im Vordergrund, über deren Kennzeichen, Zusammensetzung und Geschichte manchmal recht heftig gestritten wurde. Nach zwei Semestern hatte ich genug von München, ging ein Semester nach Wien und dann im Januar 1968 nach Berlin, ins Zentrum der studentischen Proteste.

Das Berliner Institut für Ethnologie war in diesem Jahr, nachdem die Studenten die Macht übernommen hatten, akephal geworden; der Professor hatte sich nach Asien geflüchtet. Es herrschte eine merkwürdig enthusiastische Stimmung, getragen von einer (aus heutiger Sicht) naiven Hoffnung auf radikale Veränderung, die manchmal Charakteristika aufwies, wie ich sie später in der Prophetenbewegung der Alice Lakwena im Norden Ugandas wiederfinden sollte. Das Studentenleben bestand aus einer Reihe ziemlich aufregender sozialer Experimente mit unsicherem Ausgang. Wir hatten einen wirklich großen Gegner, das kapitalistische System, und gefielen uns darin, aus dieser halluzinatorischen Opposition manchmal sehr fadenscheinige Rechtfertigungen für Krawall und alle möglichen Formen des Ungehorsams zu finden. Und oft genug gelang es, das Sich-Abstoßen vom Althergebrachten mit viel Spaß und Lust zu verbinden. Ich wohnte in einer alten Dahlemer Villa mit älteren Studenten in einer Wohngemeinschaft; wir lasen zusammen Das Kapital und andere Texte von Marx, aber auch von Bakunin und Kropotkin, und diskutierten nächtelang, wie die Revolution zu bewerkstelligen sei. Wir feierten ausgiebig Feste, die mitunter das ganze Wochenende dauerten, wir nahmen an Demonstrationen unter der schwarzen Fahne der Autonomen teil und wir fuhren nach Ostberlin in die kubanische Botschaft, um mit dem dort kostenlos verteilten Tagebuch von Che Guevara Spanisch zu lernen. Denn Ziel war es, uns als Ethnologen nutzbringend in den Dienst von antikolonialen und antikapitalistischen Freiheitsbewegungen zu stellen.

Im Jahr 1971 endete die Akephalie. Fritz Kramer kam aus Heidelberg ans Berliner Institut. Damit veränderte sich meine Vorstellung von Ethnologie grundlegend. Kramer zeigte uns, dass Ethnologie nicht museal und exotistisch sein musste. Er brachte uns die Dialektik der Aufklärung nahe, mit ihm studierten wir (bäuerliche) Umsturzbewegungen und später die klassische britische Sozialanthropologie. Die akephalen Gesellschaften, die englische Ethnologen wie Edward E. Evans-Pritchard oder Meyer Fortes erforscht hatten, lieferten uns das Vorbild für eigene soziale Utopien. Allerdings nur für kurze Zeit. Dann rückten die anarchistischen Illusionen und Karl Marx zunehmend in den Hintergrund und machten Max Weber, Karl Löwith, Hans-Georg Gadamer und anderen Platz.

Etwas später kam Lawrence Krader aus New York ans Institut. Mit ihm, Fritz Kramer und Jacob Taubes fanden unvergessliche Seminare statt. Und am religionswissenschaftlichen Institut lehrte Klaus Heinrich die kritischen Potenziale der Psychoanalyse mit Religion, Philosophie, Kunstgeschichte und Ethnologie zu verbinden. Ich machte 1973 meinen Magister und unterrichtete danach als wissenschaftliche Assistentin bis 1978 vor allem politische und ökonomische Anthropologie. Es gab keinen Studienplan; die Themen der Lehrveranstaltungen bestimmten die Studenten zusammen mit den Dozenten. Das änderte sich erst, als gegen Ende der 1970er-Jahre die Ethnologie zum Massenfach wurde und in den Veranstaltungen plötzlich Hunderte saßen: als ob sich unsere Begeisterung durch die enttäuschte Hoffnung auf radikale Veränderungen in der eigenen Gesellschaft auf die sogenannte Dritte Welt verschoben hätte. Wie zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die »Primitiven« in Afrika und Ozeanien mit ihrer Kunst für das herhalten mussten, was im Westen zerstört und verloren gegangen war, so suchten auch wir in Afrika nach alternativen Lebensformen. Allerdings, so viel verstanden wir immerhin, hatte der Kolonialismus das Ziel unserer Fluchtversuche bereits in Begegnungen verwandelt, die uns mit den »allerunglücklichsten Formen unseres eigenen historischen Daseins«2 konfrontierten.

