Grundrechte-Report 2021

Grundrechte-Report 2021

Benjamin Derin | Jochen Goerdeler | Rolf Gössner | Wiebke Judith | Hans-Jörg Kreowski | Sarah Lincoln | Paul Nachtwey | Britta Rabe | Lea Welsch | Rosemarie Will

FISCHER E-Books

Inhalt

Über dieses Buch

»Es ist trotz aller immer erneuten Vergeblichkeit eine Lust, sich bürger- und menschenrechtlich zu engagieren.«

Wolf-Dieter Narr anlässlich der Gründung des Grundrechte-Reports vor 25 Jahren

 

Zum 25. Mal dokumentiert der Grundrechte-Report die Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Im Jahr 2020 führte die Pandemiebekämpfung zu breitflächigen, teils tiefen Freiheitseingriffen. Existierende Ungleichheiten und Ausschlüsse vergrößerten sich. Auch abseits davon – weitere Themen der gut 40 Beiträge sind etwa Überwachung, Rassismus, Klima und Asyl – verletzten oder gefährdeten staatliche Institutionen vielfach fundamentale Verfassungsnormen.

 

Gerade in Krisenzeiten müssen sich Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bewähren.

 

Informationen über die Herausgeber, die Autorinnen und Autoren, die Redaktion und Herausgeberorganisationen finden Sie im Anhang des Buches.

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Covergestaltung: Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

Coverabbildung: picture alliance/dpa/Swen Pförtner

 

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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491422-0

Fußnoten

Dieser Text wurde in Zusammenarbeit mit Kirsten Bock, Christian Ricardo Kühne, Rainer Mühlhoff, Měto R. Ost und Jörg Pohle erstellt.

Ungleiche Freiheiten und Rechte in der Krise

Das beherrschende Thema des vergangenen Jahres war ohne Zweifel die Corona-Pandemie. Auch aus der Perspektive des Grundrechte-Reports ergaben sich daraus drängende Fragen. Die ungewohnte Situation verleitete dabei zunächst zu einer Fokussierung auf die unmittelbaren staatlichen Maßnahmen. Denn die staatlichen Reaktionen auf die sich ab dem Frühjahr auch in Deutschland ausbreitende Infektionskrankheit COVID-19 gingen mit teilweise erheblichen Grundrechtseingriffen einher und bewegten sich oftmals im Spannungsfeld zwischen dem Schutz der Gesundheit einerseits und den Freiheitsrechten andererseits. Die mitunter fundamentalen Einschränkungen, die zuvor kaum vorstellbar gewesen wären, stellten die Gesellschaft vor ethische, soziale, juristische und politische Herausforderungen.

Und doch erscheinen nicht nur die viel diskutierten Maßnahmen wie »Shutdowns«, Ausgangssperren und Maskenpflicht als Einfallstor für empfindliche Eingriffe in verschiedene Grundrechte. Dass sich angesichts dieser Krise gerade prekäre Lebensverhältnisse zuspitzten, dass die Lage marginalisierter Menschen und Gruppen dadurch fort- und weiter festgeschrieben wurde, darf nicht übersehen werden. Denn gerade in Zeiten von Krisen und grundsätzlichem gesellschaftlichen Wandel werden bestehende gesamtgesellschaftliche Risse zutage gefördert. Und dabei sind es oftmals sozial Benachteiligte und unzureichend Repräsentierte, die sich im politischen Interessenkonflikt innerhalb tradierter Institutionen nicht oder nur schwerlich durchsetzen können.

Wenn die vorliegende Ausgabe des Grundrechte-Reports (dessen Berichtszeitraum im Dezember 2020 endete) deshalb wie jedes Jahr die Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland bewertet, liegt der Schwerpunkt dieses Mal auf den ungleichen (Un-)Freiheiten, die diese Krise mit sich

Besorgniserregende Angriffe auf die Grundrechte erfolgten dabei einmal mehr im Bereich des Asyl- und Aufenthaltsrechts. Hierzu gehörten unter anderem die Blockade der Bundesregierung bei der Aufnahme von Geflüchteten, die Auseinandersetzung um die Höhe von und den Zugang zu Sozialleistungen, die gesundheitsgefährdende Unterbringung in den Unterkünften, der Zugriff auf die Daten von Asylsuchenden, die Verzögerung des Zugangs zu Schutz durch die europarechtswidrige Unterbrechung der Dublin-Frist und die deutsche Verantwortung bei der in tödlichen Schüssen gipfelnden Grenzschließung zwischen Griechenland und der Türkei.

