Cover

Für Jutsch!

Inhalt

Erster TeilWiedersehen ist wunderschön!

Der letzte Zug

Heim ins Reich

Unser Haus in Eichenbrück

Kein Schnickschnack

Barbaren

Vier Eisen im Feuer

Kuckt nicht so dumm!

Wer zuerst kommt …

Nicht stolpern!

Zweiter TeilKlaas Beckers

Vierundzwanzig Stunden

In der Not …

Polacken

Pfeifen im Keller?

Büffelköpfe. Und Schlafanzüge!

Tot ist tot!

Mann mit Motorrad

Ein Geburtsfehler

Bei Onkel Hans auf dem Land

Die unsichtbare Wand

Auf den Mehlkästen

Und dann: Peng!

Wissen, wann’s vorbei ist

Dritter TeilAlles neu macht der Mai

Wir Teufel

Schokoladenpapier

Über die grüne Grenze

Am Eppendorfer Baum

So viel Glück haben nicht alle

Zauberei

Ein Kinnhaken für zwei

Erntezeit

Wieder ein Brief

Vierter TeilBunkerkinder

Staub

Was hätte Klaas dazu gesagt?

Was heißt schon »Frieden«?

Räuberbraut

Mein zweites Zuhause!

Anstelle eines Nachworts

Worterklärungen

Erster Teil

Wiedersehen ist wunderschön!

Bin wieder aufgestanden, hab mich warm angezogen und mich in die kleine Kammer mit dem nur trübe funzelnden Deckenlicht gesetzt. Der alte, wacklige, schon ziemlich wurmzerfressene Holztisch soll mein Schreibtisch werden.

Muss früher mal die Räucherkammer gewesen sein, dieser enge, schmale Raum. Die Wände riechen noch danach. Aber wenigstens ist’s hier nicht ganz so kalt wie in dem Zimmer, in dem wir schlafen sollen. Die eine Wand grenzt direkt an Frau Griess’ Küche. Auch gibt’s hier kein Fenster, durch das der Wind pfeifen könnte. Nur eine Lüftungsklappe führt nach draußen, aber die hab ich mit Lumpen zugestopft. Kein Hauch Winterluft kann eindringen.

In unserem »Schlafzimmer« könnte ich nicht schreiben. Darin gibt’s ja nicht mal einen Tisch. Und von der Kälte würde ich klamme Finger bekommen. Ein Wunder, dass du, Jutsch, dir in diesem Eispalast noch nichts weggeholt hast. Wenn du im Schlaf hüstelst, schrecke ich jedes Mal auf, decke dich bis zum Hals zu und presse mich fest an dich, um dich zu wärmen. Kann dann natürlich selbst erst recht nicht mehr einschlafen.

Und das Ärgerlichste: Zwischen den beiden Betten, die wir fünf uns jetzt teilen müssen – du und ich das eine, Jockel, Kutti und Momm das andere –, steht ein kleiner Kanonenofen. Den zu heizen erlaubt uns die Griess aber nicht. In Kriegszeiten, sagt sie, wäre das nichts als Verschwendung. Wir könnten uns des Nachts ja zudecken, Decken habe sie mehr als genug.

Hab mir erlaubt zu fragen: »Und tagsüber?«

Sie: »Wer sich bewegt, friert nicht.«

Seit einer ganzen Woche sind wir nun schon hier. In Berlin hatten wir ja nicht bleiben dürfen. In dieses Kuhdorf Kewenow nicht weit von Hamburg hat man uns geschickt. Wieder saßen wir in der Eisenbahn, dann der lange Weg durch den Nebel und all die kahlen Felder und an den vielen, von nur noch wenigen Schneeresten bedeckten Wiesen entlang. Und wie wir danach bei der Griess vor dem Haus standen! Wilhelm Griess stand über dem bronzenen Löwenkopf mit dem Schlägel zum Klopfen an der alten Holztür, von der längst alle Farbe abgeblättert war.

Ich hatte gleich kein gutes Gefühl. Wie würde wohl alles weitergehen, fragte ich mich. Momm, Jockel und Kutti fragten sich das auch. Erst blickten wir uns ewig lange um, ob irgendwo jemand zu sehen war, zu dem wir hätten gehen können, dann griff Momm nach dem Schlägel und klopfte. Das eher vorsichtig.

Es dauerte ein bisschen, dann hörten wir Schritte. Die Tür wurde geöffnet – und Frau Griess stand vor uns.

