Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Memorial Day

erschien 2004 im Verlag Atria Books.

Copyright © 2004 by Vince Flynn

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Atria Books,

ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-900-8

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Hinweis: Dieser Roman ist Band 7 der Mitch Rapp-Saga.

Für die Männer und Frauen, die dienen.

PROLOG

Mitch Rapp starrte durch die nur von einer Seite lichtdurchlässige Scheibe in die klamme unterirdische Betonkammer. Ein Mann, der lediglich Unterwäsche trug, war mit Handschellen an einen wackligen, verdammt ungemütlich wirkenden Stuhl gekettet. Eine nackte Glühbirne baumelte von der Decke, höchstens 30 Zentimeter über ihm. Das grelle Leuchten in Verbindung mit dem Zustand fast völliger Erschöpfung führte dazu, dass sein Kopf nach vorn kippte, wodurch das Kinn auf der Brust zum Liegen kam. Er stand gefährlich kurz davor, das Gleichgewicht zu verlieren und umzufallen. Genau darauf legten sie es an.

Rapp sah auf die Uhr. Ihm gingen Zeit und Geduld aus. Am liebsten hätte er dieses Stück menschlichen Abfalls erschossen, um die Angelegenheit zum Abschluss zu bringen, aber ihre aktuelle Situation war deutlich komplizierter. Er musste den Kerl zum Reden bringen, dafür betrieben sie den ganzen Aufwand. Irgendwann redeten natürlich alle, das war nicht das Problem. Der Trick bestand darin, die Wahrheit aus ihnen herauszukitzeln. Dieser Mann bildete keine Ausnahme. Er klammerte sich stur an seine Geschichte, von der Rapp wusste, dass es sich von vorn bis hinten um eine Lüge handelte.

Der Terrorabwehr-Spezialist der CIA hasste es, an diesen Ort zu kommen. Er bekam jedes Mal Gänsehaut. Ihn erinnerte die Umgebung an eine psychiatrische Klinik. Fehlten nur die vergitterten Fenster und bullige Aufseher, die sich in zu enge weiße Uniformen zwängten. Dieser Ort legte es bewusst darauf an, den menschlichen Verstand jeglicher Stimulation zu berauben. Er war so geheim, dass man sich nicht mal einen Namen für ihn ausgedacht hatte. Die überschaubare Zahl von Leuten, die von seiner Existenz wussten, sprach lediglich von ›der Fakultät‹.

Dieser Keller tauchte in keiner Bestandsliste auf, nicht mal im Sonderbudget der Geheimdienste, das dem Kongress jährlich zur Freigabe als Posten ›Sonstiges‹ untergejubelt wurde. Die ›Fakultät‹ war ein Relikt aus dem Kalten Krieg. Sie befand sich in der Nähe von Leesburg im US-Bundesstaat Virginia und glich von außen den übrigen Pferdehöfen, die es in der Gegend zuhauf gab. Versteckt auf 25 Hektar bestem hügeligem Ackerland. Die CIA hatte das Grundstück in den frühen 50ern gekauft, zu einer Zeit, als man die Agency noch an der langen Leine führte und ihr deutlich mehr durchgehen ließ als heutzutage.

Der Standort war einer von mehreren, an denen die CIA Überläufer aus dem Ostblock verhörte, gelegentlich auch Mitarbeiter aus den eigenen Reihen, die James Angleton ins Netz gegangen waren, dem berüchtigten paranoiden Genie der Agency, dessen Aufgabe darin bestanden hatte, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges Spione aus den Rängen des US-Geheimdienstes zu entfernen. In diesem Verlies waren Menschen ziemlich hässliche Dinge angetan worden. Hierhin hätte man vermutlich Aldrich Ames verschleppt, falls man ihn vor dem FBI in die Finger bekommen hätte. Die Männer und Frauen, zu deren Aufgaben es gehörte, Langleys Geheimnisse zu schützen, hätten so gut wie alles für die Chance gegeben, diesem verräterischen Bastard Daumenschrauben anzulegen. Bedauerlicherweise verwehrte man ihnen die Gelegenheit.

Die Fakultät war kein angenehmer Ort, eher ein notwendiges Übel in einer Welt voller sadistischer Grausamkeiten und fehlgeleiteter, brutaler Männer. Das war Rapp durchaus bewusst, trotzdem gefiel es ihm nicht. Er war weder empfindlich noch zimperlich. Immerhin hatte er längst aufgehört zu zählen, wie viele Menschenleben auf seine Kappe gingen, und er erledigte das Töten so einfallsreich, dass es Bände über sein Talent sprach.

Er war ein moderner Auftragskiller, der in einem zivilisierten Land lebte, in dem man diesen Begriff nicht offen in den Mund nehmen durfte. Seine Heimat legte großen Wert darauf, sich von weniger kultivierten Nationen abzugrenzen. Als Demokratie, die individuelle Rechte und Freiheiten achtete. Als Staat, der es niemals geduldet hätte, dass einer seiner Bürger explizit dazu ausgebildet wurde, heimlich Menschen aus anderen Ländern zu beseitigen. Doch genau das war Rapp: ein moderner Killer, den man praktischerweise ›Agent‹ nennen konnte, um die Befindlichkeiten der hochkultivierten Entscheidungsträger in den Machtzentren von Washington zu schonen.

Hätten diese Entscheidungsträger von der Existenz der Fakultät erfahren, wären sie so empört gewesen, dass es am Ende auf die teilweise oder vollständige Auflösung der CIA hinausgelaufen wäre. Diese Skeptiker, die dem kapitalistischen Arm des amerikanischen Staatsapparats angehörten, wollten haarklein analysieren, was den Hass ausländischer Terroristen auf die USA lenkte, ohne zu merken, dass sie mit der Logik eines geldgierigen Anwalts, der einen Vergewaltiger verteidigt, an die Sache herangingen. Wenn eine Frau Minirock, ein sexy Top und High Heels trug, bettelte sie dann nicht regelrecht darum? Amerika war ein rüdes, arrogantes Land, geführt von selbstsüchtigen weißen Kolonialisten, die ungerührt Ressourcen weniger wohlhabender Nationen ausschlachteten – bettelten die nicht auch darum?

In ihrer engstirnigen Sichtweise hätte die Elite aus Washington diesen Bunker wohl als Folterkammer bezeichnet. Rapp hingegen wusste, wie Folter aussah. Dies hatte damit nichts zu tun. Hier ging es allenfalls um Nötigung, um Reizentzug, um Informationsgewinn. Von echter Folter konnte keine Rede sein.

