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Eliot
Weinberger

Neulich
in Amerika

Herausgegeben von Beatrice Faßbender

Aus dem Englischen von
Beatrice Faßbender, Eike Schönfeld
und Peter Torberg

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Ratschläge
für Washington aus
dem Alten China

Bushs Amerika

Staatsstreich
ohne Blutvergießen

Wo ist der Westen?

Die Republikaner:
ein Prosagedicht

Was ich hörte
vom Irak

Trumps Amerika

Wen sie hätten
nehmen können …

Wer alles
nicht für Trump
stimmen wird

Zehn typische Tage
in Trumps Amerika

Ein Sommer
in Amerika

Das amerikanische Virus:
zwei Wochen im Mai

Ratschläge für Washington aus dem Alten China

Im zweiten Jahrhundert v. Chr. bat Liu An, der König von Huainan, die Gelehrten an seinem Hof, ein Buch zu erstellen, das alles umreiße, was ein weiser Monarch über Staatskunst, Philosophie und allgemeine Welterkenntnis wissen sollte. Das Ergebnis war das gewaltige Huainanzi, das in englischer Übersetzung neunhundert Seiten umfasst. Hier sind einige Auszüge:

Weist ein Herrscher jene ab, die dem Gemeinwohl dienen, und setzt Menschen nach Freundschaft und Parteiungen ein, dann werden solche von bizarrer Begabung und frivoler Fertigkeit unangemessen befördert, während gewissenhafte Beamte behindert werden und nicht vorankommen. Auf diese Weise werden im ganzen Staat die Sitten der Menschen in Unordnung geraten, und fähige Beamte werden sich mühen.

Ignoriert der Herrscher, was er bewahren sollte, und streitet er mit seinen Ministern und Untergebenen über die Führung der Geschäfte, dann werden jene, die öffentliche Ämter bekleiden, sich darein vertiefen, ihre Stellung zu behalten, und werden jene, die mit öffentlichen Pflichten betraut sind, ihrer Entlassung entgehen, indem sie den Launen des Herrschers Folge leisten. Dies wird fähige Minister dazu veranlassen, ihre Weisheit zu verbergen.

Ist der Herrscher häufig davon erschöpft, dass er sich niederen Pflichten widmet, wird das Wohlverhalten im ganzen Staat verfallen. Sein Wissen allein wird zum Regieren nicht ausreichen, und ihm wird fehlen, was es für den Umgang mit der Welt braucht.

Biedern sich jene, welche die Zügel der Regierung in Händen halten, ihren Vorgesetzten an und begehen Fehler, so wird es keine Möglichkeit geben, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Werden jene, die Verbrechen begehen, nicht bestraft, geraten die zahlreichen Beamten in Aufruhr und Unordnung, und Weisheit wird die Situation nicht lösen können. Grundlose Verleumdungen und nicht gerechtfertigtes Lob sprudeln hervor, und Erleuchtung wird die Situation nicht klären können.

Haben die Menschen nicht einmal ausgehöhlte Grotten oder Hütten aus Flechtwerk als Obdach, erfreut sich ein erleuchteter Herrscher nicht an hohen Terrassen und mehrgeschossigen Pavillons, verbundenen Kammern und prächtigen Räumen.

Der Herrscher sollte Schwierigkeiten erwägen, bevor sie auftreten, sich gegen Unheil wappnen, bevor es eintrifft, sich vor Verfehlungen hüten, auf Kleinigkeiten achtgeben und Gelüsten nicht freien Lauf lassen. Er sollte aufrecht sein und unbeirrbar, rein und unverdorben, bewandert sowohl in zivilen als auch in militärischen Dingen. Er sollte sich gebührlich verhalten. Bei Beförderungen und Degradierungen sollte er tun, was angemessen ist. Er sollte in der Stille leben und ausgeglichen sein.

Eines Herrschers Worte sollten nicht unbedacht gesprochen werden; seine Taten sollten nicht unbedacht ausgeführt werden. Er sollte bestimmen, was gut ist, und erst dann tätig werden.

Was dem Volk untersagt ist, darf der Herrscher selbst nicht praktizieren. Gebraucht ein Herrscher Verderbtheit zur Manipulation der Gesellschaft, wird er fraglos scheitern.

Ein Staat wird erhalten von Menschlichkeit und Rechtmäßigkeit. Mangelt es einem Staat an Rechtmäßigkeit, wird er, mag er auch groß sein, fraglos zugrunde gehen.

In einer Zeit des Niedergangs reißen die Oberen gern die Macht an sich und kennen keine Grenzen. Beamte verringern Belohnungen und erhöhen Strafen. Die Menschen mühen sich wütend ab, und Affären laugen sie aus, ohne irgendetwas zu erreichen.

Sind die Oberen unruhig und gereizt, sind die Unteren verunsichert.

In Hinblick auf das Gesetz ist der Herrscher in seinen Vorlieben und Abneigungen unbefangen. Er versucht nicht, das Hässliche zu beschönigen oder das Falsche gutzumachen.

Ist das eigene Geschick der Aufgabe dienlich, wird es nicht schwer sein, sie zu vollenden. Sind jene dienlich, welche der Herrscher einsetzt, wird das Land geordnet sein.