Wie soll ich sie beschreiben? Sie war mir vom ersten Blick an unsympathisch. Momm sagt, wir sollen nicht ungerecht sein, der lange Krieg habe manche Menschen eben hart gemacht.

Woran die Griess mich sofort erinnerte – an eine Hummel! Und das, obwohl ich Hummeln ja eigentlich mag. Etwa sechzig Jahre alt ist sie, nicht groß, aber kräftig. Stämmige Beine, dicker Busen, die Haare so dunkel wie ihre Augen. Dazu Knopfnase und das dichte Haar am Hinterkopf zu einer mächtigen Portierzwiebel gebunden. Und wie sie an diesem Tag vor uns stand! Die Hände tief in ihrer graublauen Kittelschürze vergraben, die Augen uns musternd, als hätte sie noch nie eine Frau mit vier Kindern gesehen.

»Guten Tag!« Momm grüßte höflich. »Mein Name ist Haak, Lotte Haak. Wir kommen aus Berlin, aber eigentlich ja aus Eichenbrück im Wartheland*. Wir … wir haben einen Einquartierungsbescheid mitgebracht.«

Die Frau in der Tür sagte nichts und da reichte Momm ihr kurz entschlossen die Hand.

Die Griess nahm ihre Hand, ließ sie aber gleich wieder los und sah Jockel, Kutti und mich an. Ein Blick, als fragte sie sich, was die Katze ihr wohl da wieder ins Haus geschleppt hatte.

»Sagt Guten Tag!« Momm schob Kutti als Ersten vor.

»Guten Tag!« Widerwillig streckte Kutti die Hand aus. Die Griess sah ihn nur stumm an, und deshalb versuchten Jockel und ich erst gar nicht, ihr die Hand zu geben.

Und Momm hatte Mühe, weiter so freundlich zu bleiben. »Man hat uns gesagt, Sie wären bereit, uns aufzunehmen, wenn wir Ihnen dafür bei der Arbeit zur Hand gehen«, redete sie einfach weiter. »Doch vielleicht ist’s ja besser, ich zeige Ihnen erst mal unseren Einquartierungsschein.«

Jetzt machte die Griess endlich doch mal den Mund auf. »Nicht nötig!«, knurrte sie. Und dann öffnete sie die Tür ganz und trat einen Schritt beiseite. »Komm’ Se rein!«

»Gerne!«, sagte Momm, blieb aber noch stehen. »Doch möchte ich Ihnen zuvor meine Kinder vorstellen.« Und damit zeigte sie zuerst auf dich, Jutsch – »unsere kleine Jutta« –, und nannte danach auch Kuttis, Jockels und meinen Namen.

Jockel – »unser Joachim« – grinste dabei frech. Ich weiß, dass Sie sich über unser Kommen nicht freuen, wollte er der Griess zu verstehen geben, aber wir, das dürfen Sie mir ruhig glauben, freuen uns noch weniger.

Die Griess begriff sofort – und nahm mich ins Visier. Blickte mir direkt in die Augen, und wie hätte ich da ein freundliches Gesicht machen können? Also sah sie auch mir an, wie wenig mir dieser Empfang gefiel, und schroff wandte sie sich ab und ging vor uns ins Haus.

Momm wollte ihr folgen, Jockel hielt sie fest. »Und wie heißen Sie?«, fragte er kess. Die Griess hatte sich uns ja noch nicht vorgestellt.

Wie sie da herumfuhr und Jockel anblaffte! »Kannst du nicht lesen? Steht mein Name nicht an der Tür?«

»Da steht nur ›Wilhelm‹.« Jockel machte ein übertrieben doofes Gesicht. »Wilhelm Griess. Und so können Sie ja nicht heißen.«

»Jockel!« Jetzt hätte Momm ihm am liebsten eine runtergehauen. Doch beherrschte sie sich, entschuldigte sich nur bei der Griess. »Nehmen Sie ihm diese Entgleisung bitte nicht übel! Wir haben viel hinter uns, sind am Ende unserer Kräfte … Er … er ist sonst gar nicht so.«

Die Griess interessierte nicht, wie Jockel sonst war. Als gehörte die Mutter für den Sohn bestraft, so sah sie Momm an. Und dann befahl sie: »Sagen Sie Ihren Kindern, dass sie hier nur zu Gast sind und sich gefälligst zu benehmen haben. Sonst …«

Doch schien sie nicht zu wissen, was sie uns androhen sollte, drehte sich nur wieder um. »Machen Se mal ’n bisschen hin! Hab nicht den ganzen Tag Zeit.« Und wieder wollte sie vor uns hergehen.

