Girl Power

Fußnoten

Mit besonderem Dank an den Baumarkt, wo uns Mom jedes Mal hingefahren hat, wenn wir eine neue Idee hatten.

 

 

 

obwohl man es nicht von ihnen erwartet hätte.

Und für die, die immer weitermachen,

das Denken verändern.

Episode eins

Ich habe noch nie einen Podcast gemacht, und ich habe keine Ahnung, ob ich das hier richtig angehe. Ich habe bisher überhaupt nur zwei Podcasts gehört: einen über einen berühmten Gitarristen und einen anderen über die Südstaaten-Küche. Beide haben mich nicht auf das vorbereitet, was ich hier sagen will. Aber ich habe das Gefühl, dass ich so am besten erzählen kann, was in Wirklichkeit dazu geführt hat, dass die gesamte achte Klasse der Fisher-Mittelschule Olivia Bonaventura hasst.

Es ist Zeit für die Wahrheit.

Ich: Ich heiße Molly Frost, und das hier ist Episode eins von Nicht in Ordnung: ein Kleider-Podcast – die wahre Geschichte über die Kleider-Katastrophe an der Fisher-Mittelschule. Das Ganze ist im Schulgarten passiert, genau neben dem Berg aus bunten Mutmachsteinen, dem Lieblingsprojekt von Mrs Tucker. Ich war dabei. Ich habe alles gesehen. Und nun sitze ich hier mit Olivia zusammen. Hi, Olivia, möchtest du uns erzählen, was passiert ist?

Olivia: Mach du das ruhig, Molly.

Ich: Bist du sicher? Es ist deine Geschichte.

Olivia: Du warst dabei.

Ich: Okay, also, alles fing am letzten Mittwoch an. Ich habe

Schweigen.

Olivia: Molly, kannst du mal kurz auf Stopp drücken?

Ich glaube, Nicht in Ordnung: ein Kleider-Podcast war doch keine gute Idee. Olivia sieht jedenfalls nicht besonders glücklich aus.

»Alles okay?«, frage ich und überprüfe noch einmal, ob das Aufnahmegerät wirklich ausgeschaltet ist.

Sie nickt. »Vielleicht lassen wir das Ganze einfach. Pearl hat gesagt, bis wir mit der Schule fertig sind, werden alle die Geschichte vergessen haben.«

»Olivia, alle hassen dich für etwas, was nicht deine Schuld ist. Das geht nicht. Das ist einfach nicht in Ordnung. Alle müssen wissen, was wirklich passiert ist.«

Natürlich werde ich das Olivia nicht erzählen: Aber als Mr Dern und Dr. Couchman sie angeschrien haben, weil sie ein königsblaues Tanktop mit Spaghettiträgern trug, da habe ich gesehen, wie ein Stückchen ihrer Seele ihren Körper verlassen hat. Bis zu dem Tag hatte ich immer gedacht, die Seele verlässt den Körper erst, wenn man stirbt, und zwar in einem Rutsch. Doch als ich Olivias Gesicht gesehen habe, ihre verschränkten Arme, die Tränen, die ihr über die Wangen liefen, die roten Flecken, die sich über ihre Brust ausbreiteten, da wusste ich, dass alles, was ich bisher über die Seele geglaubt hatte, falsch war. Die Seele verlässt den Körper in winzigen Seufzern. So wie wenn man nach und nach die Luft aus einem Ballon lässt.

Wenn ich einen Brief an meine damalige vierte Klasse schreiben könnte, würde ich es kurz machen, denn in der vierten Klasse war unsere Aufmerksamkeitsspanne doch sehr begrenzt. Ich würde Folgendes schreiben:

Liebe vierte Klasse,

ihr findet bestimmt, dass das Wort Busen ein komisches Wort ist. Und das ist es auch. Aber das wird sich bald ändern. Okay, in der achten Klasse finden die Jungs es vielleicht noch lustig. Aber für die Mädchen in der achten Klasse ist nichts daran lustig. Denn wenn der Busen wächst, tut das manchmal weh, und manchmal wächst er nicht gleichmäßig und manchmal sogar über Nacht. Da besucht man seine Großeltern in den Frühjahrsferien in Florida, kommt zurück und hat plötzlich dicke Fleischklumpen, die aus dem T-Shirt hervorquellen. Und ehe man sich’s versieht, steht man in einem Garten, zwei erwachsene Männer schreien einen an und bringen einen zum Weinen, weil einem das Shirt nicht mehr richtig passt. Oder es wird so laufen: Jeden Morgen, wenn man aufwacht, kneift man ganz fest die Augen zu und wieder auf und späht unter sein T-Shirt, in der Hoffnung, dass sich was getan hat. Und wenn nicht, zieht man einen BH an, den man

Früher war ich viel enger mit Olivia und Pearl befreundet.