Ist der Herrscher lauter und aufrichtig, werden ehrliche Beamte ihre Pflichten erfüllen, und niederträchtige Menschen werden sich verborgen halten. Ist der Herrscher nicht aufrichtig, werden böse Menschen ihr Ziel erreichen, und die loyalen werden sich verstecken.

In einem gut geführten Land müssen jene, die über Politik beraten, in Einklang mit dem Gesetz sein; jene, die offizielle Tätigkeiten ausüben, müssen reglementiert werden. Vorgesetzte werten die verbürgte Leistung aus; Beamte verrichten ihre Arbeit effizient. Worte dürfen die Wirklichkeit nicht übertreffen. Taten dürfen das Gesetz nicht übertreten.

In einem ungeordneten Land werden jene, die von der Menge gelobt werden, reich entlohnt, ohne etwas geleistet zu haben. Jene, die ihren Pflichten nachkommen, werden bestraft, obwohl sie frei von Schuld sind. Der Herrscher tappt im Dunkeln und versteht nicht. Würdige unterbreiten keine Vorschläge. Beamte bilden Parteiungen; sich auf die Wirkung ihrer Worte verstehende Redner streifen umher; Leute schmücken ihre Taten aus. Jene, die als weise gelten, widmen sich Tricksereien und Betrug; hohe Beamte ergreifen die Macht. Klüngel und Lagerbildung verbreiten sich. Der Herrscher führt eifrig Projekte aus, die unnütz sind, während die Menschen verhärmt und erschöpft aussehen.

Der Herrscher nutzt die Weisheit der Welt, um Pläne zu machen. Sein persönliches Behagen entscheidet nicht über die Vergabe von Belohnungen. Sein persönlicher Groll entscheidet nicht über die Zumessung von Strafen. Darauf gründet sich seine ehrfurchtgebietende Würde, und seine Gesetze und Weisungen werden klar und präzise sein und nicht für harsch erachtet werden.

Ein Land, das als verloren gelten kann, ist nicht eines ohne Herrscher, sondern eines ohne Gesetze.

26. Februar 2018

Bushs Amerika

Staatsstreich ohne Blutvergießen

Ein Romanautor schreibt mir: »Ist Dir schon aufgefallen, dass alle nur mit sarkastischem Unterton ein ›Gutes Neues Jahr‹ wünschen?« In den Stellenanzeigen der New York Review of Books sucht ein Akademikerpaar »im Gefolge der Bundeswahlen« nach Arbeitsmöglichkeiten im Ausland. Eine Washingtoner Bankangestellte, die ich nur flüchtig kenne, fragt mich, welche Zigarettenmarke ich bevorzuge; sie hat beschlossen, wieder mit dem Rauchen anzufangen. Freunde, denen ich auf der Straße begegne, sind nicht verärgert, sie wirken eher wie betäubt: Monatelang auf der Insel CNN gestrandet, dämmert ihnen nun langsam, dass keine Rettung naht. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben gerade ihren ersten Staatsstreich erlebt.

Zwar floss kein Blut dabei, und die Panzer umstellten auch nicht das Weiße Haus, doch ist »Staatsstreich« kaum eine Übertreibung. In diesem Land, das sich selbst als Leuchtfeuer der Demokratie begreift, wurde Unrecht zu Recht erklärt, fand eine korrupte Machtergreifung statt. Lassen Sie mich kurz rekapitulieren:

Al Gore erhielt rund 540.000 Stimmen mehr als George W. Bush. Präsidentschaftswahlen werden allerdings nach dem archaischen System des Electoral Colleges, des Wahlleutegremiums, entschieden, in das jeder Bundesstaat Repräsentanten entsendet, die dem Willen der Wähler jenes Staates entsprechend abstimmen, und fast immer geschieht dies auf der Grundlage: Der Sieger kriegt alles. Das Electoral College, eine Erfindung des 18. Jahrhunderts, war ein bei Niederschrift der amerikanischen Verfassung in letzter Minute eingefügtes Zugeständnis an die Sklavenhalter im Süden. Die Repräsentanten wurden nach Bevölkerungszahlen zugeteilt; Sklaven durften natürlich nicht wählen, doch wurden sie bei der Berechnung zu Dreifünftel-Menschen erklärt, und so erhöhte sich die Bevölkerungszahl der Sklavenstaaten und deren Anteil an Repräsentanten. Außerdem glaubte man damals (eine Überlegung, an die heute niemand mehr denkt), eine Elite respektabler Wahlmänner schlösse die Möglichkeit aus, dass von einer unberechenbaren Bevölkerung ein ungeeigneter Kandidat gewählt würde. Die Gründerväter brachten, so scheint es, nur eine begrenzte Begeisterung für die Demokratie auf.

Wie jedermann nur zu gut weiß, ging das Rennen letzten November so knapp aus, dass der Wettstreit um das Electoral College von den Stimmen des Staates Florida abhing. Der Staat wird von George W. Bushs Bruder regiert; die Legislative ist in einem überwältigenden Maße republikanisch; und der Innenminister, der zugleich die Oberaufsicht über die Wahlen hat, war zugleich stellvertretender Vorsitzender der republikanischen Wahlkampagne in Florida.