Echte Folter fügte einem Menschen so viele unaussprechliche Schmerzen zu, dass er oder sie sich den eigenen Tod herbeisehnte. Da ging es um Quetschklemmen an den Eiern männlicher Gefangener, über die man Starkstrom in den Körper jagte. Es ging um tägliche Massenvergewaltigungen von Frauen, bis sie ins Koma drifteten. Darum, vor den Augen des Insassen dessen Frau und Kinder zum Geschlechtsverkehr zu zwingen oder ihn die eigenen Exkremente fressen zu lassen. Monströs, barbarisch, manchmal vollkommen nutzlos. Doch in den meisten Fällen belegte der Einsatz solcher Methoden, dass Menschen so gut wie alles sagten oder taten, nur damit der Schmerz aufhörte. Sie unterzeichneten Geständnisse, legten Pläne für Terrorakte offen, die es gar nicht gab, lieferten die eigenen Eltern ans Messer.

Im konkreten Fall wusste Rapp, dass der am Stuhl fixierte Mann auf der anderen Seite der Scheibe echte Folter aus eigener Erfahrung kannte. Die Organisation, für die er arbeitete, war berüchtigt für ihren harten Umgang mit politischen Gefangenen. Wenn jemand die volle Packung Grausamkeit verdiente, dann dieser widerwärtige Bastard, aber Rapp wusste, dass es noch andere Faktoren zu berücksichtigen galt.

Mitch hielt nichts von Folter. Nicht nur wegen der Auswirkungen auf die Person, die gequält wurde, sondern auch wegen dem, was sie mit demjenigen machte, der bestrafte und austeilte. Er wollte nicht die eigenen Abgründe ausloten, es sei denn, ihm blieb keine andere Wahl. Dummerweise näherten sie sich allmählich diesem Punkt. Leben standen auf dem Spiel. Zwei CIA-Agenten waren bereits tot, weil dieser Mistkerl ein doppeltes Spiel trieb, viele weitere Leben hingen in der Schwebe. Der nächste Schritt in einem teuflischen Plan stand unmittelbar bevor. Fand Rapp nicht bald heraus, worum es ging, starben Hunderte, vielleicht sogar Tausende unschuldiger Menschen.

Die Tür zum Beobachtungsraum öffnete sich. Ein Mann trat ein, etwa in seinem Alter. Er postierte sich an der Scheibe und musterte das Gegenüber in Handschellen durch tief in den Höhlen liegende braune Augen. Die Körperhaltung verriet eine gewisse klinische Distanziertheit. Elegant geschnittene Haare, der Bart perfekt getrimmt. Er trug einen dunklen, hochwertig geschnittenen Anzug und ein weißes Anzughemd mit Umschlagmanschetten sowie eine teure rote Seidenkrawatte. Dieses Outfit hatte er in doppelter Ausführung im Schrank hängen. Um den Gefangenen auf die falsche Fährte zu locken, trug er seit dessen Ankunft vor drei Tagen nichts anderes. Er hatte die Kleidungsstücke bewusst ausgewählt, um den Eindruck von Überlegenheit und Klasse zu vermitteln.

Bobby Akram gehörte zu den besten Verhörspezialisten der CIA. Ein pakistanischer Immigrant und Muslim, der fließend Urdu, Paschtu, Arabisch, Farsi und natürlich Englisch sprach. Akram hatte jedes Detail und jede Sekunde der Inhaftierung exakt gesteuert. Jedes Geräusch, jede Temperaturschwankung, Essensportion oder verabreichte Flüssigkeit folgte einer sorgfältig austarierten Choreografie.

Das Ziel bei diesem Gefangenen, eigentlich auch bei jedem anderen, bestand darin, ihn zum Reden zu bringen. Im ersten Schritt wurde er isoliert und jedes räumlichen und zeitlichen Orientierungspunkts beraubt, indem man ihn in eine Welt des Nichts verbannte, bis er förmlich um Stimulanz bettelte. Wenn es so weit war, warf ihm Akram eine Rettungsleine zu: Er begann ein Gespräch. Er ließ den anderen einfach drauflosquasseln, anfangs gar nicht unbedingt mit dem Ziel, ihm Geheimnisse zu entlocken. Das kam später. Um die Aufgabe sorgfältig und sauber zu erledigen, musste man eine Menge Zeit und Geduld mitbringen. Ein Luxus, den sie sich derzeit nicht leisten konnten. Die Informationen waren zeitkritisch, daher galt es, den Prozess zu beschleunigen.

Er wandte sich an Rapp und meinte: »Es sollte nicht mehr lange dauern.«

»Das will ich verdammt noch mal hoffen«, knurrte der. Geduld gehörte definitiv nicht zu seinen vielen Stärken.

Akram lächelte. Er hatte großen Respekt vor dem legendären CIA-Agenten. Sie kämpften in diesem Krieg gegen den Terrorismus beide an vorderster Front, hatten einen gemeinsamen Feind. Für Rapp ging es darum, Unschuldige vor einer wachsenden Bedrohung zu schützen. Für Akram ging es darum, seine geliebte Religion vor dem Missbrauch durch Fanatiker zu bewahren, die dem großen Propheten die Lehren im Mund umdrehten und damit Hass und Angst verbreiteten.

Akram blickte auf die Uhr. »Bereit?«

Rapp nickte. Er betrachtete den erschöpften, gefesselten Mann und fluchte stumm in sich hinein. Sollte diese Aktion ans Licht kommen, retteten ihn selbst frühere Erfolge und Kontakte nicht. Bei dieser Jagd lehnte er sich entschieden zu weit aus dem Fenster. Allerdings brauchte er dringend Antworten. Die Angelegenheit über die offiziellen Kanäle abzuwickeln, hätte zwischen den Mühlrädern aus Politik und Diplomatie zu fatalem Stillstand geführt.

Es gab zu viele gegensätzliche Interessen, von der Gefahr undichter Stellen ganz zu schweigen. Bei dem Mann, der in Handschellen und vollgepumpt mit Medikamenten nebenan saß, handelte es sich um Colonel Massud Hak von der berüchtigten pakistanischen Inter-Services Intelligence, kurz: ISI. Ohne die Kollegen in Langley einzuweihen, hatte Rapp ein Team von Freelancern angeheuert, um Hak zu schnappen und hierherzubringen. Die brutale Ermordung von zwei Einsatzkräften der CIA und die wachsende Angst vor einem erneuten Erstarken von Al-Qaida hatten ihn zu diesem inoffiziellen Alleingang veranlasst.

Akram zeigte auf den Gefangenen, der gerade eindöste. »Er kann jede Sekunde umkippen. Bist du sicher, dass du deinen Plan durchziehen willst?« Der Verhörspezialist verschränkte die Arme. »Wenn wir noch ein, zwei Tage warten, hab ich ihn garantiert so weit, dass er auspackt.«

Rapp schüttelte den Kopf. Er klang entschlossen. »Nein, meine Geduld ist erschöpft. Wenn du ihn nicht zum Reden bringst, übernehm ich es.«

Akram nickte nachdenklich. Gegen die ›Guter Bulle, böser Bulle‹-Strategie hatte er nichts einzuwenden. Beim richtigen Gegenüber erzielte man damit durchaus befriedigende Ergebnisse. Persönlich lehnte er Gewaltanwendung strikt ab. Das überließ er anderen.