Olivia war mit mir zusammen in der fünften Klasse und Pearl in der sechsten. Wir waren Mittagspausen-Freundinnen, aber keine Übernachtungs-Freundinnen und erst recht keine Doppel-Übernachtungs-Freundinnen. Wir haben über Hausaufgaben geredet, bei Versammlungen nebeneinandergesessen, und wenn wir in der Pause Mannschaften gebildet haben, haben wir uns gegenseitig zuerst gewählt (oder wenigstens als Zweite oder Dritte). Ich wusste, dass Olivia heimlich in Rahul verknallt war, und Pearl und ich sind mit ein paar von denselben Jungs gegangen. Miteinander gehen, das bedeutete in der fünften und sechsten Klasse: Man hat allen davon erzählt, seinen Pseudo-Freund aber nicht mal angeguckt, und eine Woche später hat man sich wieder getrennt.

Ich werde nie vergessen, wie Nick mir den Stuhl unterm Hintern wegziehen wollte und Olivia ihn geboxt und mich gerettet hat. Dafür musste sie zur Schulleitung. Ich hatte ein ganz schlechtes Gewissen, aber sie hat geschworen, dass es das wert war.

In der siebten Klasse haben Olivia und ich uns aus den Augen verloren, weil wir uns in der sechsten Klasse kaum gesehen hatten und weil Olivia dann in der siebten lauter Leistungskurse belegt hat. Und Pearl und ich haben uns aus den

Ich bin in keinem Leistungskurs, weil ich in jeder Hinsicht ein sehr durchschnittlicher Mensch bin. Ich würde mal sagen, dass ich mir weder in der Schule noch beim Lacrosse, noch beim Klarinettespielen oder im Leben überhaupt besonders viel Mühe gebe. Aber im Vergleich zu meinem Bruder Danny bin ich ein Wunderkind.

Pearl und Olivia sind ziemlich gut befreundet. Ich schätze mal (da ich in diesem Schuljahr kaum mit Pearl und kaum mit Olivia gesprochen habe, weiß ich es ja nicht genau), dass die beiden Wir-sitzen-bei-einer-Exkursion-nebeneinander-im-Bus-Freundinnen und vielleicht Übernachtungs-Freundinnen sind, aber bestimmt nicht Doppel-Übernachtungs-Freundinnen.

In der siebten Klasse habe ich eine Zeit lang viel mit dem Lacrosse-Team rumgehangen. Es war einfach, sich nach dem Training zu treffen, und die Hälfte von uns durfte nur in Notfällen das Handy benutzen. Da blieb uns also gar nichts anderes übrig, als uns persönlich zu verabreden.

Als aber letzten Frühling in der Fisher-Mittelschule ein Lockdown ausgelöst wurde, weil vielleicht gerade jemand Amok lief, haben die Notfall-Handys nicht mehr aufgehört zu klingeln. Mrs Pullman meinte gehört zu haben, wie Chris Reynolds behauptete, er habe eine Bombe versteckt. Ob er das wirklich gesagt hat, weiß keiner so genau. Er wurde jedenfalls suspendiert. Seitdem das passiert ist, sagt meine

Seit ich in der Achten bin, sind Navya, Ashley und Bea meine engsten Freundinnen. Sie belegen auch keine Leistungskurse, aber Navya ist die beste Lacrosse-Spielerin in der Mannschaft, Bea eine so tolle Künstlerin, dass sie auf Geburtstagspartys 50 Dollar am Tag fürs Kinderschminken verdient, und Ashley hat ein Schwimmbad und einen Whirlpool. Sie hängen gerne mit mir rum, weil ich lustig bin.