2

Mitte der 1970er-Jahre fuhr ich nach Paris und lernte dort Jean Rouch kennen. Rouch, Schüler von zwei Marcels, Marcel Mauss und Marcel Griaule, hatte sich aufs ethnografische Filmemachen verlegt. Anfangs sowohl von etablierten Filmemachern wie auch Ethnologen als Außenseiter und Spinner marginalisiert, nahm er sich die Freiheit, gegen die akademische Textzentriertheit mit dem Medium Film und neuen ethnografischen Praktiken zu experimentieren. In Opposition zu kolonialen asymmetrischen Methoden entwickelte er eine »geteilte Ethnografie«, ein filmisches Unternehmen, das die Bilder und Töne, die er in Afrika vor allem von Besessenheitsritualen aufgenommen und in Paris montiert hatte, nach Afrika zurückbrachte. In der »Ciné-Trance«, einer mimetischen Praxis, teilte er die Trance und Besessenheit, die Überwältigung durch fremde Mächte, mit den Gefilmten. Gegen die szientistische Selbstermächtigung des Ethnografen, der im Feld zu handeln vermeint, rückte er die andere Seite des Handelns, nämlich das Erleiden des Handelns anderer, das Behandelt-Werden, in den Vordergrund. Wie sich in Besessenheitskulten Geister in ihren Medien verkörpern, so ließ sich Rouch von der Praxis der Geistbesessenheit der Ethnografierten ergreifen. Gerade die kinematografische Technik, die Verschaltung seines Körpers mit der Kamera, erlaubte ihm, sich fremden Geistern auszuliefern und eine reziproke Ethnografie zu praktizieren, die sich durch transkulturelle Feedbacks immer wieder selbst korrigierte.

Rouch praktizierte auch eine »verkehrte« Ethnografie. In seinem berühmten Film Les maîtres fous von 1956 zeigt er das jährliche Ritual der Hauka, kolonialer Fremdgeister, »der Geister der Macht und des Windes, die den Wahnsinn bringen«. Im Zustand der Besessenheit verkörpern die Mitglieder des Kultes die »Geister der Kolonialgesellschaft«, des »Gouverneurs«, der »Lokomotive« oder der »Frau des Doktors«. Im Ritual entwerfen sie ihre Ethnografie der westlichen (kolonialen) Kultur. Der Film ist also zugleich doppelte und umgekehrte Ethnografie: gefilmte Ethnografie sowie die Ethnografie der Gefilmten, die uns den Spiegel vorhalten und uns zeigen, wie sie uns sehen.

Auch in seinem späteren Film Petit à Petit aus dem Jahr 1969 behandelte Rouch das Thema des umgekehrten Blicks und die Gewaltsamkeit ethnografischer Methoden. Er zeigt einen afrikanischen Ethnografen in Paris, der dort eine Feldforschung über die »Pariser Wilden« und ihre Probleme beim Wohnen in Hochhäusern durchführt. Durch die Vertauschung von Subjekt- und Objektpositionen finden die ethnografischen Methoden bei denen Anwendung, die sie entwickelt haben. Durch die Umkehrung der Perspektive, die die Europäer zum Objekt der Feldforschung macht, kann der westliche Ethnograf erkennen, was es heißt, ethnografische Methoden erleiden zu müssen.

Rouchs ethnografische Filmarbeit beeindruckte mich so stark, dass ich 1977 mit Ulrich Gregor, damals Leiter des Berliner Kinos Arsenal und der Freunde der deutschen Kinemathek, eine erste Retrospektive seiner Filme in Berlin organisierte und 1980 eine Ausbildung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie begann, die ich 1984 abschloss.

