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Titelseite

Inhalt

DREIZEHN

Morgan – Ich halte den …

Eric – Ich halte den …

Morgan – »Was meinst du, …

Eric – Die Glühwürmchen sind …

VIERZEHN

Morgan – Heute ist es …

Eric – »Ins Waffelhaus?«, fragt …

Morgan – Jasmine und ich …

Eric – Das Licht der …

Morgan – Auf einmal wird …

Eric – »Alter, was zum …

FÜNFZEHN

Morgan – Ich wünschte, wir …

Eric – Der Schweiß läuft …

Morgan – Ich tupfe mein …

Eric – »Da bist du …

Morgan – Am Müllcontainer lasse …

Eric – Ich schicke Morgan …

SECHZEHN

Morgan – Ich lege meinen …

Eric – Auf dem Weg …

Morgan – Mein Körper ist …

Eric – Sobald Morgan die …

Morgan – Als William mein …

Eric – Susan drückt ihr …

Morgan – Ein Zahn ist …

Eric – Ich habe das …

Morgan – Mein Kopf ist …

SIEBZEHN

Eric – Meine Finger tun …

Morgan – Die Praxis meiner …

Eric – Nach dieser »Unterhaltung« …

Morgan – Als ich von …

Eric – Ich lasse mein …

Morgan – Ich könnte es …

Eric – Ich verschränke meine …

Morgan – Ich halte an …

ACHTZEHN

Morgan – Mein neues iPhone …

Eric – Vom Meer her …

Morgan – Die Frau an …

Eric – Ich höre kurz …

Morgan – Eric besingt den …

Danksagung

 

 

Für Mariam und alle jungen Menschen, die stark genug sind, die Hand auszustrecken.

Für Mom, fürs Überleben.

Für Darwin, aus keinem anderen Grund, als dass ich dich liebe.

ZwiTi

Morgan

Ich halte den Atem an, während ich zwischen waberndem Sonnenlicht und dem Dunkelblau der Tiefe schwebe. Ich rudere mit den Armen und paddele mit den Füßen, träge wie Gezeitenströmung. Ich bin noch nicht bereit, wieder nach oben zu kommen, weil mich an der Oberfläche zu vieles erwartet. Andererseits weiß ich, dass ich mich nicht ewig treiben lassen kann. Das Leben zwingt einen, sich andauernd fortzubewegen, auf die eine oder andere Weise, ob man nun nach oben ins Licht der Sonne schießt oder abtaucht.

Kurz darauf wird der Druck in meiner Brust unerträglich, sodass ich die Arme anlege und mit vollem Körpereinsatz wie eine Meerjungfrau aus dem Wasser springe.

»Anderthalb Minuten!«, schreit Eric und spritzt mich in seiner Aufregung voll. Ich kann sein Gesicht kaum erkennen, als ich mir das Wasser aus den Augen wische.

»Hab ich doch gesagt!«, rufe ich. Inzwischen sehe ich ihn wieder scharf. Eric ist ein paar Zentimeter kleiner als ich, hat hellwache grüne Augen, schulterlange blonde Haare und ein schmales Gesicht, das von seinem spitzen Kinn noch betont wird. »Willst du es wirklich noch versuchen oder gibst du gleich auf?«

»Niemals!«, sagt Eric, holt tief Luft, kneift die Nase zu und taucht unter.

Ich konzentriere mich darauf, die Sekunden zu zählen. Obwohl ich wieder gleichmäßig atme, ist mir noch ein wenig schwindelig und mein Herz rast. Wenn Eric wieder oben ist, sage ich es ihm. Zehn Sekunden. Ich sage ihm, dass ich eigentlich ein Mädchen bin und es als Junge nicht mehr aushalten kann. Dass ich jeden Tag das Gefühl habe, ein wenig mehr zu sterben. Zwanzig Sekunden.

Als ein etwas älteres Mädchen im roten Bikini am Beckenrand vorbeigeht, ertappe ich mich dabei, wie ich sie anglotze. Ich starre ihren Körper an, die Form und die Bewegung. Dann merke ich, dass ich die Arme vor der Brust verschränkt habe, und lasse sie sinken. Da gibt es nichts zu bedecken.

Dreißig Sekunden. Erics Eltern und mein Vater winken von ihrem Tisch in der Nähe und ich winke zurück. Ich werde es Eric sagen und wenn er gut reagiert, sage ich es auch Dad. Eigentlich will ich das nicht. Ich habe Albträume, dass es zwischen Eric und mir dann komisch wird, und ich will Dad nach allem, was passiert ist, nicht noch mehr Stress machen. Aber es fühlt sich immer mehr so an, als würde ich innerlich platzen. Ich habe versucht, es für mich zu behalten. Jeden Tag nimmt das lähmende Gefühl zu, fühle ich mich mehr wie ein Monster und habe Angst, in den Spiegel zu schauen. Er zeigt mir deutlich, dass ich mich in einen großen, behaarten Mann verwandele, etwas, das niemals rückgängig gemacht werden kann.

In letzter Zeit machen mir meine Gedanken – darüber, nicht mehr am Leben sein zu wollen – Angst und ich brauche Hilfe. Vielleicht kann mein bester Freund diese Hilfe leisten, indem er ruhig sitzen bleibt, mich ausreden lässt und mir bestätigt, dass meine Gefühle ganz normal sind und er auch so einiges durchmacht. Er könnte sagen, das gehört zum Erwachsensein eben dazu, und dass wir es gemeinsam durchstehen werden. Möglicherweise wird er auch sagen, dass mein Vater jemanden für mich sucht, mit dem ich darüber sprechen kann, einen Therapeuten oder so jemanden. Ich habe keine Ahnung, aber es muss etwas geschehen, und zwar bald. Ich bin dreizehn und der Horror der Pubertätszeit rückt immer näher.

Vierzig Sekunden. Wie verrät man jemandem ein solches Geheimnis? Wie soll man das in Worte fassen?

Fünfzig Sekunden und Eric taucht mit rudernden Armen wieder auf.

»Wie war ich?«, keucht er.

»Grottenschlecht«, antworte ich.

Er spritzt Wasser dorthin, wo er mich vermutet – ohne Brille ist er praktisch blind –, und ich muss lachen.

»Wie lange war ich unten?«

»Nicht mal eine Minute.« Ich spritze zurück.