Mehr muss man nicht über mich und mein Leben wissen, bevor ich mitangesehen habe, wie Olivia im Freundschaftsgarten gekleiderordnet wurde (so nennen wir das, wenn jemand gegen die Kleiderordnung verstößt und verwarnt wird), während Pearl mit einer rosa Jogginghose in den Händen danebenstand.

Ach ja, aber ich wollte noch erwähnen, dass mein Bruder Danny die gesamte Kraft meiner Eltern beansprucht, da er ein Vape-Junkie ist. In ihrer Freizeit durchsuchen meine Eltern gerne Dannys Zimmer und Rucksack, verstecken ihr Bargeld, damit Danny es nicht klaut, um Pods für seine E-Zigaretten zu kaufen, und rufen bei Ärzten an, um zu

Ich kenne mindestens 20 Schüler in der achten Klasse, die von Danny diese Pods mit E-Liquid bekommen haben.

So verdient er sich sein Geld.

Er braucht Moms und Dads Bargeld gar nicht.

Liebe FMS-Eltern,

mit großem Bedauern muss ich Sie darüber in Kenntnis setzen, dass die Klassenfahrt zum Strawberry Hill State Park nicht stattfinden wird. Wie Sie sich erinnern werden, hatte ich am 25. Februar einen Brief verschickt, in dem ich einen herrlichen Campingausflug versprochen habe, wenn unsere achte Klasse sich an die vorgeschriebene Kleiderordnung hält. Fast das ganze Schuljahr über haben Ihre Kinder das ordnungsgemäß getan. Aber vor Kurzem hat eine Schülerin die Regeln verletzt, und nachdem wir ihr mehr als reichlich Gelegenheiten geboten haben, den Auflagen nachzukommen, hat sie sich bis zuletzt geweigert. Nun, so sind die Vorschriften.

In dem Bemühen, ein Lernumfeld zu schaffen, das frei von Ablenkungen ist, möchten wir Ihre Kinder dazu ermutigen, sich an die Verhaltensregeln unserer Schulordnung zu halten. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, die Sie dieser Angelegenheit widmen. Sollten Ihrer Familie deswegen irgendwelche Unannehmlichkeiten entstanden sein, bitten wir dies zu entschuldigen.

Mit besten Grüßen

Jim Couchman, Pädagogischer Leiter

Mein bester Freund Will schreibt mir: Ich hasse Zelten, aber das war ja wohl total daneben. Ich dachte, Olivia wäre normal.

Will ist mein Nachbar. Wir wohnen Garten an Garten, und als wir acht und unzertrennlich waren, haben unsere Väter uns das Baumhaus gebaut. Wir sehen uns kaum noch, weil er süchtig nach so einem Computerspiel ist, von dem ich noch nie gehört habe. Und auch, weil unsere Eltern nicht mehr so viel Zeit miteinander verbringen, seit Mom wegen Danny so gestresst ist.

Unsere Mütter sagen immer: »Falls ihr zum Abschlussball keine Verabredung habt, könnt ihr ja zusammen hingehen.« Das sagen sie schon, seit Will und ich uns regelmäßig um die Kräcker in der Schnabeltasse geprügelt haben.

»Es ist nicht mehr so, wie als du zum Abschlussball gegangen bist«, erkläre ich meiner Mutter. »Das interessiert heute keinen mehr. Vielleicht gehe ich mit einem Jungen oder einem Mädchen oder mit einer Gruppe.«

Dann legt sie den Kopf ein wenig zur Seite, berührt mit ihrer Hand mein Bein und sagt: »Bist du bisexuell, Molly? Denn das ist völlig und total okay.«

»Wie kommst du darauf? Nur weil ich vielleicht oder vielleicht auch nicht mit jemandem zum Abschlussball gehen werde?«, frage ich.

Ich schreibe Will zurück. Was soll das denn heißen? Warum ist Olivia nicht normal?

Will antwortet: Wenn sie normal wäre, würde sie nicht versuchen, so viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Ich bin zu wütend, um zu antworten

Episode eins (Take 2)

»Warum machen wir es diesmal nicht anders? Ich erzähle ein bisschen was über die Hintergründe, und dann stelle ich dir Fragen, und du kannst einfach nur antworten, wenn du willst.«

»Das klingt gut«, sagt Olivia und lehnt sich gegen den frei liegenden Baumstamm.