Der Staat Florida ist seit langem berüchtigt für Schmiergelder unter Palmen, für Südstaaten-Provinzialität ohne Südstaaten-Gastfreundschaft und für politische Hetze ohne versüßende Rhetorikschnörkel. Erwartungsgemäß sah der technische Ablauf der Abstimmung von Wahlbezirk zu Wahlbezirk völlig anders aus. Reiche weiße Gemeinden, die vermutlich eher für Bush stimmten, verfügten über moderne Wahlcomputer. Schwarze Gemeinden – und Bush erhielt landesweit noch weniger schwarze Stimmen als selbst Ronald Reagan – hatten nur veraltete Maschinen, die Zehntausende von Stimmen nicht auszählten. In einem besonders bizarren Fall stellten Tausende jüdischer Pensionäre, von denen einige den Holocaust überlebt haben, fest, dass sie wegen eines schlecht gestalteten Wahlzettels aus Versehen für Pat Buchanan gestimmt hatten, Kandidat einer unbedeutenden Partei, der sich bewundernd über Adolf Hitler ausgelassen hatte.

Als die Wahlzettel von den Maschinen ausgezählt worden waren, hatte Bush mit einem Vorsprung von 547 von etwa sechs Millionen Stimmen gewonnen. Bei fast allen Wahlen in den USA führt ein derart knapper Vorsprung automatisch zu einer Nachzählung. Da die älteren Maschinen für ihre Ungenauigkeit berüchtigt sind – selbst ihr Erfinder hielt fest, dass sie einen Fehlerquotienten von 3 bis 5 Prozent aufweisen –, werden diese Nachzählungen normalerweise von Hand vorgenommen.

Der republikanische Innenminister weigerte sich, eine solche Nachzählung von Hand anzuordnen, und die von Republikanern beherrschte Legislative Floridas erklärte die Wahlen für gültig. Nach mehreren Wochen des Taktierens und Lavierens erreichte Gores Wahlkampagne endlich das Oberste Gericht Floridas, das eine erneute Stimmenauszählung anordnete. Ohne Unterlass behaupteten Republikaner im hysterischen Surrealismus der rund um die Uhr berichtenden Nachrichtenkanäle, dass die Demokraten die Wahlen »stehlen« würden und dass Menschen die Stimmen nicht so »objektiv« auszählen könnten wie Maschinen – dabei ist die Auszählung per Hand in Bushs Heimatstaat Texas und in den meisten anderen Staaten üblich. Noch unheimlicher war allerdings die Praxis der Republikaner – im Stil der indischen Kongresspartei oder der mexikanischen PRI zu Amtszeiten –, gedungene Demonstranten herbeizukarren, die die Nachzählungen störten. Sie waren im Hilton untergebracht, und während eines extra organisierten Thanksgiving Dinners sang Wayne Newton, der eigens eingeflogene regierende König von Las Vegas, für sie. Die Demonstrationen waren derart gewalttätig, dass das Wahlbüro in Miami-Dade County, Ort größter Hoffnungen auf weitere Stimmen für Gore, geschlossen werden musste.

Es war allen klar, dass Gore die Nachzählung für sich entscheiden würde – um mindestens 20.000 Stimmen, so die Schätzung des konservativen Miami Herald. Also wandten sich die Republikaner an den Supreme Court, das Oberste Bundesgericht. Die nach den Gesetzen des Bundesstaates Florida vorgeschriebene Frist zur Wahl der Repräsentanten zum Electoral College endete am 12. Dezember. Am 9. Dezember – als nach endlosen Anwaltsschlachten endlich ein System zur korrekten Stimmenauszählung erdacht war – unterbrach der Supreme Court alle weiteren Aktionen für die Dauer der Verhandlungen auf Grundlage der verstörenden Feststellung, dass eine erneute Zählung der Stimmen Bush »irreparablen Schaden« zufügen würde, da es seinen Sieg in Zweifel ziehen könnte. (Der irreparable Schaden für Gore war keiner Rede wert.) Das Abstimmungsergebnis lautete fünf zu vier.

Die Richter und Richterinnen des Supreme Court werden auf Lebenszeit berufen; sieben der neun Amtsinhaber sind von republikanischen Präsidenten berufen worden. Sandra Day O’Connor hat öffentlich kundgetan, dass sie gern in Ruhestand treten wolle, dies aber nicht tue, falls ein Demokrat zum Präsidenten gewählt würde. Die Gattin von Clarence Thomas, eines weiteren Richters, arbeitete bereits in Bushs Übergangsteam und interviewte Bewerber für die Stellen in der neuen Verwaltung. Der Sohn von Anthony Scalia (ebenfalls Richter am Obersten Gericht) war Partner in der Anwaltskanzlei, die Bush vor Gericht vertrat. Zudem hatte Gore im Verlauf der Wahlkampagne versprochen – ohne zu ahnen, dass genau diese Personen die Wahl zu entscheiden haben würden –, dass er keine Richter wie die halsstarrig rechtsgerichteten Thomas und Scalia ins Amt berufen würde; Bush hatte geäußert, sie seien genau die Sorte Richter, die er haben wolle – schließlich habe sein Vater sie ernannt.

