Cover-Bild von Irrenhaus am Ende der Welt

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Für Jess, Maya und Leila (und Suki)

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Frey

 

Mit 36 Schwarz-Weiß-Abbildungen, drei Zeichnungen und vier Karten

 

Bildnachweis

Sammlung Limburgensia der Bibliotheek Hasselt Limburg (Seite 1 oben, 2 unten rechts und links, 4 oben); »Fragments du Récit de Voyage« von Adrien de Gerlache de Gomery, in: Résultats du Voyage de la Belgica en 1897–99 sous le Commandement de A. de Gerlache de Gomery, 1936 (1 unten); Privatsammlung de Gerlache (2 oben links, 4 unten, 5 oben, 6 oben, 7 unten, 8 Mitte, 9 oben, 10, 11, 12, 13 oben, 15 oben links, 15 unten, 16 oben); Follo Museum – MIA (2 oben rechts, 3 oben); Library of Congress, Frederick A. Cook Society (3 unten, 5 unten, 6 unten, 13 unten, 16 unten); Norwegische Nationalbibliothek (7 oben, 8 unten, 9 unten, 14 oben, 15 oben rechts, 15 Mitte); Fram Museum (8 oben, 14 unten)

© Julian Sancton

Titel der US-amerikanischen Originalausgabe: »Madhouse at the End of the Earth« bei Crown, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York 2021

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Margret Trebbe-Plath, Berlin

Illustrationen: Lecointe, Georges. Au pays des manchots: Récit du voyage de la »Belgica«. Brüssel: Oscar Schepens & Cie, 1904.

Foto im Vor- und Nachsatz: Privatsammlung De Gerlache

Karten: David Lindroth, Inc.

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

 

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PROLOG

20. Januar 1926 Leavenworth, Kansas

Das Licht eines kalten, grauen Morgens fiel durch die Gitter vor den schmalen Fenstern der Krankenstation im Bundesgefängnis Leavenworth. Erschöpft von seiner Sechzehnstundenschicht räumte der alte Doktor das Behandlungszimmer auf und gab dem Wärter zu verstehen, dass er bereit war, sich zu seiner Zelle zurückbringen zu lassen. Sobald er seine Pflicht wieder an den eigentlichen Gefängnisarzt abgegeben hatte, war er ein Gefangener wie jeder andere, Häftling #23118.

Der Doktor ließ sich auf sein Bett fallen. Hinter ihm lag eine anstrengende Nacht. Eine Opioidkrise von nie da gewesenem Ausmaß hielt das Land fest im Griff – auch das oberste Stockwerk der Krankenstation wurde nach Einbruch der Dunkelheit zu einem »Drogen-Irrenhaus«, wie der Doktor es formulierte, wo die Süchtigen im Zwangsentzug nach dem erlösenden Schuss schrien. Die Zelle des Doktors war ein hell beleuchteter Raum in dem dreistöckigen Ziegelbau, ausgestattet mit einem Einzelbett, einem Stuhl und fließend Wasser. An den Wänden hingen mehrere kunstvolle Stickbilder, die er selbst angefertigt hatte. Seine Unterbringung im Gefängnis war komfortabler als die mancher seiner Zeitgenossen, darunter der Chicagoer Gangster Big Tim Murphy (der sein Freund und Beschützer geworden war) oder, später dann, Carl Panzram, der überaus produktive und reuelose Serienmörder (der es nicht wurde). Die Delikte von Häftling #23118 waren anderer Art. Der Sechzigjährige war wegen Betrugs mit Aktien einer Erdölgesellschaft verurteilt worden, der sich zu einem Pyramidensystem ausgewachsen hatte. Er saß gerade das dritte Jahr seiner vierzehnjährigen Haft ab – das war zwar ein weitaus höheres Strafmaß, als sonst für vergleichbare Vergehen verhängt wurde, aber es passte zu seinem schlechten Ruf.

In seinen fast schon vergessenen Jahren als junger Mann, lange bevor er in Ungnade gefallen war, hatte sich der Doktor einen Namen als gefeierter Polarforscher gemacht. Mit seiner Behauptung, 1908 den Nordpol erobert zu haben, war er zum Nationalhelden geworden, bis der Verdacht aufkam, dass er diese Großtat – wie auch einige andere – nur vorgetäuscht hatte. »Er wird für alle Zeiten als einer der größten Hochstapler der Welt gelten«, versicherte die New York Times. »Und damit, nicht mit der Entdeckung des Nordpols, wird er sich ein Denkmal setzen.«