»Egal«, sagt er und verdreht die Augen. »Kann ja nicht jeder so ein Naturtalent sein wie du.«

»Ich gehe jeden Morgen joggen«, lasse ich ihn spöttisch wissen. Eigentlich hatte ich gehofft, nicht mehr so viel trainieren zu müssen, nachdem ich aus der Junior Football League ausgestiegen bin, aber mit einem Vater, der Trainer und Sportlehrer ist, hat man keine Chance. »Wenn du dich so anstrengen würdest wie ich, wärst du auch so gut wie ich, du Lusche.« Ich treibe auf dem Rücken, schließe die Augen und lasse mir die warme Sonne ins Gesicht und auf den Bauch scheinen. Dann hole ich tief Luft. Ich stelle es mir einfacher vor, jemandem etwas zu sagen, den ich nicht sehen kann. »Hey, Eric?«

»Ja?«

»Wenn ich dir etwas verrate, versprichst du mir dann, es für dich zu behalten?«

»Mann«, antwortet Eric geradezu beleidigt. »Wie kannst du so was fragen?«

»Gut.« Ich öffne den Mund, um es ihm zu sagen. Mein Herz klopft wie wild. Ein Seitenblick zeigt mir, dass mein bester Freund, den ich seit dem Tag meiner Geburt kenne, mich offen und neugierig ansieht. Während ich ihm zu lange in die Augen schaue, zieht sich mein Magen auf unangenehme Weise zusammen und ich schlucke und sehe wieder in den Himmel.

Wenn mein Leben ein Film wäre, wüssten die Schauspieler immer, was sie sagen sollen, und die langweiligen, ekelhaften und peinlichen Momente würden im Handumdrehen herausgeschnitten. Indiana Jones würde niemals so ein Gespräch führen müssen und Godzilla hat kein Geschlecht – es zertrampelt nur Autos und jagt mit seinem radioaktiven Hitzestrahl Hochhäuser in die Luft. Was für ein schönes Leben.

»Und?«, fragt Eric. Er taucht unter und wieder auf und blinzelt das Wasser aus seinen Augen. Dann wirft er den Kopf nach hinten und streicht seine Haare glatt. Mein Magen macht einen Satz und ich tauche bis zur Nase unter.

»Worum geht’s denn jetzt?«

Ich blubbere einen Haufen Blasen hervor und wende den Blick ab. Eric watet zu mir und taucht sein Gesicht, sein lächelndes attraktives Gesicht (bloß nicht daran denken, bloß nicht daran denken) so unter Wasser, dass ich es sehen kann. Als er mich ansieht, verrutscht ihm sein Lächeln ein wenig und er wirkt verwirrt und frustriert.

»Ich habe das Gefühl, ich bin ein Mädchen.« Endlich sage ich es, aber unter Wasser, verzerrt. Hat Eric mich verstanden?

Er verdreht die Augen. »Na gut, dann sag’s mir eben nicht, du Freak.«

Er hat nichts gehört. Mir ist schlecht.

Freak.

Eric schwimmt davon, stemmt sich aus dem Becken und bleibt am Rand stehen. Er sieht mir zu, wie ich langsam hinterherkomme.

Als unsere Eltern Eric und mich zu sich rufen, stelle ich mir vor, es dann eben jetzt zu sagen: In Wirklichkeit bin ich ein Mädchen. Das hört sich lächerlich an. Nach Freak.

Wir laufen zu unseren Eltern und unsere nassen Fußabdrücke trocknen rasch auf den heißen Betonplatten. Erics Vater Carson trägt ein »Big Kahuna«-T-Shirt und eine fast knielange Badeshorts – mit seinen einsfünfundachtzig macht er echt Eindruck. Er hat blondes Haar, genau wie Eric, aber einen Kurzhaarschnitt, und seine grünen Augen strahlen immer eine gewisse Aggressivität aus. Früher, als ich noch Football gespielt habe, hatte er mich ganz gern, und ich habe so etwas wie einen Onkel in ihm gesehen. Doch seit ich aufgehört habe, redet er kaum noch mit mir, nicht einmal, wenn ich bei Eric übernachte. Erics Mutter Jenny dagegen kommt mir schon immer wie eine Schauspielerin aus einem Schwarz-Weiß-Film vor, so edel sieht sie aus. Wenn ich bei Eric bin, sorgt sie für eine warmherzige Atmosphäre und kocht dann jedes Mal.

Mein schlaksiger Vater, der vom Herumrennen auf dem Spielfeld so braun gebrannt ist wie ein Farmer, lächelt mich müde an und lässt sich in seinen Stuhl zurücksinken. Unsere Eltern kennen sich, seit Eric und ich auf der Welt sind. Sie haben sich bei unserer Geburt im Krankenhaus kennengelernt, als sie während eines außergewöhnlichen Schneesturms dort festsaßen – anscheinend war es in der Geschichte des Staates Tennessee das erste und einzige Mal, dass es im September einen Schneesturm gab. Im Laufe dieser drei Herbsttage kamen Eric und ich auf die Welt und unsere Eltern – unsere Familien – wurden Freunde fürs Leben.

Seitdem machen wir alles zusammen. Ein gemeinsamer Geburtstag wurde ein gemeinsames Leben. Lange waren wir mit Erics Familie enger verbunden als mit unseren eigenen Onkeln, Tanten, Cousinen und Cousins.

Dann ist Mom gestorben und kurz darauf bin ich aus dem Football ausgestiegen.

Immerhin feiern wir noch zusammen Geburtstag.

»Habt ihr Jungs Lust aufs Mittagessen?«, fragt Jenny und nimmt lächelnd ihre Sonnenbrille mit den ovalen Gläsern ab.

Als sie so beiläufig »Jungs« sagt, zucke ich zusammen und versuche sofort, es zu verbergen.