Am 12. Dezember um 22 Uhr entschied das Gericht erneut mit einer Stimme Mehrheit gegen eine Neuauszählung, aus drei Gründen: Es waren nur noch zwei Stunden bis zum Ablauf der Frist – dank ihres eigenen Zögerns –, also war es zu spät; das Oberste Gericht Floridas hatte in Sachen einer Wahl in Florida nichts zu entscheiden; die neuerliche Zählung der Stimmen war verfassungswidrig, da die verschiedenen Abstimmungsverfahren und die verschiedenen Arten, sie auszuzählen, dem 14. Zusatz zur Verfassung widersprachen, der allen Bürgern »gleichen Schutz« garantiert. Obwohl die politische Schieflage und die Verlogenheit dieser Gründe offensichtlich waren, war Bush nun legal und unwiderruflich Präsident der Vereinigten Staaten geworden.

Diese Entscheidung führte zu einem praktischen Dilemma. Jede Gemeinde in den Staaten wählt anders, es gibt verschiedene Wahlzettel und verschiedene Maschinen. Zu behaupten, dass diese Unterschiede verfassungswidrig seien, würde den Weg bereiten, jede zukünftige regionale und nationale Wahl im Lande in Frage zu stellen. So entschied das Gericht erstaunlicherweise, dass dieser Verfassungsbruch nur dieses eine Mal und nur auf die Wahl in Florida zutraf.

Worum es im Kern ging, formulierte Richter John Paul Stevens in seiner Minderheitsmeinung: »Auch wenn wir niemals mit absoluter Gewissheit erfahren werden, wer die diesjährigen Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, so steht doch eindeutig fest, wer sie verloren hat. Es ist das landesweite Vertrauen in dieses Gericht als unabhängiger Hüter des Rechts.« Bis zum 12. Dezember hatten die Amerikaner blindes Vertrauen in den Supreme Court: Ganz gleich wie korrupt oder fehlgeleitet die Exekutive oder Legislative auch war, die über allem stehende Interessenfreiheit der Justiz würde auf jeden Fall Bestand haben. Diese flagrante Politisierung des Supreme Courts stellt den größten Schock des Systems seit Watergate und Nixons Amtsniederlegung dar. Welche Auswirkungen das hat, bleibt abzuwarten.

Es gibt Staatsstreiche, die von mächtigen Personen geführt werden, um selbst an die Macht zu kommen, und solche, bei denen mächtige Interessengruppen eine Galionsfigur installieren. Bei der amerikanischen Variante geht es offenkundig um Letzteres. Wenn man George W. Bushs bisherige Amtstätigkeit betrachtet, so ist er der am wenigsten qualifizierte Mensch, der jemals Präsident geworden ist. Den Großteil seines Lebens hat er so verbracht, wie es typisch ist für eine uns aus spätpubertären Tagen vertraute Art: der reiche Bad Boy, der andauernd mit neuen Ideen für eine Party oder einen üblen Scherz ankommt; Enkel eines bekannten Senators und Botschafters; Sohn eines Kongressabgeordneten, Botschafters, CIA-Chefs, Vizepräsidenten und Präsidenten. Die guten Kontakte seiner Familie brachten ihn nach Yale und Harvard, wo er seine Zeit unter anderem mit solchen Aktivitäten verbrachte, wie neu aufgenommene Mitglieder seiner Studentenverbindung persönlich mit einem heißen Eisen zu brandmarken. Die Familie sicherte ihm gute Abschlussnoten und Millionenkredite von reichen Freunden, um damit Geschäfte zu machen, die samt und sonders den Bach hinuntergingen.

Der Erfolg stellte sich ein, als sein Vater Präsident wurde. Eine Gruppe von texanischen Millionären beschloss, ein mittelmäßiges Baseballteam zu kaufen, und ganz hinterlistig setzten sie den Sohn des Präsidenten als Generalmanager dieses Teams ein. Seine Aufgabe bestand darin, den Staat Texas dazu zu bringen, dem Team ein Stadion zu bauen, und zwar auf Kosten der Steuerzahler. Bush hatte Erfolg damit, ein luxuriöses Stadion wurde gebaut, das die Leute in Scharen anzog. Bush jr. war zweifellos ein freundlicher und überzeugender Typ, und jetzt, da er seinen lebenslangen Exzessen mit Alkohol und Drogen abgeschworen und, wie man so sagt, Jesus Christus in sein Herz gelassen hatte, erkannte man auf den Golfplätzen, auf denen derlei Entscheidungen getroffen werden, dass der Junior einen prima Gouverneur abgeben würde. Einige Monate nach seiner Wahl wurde die Baseballmannschaft für ein Vermögen verkauft, und die Geschäftspartner beschlossen, ihm – aus eigener Tasche – viele Millionen mehr als seinen regulären Anteil zu zahlen. Das war natürlich nur in Anerkennung seiner Verdienste und hatte nichts damit zu tun, dass er als Gouverneur milliardenschwere Aufträge zu vergeben hatte.