Ich: Hallo, Fisher-Mittelschule und alle anderen da draußen. Hier ist Molly Frost, und ihr hört gerade Nicht in Ordnung: ein Kleider-Podcast. Bei mir ist Olivia. Sie wurde neulich angeschrien, weil sie ein Tanktop zur Schule getragen hat. Wie viele von euch bereits wissen, hat die Schulleitung im Februar mit der achten Klasse eine Vereinbarung getroffen: Wenn wir es schaffen würden, uns für den Rest des Schuljahres an die Kleiderordnung zu halten, würde Dr. Couchman mit uns eine Klassenfahrt zum Strawberry Hill State Park machen. Nachdem Dr. Couchman Olivia gedemütigt hat, hat er verkündet: Die Klassenfahrt ist abgesagt, weil eine gewisse junge Dame sich ganz egoistisch entschieden hat, die Kleiderordnung zu missachten. Einer unserer Klassenkameraden (ja, du bist gemeint, Jack Reese) hat mitbekommen, wie Dr. Couchman mit Mrs Peabody darüber gesprochen hat, und hat dann in der ganzen Schule herumerzählt, Olivia sei schuld daran, dass die Klassenfahrt gestrichen wurde.

Ich: Ich bin hier, um euch zu sagen, dass jede Geschichte immer zwei Seiten hat. Ich war Zeugin des Vorfalls, und ich finde, dass Olivia die Chance bekommen soll, zu erzählen, wie sie das Ganze erlebt hat. Deshalb habe ich sie heute eingeladen.

Wir hören ein Knarren, und ich drücke noch einmal auf Pause. Pearl steigt durch die Falltür des Baumhauses. »Wo warst du?«, frage ich.

»Beim Tennis«, sagt sie. Sie setzt sich neben Olivia und nimmt sich einen Ingwerkeks. Damit Olivia sich bei unserer zweiten Aufnahme wohlfühlt, habe ich vorher das Baumhaus aufgeräumt und Kissen verteilt, um es gemütlicher zu machen, und ich habe auch Kekse und Gläser mit Limonade samt unseren neuen Edelstahl-Strohhalmen mitgebracht.

Ich halte mir den Finger an den Mund, weil ich sehen kann, dass Pearl anfangen will zu sprechen.

Ich: Willkommen, Olivia, und danke, dass du bei Nicht in Ordnung: ein Kleider-Podcast mitmachst. Bevor du uns erzählst, was passiert ist, kannst du uns vielleicht ein bisschen was zu den Hintergründen sagen. Bist du vorher schon mal gekleiderordnet worden?

Olivia: Ja. Die Fingerspitze hat mich immer wieder verwarnt und Miss Wells letztes Jahr auch, weil meine Turnhose zu kurz war.

Olivia: Sie hat mich zur Seite genommen und wollte mich zur Schulleitung schicken, dann habe ich sie gefragt, ob ich nicht einfach meine normalen Shorts anziehen kann, und sie hat gesagt, dass das in Ordnung ist, aber dass ich nie wieder diese Turnhose anziehen soll.

Ich: Und wie hast du dich da gefühlt?

Olivia: Ich war genervt, denn als wir angefangen haben, unsere Runden zu laufen, fing es an zu schütten, und ich musste für den Rest des Tages in klatschnassen Shorts rumlaufen.

Ich: Schrecklich. Das tut mir echt leid. Mal abgesehen von der Kleiderordnung, wie findest du die Schule?

Olivia: Ganz okay. Ich versuche, mich auf die Naturwissenschaften zu konzentrieren, weil ich diesen Sommer ins MINT-Camp gehe.

Ich: Oh, das ist ja cool. Okay, dann kommen wir mal zur Sache. Ich habe eine weitere Zeugin eingeladen. Sag Hallo, Pearl.

Pearl: Hallo.

Ich: Pearl wird sich im Laufe des Podcasts äußern. Doch jetzt zu dir, Olivia. Magst du uns erzählen, was passiert ist?

Olivia holt tief Luft und zerbröselt einen Keks. Die Krümel fallen auf den rosa Plastiktisch, den meine Cousine Shannon uns geschenkt hat, nachdem das Baumhaus fertig war.