Der Blick auf den Umgang mit der konkreten gesundheitlichen Dimension der Pandemie offenbart, welchen Preis die marktwirtschaftliche Profitorientierung hat und zu wessen Lasten eine solche Wirtschaftsordnung geht. So wurden die Beschäftigten im Gesundheitssektor zwar kurzzeitig beklatscht, letztlich aber mit den hohen Risiken weitgehend allein gelassen. Es erging außerdem eine umstrittene Gesetzesnovelle für die häusliche Intensivpflege, und die Arbeitsbedingungen und der Gesundheitsschutz waren auch für viele andere Arbeitskräfte in prekären Beschäftigungsverhältnissen angesichts einer Pandemie inadäquat (etwa in der Fleischindustrie). Wie ungleich die Krise sich auswirkte, war auch im Bildungsbereich zu spüren, wo sie ärmere Schüler*innen und Studierende besonders hart traf.

Im Rahmen der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie erfolgten erhebliche Eingriffe in die Versammlungsfreiheit, sogenannte Tracing-Apps warfen grundrechtliche Fragen auf, die vermutlich auf längere Zeit relevant bleiben werden, und die umstrittene Änderung des Infektionsschutzgesetzes gab Anlass zur kritischen Bewertung der

Erneut wurde deutlich, wie sehr Rassismus und rechtes Gedankengut gerade auch durch staatliche Institutionen und Praktiken vermittelt werden. Die Grundrechtsrelevanz zeigte sich dabei an vielen Punkten. Wieder starben People of Color in Polizeigewahrsam unter bis heute nicht hinreichend aufgearbeiteten Umständen. Polizei und Politik luden Ereignisse wie die medial präsente »Stuttgarter Krawallnacht« rassistisch auf und bedienten sich andernorts vermehrt des Konstrukts der »Clankriminalität« zur Rechtfertigung rassistischer Kriminalisierung und damit einhergehender weitreichender Grundrechtseingriffe. Gleichzeitig versagten die Behörden, wenn es darum ging, die Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ausreichend zu schützen. Das machten das Attentat von Hanau, der Abschluss des Prozesses gegen den Attentäter von Halle oder die Vorwürfe gegen Polizei und Staatsanwaltschaft im Umgang mit der rechten Anschlagsserie in Berlin-Neukölln deutlich.

Daneben wirft der diesjährige Report Schlaglichter auf bereits häufig betroffene Grundrechte. So nimmt etwa die Bedeutung von Daten in der digitalisierten Welt stetig zu, und parallel dazu wächst auch das Interesse staatlicher Stellen daran. Grenzen gesetzt wurden in diesem Jahr dem erneut ausgeweiteten behördlichen Zugriff auf persönliche Daten bei der Vorratsdatenspeicherung, der Bestandsdatenauskunft und der strategischen Fernmeldeaufklärung des BND im Ausland – wie nachhaltig diese sind, wird sich jedoch erst noch zeigen müssen. Zugleich wurde ein Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht, das wiederum die Befugnisse der Nachrichtendienste beim Einsatz von Staatstrojanern ausweitet.

Umkämpft waren die Grundrechte auch bei der Durchsetzung des Klimaschutzes, der mit mehreren Verfassungsbeschwerden eingefordert wurde. Das Kohleausstiegsgesetz wurde verabschiedet, bleibt verfassungsrechtlich aber mit vielen Fragezeichen versehen. Staatliche wie private Akteur*innen versuchten zudem, die Berichterstattung von den Kohleprotesten einzuschränken, und griffen dabei auch in die Pressefreiheit ein.

Hinsichtlich der Geschlechtergerechtigkeit haben die Urteile zu den Paritätsgesetzen in Thüringen und Brandenburg der Durchsetzung der Repräsentation von Frauen in Parlamenten bedauerlicherweise eine Absage erteilt.

Weitere Themen kehrten als alte Bekannte des Reports zurück, darunter die Diskussion um das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst, die Frage nach der Legalität aktiver Sterbehilfe, die (De-)Thematisierung der Diskriminierung Ostdeutscher oder die Folgen rechtsstaatswidriger Tatprovokation durch V-Personen der Repressionsbehörden.