»Also schön. Wenn ich aufstehe und gehe, ist das dein Zeichen.«

Rapp stimmte zu und ließ den Gefesselten nicht aus den Augen, als Akram den Raum verließ. Hak hatte keinen blassen Schimmer, wie lange er bereits hier war und sich in der Gewalt seiner Kidnapper befand. Er wusste nicht mal, wer seine Kidnapper überhaupt waren. Auch nicht, wo er sich befand – in welchem Land oder auch nur auf welchem Kontinent. Der einzige Mann, dessen Stimme er bisher gehört hatte, war Akram gewesen, wie er ein gebürtiger Pakistani.

Vermutlich ging er davon aus, in der eigenen Heimat festgehalten zu werden, womöglich von den Hauptwidersachern des ISI, dem IB. Allein deshalb würde er durchhalten, solange es ging. Er rechnete damit, dass seine ISI-Kollegen anrückten und ihn rausboxten. Man hatte ihn mit Drogen vollgepumpt, den normalen Tagesablauf zerstört und ihm jegliches Zeitgefühl genommen. Er war erschöpft und nicht bei Sinnen, stand kurz vor dem Kollaps. Der Anblick von Rapp gab ihm garantiert den Rest.

Wie von Akram vorhergesagt, döste Hak lange genug ein, um die Balance zu verlieren und mit dem wackeligen Stuhl umzukippen. Er landete relativ unsanft auf dem Boden, machte aber keine Anstalten, sich aufzurichten. Da er sich während seiner Gefangenschaft schon mehrmals in dieser misslichen Lage befunden hatte, wusste er, dass es ohnehin nicht klappte.

Akram trat mit zwei Assistenten ein. Sie richteten ihn auf. Akram zog sich einen Stuhl heran und forderte die Begleiter auf, den Gefangenen von seinen Fesseln zu befreien.

Sobald dieser Arme und Beine bewegen konnte, reichte er ihm ein Glas Wasser. Die Assistenten zogen sich für den Fall, dass sie noch gebraucht wurden, in den Türschatten zurück.

»Also dann, Massud«, begann Akram in seiner Muttersprache, »wollen Sie nicht langsam mal mit der Wahrheit herausrücken?«

Der Mann starrte seinen Kerkermeister aus blutunterlaufenen Augen an. »Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt. Ich unterstütze weder die Taliban noch Al-Qaida. Ich halte Kontakt zu beiden Gruppen, weil es zu meinen Aufgaben gehört, sie im Auge zu behalten.«

»Sie wissen, dass General Muscharraf betont hat, wie wichtig es ist, Taliban und Al-Qaida nicht länger zu unterstützen.« Akram hielt seit dem Moment ihrer ersten Begegnung die Illusion aufrecht, ein Landsmann von Hak zu sein.

»Ich versichere Ihnen«, wiederholte der andere mit fester Stimme. »Ich treffe mich nur aus einem einzigen Grund weiterhin mit den Kontaktleuten: um ihnen auf die Finger zu schauen.«

»Und Sie sympathisieren weiterhin mit ihren Zielen, nicht wahr?«

»Ja, ich … Unsinn, nein. Ich sympathisiere nicht damit.«

Akram lächelte. »Ich bin gläubiger Muslim und sympathisiere mit ihren Zielen.« Er legte den Kopf schräg. »Sind Sie etwa kein gläubiger Muslim?«

Die Frage traf den Geheimdienst-Offizier wie ein Schlag ins Gesicht. »Natürlich bin ich gläubiger Muslim«, entfuhr es ihm ungehalten. »Aber ich bin … Ich stehe in Diensten des ISI. Ich weiß, wem meine Loyalität gilt.«

»Da bin ich mir sicher.« Akram blieb skeptisch. »Das Problem ist, dass ich nicht weiß, wem Ihre Loyalität gilt, und so langsam verliere ich die Geduld.« Es lag keine Aggressivität in seiner Stimme, nur ein gewisses Bedauern.

Sein Gegenüber vergrub das Gesicht zwischen den Händen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin nicht der Mann, für den Sie mich halten.« Er blickte auf und blinzelte den Verhörspezialisten durch das grelle Licht an. Seine Augen wirkten glasig und flehend. »Fragen Sie meine Vorgesetzten. Fragen Sie General Sharif. Er wird Ihnen bestätigen, dass ich bloß Befehle befolge.«

Akram musterte ihn bedauernd. »Ihre Vorgesetzten tun nichts dergleichen. Für die sind Sie eine wachsende Belastung. Sie behaupten, nichts darüber zu wissen, was Sie in den letzten Monaten getrieben haben.«

»Sie sind ein Lügner«, spuckte ihm Hak entgegen.

Nicht unbedingt das, worauf Akram es anlegte. Unkontrollierbare Stimmungsschwankungen. Verzweifelt und bittend im einen Moment, aggressiv und feindlich im nächsten. Er hob beschwichtigend die Hände und setzte eine Miene auf, die Bedauern andeutete, nicht mehr für den unfreiwilligen Gast tun zu können. »Ich war sehr geduldig mit Ihnen. Im Gegenzug bieten Sie mir nichts als weitere Lügen und Beschimpfungen.«

»Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt«, entfuhr es Hak eine Spur zu hastig.

Akram betrachtete ihn mit fast väterlicher Zuneigung. »Finden Sie nicht auch, dass ich sehr nett zu Ihnen gewesen bin?«

Der Schlafmangel und die Medikamente ließen Hak erneut überreagieren. Er breitete die Arme aus und sah sich um. »Ihre Gastfreundschaft lässt stark zu wünschen übrig.« Trotzig schob er hinterher: »Ich will sofort mit General Sharif sprechen!«

»Eine Frage, Massud, wie gehen Sie mit Ihren Gefangenen um?«

Der pakistanische Geheimdienstoffizier senkte die Augen und entschied, die Frage zu ignorieren.

»Habe ich Sie ein einziges Mal geschlagen, seit Sie hier sind?«

Hak schüttelte zögernd den Kopf.

»Nun … Das wird sich in Kürze ändern.« Es war das erste Mal, dass Akram ihm offen Gewalt androhte. Bis zu diesem Punkt hatten sich ihre Unterhaltungen darauf beschränkt, dass Hak von seinen Kontakten erzählte und wieder und wieder die gleiche auswendig gelernte Geschichte abspulte. Das eine oder andere Detail verrutschte mal, aber insgesamt hielt er sich ans Drehbuch.

Akram betrachtete die Zielperson und sagte: »Hier ist jemand, der Sie gern sprechen möchte.«

Hak sah mit Hoffnung im Blick auf.