Olivia: Ich bin nach dem Matheunterricht zu meinem Schließfach gegangen. Ich brauchte mein Handy, weil ich meine

Ich: Willst du uns sagen, was deine Schwester dir bringen sollte?

Sie schüttelt den Kopf und gibt ein lautloses Nein von sich.

Olivia: Nee, lieber nicht. Ich bin also den Flur auf der Südseite entlanggegangen, und aus dem Augenwinkel habe ich Dr. Couchman gesehen. Er hat andauernd nur »Hey« gerufen, aber ich bin einfach weitergegangen. Dr. Couchman kennt ja keine Namen außer die der Baseballspieler. Schließlich ist er mir hinterhergerannt, hat mir auf die Schulter getippt und mich gebeten, ihm nach draußen zu folgen. Da habe ich echt Angst gekriegt. Mr Dern saß in seinem Kursraum, und Couchman hat bei ihm ans Fenster geklopft und ihn zu sich gewunken. Dann haben sie beide angefangen, auf mich einzureden: Ich würde gegen die Kleiderordnung verstoßen, alle anderen hätten sich seit über acht Wochen daran gehalten, ob mir das klar sei, wie ich nur so egoistisch sein könnte, ich sei schuld, dass unsere Klassenfahrt nicht stattfindet.

Ich: Wie hast du reagiert?

Olivia: Ich war total fertig. Ich habe darum gebettelt, noch eine Chance zu bekommen. Couchman hat gesagt, er würde es sich überlegen, wenn ich mein Sweatshirt anziehen und nie wieder gegen die Vorschriften verstoßen würde.

Ich: Und hast du?

Olivia: Nein. Ich habe ihnen gesagt, dass ich das nicht tun kann, dass mein Sweatshirt da bleiben muss, wo es ist. Sie haben gesagt, ich würde die Verhaltensregeln missachten, sei respektlos, und haben mich ins Sekretariat geschickt, und ich musste meine Eltern anrufen.

Ich: Was haben deine Eltern gesagt?

Olivia: Sie arbeiten beide und hätten nicht den ganzen Weg zur Schule fahren können, um mich abzuholen. Also habe ich meine Schwester angerufen. Sie ist auf der Highschool und hatte selbst Unterricht, aber sie hat mich trotzdem abgeholt und nach Hause gebracht und ist dann noch mal los, um mir bei Starbucks einen Eistee und einen riesigen Schoko-Cookie zu holen. Das war echt nett von ihr. Sie hat an ihrer Schule deswegen nämlich großen Ärger bekommen.

Ich bin neidisch. Es war wirklich ziemlich nett von Olivias Schwester, sie abzuholen, zu Starbucks zu fahren und ihretwegen Ärger zu riskieren. So was würde Danny nie für mich machen.

Ich: Olivia, ich muss dich jetzt etwas fragen, und das wird richtig peinlich.

Sie starrt mich an. Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass ich weiß, wie sie sich fühlt. Kann ich aber nicht. Ich kann es

Pearl stellt sich neben Olivia und legt ihr die Hand auf die Schulter.

Olivia: Können wir aufhören? Ich will lieber, dass mich die ganze Klasse hasst, als darüber zu reden.

Das kann ich ihr wirklich nicht verdenken.

Ich: Ja. Wir hören auf.

Ordnung (Substantiv)

Art und Weise, wie etwas geregelt ist, zum Beispiel die Kleiderordnung.

In Ordnung sein (umgangssprachlich)

1. einwandfrei sein

2. gesund sein; sich wohlfühlen

3. nett, zuverlässig, sympathisch sein

Jemanden zur Ordnung rufen (Wendung)

zurechtweisen, [offiziell] zur Disziplin ermahnen

Beispiele:

An der Fisher-Mittelschule gibt es eine Kleiderordnung.

Die Fingerspitze fand es nicht in Ordnung, dass man meinen BH-Träger sehen konnte.

Mein Lehrer hat mich zur Ordnung gerufen, weil mein Knie ihn abgelenkt hat.