Apropos alte Bekannte: Besonders zu nennen ist hier, dass nach 15 Jahren Verfahrensdauer endlich höchstrichterlich festgestellt wurde, dass die jahrzehntelange Überwachung des dem Grundrechte-Report seit langer Zeit verbundenen Publizisten und Bürgerrechtlers Rolf Gössner durch den Verfassungsschutz rechtswidrig war. Diese Nachricht erfreut, macht Mut, verweist aber auch darauf, dass sich die Einhaltung und Verteidigung der Grundrechte nicht dem Staat überantworten lassen. Im Gegenteil: Es gilt, diese Rechte aktiv einzufordern und zu verteidigen –, umso mehr in Krisenzeiten, in denen sie stets besonders unter Druck geraten und die Bereitschaft, sie auch dort zu achten und durchzusetzen, wo es inopportun erscheint, rasch schwindet. Dabei ist ihr Wert gerade daran zu messen, wie sie unter solchen Umständen eingehalten werden.

Die Grundrechte aktiv einzufordern und zu verteidigen – genau deswegen gab es vor jetzt 25 Jahren die Idee zu diesem Report. Ein Gründungsvater war der beliebte und geschätzte Bürgerrechtler und Politologe Wolf-Dieter Narr. Er starb im Oktober 2019. Wir wollen hier an ihn erinnern und dankbar sein, dass es mit seiner Hilfe gelungen ist, das Projekt

Was Wolf-Dieter Narr im Blick hatte, wo er Reibung herstellen und sichtbare Funken sprühen lassen wollte, formulierte er zum Auftakt 1997 folgendermaßen: »Gerade die bürger- und menschenrechtlichen Normen setzen dazu instand, alle möglichen mehr oder minder sublimen Herrschafts- und Ausbeutungstricks aufzudecken und ihnen entgegenzuarbeiten.«

Art. 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Sarah Lincoln/David Werdermann

Zu Unrecht in einen Topf geworfen

Sozialgerichte äußern Zweifel an Leistungskürzung in Sammelunterkünften nach dem Asylbewerberleistungsgesetz

Weil der Staat Sozialausgaben sparen will, sollen Geflüchtete in Sammelunterkünften wie Ehepaare gemeinsam »aus einem Topf« wirtschaften, also zusammen einkaufen und kochen, Sport- und Spielgeräte, Bücher und Filme teilen. Dies ging schon ohne Corona völlig an der Realität in den Unterkünften vorbei. Seit der Corona-Pandemie und den zahlreichen Ausbrüchen in den Unterkünften ist ein gemeinsames Wirtschaften vollends ausgeschlossen. Eine nachvollziehbare und sachlich differenzierte Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums, wie sie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) fordert, sieht anders aus. Wenig überraschend haben im Jahr 2020 zahlreiche Sozialgerichte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Leistungskürzung geäußert und den Betroffenen im Eilverfahren höhere Leistungen zugesprochen.

Existenzminimum mit Abschlag

Jeder hilfebedürftige Mensch hat Anspruch auf Leistungen zur Existenzsicherung. Das BVerfG hat 2010 aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums

Diese Vorgaben sehen nun etliche Sozialgerichte in Bezug auf die Sozialleistungen in Sammelunterkünften als verletzt an. Alleinstehende, die in Sammelunterkünften leben, erhalten seit September 2019 Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 2. Das sind 10 Prozent weniger Sozialleistungen als vorher und etwa 12 Prozent weniger, als Hartz-IV-Empfänger*innen bekommen. Im Jahr 2020 standen ihnen monatlich 316 Euro zur Verfügung; 2021 sind es 323 Euro. Die Regelbedarfsstufe 2 kam zuvor nur bei Paarhaushalten zur Anwendung. Dort ergaben Studien Einspareffekte in Höhe von etwa 10 Prozent, die sich aus gemeinsamen Anschaffungen, geteilten Internetverträgen etc. ergeben. Dies hat die Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD kurzerhand auf Geflüchtete in Sammelunterkünften übertragen. Die Betroffenen würden sich schließlich in »derselben Lebenssituation befinden« und »der Sache nach eine Schicksalsgemeinschaft« bilden (vgl. BT-Drs. 19/10052, S. 24).