»Nein.« Akram schüttelte den Kopf und lachte spöttisch. »Ich bezweifle, dass Sie sich umgekehrt auch freuen werden, mit ihm zu sprechen. Im Gegenteil.« Er stand auf. »Vermutlich ist er so ziemlich der letzte Mensch auf diesem Planeten, dem Sie aktuell begegnen möchten. Er ist jemand, den ich nicht unter Kontrolle habe und der genau weiß, dass Sie uns anlügen.«

»Ich sage die reine Wahrheit.« Haks Stimme wurde schrill und er angelte nach dem Arm des Verhörspezialisten.

Akram packte ihn am Handgelenk und verdrehte es mit genug Kraft, um ihn von weiteren Berührungen abzuhalten. In Richtung der flehentlich aufgerissenen Pupillen verkündete er: »Sie hatten mehr als genug Gelegenheiten, mir die Wahrheit zu sagen, taten es jedoch nicht. Damit lassen Sie mir keine andere Wahl.« Er ließ die Hand des Gefangenen los und verließ die stickige Kammer.

Rapp ging nicht sofort zu Hak. Akram riet ihm, erst ein wenig die Spannung aufzubauen. Durch den Einwegspiegel verfolgten sie, wie Hak nervös vor der hinteren Wand hin und her lief. Er wurde sekündlich nervöser, bis das grelle Licht der Glühbirne ihn blendete und der Amerikaner die Zelle betrat.

Hak starrte ihn zunächst ungläubig, dann mit wachsendem Entsetzen an. Die Ankunft des verrufenen US-Agenten änderte alles. Schlagartig wurde das Puzzle um zusätzliche Teile ergänzt. Hak begriff, dass er in deutlich größeren Schwierigkeiten steckte, als er bisher angenommen hatte.

Rapp deutete auf den unbequemen Stuhl und bellte: »Hinsetzen!«

Hak befolgte den Befehl ohne das geringste Zögern. Rapp schnappte sich einen kleinen quadratischen Tisch von der Wand und stellte ihn vor dem Pakistani hin. Zu den zwei Wachposten sagte er auf Englisch: »Ich komm allein mit ihm klar!«

Sie verschwanden. Rapp legte einen Briefumschlag auf den Tisch und streifte langsam das Jackett ab, womit er den Blick auf die 9-Millimeter-FNP-9 im Holster freigab. Er drapierte das Kleidungsstück über der Stuhllehne und friemelte an der Krawatte.

»Wissen Sie, wer ich bin?« Er platzierte den Schlips auf dem Jackett.

Hak nickte und schluckte nervös.

Rapp holte zwei Fotos aus dem Umschlag und legte sie auf den Tisch. »Kommen Ihnen diese Leute bekannt vor?« Er krempelte die Hemdsärmel hoch.

Der pakistanische Geheimdienstoffizier betrachtete die Aufnahmen zögernd. Er kannte die abgelichteten Personen nur zu gut, wusste aber, wie gefährlich es war, das zuzugeben. Da er selbst oft genug Verhöre durchgeführt hatte, stand für ihn fest, dass er auf Kurs bleiben und an der bisherigen Geschichte festhalten musste. Langsam schüttelte er den Kopf. »Nein.«

Obwohl Rapp mit dieser Antwort gerechnet hatte, machte sie ihn wütend. Er schob die rechte Hand auf den Tisch und holte mit der Linken so beängstigend schnell aus, dass der Hieb Hak vom Stuhl fegte und er unsanft auf dem Boden landete.

»Falsche Antwort!«, brüllte Rapp und kam um den Tisch herum. Er schwang die weiterhin geballte Faust, bereit, Hak damit wie ein Presslufthammer zu bearbeiten.

Der Pakistani lag benommen da. Zum ersten Mal hatte einer der Entführer Hand an ihn gelegt. Panik setzte ein und er riss schützend die Hände nach oben, um den drohenden Schlag abzuwehren. »Also schön! Also schön! Ich kenne diese Leute. Mit ihrem Tod hatte ich aber nichts zu tun!«

Rapp packte ihn an der Kehle. Obwohl Hak gut zehn Kilo schwerer war, riss er ihn wie eine Puppe in die Höhe und klatschte ihn gegen die Wand. »Wollen Sie leben oder sterben?«

Hak krächzte seine Antwort heraus. »Leeeeben!«

»Dann sollten Sie ganz schnell den Verstand einschalten.« Rapp schleuderte ihn gegen die Tischkante und rief: »Setzen Sie sich auf Ihren Hintern und schauen Sie sich diese Fotos an!«

Er umkreiste ihn mit geballten Fäusten und zornigem Gesicht. »Okay, Massud!«, brüllte er dem anderen den Vornamen ins Gesicht. »Ich werde Ihnen diese Frage nur ein einziges Mal stellen. Ich weiß mehr über Sie, als Sie sich wahrscheinlich vorstellen können.« Rapp deutete auf die zwei Schwarz-Weiß-Abzüge. »Hatten Sie bei der Ermordung dieser beiden CIA-Mitarbeiter in irgendeiner Form, entweder direkt oder indirekt, die Finger im Spiel?«

Diesmal hob Hak schon vor der Antwort schützend die Hände. »Nein.« Seine Augen weiteten sich ängstlich. Er suchte fieberhaft nach einer Antwort, irgendeiner Antwort, die diese Bestie im Zaum hielt. »Nicht dass ich wüsste.«

Nicht dass ich wüsste … Immerhin besser als ein komplettes Dementi. »Nicht dass ich wüsste«, äffte er ihn nach. »Massud, ich glaube, das kriegen Sie deutlich besser hin.«

»Ich weiß nicht …«, kam die nervöse Reaktion. »Dies ist ein gefährlicher Teil der Welt. Hier verschwinden ständig Menschen.«

»Ja … So wie Sie, Sie dämliches Stück Dreck.« Rapp wandte den Kopf Richtung Decke und rief: »Cut eins abspielen.« Eine Sekunde später drang Haks Stimme aus dem Lautsprechersystem. Obwohl Rapp fließend Arabisch und Farsi sprach, reichten seine Urdu-Kenntnisse nicht aus, um zu verstehen, was gesagt wurde. Er hatte die Übersetzung allerdings oft genug gelesen, um die Worte in- und auswendig zu kennen. Auf dem Band führte Hak ein Telefonat mit einem unbekannten Gegenüber und verlangte ein Treffen. Als die kurze Aufzeichnung vorbei war, forderte Rapp den nächsten Mitschnitt an. Die darin gemachten Andeutungen in Bezug auf ein bedeutendes Ereignis, das zeitnah bevorstand, hatten ihm den Schreck in die Glieder fahren lassen.

Der Amerikaner zog ein weiteres Foto aus dem Umschlag und warf es Hak in den Schoß. »Erkennen Sie das?«

Hak sah sich selbst beim Kaffeetrinken mit Akhtar Jilani, einem hochrangigen Taliban-Mitglied. Er konnte sich gut an das Treffen erinnern. Während er dem Audiomitschnitt lauschte, wurde ihm schlagartig äußerst unwohl.