»Komm, wir lassen das einfach«, sagt Olivia. »Ich finde es wirklich nett, dass du mir helfen willst. Aber ich überlege echt, ob ich meine Eltern nicht anbetteln soll, zu Hause unterrichtet zu werden.«

Pearl und ich sehen uns an.

Dann sagt Pearl: »Ich habe letztes Jahr in Kunst aus Versehen die Gummis von meiner Zahnspange auf einem Papiertuch liegen lassen, und dann hat Nick allen erzählt, dass ich eklig bin. Da habe ich meine Eltern auch gebeten, zu Hause unterrichtet zu werden.«

»Nick ist eklig«, sage ich.

Wir essen Kekse und starren aus dem Fenster. Ich war schon lange nicht mehr im Baumhaus.

»Noch etwas«, sage ich, aber Olivia unterbricht mich.

»Warum gibst du dir eigentlich so viel Mühe, Molly?« Mit todernster Miene sieht sie mich an. »Also, wir sind doch gar nicht mehr wirklich befreundet.«

»Weil es nicht richtig war, was sie mit dir gemacht haben. Und uns zu bestechen, indem sie uns eine Klassenfahrt anbieten, ist auch nicht in Ordnung.«

Aus der Grundschule kannten wir so etwas wie eine Kleiderordnung nicht. Als wir also auf die Fisher-Mittelschule kamen, haben sie uns das Schülerhandbuch gegeben, in dem alle Sachen aufgelistet waren, die wir nicht anziehen durften.

Wir fühlten uns schön.

Liza wurde gleich am ersten Schultag in der siebten Klasse gekleiderordnet. Bevor sie uns überhaupt das Handbuch gegeben haben. Bevor wir überhaupt wussten, wo unser Klassenzimmer ist. Ich war nicht dabei, aber mir wurde gesagt, dass die Fingerspitze Liza im Flur erwischt hat. Sie hat sie gezwungen, ihre Arme lang nach unten zu strecken, und sie dann darauf hingewiesen, dass ihre Fingerspitzen über ihre Shorts reichen und dass so etwas hier nicht erlaubt ist. Liza hat sich wohl so fest auf die Unterlippe gebissen, dass sie geblutet hat. Sie wollte nicht weinen.

Nachdem ich das gehört habe, habe ich meinen ersten Tag auf der Mittelschule dann damit verbracht, mich zu verstecken. Ich hatte nämlich die gleichen Shorts an wie Liza. Meine Freundinnen meinten, dass ich mir keine Sorgen machen müsste, da mein Hintern viel kleiner sei als Lizas. Gerecht war das nicht.

»Was sollen wir denn deiner Meinung nach machen?«, fragt mich Olivia.

»Wir lassen den Podcast erst mal, holen Bea, Ashley und Navya dazu und erzählen ihnen, was passiert ist«, sage ich. »Sie sind total in Ordnung, und ich glaube, sie können uns helfen.«

»Äh«, sagt Olivia. »Okay. Warum nicht? Nächstes Jahr gehe ich eh nicht mehr zur Schule.«

Wir wissen nicht, wie sie wirklich heißt.

Sie nennt sich Kontaktlehrerin. Aber der einzige Kontakt, den sie zu den Schülerinnen hat, besteht darin, Mädchen anzustarren, nach ketzerischen BH-Trägern oder nackten Schultern Ausschau zu halten und dann herumzuschreien. Manche Mädchen werden sechs-, siebenmal am Tag von ihr verwarnt – denn die Fingerspitze merkt sich nie, wen sie schon schikaniert hat.

Inzwischen ist es schon ein Initiationsritus am ersten Schultag. Die Mädchen aus der achten Klasse warnen die Mädchen aus der siebten: Haltet euch von der Fingerspitzen-Furie fern, schleicht davon oder rennt!

Die Fingerspitze ist dafür berüchtigt, dass sie Mädchen zwingt, stehen zu bleiben und ihre Arme lang zu strecken, um zu sehen, ob sie über die Shorts reichen. (Das tun sie meistens, denn so lange Shorts gibt es fast nirgendwo zu kaufen.)

Das Leben an der Fisher-Mittelschule ist also ein einziges Gezerre. Wenn du die Fingerspitze siehst, dann zieh deine Shorts runter. Aber zerr nicht zu sehr, sonst sieht man deinen Bauch. Am besten ist es, ihre Abläufe zu kennen, dann kann man ihr ganz aus dem Weg gehen. Aber falls sie dich doch erwischt: bloß keine Widerworte geben.