Am Nachmittag informierte ihn ein Gefängnisaufseher darüber, dass er Besuch habe. Seit er im vergangenen Jahr hierher ins Bundesgefängnis verlegt worden war, hatte der Doktor sich geweigert, seine Familie oder Freunde zu empfangen. Der Mann, der heute auf ihn wartete, war vermutlich der einzige Mensch auf Erden, bei dem er gerne eine Ausnahme machte. Es verging kaum ein Tag, an dem der Gefangene nicht an seinen früheren Kameraden dachte, jenen vitalen 53-jährigen Norweger, mit dem er fast dreißig Jahre zuvor an einer qualvollen Expedition in die Antarktis teilgenommen hatte. Der ehemalige Lehrbursche des Doktors in allen Polarfragen war später einer der bedeutendsten Entdecker geworden, den die Welt je gesehen hatte: der rechtmäßige Eroberer des Südpols. Seine schlagzeilenträchtigen Heldentaten und die offensichtliche Mühelosigkeit, mit der er sie vollbrachte, hatten ihm eine nahezu mystische Aura verliehen. Eine internationale Vortragsreise führte ihn auch durch die Vereinigten Staaten, und nun hatte er beschlossen, seinem früheren Mentor seine Aufwartung zu machen.

Die Nachricht, dass der gefeierte Entdecker dem wohl bekanntesten Insassen von Leavenworth einen Besuch abstattete, sprach sich in Windeseile herum. Schon wenige Minuten später strömten die Reporter zum Gefängnis. Mit seiner öffentlichen Geste der Unterstützung des diskreditierten Doktors setzte der Norweger seinen eigenen guten Ruf aufs Spiel. Doch der Besuch war mehr als ein bloßer Akt des Mitleids für einen alten Freund, der sich in einer misslichen Lage befand. Der jahrelange, ehrgeizige Wettlauf um die begehrtesten geografischen Trophäen des Planeten hatte seinen Tribut gefordert. Das Feuer, das in seinem Innersten brannte, hatte den Norweger aufgezehrt. Er war zu einem verbitterten, paranoiden Mann geworden, und nur wenige Freunde waren ihm geblieben, die ihn so gut kannten wie der Doktor, von dem er einst, als alles noch einfacher gewesen war und nur das eigene Überleben zählte, so viel gelernt hatte. Vor allem aber fühlte er sich moralisch verpflichtet, dem Mann einen Besuch abzustatten, dem er sein Leben verdankte.

Seit die beiden einander zum letzten Mal begegnet waren, hatte das Schicksal sie in völlig unterschiedliche Richtungen geführt, und deren Spuren waren ihren Gesichtern deutlich anzusehen. Bereits diese ersten Jahre der Gefangenschaft hatten dem Doktor jede Farbe und Vitalität geraubt. Seine schiefergrauen Augen hatten ihr lebendiges Funkeln nahezu verloren, sein einst so üppiges Haar war dünn geworden und die große Nase – sofern das überhaupt möglich war – noch größer. Wenn er jedoch lächelte, konnte man außer einigen Goldzähnen durchaus noch etwas von seinem früheren, jüngeren Ich aufblitzen sehen.

Der Besucher aus Norwegen überragte den Doktor um ein ganzes Stück. Sein Gesicht war »braun, stark verbrannt von der polaren Schneewelt, von tiefen Falten durchzogen und voller Lebenskraft«, erinnerte sich der Doktor später. Der Forscher »stand im Zenit seines Ruhmes, [während] ich mein Leben als Verurteilter fristen musste … Dies empfand ich im ersten Moment als furchtbar, doch schon bald hatte die alte Herzlichkeit alle Hemmnisse überwunden. Wir fühlten uns wie Brüder.«

Die Männer gaben einander die Hände und ließen sie nicht mehr los. Um mögliche unerbetene Zuhörer zu verwirren, bedienten sie sich dem Doktor zufolge der »Mischsprache der Belgica«. An Bord dieses Schiffes waren sie einander zum ersten Mal begegnet, als junge Männer, während ihrer ersten Reise in die Antarktis. Die verschiedenen Sprachen der Wissenschaftler, Offiziere und Mannschaftsmitglieder waren zu einem babylonischen Amalgam aus Französisch, Niederländisch, Norwegisch, Deutsch, Polnisch, Englisch, Rumänisch und Lateinisch verschmolzen. Die Reise hatte sie gelehrt, welch verheerende Wirkung Kälte und Dunkelheit auf die menschliche Seele haben können. Es war diese Expedition gewesen, die den Doktor zu einem wahren Sonnenanbeter gemacht hatte. Auch damals war er ein Gefangener gewesen, aber nicht von Gitterstäben und Riegeln eingeschlossen, sondern von einer schier endlosen Eisfläche. Und auch damals hatte er Schreie in der Nacht gehört.

TEIL I

Manchmal dient die Wissenschaft als Vorwand für eine Expedition. Ich glaube, sie ist selten der Grund dafür.

George Mallory