3

Am Berliner Institut für Ethnologie galt die ethnografische Feldforschung als absolutes Muss. Unsere großen Vorbilder waren Bronisław Malinowski (trotz oder gerade wegen des Skandals um die Veröffentlichung seines Tagebuchs 1967), Edward E. Evans-Pritchard, Geoffrey Lienhardt und Jean Rouch. Die Feldforschung als teilnehmende Beobachtung hatte den Status einer doppelten Initiation, nicht nur in eine fremde Gesellschaft, sondern auch in die Gemeinschaft der Berliner Ethnologen. Sie war der zentrale Passage-Ritus mit seinen drei Phasen, wie sie Arnold van Gennep beschrieben hat: das Verlassen der eigenen Welt, der Aufenthalt in der Fremde als liminale Phase und die Rückkehr.3

Da ich bereits Mann und Kind hatte, waren es vor allem praktische Gesichtspunkte, die zur Auswahl der Tugenberge im Nordwesten Kenias als Forschungsterrain führten. Die Tugenberge, eine Gebirgskette, die sich bis in 2000 Meter Höhe in Nord-Süd-Richtung erstreckt, gehören zum Großen Afrikanischen Grabenbruch, dem Rift-Valley. Dort oben gab es keine Malaria, aber für alle Fälle eine Krankenstation in nicht zu weiter Ferne.

Dieses karge und nicht besonders fruchtbare Gebirge hatte schon im 19. Jahrhundert vielen Menschen als Rückzugs- und Zufluchtsort gedient. Die Bewohner nannten es »Land der Steine« und erzählten, dass ihr Gott, als er die Berge erschuf, schon so müde gewesen sei, dass er nur noch Steine auf die Erde habe werfen können. Das Land war so arm, dass es relativ unbehelligt blieb, als Kenia Siedlungskolonie wurde und aus Großbritannien und Südafrika Siedler ins Land strömten, um sich die fruchtbaren Regionen anzueignen. Während in der Zentralprovinz die Menschen brutal von ihrem Land vertrieben, enteignet und in Reservate gezwungen wurden, konnten die Bewohner der nördlichen Tugenberge ihr karges Land behalten.

In den 1970er-Jahren umfasste die Bevölkerung etwa 120 000 Menschen, die weit verstreut in einzelnen Gehöften in den Bergen lebten. Sie bauten Mais und Hirse an und hielten Ziegen, Schafe und Rinder. Von allen Tieren schätzten sie vor allem das Rindvieh. Sie setzten – wie die berühmten Nuer im Sudan – eine »Rinderästhetik« ins Werk, mit der sie die Schönheit ihrer Bullen und Kühe im Tanz und in poetischen Lobgesängen zum Ausdruck brachten. Hätten die männlichen Bewohner der Berge mich eine »Kuh« genannt, wäre das ein großes Kompliment gewesen, beinahe eine Liebeserklärung. Leider raubten ihnen die Pokot, ihre Nachbarn im Norden, regelmäßig ihre wertvollen, hochgeschätzten Rinder und nannten sie verächtlich »Ziegenleute«.

Alle paar Jahre suchte außerdem eine verheerende Dürre die Region heim. Wenn die Situation unerträglich wurde und »Menschen und Tiere vor Hunger und Durst umfielen«, verließen Männer und Frauen mit ihren Kindern die Gehöfte und zogen in die Wildnis, um dort zu jagen und zu sammeln. Kam der Regen, kehrten sie in ihre Häuser zurück.

In vorkolonialer Zeit waren die Bewohner akephal, hatten also keinen Häuptling, stattdessen eine gerontokratische Organisation in acht Altersklassen, deren Namen nach etwa 100 Jahren, wenn ein Kreislauf vollendet war, wiederkehrten. Alte Männer und Frauen herrschten über junge Männer und Frauen. Solange sie Kinder bekamen, waren Frauen von der Politik ausgeschlossen. Nach der Menopause erlangten sie jedoch den Status von rituellen Ältesten und waren den alten Männern gleichgestellt.

Während der Kolonialzeit verloren männliche und weibliche Älteste weitgehend ihre Macht an mehr oder weniger despotische Häuptlinge, die zunächst von der britischen Kolonialverwaltung und später, ab der 1963 erlangten Unabhängigkeit, vom postkolonialen Staat eingesetzt wurden. Meist lehnte die lokale Bevölkerung die Häuptlinge ab. Diese trieben Steuern ein, sprachen Recht und versuchten die Belange des Staates durchzusetzen. Außerdem verfügten sie über finanzielle Ressourcen und bestimmten, wer in Hungerszeiten Maismehl aus den Hilfsprogrammen erhielt.