Bush ist womöglich nicht so dumm, wie es unermüdlich von den Cartoonisten und Fernsehkomikern dargestellt wird – auf einer der im Augenblick populärsten Seiten im Internet, bushorchimp.com, werden Fotos von Bush neben die von Schimpansen gestellt –, doch er ist vermutlich der am wenigsten interessierte Mensch auf Erden. Was bisher über ihn bekannt geworden ist, besteht aus dem, was er nicht tut. Er liest keine Bücher, geht nicht ins Kino, schaut nicht fern und hört sich keine Musik an. Trotz seines Reichtums beschränken sich seine bisherigen Auslandsreisen auf einen Strandurlaub in Mexiko, eine kurze Dienstreise nach Saudi-Arabien und einen Sommerurlaub in China, als sein Vater dort Botschafter war, wo er die Zeit damit zugebracht haben soll, »mit Chinesinnen auszugehen«. Während der fünf Wochen dauernden Auseinandersetzung um die Wahlergebnisse blieb Bush auf seiner Ranch, wo er keinen Fernseher hat. Mit anderen Worten: Bush war die einzige Person in den Vereinigten Staaten, die von den Feinheiten der nicht enden wollenden Geschichte nicht wie hypnotisiert war. Wie bei einem chinesischen Kaiser bestand Bushs Informationsquelle allein in dem, was ihm seine Bonzen zutrugen.

Er geht um zehn Uhr zu Bett und hält einen langen Mittagsschlaf; er hat stets sein Schlummerkissen bei sich. Er spielt gern Solitaire auf dem Computer, dazu ein Spiel namens Video Golf; seine Lieblingsspeise ist ein Erdnussbuttersandwich. Als Gouverneur las er niemals Akten, sondern ließ sich von Assistenten Zusammenfassungen vortragen; Details langweilen ihn. Seine Schwierigkeiten mit der englischen Sprache sind legendär, und es gibt eine täglich aktualisierte Website mit seinen geschundenen Sätzen. Eine Journalistin hat mal darüber spekuliert, ob er nicht vielleicht eine ernsthafte Leseschwäche habe. Bush erwiderte darauf – und dies ist kein Witz, sondern eine belegte Anekdote –: »Diese Frau, die da sagt, ich hätte Dyslexie, die habe ich noch nie interviewt!«

Doch fast die Hälfte aller Wähler (24 Prozent der möglichen Wähler, denn nur 50 Prozent gingen zur Wahl) haben für ihn gestimmt, was weniger Bushs Fähigkeiten als Gores Unbeholfenheit zu verdanken ist. In einem neurotischen Anfall von Starrsinn beharrte Gore darauf, sich von Clinton als Person zu trennen – auch wenn sich nun wirklich niemand vorstellen konnte, dass er seine eigenen Monicas unterm Tisch hocken hätte –, und nutzte die acht ökonomisch fetten Jahre der Ära Clinton/Gore nicht für sich. Zudem gab er sich nicht damit ab, Bush mit den weniger populären Seiten der Republikanischen Partei in Verbindung zu bringen, wie zum Beispiel die fortgesetzten Untersuchungen gegen Clinton und die Anhörungen zum Amtsenthebungsverfahren – ein sechs Jahre währender Staatsstreich in Zeitlupe, der letztlich scheiterte. Am Ende ging es bei den Wahlen nur noch darum, wer als der Nettere ankam. Gore führte sich auf wie ein sehr nervöser Kindergärtner, der Ruhe bewahren will, und Bush war einfach nur der nette Kerl, der das Bier zur Party mitbringt.

Der letzte zutrauliche Depp als Präsident, Ronald Reagan, war in seiner Liebedienerei gegenüber dem, wie Eisenhower es nannte, »militärisch-industriellen Komplex« geradezu servil. Steuern auf Unternehmen und Wohlhabende waren verschwindend gering, Verteidigungsausgaben stiegen in astronomische Höhen, das Land verplemperte seinen Überschuss, bis es Schulden in Billionenhöhe hatte. Die Mittelschicht verarmte, und die Armen wurden immer verzweifelter. Bush jedoch ist Teil einer neuen Machtstruktur, einer, die vielleicht noch furchterregender ist: der militärischindustrielle-christlich-fundamentalistische Komplex.

Allen, gleich ob links oder rechts, ist klar, dass der unwichtigste Mann der neuen Regierung George W. Bush heißt. Seine Unwissenheit in allen Dingen des Regierens und der Welt ist so umfassend, dass er vollkommen von den Ratschlägen derjenigen in den Spitzenpositionen abhängig sein wird. Viele von ihnen stammen aus dem Pentagon. Dick Cheney, sein Vizepräsident – allgemein als der mächtigste Vize aller Zeiten angesehen –, war während des Golfkriegs Verteidigungsminister unter Bush senior. General Colin Powell, der Außenminister, ist ein charismatischer Mann mit der rührenden persönlichen Lebensgeschichte desjenigen, der sich aus der Armut erhebt – doch sollte dabei nicht vergessen werden, dass er dabei half, das Massaker von My Lai während des Vietnamkriegs zu vertuschen, dass er die Contras in Nicaragua beaufsichtigte und sowohl die Invasion Panamas als auch den Golfkrieg leitete. (Seine Berufung in das Amt stellt zudem einen Bruch mit dem ungeschriebenen Gesetz dar, dass Außenministerium und Pentagon, also Diplomatie und Militär, voneinander getrennt bleiben sollten, um sich gegenseitig zu kontrollieren.) Donald Rumsfeld, der Verteidigungsminister, ist ein übrig gebliebener Kalter Krieger, der dieses Amt schon in den Siebzigern unter Gerald Ford innegehabt hat und wohl aus dem künstlichen Tiefschlaf geholt worden ist. Er ist bekannt für seinen Widerstand gegen jede Art von Waffenkontrolle und für seine Begeisterung für die Kriegführung im Weltall.