Die Stimmen dröhnten aus dem Lautsprecher. »Ganz schön nachlässig für einen Experten im Spionagegeschäft«, kommentierte Rapp. Er ergänzte die Fotosammlung um drei kleinere Abzüge, die er mit klarem Kalkül auf dem Tisch auffächerte. Einer zeigte ein Kleinkind, die anderen jeweils Babys. »Sagen Ihnen diese Bilder etwas?«

Hak schüttelte nervös den Kopf.

»Das sind die Kinder der zwei Männer, die Sie töten ließen.« Rapp ließ die Worte im Raum stehen, bis die Folgen seiner Tat in Haks Verstand vorgedrungen waren. Dann konfrontierte er sein Gegenüber mit fünf weiteren Motiven. Überwachungsbilder in Schwarz-Weiß, die die niedlichen Gesichter von Haks fünf Sprösslingen perfekt einfingen. Rapp funkelte den anderen bedrohlich an und nahm schweigend zur Kenntnis, wie er in Tränen ausbrach.

Zwischen Schniefen und Schluchzen flehte Hak: »Bitte … Ich bitte Sie, tun Sie meinen Kindern nichts. Das ist allein meine Schuld … nicht ihre.«

Rapps Gesicht verzerrte sich zu einer angewiderten Grimasse. »Ich töte keine Kinder, Sie Stück Scheiße!« Er tippte auf die Gesichter der drei amerikanischen Heranwachsenden und verkündete anklagend: »Sie werden ihren Vater nie mehr wiedersehen.« Rapp ließ sie vor seinen Augen kreisen wie ein Karussell. »Sehen Sie sich ihre Gesichter an!«, brüllte er. »Und dann liefern Sie mir einen guten Grund, warum Ihre Kinder es verdienen, ihren Vater noch einmal zu sehen.«

Hak streichelte die Fotos und schluchzte unkontrolliert. Rapp zückte derweil die FNP-9 und schraubte den dicken schwarzen Schalldämpfer aufs Gewinde. Als die Vorrichtung stabil saß, streckte er die Waffe vor das Gesicht und zog den gut geölten Schlitten zurück. Krachend schnellte er nach vorn. Metall stieß gegen Metall.

Mit einem Hohlspitzgeschoss im Patronenlager richtete Rapp die 9-Millimeter-Pistole auf den Kopf des pakistanischen Geheimdienstlers. »Ich bin ein Mann, der zu seinem Wort steht, Massud. Wenn Sie Ihre Kinder jemals wiedersehen wollen, liefern Sie mir lieber gute Gründe, Sie am Leben zu lassen. Verraten Sie mir alles, was Sie über die Taliban und Al-Qaida wissen. Und erklären Sie mir, auf welchen ›kühnen Plan‹ Sie und Jilani in Ihrer Unterhaltung angespielt haben. Sollte ich Sie bei der geringsten Lüge ertappen, ist der Deal vom Tisch und ich verteile Ihr komplettes Gehirn an den Wänden.«

Rapp löste die Sicherung und zog den Schlaghebel bis zum Anschlag in die gespannte Position. »Ihre Entscheidung, Massud. Entweder Sie arbeiten für mich und können Ihren Kindern beim Aufwachsen zusehen, oder Sie sterben hier und heute!«

1

Floridastraße, in internationalen Gewässern

Die in Italien gebaute, 13 Meter lange Riva-Rivarama-Luxusjacht pflügte mit 25 Knoten durch die ruhigen morgendlichen Fluten. Sie hatte Havanna kurz nach Sonnenaufgang mit Ziel Grand Bahama verlassen. Der nordöstliche Kurs führte dazu, dass das Boot einen Großteil der Fahrt auf amerikanischen Wasserstraßen zurücklegte. Thomas Scott war der Kapitän und trug als Reminiszenz an seine Zeit bei der British Royal Navy weiße Shorts mit Bügelfalte und ein dazu passendes Hemd. Scott nahm seine Pflichten äußerst ernst; erst recht, wenn er ein so teures Wasserfahrzeug wie heute steuerte. Er stand am Steuerrad und fixierte den uferlosen blauen Teppich jenseits der Frontscheibe.

Scott hatte den Heimathafen George Town auf Grand Cayman, der größten der Kaimaninseln, am Vortag verlassen. Er stand erst zum zweiten Mal hinter dem Steuer dieses Schiffstyps. Als man ihm den Job angeboten hatte, zögerte er keine Sekunde. Die Italiener kannten sich mustergültig mit den Finessen der Bootsbaukunst aus. Die geschwungene Linienführung und die eingesetzten Materialien erinnerten an eine Zeit, in der man Boote noch von Hand fertigte und nicht von Maschinen bauen ließ. Dank der ausgefeilten Form des Rumpfs und des 700-PS-Zweitakt-Dieselmotors fühlte man sich eher wie auf einem überdimensionierten Schnellboot, nicht wie auf einer Luxusjacht. Mit einer Höchstgeschwindigkeit von 40 Knoten war die Riva bezogen auf ihre Abmessungen überdurchschnittlich schnell unterwegs.

Auf der Überfahrt von Grand Cayman nach Kuba war der Seegang ein bisschen zu stark gewesen, als dass Scott den Diesel hätte voll ausreizen können. Heute Morgen gab es kaum größere Wellen. Trotzdem wollte er die Triebwerke nicht allzu sehr belasten, ohne sich mit seinem Passagier abgestimmt zu haben. Selbst in ruhigen Gewässern konnten sich 40 Knoten für jemanden, der nicht an den Aufenthalt auf dem Wasser gewöhnt war, beunruhigend und verstörend anfühlen. Ein kleiner Brecher, der im ungünstigen Winkel gegen die Seitenwand klatschte, schon drohte ein Anfänger über Bord zu gehen, ohne rechtzeitig Luft zu bekommen und um Hilfe rufen zu können.

Scott brachte dem Meer gewaltigen Respekt entgegen. Zu Unfällen kam es meist aus heiterem Himmel. Im Auto schnallte man sich an und hatte einen Airbag, was die Aussichten, eine Kollision zu überleben, stark erhöhte. Wurde man hingegen in einem Schiff eiskalt erwischt und hatte keine Rettungsweste angelegt, sanken die Chancen rapide. Auch als guter Schwimmer strandete man in bewusstlosem Zustand zwangsläufig auf dem Meeresgrund.

Aus diesem Grund streifte sich Scott jedes Mal, bevor er an Bord ging, einen Harnisch über den Kopf, der vor der Brust festgeschnallt wurde. Die kompakte Schwimmhilfe war kaum dicker als ein Fahrradschlauch. Sie trug so wenig auf, dass er sie meistens überhaupt nicht wahrnahm. Sobald er jedoch über Bord ging, blies sich die Vorrichtung innerhalb einer Sekunde auf und verwandelte sich in eine vollwertige Rettungsweste. Auch ein kleiner Peilsender war vorhanden und mindestens genauso wichtig wie die Schwimmfähigkeit. Eine uneingeweihte Landratte hätte den Harnisch leicht mit einem modischen Accessoire verwechseln können.