4

1978 besuchte ich die Tugenberge zum ersten Mal. Fünfzehn Jahre zuvor hatte Kenia die Unabhängigkeit erlangt. Jomo Kenyatta, ein Ethnologe, der bei Malinowski in London studiert und promoviert hatte, wurde Präsident, und sein Vize Daniel arap Moi stammte, was ich erst später erfuhr, aus den Tugenbergen. Es herrschte (noch) eine optimistische Grundstimmung, die von der Hoffnung auf Modernisierung und Entwicklung (für alle) getragen war.

Den damaligen Standards einer »Rettungsethnologie« entsprechend war ich jedoch weniger an einer afrikanischen Moderne interessiert als an ihrem Gegenbild, an vom Kolonialismus möglichst unberührten Traditionen. Ich hatte mir deshalb eine Gegend im Norden der Tugenberge ausgesucht, wo die Bewohner »noch wie ihre Väter lebten«. In dem Dorf Bartabwa ließ ich mich nieder und begann meine ethnografische Arbeit, ahnungslos und ziemlich ignorant.

Bartabwa war zwar eine koloniale Gründung und diente als Handels- und Verwaltungszentrum, aber die Mehrzahl der Bevölkerung lebte weiter entfernt in verstreuten, kreisrunden Gehöften in den Bergen. Bartabwa bestand aus einer staubigen, nicht asphaltierten Straße mit tiefen Löchern und Rinnen, die Ende der 1950er-Jahre fertiggestellt worden war und sich in der Regenzeit in eine kaum befahrbare Rutschbahn verwandelte. Zu beiden Seiten der Straße standen »moderne« rechteckige Holzhäuser mit Wellblechdach, die an Orte im Wilden Westen erinnerten. Einige der Holzhäuser beherbergten kleine Geschäfte, die Batterien, Taschenlampen, Salz, Zigaretten, Kerzen, Seife – vor allem das Waschmittel Omo – und diverse Konservenbüchsen verkauften. Da die Kundschaft mit wenigen Ausnahmen sehr arm war, wurden Zigaretten einzeln oder sogar halbiert verkauft. Andere Häuser dienten als kleine Bars, die Bier, Tee, Chapati und Bohneneintopf, Kartoffeln und Maisbrei anboten. Es gab auch einen Marktplatz, auf dem Frauen aus der Umgebung zweimal pro Woche Gemüse, Früchte und fertiggekochte Speisen verkauften. In einem der Häuser hatte der einzige wohlbeleibte Mensch in Bartabwa, nämlich der Häuptling, sein Büro. Außerdem gab es eine Maismühle, eine Grundschule und eine Krankenstation.

Zwei Monate nach meiner Ankunft starb Kenyatta, und Daniel arap Moi übernahm die Macht. Damit wurden die Bewohner der Tugenberge »the President’s people«. Viel Geld floss plötzlich in die Region, und eine rasante Entwicklung fand statt. Vor allem der Süden wurde durch eine elegante moderne Asphaltstraße, auf der allerdings weniger Autos als vielmehr Ziegen verkehrten, mit Nakuru, der nächstgrößeren Stadt, verbunden. In Kabarnet, der Distrikthauptstadt am Fuße der Tugenberge, entstanden in Windeseile drei antiken Tempeln nachempfundene pompöse Gebäude: eine Post, ein Supermarkt und eine Schule, die den Rest des Ortes umso erbärmlicher aussehen ließen.

Der neue Präsident Daniel arap Moi stammte aus einem Dorf mit Namen Kabartonjo, das etwa in der Mitte der sich in Nord-Süd-Richtung erstreckenden Tugenberge liegt. Hier war er geboren, und bis hierhin führte die asphaltierte Straße, keinen Schritt weiter. Die Bewohner des Nordens, so auch die aus Bartabwa, blieben von der neuen Straße, den Strömen des Geldes und den beschleunigten Entwicklungsprozessen weitgehend ausgeschlossen. Sie mussten als immer noch »Arme«, »Primitive«, »Unterentwickelte« und »Zurückgebliebene« für ein verachtetes Gegenbild in einem Nationalstaat herhalten, der »Fortschritt« und »Entwicklung« propagierte. Neben die räumliche Differenz trat eine zeitliche. Obwohl die Bewohner des Nordens gleichzeitig mit denen im Süden existierten und beide den gleichen Raum, die Tugenberge, teilten, wurden sie in ein »Vorher« und ein »Noch-Nicht« gezwungen. Mit der Verzeitlichung des Gegenbildes entstand eine Dynamik der Negation, der Herabsetzung und Ausgrenzung, die letztlich – vor dem Hintergrund des Versprechens auf Modernisierung und Fortschritt – auf Aufhebung zielte. So wiederholte und bestätigte sich die Zweiteilung der Welt in sogenannte entwickelte und unterentwickelte Regionen hier noch einmal – in Verzerrung und Abhängigkeit.