So war es nicht immer. Früher war es ein dumpfer Schmerz wie von einem blauen Fleck, ein Anflug von Verwirrung, wenn wir im Unterricht in Jungen und Mädchen aufgeteilt wurden – doch im Laufe des letzten Jahres ist es unerträglich geworden. Ich hätte vielleicht schon früher etwas gesagt und erinnere mich vage daran, dass ich auch schon früher etwas sagen wollte, aber ich habe gern Football gespielt und wusste instinktiv, dass zwei Sorten Kinder nicht mitspielen durften: Mädchen und Weicheier. Und ich wollte nicht mit etwas aufhören, das ich gern tat, und unbedingt verhindern, dass man sich über mich lustig machte. Damals war es leichter, meinen Zwiespalt zu unterdrücken, doch mit der Zeit hat sich das Ganze so entwickelt wie in einem Comic, in dem die Figur mit einem Finger ein Leck stopft, aber gleichzeitig zwei neue entstehen. Gefühlt wird es nicht mehr lange dauern, bis mir alles um die Ohren fliegt.

»Noch nicht«, sagt Eric zu seiner Mutter, als er seine Haare auswringt. »Ich will noch zur neuen Speedrutsche.«

Auf dem Tisch steht unser weiß-blauer Geburtstagskuchen, auf dem mit rotem Zuckerguss Happy Birthday, Jungs! steht. Selbst wenn alle Torten aus dem Supermarkt im Vergleich mit Moms Backkünsten nicht wie Pappe schmecken würden, hätte ich keine Lust, ein Stück zu essen. Ich stimme Eric mit einem Nicken zu und tue so, als wäre ich ebenfalls wild auf die Speedrutsche.

»Okay«, sagt Dad und will aufstehen. »Ich komme mit.«

»Ach komm, Tyler. Sie sind jetzt dreizehn«, sagt Carson, lehnt sich zurück und trinkt einen Schluck Cola. »Vielleicht sollten wir die Zügel allmählich ein bisschen locker lassen.«

»Da hast du wohl recht«, sagt Dad und kratzt sich an der Wange. Mit einem Blick fragt er mich, ob das für mich okay ist.

Früher hat Dad mich einfach allein durch die Gegend laufen lassen und behauptet, Jungs täte es gut, sich die Knie aufzuschürfen. Doch dann wurde Mom krank und immer kränker und vor einem Jahr ist sie schließlich gestorben. Seitdem habe ich das Gefühl, dass er entweder die ganze Zeit auf dem Footballfeld verbringt oder mich permanent kontrolliert. Als würden wir nur noch auf der Stelle treten, unsicher, wie wir ohne sie vorankommen sollen.

Ich lasse die Haare vors Gesicht fallen. Es ist immer leichter, die Welt durch diesen Vorhang zu betrachten. Dann drehe ich mich um und lasse Eric nicht aus den Augen, während wir vom Schwimmbecken zum Hauptweg laufen, immer näher an den alles überragenden Schatten der Speedrutsche heran.

»Alles okay?«, fragt Eric, als wir uns anstellen und die Stahltreppe hinaufgehen.

»Ja«, antworte ich.

Ich muss es ihm sagen, ich muss es ihm sagen.

»Ist es, weil du Höhenangst hast?«, fragt Eric.

Ich schaue mich um, wir sind schon fast oben. Eine Brise zerzaust Erics Haar und ein Haufen Stare kreist wie ein Fischschwarm über dem Spaßbad.

»Ich habe keine Höhenangst«, protestiere ich und rolle mit den Augen. »Ich habe vor nichts Angst.«

Das ist voll gelogen.

»Und wieso bist du dann so komisch?«

»Bin ich nicht.« Ich schaue auf meine Füße und die schwindelerregende Aussicht durch die Lücken zwischen den Stufen.

Eric sieht mich ungläubig an, doch ehe er etwas sagen kann, sind wir oben auf der Plattform vor dem dunklen offenen Schlund der Rutsche. Ein Aufseher reicht uns ein kleines aufblasbares Floß und weist uns an, uns an den Griffen festzuhalten, nicht aufzustehen, nicht vom Floß zu springen oder andere dämliche Dinge zu tun, die Teenager angeblich veranstalten, was mich zum tausendsten Mal daran erinnert: Ich bin jetzt ganz offiziell ein Teenager. Mir ist übel.

»Seid ihr so weit?«, fragt der Aufseher.

Ich nicke. Eric reißt schreiend den Arm hoch.

Der Aufseher lacht, gibt dem Floß mit der Gummisandale einen Stups und mit einem Mal rauscht es von überall, dunkel und brüllend. Das Floß schießt derart hoch an den Wänden durch den Tunnel, dass wir bei jeder Kurve beinahe abheben. Eric lacht wie verrückt und legt als Schutz gegen die Gischt den Arm vors Gesicht. Ich muss auch lachen. Die Spannung steigt und steigt, bis sie jedes andere Gefühl ausblendet und ich endlich in die Dunkelheit brülle: »Eric! Ich will ein Mädchen sein!«

»Okay!«, ruft Eric.

Ich fasse es nicht.

Okay? Okay. Es ist okay.

Ich lasse zu, dass ich von Lachen geschüttelt werde und das Gelächter aus mir hervorsprudelt wie Blut aus einer klaffenden Wunde. Plötzlich fühle ich mich leicht wie ein Vogel. Ein runder Lichtkreis taucht auf, der uns zunächst blendet und in Schallgeschwindigkeit größer wird, bis wir in Sonnenschein gebadet werden und taumelnd das Floß im Becken zum Kippen bringen.

Ich tauche als Erster wieder auf, trete auf der Stelle und schenke dem brodelnden Wasser, den schreienden Kindern und der lauten Musik, die aus den Lautsprechern dröhnt, keine Beachtung. Ich habe es ihm gesagt, ich habe es ihm gesagt. Er findet es in Ordnung.

Eric kommt sofort nach mir an die Oberfläche, mit rudernden Armen schnappt er nach Luft. Hinter seinen nassen Locken kann ich seine Augen nicht sehen, doch ich ziehe ihn am Arm in seichteres Wasser, während er noch prustet und lacht.

»Das war irre!«

»Mega!« Ich spritze mit Wasser, als ich die Arme hochreiße.

In Ordnung. In Ordnung. Er hat gesagt, es geht in Ordnung.

»Was hast du eben in der Rutsche gesagt?«, keucht Eric. »Ich habe nichts verstanden.«

»Oh«, sage ich und bekomme Bauchschmerzen.

Er hat es nicht gehört.

Er weiß es nicht.