Scott legte großen Wert darauf, seinen Passagieren vor dem Ablegen zu zeigen, wo die klassischen Schwimmwesten aufbewahrt wurden. Meistens verzichteten sie aufs Anlegen. Der Typ, den er diesmal beförderte, war so unhöflich, dass er nicht mal dazu kam, ihm die Sicherheitsvorkehrungen an Bord zu erläutern. Der Dunkelhaarige war bei Sonnenaufgang mit einem einzigen Gepäckstück aufgetaucht und hatte ihn in gebrochenem Englisch aufgefordert, sofort loszufahren. Keine Begrüßung, keine Vorstellung. Selbst Scotts Angebot, die Tasche zu tragen, lehnte er brüsk ab.

Der Mann war sofort in die Kabine verschwunden und hatte hinter sich abgeschlossen. Anderthalb Stunden nach Verlassen des Hafens fragte sich Scott, ob er während der gesamten Reise dort unten versauern wollte. Entweder handelte es sich bei dem Fahrgast um einen unglaublichen Snob, was auf einer solchen Luxusjacht durchaus denkbar schien, oder er hatte gestern Nacht einen über den Durst getrunken und vergaß darüber jegliche Manieren.

Scott suchte mit den Augen den hellen Horizont ab. Das Wetter war einfach zu herrlich und das Schiff zu imposant, um sich von der schlechten Laune des Passagiers den Tag verderben zu lassen. Der Brite streckte die Hand vor und übte mit der rechten Handfläche Druck gegen den doppelt verchromten Gashebel aus. Mit einer kontrollierten stufenweisen Bewegung schob er ihn ganz nach vorn. Das Triebwerk ging dröhnend bis an die Reserven, der Wind fuhr ihm durchs von der Sonne ausgebleichte Haar. Er grinste in sich hinein, umklammerte den Hebel und entschied, dass ihm ein toller Trip bevorstand, sofern ihn der grummelnde Mitfahrer mit seiner Anwesenheit verschonte.

Mustafa Al-Jamani lag mit dem Gesicht nach unten da, die Arme vor den Kopf gestreckt. In tranceähnlichem Zustand flehte er seinen Schöpfer um Geleit und Mut an. Sein letztes Gebet lag mehr als eine Woche zurück. Für Al-Jamani, der sonst mindestens fünfmal täglich mit Gott kommunizierte, gehörte diese selbst auferlegte Abstinenz von Allah zu den schwierigsten Herausforderungen dieser Reise. Die Schiffsmotoren dröhnten und die Tür zu seiner privaten Kabine war abgeschlossen. Vermutlich erhielt er so bald keine weitere Gelegenheit, angemessen zu beten, bevor er zum Shaheed wurde – zum Märtyrer für sein Volk.

Al-Jamani hatte sorgfältig darauf hingearbeitet, sich dem Terrorfahndungsraster des amerikanischen Geheimdienstapparats und seiner Verbündeten zu entziehen. Zuerst war er nach Johannesburg in Südafrika geflogen, von da aus weiter ins argentinische Buenos Aires. Dort blieb er einen Tag, schlüpfte in eine neue Identität und vergewisserte sich, dass ihm niemand folgte. Weiter ging es nach Caracas und mit einem kurzen Flug nach Havanna. Dort hatte das Schiff auf ihn gewartet, mit Vorräten und einem Kapitän an Bord, dessen einzige Anweisung darin bestand, ihn nach Grand Bahama zu bringen. Die Jacht selbst war von einem reichen Gönner zur Verfügung gestellt worden. Ihr Besitzer ahnte nur, was die Gruppe, der er es zur Nutzung überließ, damit vorhatte, aber er rechnete bestimmt nicht damit, dass es um einen reinen Vergnügungstrip ging. Am Ende mochte es sich durchaus als Vorteil entpuppen, den Mann in die Sache verwickeln zu können.

Faktisch hatte die Reise in diesen Teil der Welt nur fünf Tage in Anspruch genommen, doch auf metaphysischer Ebene hatte er sich ein ganzes Leben darauf vorbereitet. Der 41-Jährige aus Saudi-Arabien trainierte seit seinem neunten Geburtstag für diese Mission. Damals hatte man ihn zum Koranstudium in eine Madrasa, eine Gebetsschule in Mekka, geschickt. Bereits im Alter von 15 kämpfte er in Afghanistan gegen gottlose Sowjets und stählte sein Talent als Kämpfer im Dienste des Islam. Jede Schlacht brauchte ihre heiligen Soldaten, ihre Mudschahedin. Was Al-Jamani betraf, gab es keine größere Ehre, als in Diensten des Islam ins Gefecht zu ziehen.

Er beendete sein Bittgesuch, richtete sich in eine sitzende Position auf und stemmte die Hände in die Hüften. Mit leiser Stimme, kaum mehr als ein Flüstern, hauchte er: »Allahu akbar!«, Gott ist groß. Al-Jamani wiederholte es zweimal, dann stand er auf. Es wurde Zeit. Er lief zur Koje, die sich an die Konturen des Bugs schmiegte, und holte einen Gegenstand aus dem Seitenfach der Reisetasche. Al-Jamani schob das lose sitzende Seidenhemd an der Hüfte nach oben und ließ das Objekt hinter dem Hosenbund verschwinden. Er sah aus wie ein typischer betuchter Tourist. Das Oberteil mit dem floralen Muster, die kurze braune Hose, die Sandalen. Sogar einen Ehering und eine gefälschte Rolex hatte er sich für die Überfahrt zugelegt und – die schwerste Prüfung von allen – zum ersten Mal seit der Pubertät den Bart abrasiert.

Al-Jamani überprüfte ein letztes Mal sein Erscheinungsbild im Spiegel. Der Kapitän durfte auf keinen Fall etwas merken. Er holte tief Luft, straffte die Schultern und ging zur Kabinentür. Er wollte es zügig hinter sich bringen, nicht lange fackeln. Der Kapitän war ein Ungläubiger. Vollkommen bedeutungslos. Der Saudi entriegelte die Tür und schob sie auf. Sofort blendete ihn die grelle Karibiksonne.

Er hielt kurz inne, schirmte mit der linken Hand die Augen vor den grellen Strahlen ab und überlegte, ob er noch etwas warten sollte, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Stattdessen entschied er, keine unnötige Zeit zu verlieren, und kletterte die drei Stufen nach oben. Unterhalb der abschirmenden Handfläche zeichnete sich die Silhouette des Kapitäns auf der Brücke ab.