Die Bewohner von Bartabwa nahmen das sehr wohl zur Kenntnis. Als einige Jahre später eine schlimme Dürre sie heimsuchte und die Regierung keine Hilfe schickte, nannten sie die Hungersnot »nyayo«. Nyayo war der Slogan, den der neue Präsident nach seiner Machtübernahme ausgegeben hatte und der für seine »Philosophie des Friedens, der Liebe und Einheit« stand. Doch der Präsident und seine Anhänger betrieben in den folgenden Jahren nicht nur eine brutale »Politik des vollen Bauches«, der Korruption und des Raubes, sondern auch – um an der Macht zu bleiben – eine verstärkte Politisierung und sogar Militarisierung von Ethnizität, die in den 1990er-Jahren zu gewalttätigen ethnischen »Säuberungen« führten. Dabei sollten Bewohner der Tugenberge sowohl zu Tätern als auch zu Opfern werden.

Es ist kein Zufall, dass die Bewohner Bartabwas in den 1980er-Jahren die eigene nationale Regierung als »chumbek« bezeichneten, eigentlich eine Bezeichnung für Europäer, die Kenia und die Tugenberge kolonialisiert hatten. Offensichtlich sahen sie keine Veranlassung, die Zeit der Kolonialisierung, Unterdrückung und Ausbeutung als vergangen zu betrachten. Trotz des Wechsels der Herrschenden war die Kolonialzeit für sie nicht beendet. Das »post-« in postkolonial erkannten sie nicht an.

5

In Kabarnet stiegen mein Sohn und ich in ein Matatu, ein sogenanntes Buschtaxi, das uns nach Bartabwa bringen sollte. Es war ein uralter klappriger Jeep mit durchlöchertem Boden; wenn er sich, vollbepackt, auf der holprigen, von großen Kratern durchzogenen Straße nach rechts oder links neigte, sprang die jeweilige Seitentür auf. Die Räder waren, wie sich auf der Fahrt herausstellte, nicht ordentlich befestigt: Schrauben fehlten. Wir hatten die sichersten Plätze, saßen neben dem Fahrer vorne in der Mitte und konnten, wenn die Türen sich öffneten, nicht hinausfallen. Der Mann rechts neben mir versuchte mit einer Hand die Tür geschlossen zu halten und streckte immer wieder den Kopf aus dem Fenster, um das Vorderrad zu beobachten und den Fahrer rechtzeitig zu warnen. Es lockerte sich tatsächlich, wir hielten an, und der Fahrer wechselte es gegen ein anderes aus, das jedoch auch nur mit drei Schrauben befestigt wurde. Wir fuhren weiter, bis auch dieses Rad sich löste.

Trotz der Pannen war die Stimmung unter den Fahrgästen hervorragend. Sie scherzten, erzählten Witze und gaben den übrig gebliebenen Schrauben die Namen berühmter Krieger, die besonders tapfer gewesen waren – vielleicht in der Hoffnung, dass die Schrauben sich nun auch als tapfer und widerständig erweisen würden. Doch die Namensgebung half nicht, es gab kein weiteres Ersatzrad. Wir blieben auf der Strecke. Nach etwa drei Stunden kam ein anderes Matatu angefahren und nahm uns mit nach Bartabwa. Dort angekommen stiegen wir aus. Wir waren Besucher, die nicht eingeladen waren. Wir waren Fremde, die zu Gästen gemacht werden mussten.