In der Rutsche hatte ich eine Vision oder eine ganze Reihe miteinander wetteifernder Visionen, die jedoch alle auf ihre Art paradiesisch waren: Eric, der mir versichert, ich wäre normal; Eric, der mir versichert, ich wäre nicht normal, aber er würde es verstehen und weiterhin mit mir reden und mein Geheimnis bewahren. Und etwas vager, aber mit einem goldglänzenden, warmen Schimmer eine Vision von mir als Mädchen, das fröhlich mit Eric zur Schule geht, als wäre es das Normalste von der Welt. Die Visionen verebben wie Hitzewellen auf dem Asphalt.

Mein Magen krampft immer noch, doch es hat keinen Zweck, dagegen anzukämpfen.

Langsam wate ich aus dem Becken. Alles dreht sich. Dann renne ich zum nächsten Abfalleimer, stütze mich mit beiden Händen auf und übergebe mich.

Eric

Ich halte den Geburtstagskuchen auf dem Schoß, der bei jeder Bodenwelle der Interstate hochhüpft. Eine Hälfte ist schon weg, das meiste davon liegt im Mülleimer des Spaßbads. Morgan hat versucht, was davon zu essen, und behauptet, es ginge ihm wieder gut, doch dann hat er sich noch mal übergeben und der Anblick – und der Geruch – hat uns anderen den Appetit verdorben. Also beschlossen wir, nach Hause zu fahren.

Die Interstate 75 befördert uns von Georgia Richtung Norden zurück nach Tennessee. Meine Wangen und Schultern glühen, ich bekomme wohl einen Sonnenbrand, aber jetzt gerade fühlt es sich warm und angenehm an. Mein älterer Bruder Peyton schmollt neben mir auf dem Rücksitz. Anscheinend hat er im Schwimmbad ein paar Mädchen kennengelernt, die sich freiwillig mit ihm unterhalten wollten, und Morgans Kotzerei hat dieses einmalige Wunder zunichtegemacht. Dad hat den Country-Sender eingeschaltet und wippt mit dem Kopf zu Johnny Cash, während Mom ganz in das neueste Buch von Patricia Cornwell vertieft zu sein scheint. Ich habe auch ein Buch im Rucksack, die Geschichte von Radiohead, oder ich könnte mir noch mal das Album Tallahassee von den Mountain Goats anhören. Aber eigentlich ist mir weder nach Lesen noch nach Musik hören zumute.

Es fällt mir schwer, mich auf irgendwas richtig zu konzentrieren, weil ich mich dauernd frage, was heute mit Morgan los war und was sein großes Geheimnis gewesen sein soll. Seit seine Mom gestorben ist, scheint er irgendwie … weit weg zu sein. Das klingt egoistisch, denn ich möchte wirklich für Morgan da sein, aber ich habe mehr und mehr den Eindruck, als wäre er eigentlich gar nicht anwesend. Er war schon immer still und eher nachdenklich, hat eher zugehört als selbst geredet – es sei denn, irgendwas regte ihn auf. Doch inzwischen kann ich schon von Glück reden, wenn ich ihm als Reaktion auf das, was ich sage, wenigstens bei der Hälfte etwas mehr entlocken kann als ein Knurren und Daumennagelkauen. Wer hätte gedacht, dass man sich in der Gegenwart von jemand anderem einsam fühlen kann?

Morgan ist schon immer mein bester Freund gewesen. Seine Mom hat uns mit dem Buch Ein lustiges Hundeleben das Lesen beigebracht. Und als Morgan herausfand, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt, hat er es mir brühwarm erzählt. Ich habe in der Bambini-Footballmannschaft mittrainiert, weil Morgan dort Quarterback war, obwohl ich Football hasste. Ich habe sogar darum gebeten, als Tackle im Angriff spielen zu können, denn Schläge für meinen Freund einzustecken, kam mir wie die natürlichste Sache der Welt vor.

Wir verbrachten die Sommer damit, auf Bäume zu klettern, trockene Flussbetten zu durchwandern, auf der Wiese zu liegen und die Wolken vorbeiziehen zu sehen. Seit der Grundschule übernachteten wir jeden Freitag und Samstag beieinander und unterhielten uns bis spät in die Nacht über Musik. (Meine Mountain-Goats-Phase wurde von einer zweimonatigen Besessenheit von dem Album In the Aeroplane Over the Sea von Neutral Milk Hotel abgelöst und später schaffte es Morgan, mein Interesse für ein paar Metalbands zu wecken, auf die er steht, zum Beispiel Atreyu. Wenn er in der richtigen Stimmung ist, hört er auch die Musik von Hippiemädchen wie Kate Bush und Tori Amos, die seine Mom so mochte und von der er offen zugibt, dass er sie auch mag.) Wir sprachen auch über Filme (Almost Famous – Fast berühmt von meiner Seite und von seiner eine Mischung aus Mulan und den Royal Tenenbaums) und über alles mögliche andere. Wir teilten alles miteinander.

Und dann, zu Beginn dieses Sommers, erinnere ich mich, dass ich auf einmal ein Mädchen mit anderen Augen gesehen habe. Ich war mit dem Rad unterwegs zu Morgans Wohnwagen und als ich durch seinen Trailerpark sauste, kam ich an einem Mädchen vorbei, in der ich die ältere Schwester von jemanden aus unserer Klasse erkannte. Sie war also schon in der Highschool und trug einen Badeanzug und kurze Shorts, stand in einem Planschbecken und spritzte sich mit einem Gartenschlauch den Dreck von den Beinen. Ich hatte Mädchen auch zuvor schon hübsch gefunden und war manchmal gern in ihrer Gesellschaft, aber diesem älteren Mädchen mit dem Gartenschlauch zuzusehen, war der Schlüsselmoment, der alles in Gang setzte.

Ich versuchte es Morgan zu erzählen, aber er machte zum allerersten Mal in unserem Leben dicht und meinte, er wolle nicht darüber reden, drehte sich auf die Seite und schlief ein. Es schien eine Nichtigkeit zu sein, für jeden anderen wäre es eine Nichtigkeit gewesen, aber wir waren nie so gewesen. Nie.

Ich wünschte, ich könnte mit ihm darüber reden, warum heute alles irgendwie komisch war. Ich wünschte, ich wüsste, was er für ein Geheimnis hat. Ich bin nicht blöd. Ich kann mir sehr wahrscheinlich schon denken, was es ist. Ich habe noch nie einen Schwulen kennengelernt (von dem ich es sicher wüsste), aber ich werde Morgan unterstützen, ganz egal, was er mir erzählt. Das muss er doch wissen. Er muss wissen, dass ich zu ihm halte und sein Geheimnis bewahre, oder?