Al-Jamani hörte, wie der Mann etwas zu ihm sagte, verstand jedoch kein Wort. Sie fuhren deutlich schneller als erwartet. Ein strammer Wind fegte über den Bug. Al-Jamani verzichtete auf die Mühe einer Erwiderung. Das Überraschungsmoment war auf seiner Seite, in wenigen Sekunden war alles vorbei. Er näherte sich dem Kommandostand, ließ die rechte Hand unter das Hemd gleiten und legte die linke auf die Schulter des Kapitäns. Er beugte sich dicht an sein Ohr, als wollte er eine Frage stellen. Sobald sich seine Lippen öffneten, krallten sich die Finger in die Schulter. Die andere Hand schoss nach oben und schickte eine 15 Zentimeter lange Klinge in den Rücken des Briten.

Thomas Scott zuckte vor Schmerz zusammen. Die Finger umklammerten instinktiv das Steuerrad, sein Verstand rang um Antworten auf die Frage, was gerade passiert war. Ohne Vorwarnung wurde er vom Steuer weggerissen und auf das Deck geschleudert. Hektisch griff er hinter sich, um nach dem unbekannten Störfaktor zu tasten, der ihm solche Qualen bereitete. Bevor er reagieren konnte, war er gegen die Seitenwand der Jacht geschlittert und verlor das Gleichgewicht. Er spürte, wie er über Bord ging. Der blaue Himmel schob sich in sein Sichtfeld, dann schlug er hart auf die Wasseroberfläche.

Al-Jamani verfolgte, wie der Kapitän in den aufgewühlten Wogen des Kielwassers verschwand. Dann hastete er ans Steuer und inspizierte die mit Hightech gespickte Instrumententafel, um die digitalen und analogen Anzeigen abzulesen. Mit zusammengekniffenen Augen erfasste er Geschwindigkeit, Kurs und aktuelle GPS-Koordinaten. Er hatte eine ganze Woche damit verbracht, die technische Dokumentation der Jacht zu studieren, und kannte sich gut genug mit den Kontrollen aus, um zu tun, was getan werden musste. Nach einem kurzen Kontrollblick Richtung Horizont drehte er langsam am Steuerrad und brachte das Schiff auf einen neuen nördlichen Kurs.

Nachdem die Jacht nunmehr in die gewünschte Richtung fuhr, entspannte Al-Jamani sichtlich. Er drehte sich um und starrte auf die weiß schäumende Gischt am Heck. Er hob erneut die Hand, um die Augen vor der Sonne abzuschirmen, und suchte das Wasser nach Spuren des Mannes ab, den er gerade getötet hatte. Er bildete sich ein, ihn kurz zu sehen, dann war er auch schon wieder verschwunden. Egal. Sie waren Dutzende Kilometer von der nächsten Küste entfernt. Er hatte seinem Opfer von hinten ins Herz gestochen. Selbst wenn er wie durch ein Wunder noch lebte, war sein Schicksal besiegelt.

Al-Jamani richtete die Aufmerksamkeit auf den Bereich vor dem Schiff. Selbstsichere Vorfreude beherrschte seine Mimik. Er hatte ein Leben lang auf diese Gelegenheit gewartet. Das Schicksal hatte ihn dazu bestimmt, nach Amerika zu kommen und im Namen Allahs einen vernichtenden Schlag zu führen. Al-Jamani kämpfte nicht allein. Es gab weitere, die sich genau in diesem Moment der Küste der Vereinigten Staaten näherten. Noch vor Ende der Woche würden sie den arroganten, hedonistischen Amerikanern einen lähmenden Schlag zufügen.

2

Washington, D. C.

Das neue Joint Counterterrorism Center – oder JCTC – befand sich in der Nähe von Tyson’s Corner, westlich des Zentrums von Washington. In der Einrichtung waren das Counterterrorism Center der CIA, sein FBI-Gegenstück und das neu geschaffene Terrorist Threat Integration Center, abgekürzt TTIC, untergebracht. Der Grund, alle drei unter einem Dach zu vereinen, bestand in besseren Analysemöglichkeiten gewonnener Erkenntnisse über Terroristen. Auf dem Papier hielten das viele Menschen in Washington für eine großartige Idee, in der Realität erwies sich die Umsetzung als deutlich schwieriger; zumindest wenn es nach Mitch Rapp ging.

Er glitt in den mit moderner Technik vollgestopften Besprechungsraum und versuchte, nicht aufzufallen, was bei einem Mann mit seinem Ruf gar nicht so einfach war. Er wollte nicht lange bleiben. Um den ovalen Tisch verteilten sich Vorgesetzte, Abteilungsleiter und deren Assistenten aus verschiedenen Schlüsselstellen von Regierungseinrichtungen. Jeder Einzelne von ihnen war mehr oder weniger über Rapps Tätigkeit aufgeklärt. Viele von ihnen reagierten deutlich nervös auf sein Eintreffen.

Der Raum wurde erst seit letzter Woche genutzt. Rapp bekam ihn zum ersten Mal zu Gesicht. Was ihm sofort auffiel, waren die gerahmten Fotos, die fast die komplette gegenüberliegende Wand einnahmen. 22 Gesichter starrten ihm entgegen. Er konnte ihre Namen aus dem Gedächtnis herunterrattern, ebenso, wo sie aufgewachsen und ausgebildet worden waren. Es handelte sich um die 22 Terroristen, die FBI und Justizministerium am dringendsten festnehmen, vor Gericht bringen und inhaftieren wollten. Rapp wollte sie einfach nur jagen und ihnen eine Kugel in den Kopf verpassen.

Das fasste das Hauptproblem perfekt zusammen, das Rapp mit dem Joint Counterterrorism Center hatte. Es gab zu viele Regeln, dabei führten sie Krieg gegen einen Feind, der keine Regeln kannte. Er verstand, weshalb sie innerhalb der Grenzen des Gesetzes agieren mussten. Die Bill of Rights durfte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Trotzdem gab es Zeiten, in denen rein zweckgerichtetes Handeln Leben rettete.

Rapp überraschte es nur am Rande, dass genau dieses Thema momentan erörtert wurde. Eine Frau aus dem Justizministerium schimpfte auf den Patriot Act und warnte die Anwesenden, dass er sie früher oder später vor unlösbare Probleme stellen würde. Er lenkte den Blick seiner Chefin auf sich und bedeutete ihr mit einem Winken, sich für ein kurzes Gespräch auf den Flur zurückzuziehen.

Als Direktorin Kennedy neben ihm im Gang stand, fragte sie: »Was gibt’s?«

Rapp sah sich misstrauisch um. »Darüber will ich hier nicht reden.«

»Verstanden.« Kennedy lotste ihn zum Aufzug. Sie fuhren mehrere Etagen nach oben in den CIA-Abschnitt des Gebäudes. Nachdem sie mehrere Codeschlösser passiert hatten, betraten sie einen freien Konferenzraum und schlossen die Tür.

Rapp reichte Kennedy eine Akte. »Ich vermute, das wirst du sehr interessant finden.«

Ohne ein weiteres Wort nahm Kennedy die Mappe entgegen und setzte sich. Sie löste die rote Kordel und schlug die geheime Unterlage auf, als hätte sie es schon tausendfach vorher getan, was auch zutraf.