Jetzt Kutti! Erst sah er Momm an, dann machte er rasch ein, zwei Schritte und hielt die Griess am Arm fest. »Gibt’s heute noch was zu essen?« Er machte sein treuherzigstes Kleinkindergesicht. »Wir … wir haben nämlich großen Hunger.«

Ich erwartete eine Antwort wie: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Die Griess jedoch sah Kutti nur kurz an, dann nickte sie. »Zum Abend gibt’s Suppe.«

So war es, als wir bei der Griess vor der Tür standen – und so ist es noch immer. »Bewegen« sollen wir uns! Nur nicht faul im Zimmer »herumlungern«! Unterkunft, Brot und Suppe müssen abgearbeitet werden. Sie habe nichts zu verschenken, sagt sie. Oder ob wir etwa glaubten, dass das einfach sei, als alleinstehende Bäuerin einen Hof zu bewirtschaften. Sie könne nicht ewig Rücksicht auf andere nehmen.

Sie ist eine so unfreundliche Frau, bemüht sich kein bisschen, uns unser Hiersein ein wenig erträglicher zu machen. Wir sollen uns nachts besser zudecken, wenn wir frieren! Immer wieder sagt sie das. Und das nur, um Holz und Kohlen zu sparen. Aber wie sollen wir unter immer mehr Decken denn schlafen können? Unter so vielen Decken schwitzen wir, strecken wir aber einen Fuß, eine Hand oder auch nur die Nase heraus, wachen wir auf, weil wir frieren. – Nein, ich mag sie nicht. Sagen jedoch darf ich das nicht. Wir seien nun mal hier gestrandet, predigt Momm Jockel, Kutti und mir jeden Tag. Und wer keine andere Wahl hat, der ist gezwungen, die »Gegebenheiten« zu akzeptieren, egal ob sie ihm gefallen oder nicht.

Aber wahr ist auch: Eine bessere Einquartierung als uns hätte die Griess nicht bekommen können. Momm darf die Magd Nummer eins spielen, die aus lauter Dankbarkeit, dass wir hier »überleben« dürfen, von morgens bis abends schuftet, bis ihr alle Knochen wehtun. Magd Nummer zwei bin ich. Mit sechzehn ist man kein Kind mehr, sagt die Griess. Bin also voll einsatzfähig. Nur den Mund aufmachen darf ich nicht. Sag ich mal was »Ungehöriges«, bin ich doch wieder das dumme Kind.

Jockel und Kutti müssen auch ran. Jockel ist ja nun schon dreizehn und ziemlich groß für sein Alter. Die Griess findet auch für ihn immer irgendwas zu tun. Nicht mal Kutti, erst in zwei Monaten zehn und noch ziemlich verspielt, entkommt ihr. Gestern hat sie ihm eine riesige Forke in die Hand gedrückt. Damit sollte er den Stall ausmisten. Was ja eigentlich meine Arbeit ist. Aber ich sollte in der Küche bleiben, Großputz machen.

Momm hat Kutti die Forke dann bald weggenommen und selbst ausgemistet. Was der Griess nicht gefiel. »Stadtkinder!«, hat sie vor sich hin gemurmelt und: »Verwöhnte Blage!« Hab’s deutlich gehört. Und vielleicht hat sie damit ja sogar recht. Jockel, Kutti und ich sind nun mal nicht in einem Dorf, sondern in Städten aufgewachsen.

Ach, Eichenbrück! Darf gar nicht daran denken. Wie schön dort alles war! Nicht zu vergleichen mit diesem trostlosen Dorf Kewenow. Doch ob wir jemals nach Hause zurückdürfen? Das würde ich Momm am liebsten zwei- oder dreimal am Tag fragen. Muss mir das richtig verkneifen, will ihr damit nicht auf die Nerven gehen.

Kann mir einfach nicht vorstellen, hier lange bleiben zu müssen. Nur für dich, Jutsch, ist hier alles gar nicht so schlimm. Bist ja gerade erst zwei geworden, dir kann die Griess nicht von morgens bis abends irgendwelche Arbeiten aufdrücken. Obwohl du ja immer helfen willst.

Für dich ist unser Hiersein so was wie ein einziges, großes Abenteuer. So viele Tiere, die du dir anschauen kannst! So viel Neues, wie dich hier umgibt! Nur wirst du dich an dieses »Abenteuer« später nicht mehr erinnern können, und vielleicht kam ich deshalb auf die Idee, mal aufzuschreiben, was wir seit unserer Flucht alles erlebt haben. Und ja, auch, was wir weiterhin noch erleben werden. Soll so eine Art Tagebuch werden, das du, Jutsch, wenn du größer bist, mal lesen kannst, wenn du willst.