Ihre Hauptanliegen werden darin bestehen, das sciencefiction-hafte Star-Wars-Verteidigungssystem Ronald Reagans wiederaufleben zu lassen (gegen wen es gerichtet sein soll, ist allerdings unklar) und, was ebenso erschreckend ist, in den Irak zurückzukehren. In ihren Kreisen wird der Golfkrieg als Niederlage betrachtet, weil er nicht mit der Ermordung Saddam Husseins endete. Bush muss seinen Vater rehabilitieren, Cheney und Powell sich selbst. Am ersten Tag der Präsidentschaft Bushs fanden sich auf den Titelseiten der Zeitungen bereits wieder Geschichten von der erneuten Produktion von »Massenvernichtungsmitteln« im Irak. Die einzigen nicht mit Hintergedanken lancierten Meldungen sind die von Erdbeben und Flugzeugabstürzen; alles andere wird immer von irgendjemandem erfunden. Geht es mit der Wirtschaft wieder bergab, womit durchaus zu rechnen ist, dann wird eine Rückkehr in den Irak sicher die willkommenste Ablenkung bieten.

Clintons Wirtschaftsfreunde stammten zumeist von der Wall Street oder aus Hollywood; seine letzte Handlung als Präsident bestand darin, eine lange Liste von Schreibtischtätern zu begnadigen. Zumindest waren seine Wirtschaftsverbündeten ökologisch unbedenklich. Bushs kapitalistisches Universum, das sind die texanischen Öl-, Strom-, Bergbau- und Holzkonzerne.

Clinton hatte ein Moratorium gegen die wirtschaftliche Ausbeutung von bundeseigenem Territorium ausgerufen und mehrere Millionen Hektar Land zu geschützter Wildnis erklärt. Bush hat bereits verlautbaren lassen, dass er beabsichtige, dieses Land wieder für Bergbau und Ölbohrungen freizugeben, vor allem in Alaska. (Selbst sein loyaler Bruder kämpft gegen seine Pläne, vor den Stränden Floridas Ölbohrtürme zuzulassen.) Während Bushs Amtszeit als Gouverneur von Texas, als er eine Politik der freiwilligen Einhaltung von Abgasvorschriften verfolgte, entwickelte sich Houston zur Stadt mit der höchsten Luftverschmutzung in den Vereinigten Staaten – es bedarf keiner weiteren Erwähnung, dass die Schwerindustrie sich keinerlei Mühe gab, sich daran zu halten. Gayle Norton, die neue Innenministerin, weigerte sich als Justizministerin von Colorado, Umweltverschmutzer unter Anklage zu stellen, setzt sich vehement dafür ein, in den Nationalparks Bergbau und Ölbohrungen zu erlauben, und ist Feuer und Flamme dafür, dass die Umweltschutzauflagen nur freiwillig eingehalten werden sollen; sie glaubt nicht, dass die globale Erwärmung von Menschen gemacht ist, und sie ist bizarrerweise dagegen, Gesetze zum Verbot von Blei in Farben zu erlassen. Die neue Chefin der Umweltschutzbehörde EPA ist die ehemalige Gouverneurin von New Jersey, dem nach Texas am stärksten verschmutzten Staat, wo sie sich ebenfalls für die Freiwilligkeit der Umweltgesetze verwendete. Die neue Arbeitsministerin ist gegen Gewerkschaften, gegen Mindestlöhne und Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz. Der neue Energieminister, ein ehemaliger Senator, hatte erfolglos versucht, ein Gesetz zur Auflösung des Energieministeriums einzubringen.

Dies alles ist schon schlimm genug, doch erinnert das an die Ära Reagan/Bush, als, um nur ein Beispiel zu nennen, die Person, die verantwortlich war für den Schutz bedrohter Tierarten, ein Großwildjäger war, dessen Büro mit den Schädeln der exotischen Tiere geschmückt war, die er geschossen hatte. Neu in der Ära Bush wird die Macht der christlichen Rechten sein.