Ich hatte damals keine Ahnung, ob überhaupt und wenn ja, wie viel meine Forschungsgenehmigung wert war und inwieweit sie Schutz und Unterstützung bedeutete. Ich wusste nur, dass mein erster Ansprechpartner der Vertreter des Staates, der Häuptling, war. Wir suchten sein Büro in der Hauptstraße auf; ich zeigte meine Forschungsgenehmigung vor, und der etwas überraschte, aber freundliche Häuptling stellte nach kurzer Überlegung meinem Sohn Henrik und mir eine leer stehende, etwas verfallene Hütte zur Verfügung. Henrik, damals sieben Jahre alt, war ein antiautoritär erzogenes Berliner Kinderladenkind, offen, neugierig und rotzfrech. Da Bartabwa bis dahin nur von erwachsenen Europäern, vor allem katholischen Missionaren, besucht worden war, avancierte er zu einer exotischen Sehenswürdigkeit. Von weit her kamen die Bewohner der Berge, um ihn zu betrachten. Henrik half in den kleinen Geschäften und lockte Kunden an; er bewachte mit den anderen Kindern die Maisfelder, hütete Ziegen und Schafe, lernte mit Keulen werfen und hantierte – wie Tarzan – mit Pfeil und Bogen. Er wurde mit Gaben überschüttet, bekam sogar eine Ziege geschenkt. Im Gegensatz zu mir lernte er die lokale Sprache in Windeseile und erzählte mir abends Klatsch und Tratsch. Wie in den Tugenbergen üblich wurde er nicht nach mir, sondern ich nach ihm »Mama Henry« genannt.

Wie ich später lernte, erhalten Frauen und Männer im Lauf ihres Lebens viele verschiedene Namen. Das rituelle Geben von Namen ist eine (auto-)biografische Praxis. Kurz nach der Geburt bekommt ein Kind in einem »kleinen« Ritual den Namen eines Ahnen. Vorher finden die Ältesten in einem Orakel den Ahnen heraus, der »ein gutes Leben führte« und bereit ist, dem Kind seinen Namen zu geben. Jede Lineage verfügt nur über eine bestimmte Anzahl von Namen, die unter den Angehörigen, den Toten und den Lebenden, zirkulieren; neue Namen gibt es nicht. Die Namen sind dauerhafter als die Menschen, die sie tragen. Und sie verpflichten: Ein Kind erhält im Namen als Zukunft die Vergangenheit eines und damit vieler Vorfahren. Es lebt in gewisser Weise in umgekehrter Richtung, denn es muss dem Namen des Ahnen gerecht werden, sein Leben nach ihm ausrichten, es wiederholen. Doch ist der Ahne, dessen Name so übermächtig das Leben seines Nachkommen bestimmt, tot. Sein »Leben« gehört den Lebenden, sie können es biegen und zu eigenen Zwecken nutzen. Erweist sich die Beziehung zwischen Kind und Ahne als unglücklich, wird der Ahne ausgetauscht. Er muss sich als der Richtige beweisen, indem er das Wohlergehen des Kindes garantiert. Gelingt ihm das nicht, so wird sein Name abgeschafft und vergessen und ein anderer Vorfahre muss mit seinem Namen herhalten.

Während Frauen dem Kind den ersten Namen gaben, erhielt es einige Jahre später von Männern einen zweiten, den »Ziegennamen«, benannt nach der Ziege, die das Kind geschenkt bekommt. Manchmal setzte sich im Lauf des Lebens der Name durch, den die Frauen gegeben hatten, manchmal der Ziegenname. Es kam aber auch vor, dass das Kind auf beide Namen hörte; dann riefen es die Frauen mit dem Namen, den sie ihm gegeben hatten, und die Männer benutzten den Ziegennamen.

Doch gaben Eltern mitunter ihren Kindern zusätzlich noch einen dritten Namen, der an ein Ereignis erinnert, das während der Geburt stattfand. Zahlreiche Kinder hießen zum Beispiel Kemei, »Hunger«, weil zur Zeit ihrer Geburt der Hunger herrschte. Ein Kind wurde Chumba, »Europäer«, genannt, weil es geboren wurde, als ein Europäer anwesend war. Ich traf auch ein Kind, das »Löffel« hieß, weil seine Eltern am Tag der Geburt zum ersten Mal einen Löffel sahen.

Während die Ahnennamen das Kind als Wiederholung in die Genealogie eingliedern, betonen die Ereignisnamen (so wie Spitznamen) eher seine Einmaligkeit und Individualität, Eigenschaften, die es auszeichnen, die aber auch – im Gegensatz zu den Ahnennamen – mit seinem Tod verschwinden.