»Bei euch da hinten ist es ja furchtbar still«, sagt Mom. Ich blicke auf und sehe, wie sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen und einem schwachen, neugierigen Lächeln anschaut.

»Er denkt an Jungs«, sagt Peyton mit übertriebenem Lispeln. Ich lehne mich zurück und trete nach ihm, aber er wehrt mich ab und boxt mir stattdessen mit den Fingerknöcheln gegen den Bizeps. Ich jaule auf und reibe mir den Arm. Peyton lacht.

Dad und Mom nehmen keine Notiz davon oder es kümmert sie nicht, dass Peyton gerade verkündet hat, ich sei schwul, weshalb ich schon wieder an Morgan denken muss. Ich bin nicht schwul, darum habe ich mir nie Gedanken über das Thema gemacht, aber die Leute hier schmeißen mit dem Wort um sich, als hätte es nichts zu bedeuten. Wenn ich schwul wäre und mitbekäme, wie alle um mich herum andauernd alles, was sie nicht mögen, als »schwul« bezeichnen und beim allerkleinsten Anlass »Schwuchtel!« brüllen würden, hätte ich vielleicht auch Probleme mit einem Coming-out – selbst gegenüber Menschen, die mir am Herzen liegen.

»Hat dir dein Geburtstag gefallen?«, fragt mich Mom, um die Stille zu überspielen.

»War ganz okay«, antworte ich und blicke auf den Kuchen in meinem Schoß. Manchmal habe ich die Sorge, undankbar zu sein, weil wir im Vergleich zu anderen Familien in Thebes viel Geld haben, aber ich finde, sie hätten uns dieses Jahr lieber keinen Geburtstagskuchen kaufen sollen. Denn es war sonnenklar, dass er sowieso nicht mit den Kuchen mithalten kann, die Donna, Morgans Mom, immer gebacken hat. Selbst Kekse wären eine bessere Alternative gewesen.

»Wenn du noch hättest bleiben wollen, hättest du nur was sagen müssen«, wirft Mom ein.

»Nein«, entgegne ich. Ich lege die Handfläche auf die Plastikhaube über dem Kuchen. »Ohne Morgan wäre es komisch gewesen.«

Mom lächelt mich traurig an – irgendwie habe ich das Gefühl, als würde sie das in letzter Zeit immer häufiger machen.

»Alles wird immer komischer mit Morgan«, sagt Dad von vorne. Peyton neben mir schnaubt. Die beiden werfen sich im Rückspiegel einen Blick zu. Mom räuspert sich und blättert betont geräuschvoll eine Seite in ihrem Buch um, aber Dad achtet gar nicht darauf.

»Was meinst du damit?«, will ich wissen, doch Dad trommelt nur mit den Fingern auf das Lenkrad.

»Ich dachte, er hätte das jetzt allmählich mal hinter sich gelassen, das ist alles.«

»Leute …«, sagt Mom. Trotzdem kann ich es einfach nicht lassen.

»Hätte was hinter sich gelassen?«, frage ich, als hätte ich keine Ahnung. Ich bin dreizehn. Ich bin kein kleines Kind mehr, aber die Erwachsenen verhalten sich noch immer so, als würde ich gar nichts blicken.

»Eine Schwuchtel zu sein«, murmelt Peyton. Ich spüre, wie ich rot werde. Da haben wir es also.

Mom wirft Peyton einen Blick zu. »Peyton, bitte.«

Für einen Moment herrscht Stille, aber das hält nicht lange an. Menschen wie Peyton und Dad sind ein bisschen wie Haie: Ein Tropfen Blut im Wasser und sie geraten in einen Rausch. Dad fährt sich mit den Fingern durchs Haar und schaut jetzt mich im Rückspiegel an. »Football hat ihn wenigstens ein bisschen abgehärtet. Aber du musst doch zugeben, Eric, dass der Junge schon immer eine ziemliche Pussy gewesen ist.«

»Was?«, antworte ich. »Nein, ist er nicht. Was soll das, verdammt?«

Kann schon sein, dass Morgan manchmal ein bisschen mädchenhaft rüberkommt, aber in der Bambini-Mannschaft war er der beste Spieler und im Junior-Team auch.

»Nicht fluchen«, sagt Mom.

»Hey, Dad«, sagt Peyton. Er beugt sich vor und grinst wie ein Kojote. »Hey. Weißt du noch, wie Morgan diesen Kack-Wutanfall bekommen hat« – ich warte darauf, dass Mom ihn für seine Wortwahl tadelt, aber es kommt nichts –, »weil ihm seine Eltern nicht erlaubt haben, sich an Halloween wie dieses chinesische Mädchen aus dem Zeichentrickfilm anzuziehen?«

Dad stößt ein bellendes Lachen aus und schlägt aufs Lenkrad. Und ich kann nur daran denken, dass das vor zwei Jahren war, als Morgan gerade von der Krebserkrankung seiner Mom erfahren hatte. Wahrscheinlich hatte er keine Ahnung, wie er sich da überhaupt fühlen sollte.

»Das war keine Verkleidung als Mädchen«, widerspreche ich. »Sondern das Soldatenkostüm von Mulan. Wenn schon, dann war er also …«

»Mann, wen interessiert denn dieser dämliche Zeichentrickfilm, du Nerd?«, höhnt Peyton. »Ist doch egal, jedenfalls hat er wegen Halloween geheult. Wie ein Mädchen.«

»Jetzt kommt mal runter«, beschwichtigt Dad, aber in seiner Stimme liegt Belustigung. Ich kriege eine Gänsehaut von seinem Tonfall. »Ich sag ja nur, dass Tyler dem Jungen mal zeigen muss, was ein echter Mann ist. Schließlich ist er Footballtrainer – da muss er ihn doch wieder auf die richtige Spur bringen können.«

Wieder wird mein Gesicht ganz heiß. Ich stopfe die Hände in die Hosentaschen, damit Peyton nicht sieht, wie sehr sie zittern. Dann lehne ich die Stirn ans Fenster und konzentriere mich auf die kühle Glasscheibe. Morgan weiß immer, wie man mit Peyton fertig wird. Ich wünschte, ich könnte das so locker sehen wie er, eine üble Beleidigung einfach an mir abprallen lassen oder losschreien und etwas umtreten, doch ich kann anscheinend jedes Mal nur die Hände in die Taschen stecken und den Mund halten. Und trotzdem soll Morgan die Pussy sein?