Während des Wahlkampfs trat Bush unter dem Slogan Compassionate Conservatism an. Im Allgemeinen verstand man darunter, dass er sich als Fiskalkonservativer mit sozialem Herz darstellen wollte. Nicht ein einziges Mal gingen die großen Medien auf die Bedeutung dieses Begriffs ein. Er wurde von einem gewissen Marvin Olasky geprägt, einem ehemals jüdischen Kommunisten, der sich zu einem wiedererweckten Christen entwickelte, Herausgeber eines fundamentalistischen Wochenmagazins ist und Autor von Compassionate Conservatism und The Tragedy of American Compassion sowie solchen Machwerken wie Prodigal Press: The Anti-Christian Bias of the American News Media und Telling the Truth: How to Revitalize Christian Journalism. [Mitfühlender Konservatismus; Die Tragödie des amerikanischen Mitgefühls; Verlorene Presse: Die antichristliche Voreingenommenheit der amerikanischen Nachrichtenmedien; Die Wahrheit sagen: Wie der christliche Journalismus neu zu beleben ist.] Olasky ist Bushs liebster, nun, sagen wir mal »Vordenker«, und seine Vision vom »mitfühlenden Konservatismus« stellt ein sehr spezifisches Programm dar: Regierungsgelder, die dazu bestimmt sind, den Armen, Kranken, Analphabeten oder Drogensüchtigen zu helfen, sollten an private christliche Wohltätigkeitsorganisationen weitergereicht werden. Allerdings qualifizieren sich nicht alle – darunter auch einige der bekanntesten – für diese Gelder. Die einzigen Organisationen, die diese Steuergelder erhalten sollen, sind jene, bei denen den Hilfesuchenden Kirchgang und Bibelstudium vorgeschrieben sind.

Bush versuchte, in Texas ein solches Programm durchzusetzen, wurde dort aber letztlich von den Gerichten ausgebremst. In der ersten Woche seiner Präsidentschaft hat er bereits ähnliche Pläne angekündigt. Als Mann, der öffentlich kundgetan hat, dass jene, die nicht an Jesus glauben, zur Hölle fahren werden, ist es für ihn nur natürlich, zu übersehen, dass die Trennung von Kirche und Staat zu den Fundamenten der amerikanischen Regierung gehört.

Während des Wahlkampfes versuchte er seine fundamentalistischen Verbindungen im Hintergrund zu halten und sprach von sich als »Einender, nicht Trennender«. Allerdings hielt er voller Freude eine Rede an einem evangelikalen College, der Bob Jones University, wo Studenten rausgeschmissen werden, wenn sie mit einer Person anderer Rasse ausgehen, und dessen Gründer den Katholizismus als »Religion des Antichristen und als satanisches System« bezeichnete.

Kaum war Bush Präsident geworden, legte er alle Kreidefresserei schleunigst ab. Seine Amtseinführung war in ihrer besonderen Erwähnung von Jesus Christus statt eines ökumenischen Gottes einzigartig. Zum Justizminister, dem wichtigsten innenpolitischen Posten im Kabinett – demjenigen, der alle Bundesrichter und Staatsanwälte ernennt und dafür verantwortlich ist, Bürgerrechte, Umweltschutz- und Antitrustgesetze durchzusetzen –, bestellte er den ehemaligen Gouverneur und Senator John Ashcroft, der regelmäßig in Zungen redet (ebenso wie Richter Clarence Thomas, das einzige schwarze Mitglied einer ansonsten rein weißen Pfingstgemeinde) und eine tragende Säule der Bob Jones University ist. Bei seiner Wahl zum Senator vor sechs Jahren goss sich Ashcroft Speiseöl über den Kopf, um sich so im Stile der biblischen Könige selbst zu salben. Vergangenen November wurde er bei der Wiederwahl demütigenderweise von einem Toten geschlagen – sein Gegner war wenige Wochen zuvor bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.

Ashcroft, der als das rechteste Mitglied des Senats bekannt war – rechter noch als der berüchtigte Jesse Helms –, hat sich gegen jede Form der Empfängnisverhütung ausgesprochen, gegen die Aufhebung der Rassenschranken in den Schulen, gegen öffentliche Förderung der Künste, gegen Umweltschutzvorschriften, gegen Atomtestsperrverträge, gegen den rechtlichen Schutz von Frauen oder Homosexuellen, gegen Regierungshilfe für Minderheiten und sogar gegen Promillegrenzen am Steuer. Angeblich glaubt er, dass der Mord an einem Arzt, der Abtreibungen durchführt, eine zu rechtfertigende Tötung ist.

Ashcroft ist nicht nur gegen jede Form von Waffenkontrolle, er ist auch mit einer Organisation namens Gun Owners of America verbunden, die glaubt, dass alle Lehrer Waffen tragen sollten, um mit widerspenstigen Schülern fertigzuwerden. Solche Ansichten sind im Team Bush durchaus nicht extrem, und dies in einem Land, in dem die Haupttodesursache bei Kindern Schussverletzungen sind, die meisten durch Unfälle. Als Kongressabgeordneter stimmte Vizepräsident Cheney gegen ein Gesetz, das Plastikwaffen untersagt, die jeden Flughafenmetalldetektor passieren – ein Gesetz, das selbst von der National Rifle Association befürwortet wurde. Vor ein paar Jahren erklärte Tom DeLay, ein ehemaliger Kammerjäger in Texas, der nun der einflussreichste Mann im Kongress ist, nach dem Schulmassaker an der Columbine High School in Colorado: »Ja, was erwarten Sie eigentlich, wenn diese Kinder in die Schule gehen und dort erzählt bekommen, dass sie von einer Horde Affen abstammen?«