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Da ich bis 1985 regelmäßig nach Bartabwa zurückkehrte, teilten die Ältesten mir einen jungen Mann mit Namen Naftali Kipsang zu, der mich bei all meinen Unternehmungen begleitete, mich beschützen sollte und als Übersetzer diente, mich aber vor allem kontrollierte. Kipsang wurde auch »Professor« genannt; er las viel und trug gern ein Buch als Zeichen seiner Belesenheit mit sich herum. Ein Kugelschreiber steckte in seinem Haar. Zusammen mit den Ältesten bestimmte er, was und wen ich zu sehen bekam und was ich in Erfahrung bringen durfte. Ich bezahlte ihm das vor Ort übliche Gehalt eines Lehrers. Doch das Geld verpflichtete ihn kaum zur Loyalität mir, einer Fremden, gegenüber. Die Illusion, Kontrolle über meine Arbeit zu haben, gab ich schnell auf.

Kipsang, mein galanter Begleiter, wurde zu einem der begehrtesten Gesprächspartner. Wenn wir von einem Treffen mit einem Ältesten zurück ins Dorf kamen, machte er die Runde. Er wurde zum Bier eingeladen, um die neuesten Geschichten über mich zum Besten zu geben. Sie hatten hohen Unterhaltungswert; ich hörte das laute Gelächter, das mit ihm von einem Haus zum nächsten wanderte.

In den folgenden Jahren entstand zwischen Kipsang und mir eine Freundschaft. Er war ein geschickter Vermittler, der zwischen meinen und den unterschiedlichen Interessen der Ältesten zu lavieren verstand. Auch begann er, sich zunehmend für die eigene Kultur und insbesondere ihre Rituale zu interessieren, und wurde selbst zu einem Ethnografen der Tugenberge. Wir wurden Komplizen und spiegelten einander in den unterschiedlichen Rollen, die wir übernommen hatten. Während er zum Ethnografen seiner eigenen Kultur avancierte, wurde ich zur Primitiven, zum Affen, allerdings mit Aufstiegschancen.

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Zufällig erfuhr ich, dass ich »Affe« genannt wurde. Dieser Name war, wie Kipsang mir gestand, kein Ehrenname, sondern eher ein Spottname, der vor mir verborgen bleiben sollte. Eindringlich hatte ich Kipsang gebeten, mir zu berichten, wie die Leute über mich sprachen und welche Namen sie mir gaben. Ich versicherte ihm, dass ich nicht böse würde, auch wenn die Namen verletzend seien. Denn das Wissen, das man mir schenke, sei vom sozialen Status abhängig, den man mir zuweise. Natürlich verstand er sofort die epistemologische Dimension, die die Bezeichnung »Affe« barg, wusste er doch am allerbesten, was mir als Affe vorenthalten und verborgen blieb.

Ich beschloss, das semantische Feld des Affen zu erschließen. Kipsang half mir dabei. Wir fanden heraus, dass die Bewohner der Tugenberge zwei Arten von Fremden unterscheiden: bunik, die nahen Fremden, gegen die man Krieg führt, die man aber auch heiratet; und toyek, die radikal Fremden, die sozial und kulturell so weit entfernt sind, dass sie den wilden Gegensatz bilden. Toyek leben wie Affen in der Wildnis, sind behaart, haben lange Schwänze, fressen Menschen, laufen auf dem Kopf und begehen Inzest. Die beiden Kategorien, die nahen und die ganz Fremden, stehen jedoch nicht in einem absoluten Gegensatz, sondern können auch als aufeinanderfolgende Phasen in einem Prozess der Integration von Fremden gesehen werden. In Clangeschichten erzählten die Ältesten von wilden Männern, die wie Affen leben. Ein Zufall führt sie in die bewohnte Welt. Sie bringen den dort lebenden Menschen Hirse oder das Feuer und erhalten als Gegengabe eine Frau. Die Heirat verwandelt sie in Schwiegersöhne, die nach und nach ihre Fremd- und Wildheit verlieren und durch ihre Kinder und Enkel vollständig in die bewohnte Welt integriert werden.

Anstelle unserer Klapperstorchgeschichte erzählten Mütter in den Tugenbergen ihren Kindern, dass eine Frau, die sich ein Kind wünscht, in die Wildnis geht. Sie stiehlt dort ein Affenbaby, schneidet ihm den Schwanz ab und trägt es nach Hause. Sie legt es an ihre Brust und nennt es »mein Affe«, bis es in einem Ritual den Namen eines Ahnen erhält. Dann wird seine Herkunft, sein äffischer Ursprung, »vergessen«.