Sozialgerichte: Kein »Wirtschaften aus einem Topf«

Diese Begründung ist der Koalitionsmehrheit im Bundestag nun in zahlreichen sozialgerichtlichen Entscheidungen um die Ohren geflogen. Die Sozialgerichte bringen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Kürzung vor und sprechen den Antragsteller*innen in Eilbeschlüssen die höheren Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 zu.

Ihre Argumente sind überzeugend: Die Bewohner*innen

Ein wichtiger Aspekt fehlt in der bisherigen Rechtsprechung: Selbst wenn sie wollten, könnten Bewohner*innen von Sammelunterkünften nicht die gleichen Einspareffekte erzielen wie Eheleute. Das größte Einsparpotenzial liegt in größeren gemeinsamen Anschaffungen wie Inneneinrichtung und Hausrat. Diese Leistungen sind im Regelbedarf für Geflüchtete jedoch von vornherein nicht enthalten, weil sie gesondert erbracht werden. In der Regel werden sie als Sachleistung von der Unterkunft gestellt. Das Einsparpotenzial kann daher von vorneherein nicht herangezogen werden, um die Kürzung bei den Geldleistungen um 10 Prozent zu rechtfertigen.

Ein politischer Taschenspielertrick

40 Millionen jährlich spart der Staat durch die Kürzung. Das entspricht just der Summe, die der Bundesregierung dadurch entstanden ist, dass sie – ebenfalls im September 2019 – die Regelsätze für Asylbewerber*innen nach jahrelanger

Und damit hat er zumindest vorübergehend auch Erfolg. Denn das Gesetz kippen können nur die Verfassungsrichter*innen in Karlsruhe. Selbst wenn ein Sozialgericht die Regelung dort zeitnah nach Artikel 100 Abs. 1 Satz 1 GG zur Prüfung vorlegt, können bis zu einer Entscheidung noch Jahre vergehen. Bis dahin begnügen sich einige Sozialgerichte mit einer verfassungskonformen Auslegung. Das Sozialgericht Landshut liest die Regelung so, dass die Sozialbehörde in jedem Einzelfall nachweisen muss, dass die Bewohner*innen tatsächlich gemeinsam wirtschaften (SG Landshut, Urteil vom 14.10.2020, S 11 AY 39/20). Andere Gerichte haben die besonderen Umstände während der Corona-Pandemie zum Anlass genommen, den Leistungsberechtigten ausnahmsweise doch die höheren Leistungen nach der Bedarfsstufe 1 zuzusprechen (SG Berlin, Beschluss vom 19.5.2020, S 90 AY 57/20 ER).

Damit ist jedoch nur denjenigen geholfen, die sich an die Gerichte wenden. Denn von alleine passen die Sozialämter die Leistungen nicht an. Um einen verfassungskonformen Zustand herzustellen, ist daher dringend eine Entscheidung des BVerfG erforderlich. Schon 2012 hat das BVerfG die viel zu niedrigen Leistungen nach dem AsylbLG für verfassungswidrig erklärt. Die Kernaussage aus der damaligen Entscheidung hat an Aktualität nicht verloren: »Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.«

Literatur

Gerloff, Volker, ASR 2/2020, 49 – Der neue Regelbedarfssatz für alleinstehende Erwachsene in Sammelunterkünften nach dem AsylbLG.

Gesellschaft für Freiheitsrechte: Muster für eine Richtervorlage zur Verfassungswidrigkeit der Grundleistungen im Asylbewerberleistungsgesetz, https://freiheitsrechte.org/mustervorlage-asylblg/

Pauschaler Ausschluss vom menschenwürdigen Existenzminimum

Deutsches Recht vor dem EuGH

Wenig beachtet von der deutschen Öffentlichkeit sprach der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 6. Oktober 2020 ein wichtiges Urteil zum Sozialleistungsausschluss für Unionsbürger*innen, das in der Sache durchaus zu begrüßen ist (Az. C-181/19). Vorangegangen war eine Klage eines polnischen Arbeitnehmers gegen das Jobcenter Krefeld, die vom Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt wurde. Der Arbeitnehmer lebt seit 2013 mit seinen beiden minderjährigen Töchtern in Deutschland und übte 2015 und 2016 mehrere abhängige Beschäftigungen aus, bevor er arbeitslos wurde. Deshalb bezog die Familie von 2016 bis 2017 Arbeitslosengeld und Sozialgeld. Seit 2018 war der Familienvater wieder in Vollzeit erwerbstätig. Er beantragte für das zweite Halbjahr 2017 die Weiterbewilligung der Leistungen beim zuständigen Jobcenter. Dieses lehnte ab mit der Begründung, im fraglichen Zeitraum habe er sich allein zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland aufgehalten und falle somit unter den Leistungsausschluss nach § 7 Absatz 1 Satz 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Ausschließlich zur Arbeitssuche?