Das Bizarrste ist vielleicht, dass sowohl Ashcroft als auch Innenminister Norton wie besessen davon sind, die Niederlage des Südens im Amerikanischen Bürgerkrieg zu rächen – und das, obwohl sie im Norden beziehungsweise Westen des Landes geboren wurden. Ashcroft steht mit einem Neokonföderierten-Magazin namens Southern Partisan in Verbindung, das den Glaubenssatz vertritt, die Rassen hätten zu Zeiten der Sklaverei am besten miteinander gelebt, und »Neger, Asiaten, Orientalen, Hispanics, Latinos und Osteuropäer [verstünden] von Natur aus nichts von Demokratie«. Das Magazin produziert unter anderem ein T-Shirt mit einem Bild von Abraham Lincoln und den Worten »Sic Semper Tyrannis«, die John Wilkes Booth rief, als er Lincoln erschoss. Ein solches T-Shirt trug Timothy McVeigh an dem Tag, als er das Regierungsgebäude von Oklahoma City in die Luft jagte.

Ashcroft ist derjenige, der für die Einhaltung der Gesetze in den Vereinigten Staaten zuständig sein wird. Ein Supreme Court, der seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr so offen politisch war, wird verantwortlich für die letztgültige Auslegung dieser Gesetze sein. Der Präsident ist eine lächelnde Stoffpuppe, umgeben von erfahrenen und intelligenten Militärs, Industriellen und christlichen Fundamentalisten, die zusammen mit einer republikanischen Mehrheit im Kongress und ohne Gericht, das sie aufhalten könnte, im Prinzip tun und lassen können, was sie wollen. Die Vereinigten Staaten sind leider kein von Bergen umschlossenes Land im Himalaja oder in den Anden. Ein Erdbeben hier erschüttert die ganze Welt.

27. Januar 2001

Wo ist der Westen?

[Statement für eine Podiumsdiskussion im Rahmen des Symposiums »Im Westen was Neues – Europa zwischen Postatlantismus und Postkommunismus« an der Volksbühne in Berlin (13./14. Mai 2003).]

Das Einzige, was über den Westen feststeht, ist, dass es nicht der Osten ist. Im Englischen aber – wie es im Deutschen ist, weiß ich nicht – ist es schwer zu sagen, wo der Osten liegt. Betrachtet man akademische Disziplinen, stellt man fest, dass das alte Mesopotamien im Nahen Osten liegt, der Irak aber im Mittleren Osten: Je näher es uns zeitlich kommt, desto weiter weg rückt es geografisch. China und Japan liegen im Fernen Osten, Indien aber liegt – trotz seiner östlichen Religionen – überhaupt nicht im Osten, sondern in Südasien. Orientalismus lautet unser Begriff für westliche Vorstellungen und Missverständnisse den Osten betreffend, doch die beiden klassischen Studien dazu, von Edward Said und Raymond Schwab, beschäftigen sich mit dem Mittleren Osten beziehungsweise mit Indien, und die Schlussfolgerungen der einen sind nicht auf die andere übertragbar. Und natürlich erschuf zu unserer Zeit der Kalte Krieg einen neuen Osten, einen, in dem, aus westlicher Perspektive, kein Unterschied zwischen Ostdeutschen und Nordkoreanern bestand.

Das einzige, was über den Osten feststeht, ist, dass es nicht der Westen ist. Doch es ist schwer zu sagen, wo der Westen liegt. In vieler Hinsicht ist er sogar noch schwerer zu lokalisieren als der Osten. Man kann durchaus behaupten, dass es zweitausend Jahre lang – grob gesagt von 500 v. Chr. bis 1500 n. Chr. – ein griechisch-römisch-jüdisch-christlichislamisches Kontinuum gab, eine untereinander verbundene, sich gegenseitig nährende, wenn auch häufig untereinander Krieg führende Zivilisation, die weitgehend isoliert von den damaligen Reichen oder Großstaaten in Mittelamerika, den Anden, China, Indien und Subsahara-Afrika und vollkommen anders als diese war. Womöglich ist das die einzige Periode, in der es eine westliche Zivilisation wirklich gab. (Und eine Zeit, als dieser Ort hier, wo wir gerade sitzen, sich weder im Westen noch im Osten befand, sondern im Norden.)

Nach 1492 veränderte sich der Westen dauerhaft, zunächst auf seinem eigenen Territorium durch die Abtrennung des Islam, dann durch seine kolonialistische Expansion in den größten Teil der restlichen Welt, was zu einer Reihe von Hybridkulturen führte, in denen mehr oder weniger westliche Werte herrschten, die aber dennoch niemand zum Westen gezählt hätte. Heute mögen sich die postkolonialen Staaten Asiens im Osten befinden, jene in Lateinamerika oder Afrika liegen aber nicht im Westen. Tatsächlich ist es schwer zu sagen, wo sie liegen, und bei Diskussionen über die atlantische oder gar post-atlantische Lage bleiben sie ungeachtet ihrer Küstenlinien üblicherweise außen vor.