Peyton pikt mich in die Schulter. »Was ist denn? Ist das kleine Wickelkind Eric traurig?«

»Ach, leck mich doch am Arsch«, zische ich zwischen den Zähnen hindurch. »Du hast echt null Ahnung!« Ich glaube, ich habe es doch drauf.

Moms Kopf fährt herum. »Nicht fluchen

»Ja, ja!«, erwidere ich.

»Sei nicht frech zu deiner Mutter!«, brüllt Dad.

»Jawohl, Sir«, knurre ich. Ich möchte gern noch mehr Widerworte geben, aber Dad wütend zu machen, führt ohne Umwege zu Hausarrest.

Darauf folgt ein langes, grollendes Schweigen, und gerade als ich allmählich wieder runterkomme, läuft im Radio eine Werbung für Dads Autohandel – den Laden, in dem jeder McKinley-Sohn zum Arbeiten verdammt ist, wenn er nicht selbst fürs College aufkommen kann. Dad dreht das Radio lauter.

Er hat das Geschäft schon während der Highschool aufgezogen und es ist sein ganzer Stolz. Manchmal denke ich, er mag diese dämlichen Autos lieber als unsere ganze Familie zusammen. Mit einem »Yeah!« dreht er das Radio noch lauter und singt den kitschigen Jingle mit. Meine Mom und Peyton fallen mit ein.

Noch einmal wirft mir Dad im Rückspiegel einen Blick zu. Ich starre zurück.

Dann presse ich die Lippen aufeinander und beginne zu summen.

Er lächelt mich an, verzieht breit den Mund, fast süffisant, aber ich merke, dass das Lächeln seine Augen nicht erreicht. Ich lächle zurück, so lange ich kann, und richte den Blick dann wieder auf die Straße.

Bis nach Hause ist es noch ein weiter Weg.

Morgan

»Was meinst du, musst du zum Arzt?«, fragt Dad. Er lässt die Fensterscheibe herunter und stützt die Ellbogen auf das Lenkrad seines Trucks. Ich drücke mitten im Song von Atreyu auf Pause und wende mich ihm zu. Obwohl ich im Moment am liebsten mit niemandem reden möchte, ist es seit Moms Tod so schwierig, überhaupt seine Aufmerksamkeit zu erregen, dass ich es sofort merke, wenn er echtes Interesse zeigt und mich nicht wie ein Baby behandelt.

Brauche ich einen Arzt? Ich denke an die Internet-Recherche und die Posts in den einschlägigen Foren, in denen ich mich über das, was mit mir nicht stimmt, schlaugemacht habe – an Operationen und Hormontherapien, die ich benötigen oder mir wünschen könnte oder … das Ganze ist unglaublich kompliziert. Doch darum geht es Dad nicht. Er macht sich nur Sorgen, weil ich mich übergeben habe. Seine Frage bringt mich in Versuchung, es ihm einfach zu sagen, es aus mir herausplatzen zu lassen, doch dann streift mein Blick Dads Gesicht und ich erkenne, wie erschöpft er ist, immerzu, weil er schlecht schläft und neben seinem Trainerberuf noch andere kleine Jobs annimmt. Ich kann ihm nicht noch mehr zumuten, indem ich ihm anvertraue, dass ich eigentlich seine Tochter sein sollte.

»Nein«, sage ich, streiche über meinen Bauch und schüttele den Kopf. »Zu viel Essen von der Tanke, denke ich. Es geht mir schon besser.«

Als er bestätigend knurrt, stecke ich einen meiner Kopfhörerstöpsel wieder ins Ohr, beobachte, wie die Straße vorbeirauscht, und versuche, nicht daran zu denken, dass Eric mich im Spaßbad nicht verstanden hat und mein Geheimnis noch immer in Sicherheit ist. Und auch nicht daran, wie süß Eric mit nacktem Oberkörper aussah und wie sehr ich mir wünsche, das nicht einmal zu denken. Es war ein Fehler, es ihm sagen zu wollen. Ich unterdrücke die Wahrheit, begrabe sie und stelle einen Grabstein obendrauf. Wie schlimm kann ein weiteres Jahr als Junge schon sein?

Meine Gedanken schweifen zu Mom und ich überlege, ob ich es ihr hätte sagen können, wie falsch ich mich in meinem Körper fühle. Hätte sie mich verstanden? Mom war sensibel und zurückhaltend und immer sehr freundlich – sogar zu Menschen, die sie nicht leiden konnte. Ich glaube, sie hätte mich trotzdem weiterhin geliebt.

Doch das werde ich nie erfahren.

Hoffen darf ich es aber.

Wir fahren unter der Autobahnbrücke durch und gleich dahinter liegt unsere Heimatstadt Thebes, eine verschlafene Kleinstadt in den Bergen zwischen Knoxville und Nashville. Die Sorte Ort, in dem das einzig Denkwürdige darin besteht, durchzufahren oder wegzufahren. Dads Trainergehalt macht uns nicht reich, doch es fühlt sich wie ein Vermögen an, wenn ich sehe, was andere Kinder an meiner Schule besitzen.

Mein Vater hat mir früher einmal erzählt, dass es in alten Zeiten ein Kohlebergwerk und Fabriken in Thebes gab und auf dem Highway viel Verkehr war, bevor die Interstate 40 gebaut wurde. Angeblich gab es mehr als genug Restaurants und Hotels und überdies genügend Jobs.

Ohne den Tagebau und die Fabriken besteht Thebes nur aus einem Walmart, einem Betrieb für Geflügelverarbeitung und zahllosen großen leeren Gebäuden mit vernagelten Fenstern oder eingeschlagenen Scheiben. Schlimmer als die Risse im Asphalt und die schiefen vergessenen Telefonmasten sind die Geister der Vergangenheit, die an jeder Ecke lauern.

Es gibt ein Kino, in das Mom jeden zweiten Sonntag mit mir gegangen ist, weil das unser ureigenes Ritual war. Ich weiß bis heute, wie ich neben ihr saß und ein überwältigendes Gefühl hatte, als wir Mulan gesehen haben. Obwohl ich erst fünf war, hatte ich bereits den Verdacht, dass ich nicht sagen sollte, wie cool es war, dass ein Mädchen auch ein Junge sein konnte.