Sie las die erste Seite quer und schlug in Anbetracht des dicken Papierstapels vor: »Willst du dich nicht lieber setzen?«

»Mir ist nicht danach.« Rapp faltete die Hände hinter dem Rücken und dehnte die Kniegelenke. Ihm fehlte die Muße für eine Pause. »Ein Flugzeug wartet darauf, mich nach Kandahar zu bringen.«

Die CIA-Direktorin setzte ihre Lektüre fort und fragte: »Findest du nicht, dass du ein bisschen voreilig handelst?«

»Dafür werd ich bezahlt.«

Sie musterte ihn über den Brillenrand hinweg und schüttelte den Kopf. Rapp war für sie wie ein Bruder, was sie gelegentlich in ernste Gewissenskonflikte stürzte.

Ungeduldig beobachtete Mitch, wie sie die hastig zusammengestellte Akte las. Seine Gedanken eilten bereits mehrere Schritte voraus. Er überlegte, welche Vorbereitungen er für eine Operation dieser Größenordnung treffen musste.

Colonel Hak hatte Rapp nicht nur die erhoffte Information, sondern deutlich mehr geliefert. Er erwies sich als wahre Fundgrube des Wissens. Allein aus diesem Grund lebte er noch. Falls er weiterhin kooperierte, gedachte Rapp sein Versprechen einzuhalten und dafür zu sorgen, dass der Pakistani seine Kinder wiedersah. Hak hatte ihnen nicht nur verraten, welche seiner ISI-Kollegen mit den Taliban sympathisierten, sondern auch entscheidende Details zur Al-Qaida und ihrer neu aufgestellten Führungsspitze geliefert. Vor allem wussten sie dank ihm jetzt, wo sich die Operationszentrale der Terrorgruppe befand.

Grundsätzlich war es für Rapp Routine, die nächsten Schritte zu planen und umzusetzen. In einer Stadt wie Washington die Erlaubnis für diese Maßnahmen zu bekommen, hielt er für deutlich kniffliger. Normalerweise beschränkte er den Kreis der Mitwisser auf die Agency und eine kleine Gruppe beteiligter Special-Forces-Kräfte, doch in diesem Fall musste er sich das Okay von ganz oben holen. Die Operation war kompliziert und erforderte das Brüskieren eines zentralen Verbündeten. Außerdem fiel sie nicht in die Kategorie Black, was bedeutete, dass die internationale Staatengemeinschaft und die Presse spätestens fünf Minuten, nachdem es vorbei war, davon Wind bekamen.

Egal ob die Mission ein Erfolg wurde oder scheiterte, Rapp und die CIA brauchten dafür Rückendeckung aus dem Oval Office. Das hieß, der Präsident musste eingeweiht werden. Rapp tat sich mit dem Lesen der ständig veränderten politischen Stimmungen in der Hauptstadt schwer wie ein Analphabet. Kennedy fiel es im Gegenzug umso leichter, die Bedürfnisse und Wünsche der unersättlichsten Egos in ganz Amerika zu interpretieren.

Die CIA-Direktorin las konzentriert. Mitch beobachtete, wie sie die Seiten in der Hälfte der Zeit umblätterte, die er benötigte, obwohl er einen Großteil des Dossiers selbst verfasst hatte. Ein fast fotografisches Gedächtnis gehörte zu ihren vielen Stärken. Nach der letzten Seite klappte sie die Unterlage zu und legte sie mit dem Deckblatt nach unten auf den Tisch.

Mit ernstem Gesicht lehnte sie sich zurück und setzte die Lesebrille ab. Sie betrachtete ihren wertvollsten Agenten mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln, wollte erst etwas sagen, überlegte es sich dann jedoch anders.

Rapp, dem die legendäre Geduld seiner Vorgesetzten abging, brach das Schweigen: »Das ist ein Selbstläufer.«

Sie reagierte nicht sofort. Ihr entging nicht, dass Mitch in Gedanken bereits mehrere Schritte weiter war. Kennedy verfügte über den wohl besten Zugang zu Geheiminformationen, den man sich vorstellen konnte, und doch wimmelte es in Rapps Bericht von Details, mit denen sie zum ersten Mal konfrontiert wurde. Dummerweise war fast nichts durch konkrete Quellen belegt. Im Spionagegeschäft galt die Regel, dass eine Information immer nur so gut war wie ihre Quelle.

»Von wem hast du das alles?«

»Das willst du nicht wissen«, antwortete Rapp nüchtern.

Kennedy hob eine Augenbraue. »Sicher?«

Rapp blieb stur. Natürlich ließ sie eine solche Andeutung nicht auf sich beruhen, doch zu ihrem eigenen Schutz musste er sie im Dunkeln lassen. »Irene, vertrau mir, wenn ich sage: Du möchtest nicht erfahren, wie ich an diese Informationen gelangt bin.«

Kennedy starrte ihn an und überlegte, woher dieses entscheidende Wissen stammen mochte. Es gab zahlreiche Möglichkeiten. Alle deuteten in Richtungen, die vor Gefahr nur so strotzten. Sie schielte auf die Akte. »Bist du davon überzeugt, dass alles, was hier steht, den Tatsachen entspricht?«

»Ja. Man könnte sagen, ich habe es direkt aus erster Hand.«

Sie glaubte ihm, wollte aber sichergehen, dass er sich der möglichen Konsequenzen bewusst war. »Wenn es schiefgeht, werden die Leute Antworten verlangen. Nicht nur die Presse. Wir reden von Anhörungen im Kongress, Kameras, arroganten Politikern, zerstörten Karrieren … Du weißt, wie es läuft.«

»Ja. Das macht mir keine Angst. Deshalb möchte ich dir auch nicht sagen, woher ich diese Informationen habe. Sollte man mich in den Zeugenstand rufen, werde ich mich ins Schwert stürzen wie ein guter Soldat.«

Kennedy wusste, dass Rapp niemals sie oder den Präsidenten belasten würde, aber auch, dass er sich nicht still und heimlich von der Bühne verabschiedete. Jeder Kongressabgeordnete oder Senator, der sich mit ihm anlegte, war nur zu bedauern.

»Nun … Dein Timing ist jedenfalls interessant.«

»Inwiefern?«

»Es gibt da einige andere Entwicklungen …« Sie machte eine kurze Pause. »Entwicklungen, die mir Sorgen machen.«

»Haben sie mit dieser Sache zu tun?«

Kennedy zuckte die Achseln. »Gute Frage.«

»Tja«, stellte Rapp sarkastisch fest, »wenn wir weiter hier rumsitzen, finden wir es nie raus.« Er deutete auf die Mappe. »Das ist nur der Anfang. Sobald ich grünes Licht von dir bekomme, verrate ich dir innerhalb von 72 Stunden ganz genau, was sie vorhaben.«

Ein vertrauter Appell aus dem Mund ihres führenden Sicherheitsberaters: »Action!«