Sie hat ihre Lieblingsopfer: die größeren Mädchen, die,

Einen Jungen hat sie noch nie verwarnt.

Manche glauben ja, dass die Fingerspitze eigentlich ein Roboter ist. Ein Roboter mit schlechtem Haarschnitt, orthopädischen Schuhen und einer schmuddeligen weinroten Strickjacke. Manchmal zwingt sie Schülerinnen, die Jacke anzuziehen, wenn sie selbst nichts dabeihaben, um verbotene Körperstellen zu bedecken. Und Dr. Couchman hat den Fingerspitzen-Roboter so programmiert, dass er sieben Sachen sagen kann:

1. Streck deine Arme lang.

2. BH-Träger.

3. Sieh dich vor.

4. Zieh es hoch.

5. Zieh es runter.

6. Was muss ich noch tun, damit ihr Mädchen endlich zuhört?

7. Zur Schulleitung. Jetzt.

Ob Roboter oder Mensch, die Fingerspitze und ihre Strickjacke sind auf der Schule genauso beliebt wie Mathearbeiten, Montage und muffig-stinkende Hamburgerbrötchen.

Ich ködere meine Freundinnen mit Pizza. Warum sie alles stehen und liegen lassen und sofort zu mir kommen sollen, sage ich ihnen nicht.

Meine Eltern sind bei Kollegen von Dad zum Abendessen, und ich habe kein Geld. Also zwinge ich Danny, mit seinem Geld zu bezahlen. Mit dem Geld, das er damit verdient, Vaping-Zeug an meine Mitschüler zu verkaufen. Das heißt, die Pizza, die ich an meine Freundinnen verfüttere, wurde mit Verbrechergeld bezahlt. Das fühlt sich eklig an, aber es dient einem höheren Zweck.

»Ich muss los. Ich habe echt viele Hausaufgaben«, sagt Pearl.

Ich weiß, dass Pearl sich schuldig fühlt. Hätte sie Olivia gleich ihre Jogginghose angeboten, anstatt zu zögern, zu ihrem Schließfach zu gehen und dann auf der Suche nach Olivia durch die ganze Schule zu laufen, wäre das alles nicht passiert.

»Mach sie doch hier«, sage ich. »Wir stören dich nicht.«

Olivia und ich legen uns auf den Boden und beobachten einen Schwarm Vögel, der hektisch zwischen unserem und einem anderen Baum hin- und herfliegt. Pearl hängt die Zunge raus, während sie versucht, sich auf Mathe zu konzentrieren.

»Ja. Stört es dich, keinen Busen zu haben?«, fragt sie.

»Ja.«

Sie lacht. »Weißt du noch, als wir alle keinen Busen hatten und sich in der Pause einfach alles um unsere Pseudofreunde gedreht hat?«

»Das waren noch Zeiten.«

Ein lauter Schlag lässt uns hochschrecken. Jemand pocht gegen den Baumhausboden.

Ich ziehe am Seil, und die Falltür geht auf. Ashley steckt ihren Kopf durch die Öffnung und klettert zu uns hoch. Sie macht ein langes Gesicht und sieht gleichzeitig verwirrt aus. Wie unser Hund Thibodeaux, wenn der Papagei meiner Cousine zurückbellt.

»Wartet mal! Was?«, sagt Ashley und schaut zu Navya und Bea, die direkt hinter ihr sind.

»Reg dich ab und kommt erst mal rein«, sage ich.

Mit geballten Fäusten stellen sie sich in die Ecke – na ja, stehen kann man das nicht so wirklich nennen, dafür ist die Decke inzwischen für uns zu niedrig.

»Setzt euch«, kommandiere ich. Ich weiß nicht so recht, warum ich plötzlich so diktatorisch bin. Ich glaube, diese zwei Minuten im Garten, als ich zusehen musste, wie Couchman und Dern meine alte Freundin gedemütigt haben, haben meine DNA für immer verändert.

»Hallo, Leute«, sagt Pearl, schließt ihr Mathebuch und stopft es in ihren Rucksack.