Die sozialrechtlichen Ansprüche von Unionsbürger*innen sind seit Jahren Gegenstand einer juristischen und politischen Debatte, die medial oft durch rassistisch aufgeladene Warnungen vor angeblichem »Sozialtourismus« befeuert wird. Während der EuGH in den 2000er Jahren noch einer auf europäische Freizügigkeit und Solidarität ausgerichteten Rechtsauffassung folgte, ist besonders seit den Urteilen Dano (2014) und

Im Kern geht es um die Ansprüche nicht erwerbstätiger Unionsbürger*innen auf Gewährung des menschenwürdigen Existenzminimums. Anders als Drittstaatsangehörige haben Unionsbürger*innen das Recht, sich zur Arbeitssuche in einem anderen Mitgliedsstaat aufzuhalten. Ein weiteres Aufenthaltsrecht gibt etwa die eigene (Aus-)Bildung oder die der Kinder. Der Aufenthaltszweck ist entscheidend für den rechtlichen Status: Nur bei einem Aufenthaltsrecht »allein aus dem Zweck der Arbeitssuche« greift der sozialrechtliche Leistungsausschluss.

Die häufig rassistisch aufgeladenen, regelmäßig von Politiker*innen befeuerten Debatten ebenso wie die genannten EuGH-Urteile führten schließlich dazu, dass Leistungen immer seltener gewährt wurden bzw. erst auf dem Rechtsweg durchgesetzt werden konnten. Was jedoch nichts am rechtmäßigen Aufenthalt von Unionsbürger*innen änderte und deshalb vor allem dazu führte, dass eine ganze Gruppe von Menschen durch alle sozialrechtlichen Netze fiel, also zu verelenden drohte. Dies wurde in der Öffentlichkeit sichtbar etwa dadurch, dass Familien gezwungen waren, in Grünanlagen zu übernachten. Denn ohne SGB-II-Anspruch besteht faktisch oft auch kein Zugang zu Obdachlosenunterkünften oder zur Essensausgabe der Tafeln. Ende 2015 intervenierte deshalb das Bundessozialgericht (Urteil v. 3.12.2015, Az. B 4 AS 44/15 R): Wenn Unionsbürger*innen keine SGB-II-Leistungen bewilligt werden könnten, dann müsse das Existenzminimum eben über Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) gesichert werden.

Um diese letzte Möglichkeit auf Existenzsicherung auszuschließen, reagierte die Bundesregierung relativ zügig und legte Ende 2016 ein Gesetz vor, nach dem nicht nur alle Unionsbürger*innen, die sich ausschließlich zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, grundsätzlich für fünf Jahre von sämtlichen Leistungen ausgeschlossen sind, sondern auch ehemalige

Wer die Schule besucht

Dies ist der Punkt, der nun vom EuGH als nicht europarechtskonform angesehen wurde: Frühere Arbeitnehmer*innen mit Kindern, die weiterhin zur Schule gehen, dürfen wegen ihres Aufenthaltsrechts nach Artikel 10 der Verordnung (EU) 492/2011 nicht pauschal von existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen werden. Natürlich ist das für diese Gruppe eine Verbesserung und zu begrüßen.

Das Urteil betrifft indes nur eine von mehreren Personengruppen, die vom Leistungsausschluss betroffen sind. An der Situation von Arbeitssuchenden oder ehemaligen Arbeitnehmer*innen ohne schulpflichtige Kinder ändert sich nichts. Besonders im Fall von Kindern, die jünger als sechs Jahre sind, bleibt die Situation äußerst prekär. Vor allem kann der Leistungsanspruch, der durch dieses Urteil bekräftigt wird, in der Praxis durch die Rechtsprechung von Sozialgerichten oder schon durch Verwaltungshandeln insbesondere der Jobcenter konterkariert werden. In Berlin beispielsweise sind die allermeisten betroffenen Unionsbürger*innen in Notübernachtungen oder Pensionen untergebracht, deren Kosten vom Jobcenter getragen werden. Überweist das Jobcenter nicht oder nicht rechtzeitig, wird ihnen recht schnell damit gedroht, auf die Straße gesetzt zu werden – und vielfach geschieht das auch tatsächlich. Damit endet für die Kinder meist der Schulbesuch, der für obdachlose Menschen kaum zu organisieren ist. Ohne Schulbesuch jedoch entfällt der Aufenthaltszweck. Es entsteht so ein unzumutbarer Druck nicht nur auf die Eltern, sondern auch auf die Kinder.