Jetzt fahren wir an dem Spielfeld vorbei, auf dem ich mit dem Kinderverein Football gespielt und mich über Jubel und Applaus der anderen Eltern gefreut habe. Damals lächelten gleichaltrige Jungen mich an, wenn sie mich sahen – anstatt mir heutzutage die Bücher aus der Hand zu schlagen oder die Beine wegzutreten.

Dann hätten wir da noch den Federal Park, durch den ein Bach fließt, aus dem man nicht trinken darf, weil er vom Abwasser aus einer der alten Minen schimmert und schillert. Bis vor zwei Jahren haben Erics und meine Familie hier im Sommer draußen gegrillt, doch ohne Moms Kartoffelsalat ist es nicht mehr dasselbe. Ihre Rezeptsammlung ist verschwunden – wobei Dad und ich ohnehin keine Ahnung vom Kochen haben. Wir ernähren uns hauptsächlich von Tiefkühlkost und Takeaway-Essen.

Mittlerweile fahren wir an Burkes Bestattungsinstitut vorbei – einer umgebauten Plantagenvilla, auf deren Parkplatz ich zum ersten und eindeutig nicht zum letzten Mal so abgrundtief traurig und wütend war, dass ich nicht mehr aufhören konnte zu weinen. Und nun kommt die Oak Country High School, auf die ich vom nächsten Jahr an gehen soll und die komplett heruntergekommen ist – bis auf das Footballfeld natürlich, das stets aussieht, als hätte jemand mit einer Zahnbürste jeden Zentimeter der Tribünen und Flutlichter geputzt.

Der Spätnachmittag geht bereits in den Abend über, als wir schließlich in unsere Wohnwagensiedlung hineinfahren. Wortlos springe ich aus dem Truck, trotte in den Trailer und steuere sofort den Schrank im Flur an. Ich höre nicht, dass Dad nachkommt. Er weiß, was ich vorhabe.

Nachdem ich ein paar Minuten gekramt habe, stoße ich auf den kleinen Pappkarton mit der Aufschrift MORGANS BABYVIDEOS. Ich krieche unter eine Kleiderstange mit Dads Anzughemden, nehme den Deckel ab und lese die verschnörkelte feminine Handschrift auf dem Rücken der Videobänder. Hauptsächlich handelt es sich um alte selbst gedrehte Filmchen auf VHS, doch vor ihrem Tod hat Mom zwei kleinere Tapes mit dem Camcorder gedreht, die sie mir als Geburtstagsgeschenke hinterlassen hat. Eigentlich wollte sie für jedes Jahr, in dem sie nicht mehr da sein würde, eins drehen. Ich glaube, sie wollte die ganze Zeit von meinem zwölften bis zu meinem achtzehnten Geburtstag abdecken, doch plötzlich ging alles so schnell. Von der Diagnose bis zu ihrer Beerdigung blieb uns nur ein knappes Jahr. Schließlich reichte ihre Kraft nur für diese beiden Geburtstagsvideos.

Ich muss an den vergangenen Herbst denken. Erst einen Monat nach meinem zwölften Geburtstag konnte ich mich endlich dazu durchringen, die erste Geburtstagsaufnahme anzusehen. Es war noch nicht lange her, seit sie gestorben war, und als ich ihre Stimme hörte, fühlte sich der Klang wie Wasser nach einem langen heißen Tag an. Ich habe mir immer wieder angeschaut, wie sie zu mir sprach, bis das Band allmählich kaputtging, und ich musste all meine Willenskraft aufbringen, um mir nicht direkt das nächste anzusehen – das letzte also. Jetzt, ein Jahr später, bin ich froh, dass ich gewartet habe.

Ich hole das Tape mit dem Etikett »13. GEBURTSTAG« aus der Schachtel, schließe die Schranktür und gehe in mein Zimmer. Ich höre, wie Dad sich in der kleinen Küche zu schaffen macht, Merle Haggard hört und sich einen Whiskey auf Eis einschenkt, während er zwei Steaks auftaut.

Ich stopfe ein Handtuch in den Spalt der geschlossenen Tür, lege das Camcorder-Video in das Gerät für VHS-Format und drücke meinen Rücken durch, als das Video beginnt. Nach kurzem Knistern leuchtet der Bildschirm blau und grün auf und ich erkenne den Balkon unserer alten Wohnung wieder. Dad und ich sind umgezogen, im Sommer … danach. Mit seinem Gehalt allein konnten wir die Miete nicht mehr bezahlen. Aber ohne Mom fühlte es sich ohnehin nicht mehr wie zu Hause an.

Am Geländer hängen Blumentöpfe mit Kräutern und Tomaten und blühende Ranken winden sich bis zum Dach. Mitten in all dem Grün sitzt meine Mom bereits derart abgemagert, wie ich sie nicht in Erinnerung behalten möchte. Sie hat einen Schal mit Blümchenmuster um ihren kahlen Kopf geschlungen und trägt eine Stola um die Schultern und eine langärmelige Strickjacke, obwohl es offensichtlich ein warmer Frühlingstag ist. Sie hat die gleichen Wangenknochen wie ich, die gleichen hohen Augenbrauen und die gleichen großen Augen, die ihr Gesicht betonen.

»Hallo, Morgan«, sagt sie. Ich höre, wie die Blauhäher zwitschern.

»Hi, Mom«, wispere ich.

»Herzlichen Glückwunsch zum dreizehnten Geburtstag!«, sagt sie und ihre Augenfältchen kräuseln sich, als ihr Lächeln breiter wird.

»Danke, Mom.«

»Dreizehn«, sagt sie noch mal. Ihr Lächeln wird traurig. »Nicht zu fassen, dass du jetzt ein Teenager bist. Dass ein ganzes Jahr vergangen ist.« Sie seufzt leise und erschöpft. »Wir haben dich gerade bei Grandma abgeholt und sie hat gesagt, du hättest den ganzen Nachmittag deine Runden im Garten gedreht.«

Ich muss lächeln.