Hinzu kommt, dass es im Sommer 2019 gesetzliche Änderungen zum Kindergeldanspruch von Unionsbürger*innen gegeben hat. Sie haben diesen Anspruch inzwischen nur noch, wenn sie erwerbstätig sind. Dadurch sind viele vulnerable Personengruppen kategorisch ausgeschlossen, wie beispielsweise kranke Menschen oder Alleinerziehende, die aus verschiedenen Gründen keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben bzw. finden. Dies hat existenzielle Konsequenzen nicht nur für die Eltern, sondern vor allem für die Kinder – in einem Land mit ohnehin viel zu hoher Kinderarmut. Wenn beispielsweise EU-Bürger*innen als Paar mit Kindern hier leben und der Anspruch sowohl auf Kindergeld als auch auf SGB-II-Leistungen an die Erwerbstätigkeit des Mannes gekoppelt ist, weil die Frau nicht erwerbstätig war und ist, da sie sich um die Kinder kümmert, so steht sie im Fall einer Trennung gänzlich ohne Ansprüche da. Es ist schlimm genug, dass in solchen Fällen das Kindergeld die einzig verbleibende Unterstützung war, aber dass sie nun auch noch wegfällt, führt zu einer existenziellen Bedrohung. Man sollte sich deshalb bewusst machen, dass das EuGH-Urteil vom Oktober 2020 zwar zu begrüßen ist, die Gesamtlage aber äußerst prekär bleibt und sich in den letzten Jahren eher verschlechtert als verbessert hat.

Es ist wichtig, immer wieder an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 18. Juli 2012 zu erinnern (Az. 1 BvL 10/10): Es heißt dort, dass Asylbewerberleistungen offenbar so niedrig seien, um Menschen von der Migration nach Deutschland abzuschrecken, und dass eine solche Migrationspolitik mit Mitteln des Sozialrechts verfassungswidrig sei: Das menschenwürdige Existenzminimum »ist migrationspolitisch nicht zu relativieren«. Dieser Grundsatz muss auch im Umgang mit Unionsbürger*innen gelten. Insofern ist das EuGH-Urteil zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber es gibt immer noch viel zu viele EU-Bürger*innen in Deutschland, die de facto wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden, solange sie nicht »wirtschaftlich aktiv« sind.

Janda, Constanze: Die Autonomie der Freizügigkeitsverordnung und das »Gespenst des Sozialtourismus«, in: Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht  01/2021, S. 3ff.

5 Jahre Dokumentationsstelle Antiziganismus (DOSTA): Ein Rückblick, PDF zum Download auf www.amaroforo.de

Rosemarie Will

§ 217 Strafgesetzbuch (StGB) ist weg

Sterbehilfe, was nun?

Am 26. Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein stark beachtetes Urteil (Az. 2 BvR 2347/15; 2 BvR 651/16; 2 BvR 1261/16) zur Selbstbestimmung beim Sterben gesprochen. Danach schließt das Recht auf selbstbestimmtes Sterben aus Artikel 2 Absatz 1 GG i.V.m. Artikel 1 Absatz 1 GG die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Dazu gehöre auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. Der 2015 verabschiedete § 217 StGB zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung wurde für verfassungswidrig erklärt und aufgehoben. Anders als juristische Laien annehmen, verbot § 217 StGB nicht nur, Geschäfte mit der Sterbehilfe zu machen, sondern jegliche Form organisierter oder professionalisierter Sterbehilfe, auch wenn sie uneigennützig erfolgte. Weder Sterbehilfe-Vereine noch Ärzte durften danach Suizidassistenz leisten (vgl. Rosemarie Will, Das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe, eine verfassungswidrige Grundrechtseinschränkung, Grundrechte-Report 2016, S. 48ff.).