»Bist du noch in Dads Footballteam?«

Nein. Ich habe aufgehört, als mir von meinem eigenen Körper allmählich schlecht wurde. Weil ich zu traurig war, um zum Training zu gehen, und weil das, was mit mir nicht stimmte, zeitweise und allen Unterdrückungsversuchen zum Trotz noch zum Vorschein kam.

Ich kneife die Augen zu, um die Erinnerungen zu verdrängen. Wie Dad mich angeschrien und gezwungen hat, mich mit den anderen Jungs »ins Getümmel zu stürzen«. Oder wie Eric Kerle wie Nate und Chud aus dem Team angeschleppt hat, damit sie mit uns abhängen.

»Das hoffe ich doch«, fährt Mom fort. »Du hast dich auf dem Spielfeld immer so anmutig bewegt, so schnell auf deinen langen Beinen, obwohl ich zugeben muss, dass ich kaum den Unterschied zwischen einem Blitz und einem Bootleg kapiert habe.

Nun«, sagt sie. »Ich weiß ja nicht, wofür du dich heutzutage interessierst, aber du bist sicher voll bei der Sache.« Sie schaut mich durch den Bildschirm direkt an und schüttelt sanft den Kopf. »Du warst immer schon ziemlich besessen, wenn dir etwas wichtig war. Es ist eine deiner besten und schlimmsten Eigenschaften, glaube ich.«

»Ja, Mom, du hast recht.« Meine Stimme bebt nur ein bisschen. Ich erzähle ihr jetzt aber nicht, dass ich, seit ich den Football aufgegeben habe, heimlich Filme mit unserem alten Camcorder drehe. Schon über ein Jahr lang. Dad soll nichts davon erfahren. Wahrscheinlich würde er es für Zeit- und Geldverschwendung (für die Tapes) halten, was vermutlich auch stimmt. Und wie sollte ich ihm das überhaupt beibringen? »Tja, Dad, das mit dem Football war wohl nichts, aber ich will meinen großen Durchbruch auch lieber in Hollywood feiern!« Allein bei dem Gedanken werde ich traurig und komme mir lächerlich vor. Ich weiß genau, was er sagen würde. »Einem Ort wie diesem entkommt man nicht durch Glück und Träume. Ich kann es mir nicht leisten, dich aufs College zu schicken. Du willst aus dieser Stadt raus? Das schafft man über Football, nicht über Filme.«

Wieso sollte ich ein solches Gespräch führen, wenn ich schon weiß, wie es laufen wird?

Durch die Tür höre ich das Brutzeln der Steaks und stelle mir vor, wie Dad müde und nur halb wach das Fleisch in der Pfanne umherschiebt, um ein festliches Abendessen für uns beide zuzubereiten.

Als ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Video widme, sehe ich einen kleinen Hinterkopf – meinen eigenen, vor circa zwei Jahren –, der sich von links ins Bild schiebt.

»Mom?«, fragt mein elfjähriges Ich. »Was machst du da?«

Ich lecke über meine Lippen und kneife rasch die Augen zu. An diesen Augenblick kann ich mich erinnern. Ich weiß noch, wie ich aufgewacht und der Stimme meiner Mutter auf den Balkon gefolgt bin. Sie saß vor der Kamera, lächelnd, aber traurig, und gab mir das Gefühl, als hätte ich sie bei etwas ertappt, das nur Erwachsene taten. In diesem Augenblick war ich genervt, weil sie andauernd nur krank war, und jetzt schüttelt mich die Reue wegen dieses Gefühls, als hätte ich Fieber.

»Ich bereite ein Geburtstagsgeschenk für dich vor, wenn du älter bist«, antwortet sie und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »Fragst du bitte deinen Vater, wenn du gerade etwas möchtest?«

»Okaaaaaay …«, sagt mein jüngeres Ich und tritt aus dem Bild. Mom richtet den Blick erneut in die Kamera.

»Du warst so ein wunderbares Kind«, sagt sie still und ihre Stimme versagt. Mit jeder Minute, die ich ihr hier zuschaue, verlässt sie die Kraft. »Und ich bin so froh, dass ich dir begegnet bin, bevor …« Diesmal seufzt sie noch schwerer. »Obwohl ich über den dreizehnjährigen Morgan vieles nicht weiß, bin ich doch sicher, dass du zu einem tollen jungen Mann herangewachsen bist.« Bei diesen Worten lasse ich die Schultern hängen. »Bist du noch mit Eric befreundet?«, fragt sie. Mom legt den Kopf schief und lässt mir Zeit zu antworten. Doch ich bin nicht dazu in der Lage. Als die Erinnerung an die heutigen Geschehnisse im Spaßbad zurückkehrt, werde ich von einer Welle des Abscheus übermannt.

Mom spricht weiter. »Den Jungen solltest du dir warmhalten. Ich will nicht abergläubisch klingen, aber ihr braucht euch gegenseitig.« Darauf folgt ein langes Schweigen, während sie nur in die Kamera schaut und lächelt. »Jetzt muss ich mich ausruhen, okay?«

»Okay«, sage ich mit brennenden Augen.

»Herzlichen Glückwunsch, Morgan«, sagt sie und beugt sich vor zur Kamera. »Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch«, sage ich und komme mir komisch vor.

Dann wird der Bildschirm schwarz.

Ich lasse das verschwommene schwarz-weiße Knistern weiterlaufen und setze mich auf die Fersen. Kurz darauf ist das Tape zu Ende und wird automatisch ausgeworfen. Ich krieche nach vorn, drücke die VHS-Kassette wieder herein, spule zurück und sehe mir alles von vorn an. Ich spüre einen Druck hinter den Augen, es schnürt mir die Kehle zu und mir wird heiß in der Brust. Ich weiß, dass ich weinen muss und dass es mir danach wahrscheinlich besser geht, aber in letzter Zeit fällt es mir zusehends schwerer. Immer häufiger brodeln meine Gefühle in mir, ohne dass ich sie ausleben und wieder runterkommen könnte.

Ich dachte immer, Jungen würden weniger weinen, weil sie … wir dafür ausgeschimpft würden, doch jetzt kommen mir nicht einmal mehr die Tränen, wenn ich sie herbeisehne. Kann ich vielleicht wirklich nicht mehr weinen? Liegt das am Erwachsenwerden? Besetzt das Testosteron vielleicht wie eine einfallende Armee meinen Körper, bis alles Zarte abgeschlachtet und ausgemerzt ist?