Jetzt, im Winter, ist’s hier ja nicht nur so früh dunkel wie überall, sondern alles so mausetot, als gäbe es die übrige Welt gar nicht. Beim Abendessen in der Küche hören wir die Dachbalken knarren. Also denke ich viel nach. Und warum soll ich denn nicht aufschreiben, was mir alles durch den Kopf geht? Für dich, Jutsch, und auch für mich.

Ist wirklich schlimm hier, kein Kino gibt’s und keine Bibliothek, nur dieses backsteinerne Haus mit der Kneipe, dem Kirchspielkrug, wo abends ein paar alte Männer sitzen, Bier und Schnaps trinken und »klönen«. So nennt man das hier, wenn die Leute mal ein bisschen länger miteinander reden als sonst.

Die jungen Männer sind alle an der Front. Und Frauen und Mädchen? Auf dem Land haben die anderes zu tun, als im Wirtshaus die Stühle zu wärmen, sagt Momm.

Alles prima Futter für meine Langeweile, denn Momm ist, seit wir hier sind, ja auch eher schweigsam, sorgt sich um uns und noch mehr um Pappka. Wir wissen ja immer noch nicht, ob er noch lebt. Haben schon so lange keine Post mehr von ihm bekommen.

Ja, und weil das alles so ist, sitze ich jetzt hier und schreibe. Das ist, als ob ich mit mir selbst rede oder mir was erzähle. Nur gut, dass ich ein paar leere Hefte dabeihabe! Wir sollten ja Schulbücher und Hefte einpacken, weil wir ganz sicher irgendwo anders zur Schule gehen würden, wie laut verkündet worden war. Doch daraus wird vorläufig nichts. Zwar soll es in Burgheide – nächster größerer Ort in dieser Einöde – sogar ein Gymnasium geben, doch wozu soll Momm uns, solange noch Krieg ist, irgendwo zur Schule anmelden? Entweder schuften wir von morgens bis abends für die Griess oder wir drücken die Schulbank. Beides zusammen geht nicht.

Der letzte Zug

Wie wir in Posen auf dem Bahnsteig standen! Der schneeverwehte, finstere Abend, die so dicht gedrängt stehenden Leute mit all ihren Rucksäcken, Koffern, Bündeln, Säcken, Kisten und Kartons. Dazwischen wir.

Berlin! Wir wollten nach Berlin. Zu Tante Mala, Onkel Egon oder notfalls auch Onkel Rudi. Dein kleines Gesicht unter der dicken, blauen Strickmütze, Jutsch, ganz rot gefroren war es. Hab dir immer wieder die Wangen mit Schnee eingerieben, weil das die Durchblutung fördern soll. Ob’s geholfen hat, weiß ich nicht.

Und das Schneetreiben wurde immer heftiger. Bald waren wir völlig zugeschneit. Lauter Schneemänner, sagte Kutti.

Jockel und er hatten versucht, in den von vielen Rauchern zugequalmten, kleinen Wartesaal zu gelangen. Nicht einen einzigen Zentimeter waren die, die schon drin waren, beiseite gerückt. Ging ja vielleicht auch gar nicht, so eng, wie sie standen. Und warum hätten sie denn Mitleid mit Jockel und Kutti haben sollen? Waren sie etwa die einzigen Kinder, die auf dem Bahnsteig ausharren mussten?

Einmal passierte Unheimliches: Alle Lichter gingen aus. Sogar die Schreibtischlampe in dem kleinen Büro des Bahnhofsvorstehers, die so matt durch das rußverschmierte Fenster zu uns hingeleuchtet hatte, erlosch. War ein Fliegerangriff gemeldet worden? Bahnhöfe sind ja besonders gefährdet. Vor einem Jahr, als Posen von amerikanischen Bombern angegriffen wurde und es schwere Zerstörungen und viele Tote gab, war ja auch schon der Bahnhof getroffen worden.

Aber wenn jetzt Fliegeralarm kam, wo sollten wir hin? Zurück in die Stadt, in einen Luftschutzkeller? Doch was, wenn dann der Zug kam, der letzte in Richtung Westen, wie alle sagten?

Zum Glück ging das Licht bald wieder an. Momm hielt dich, Jutsch, auf dem Arm, wiegte dich und lächelte uns zu. »Na also!« Und Jockel blies die Backen auf, als wollte er sagen: Noch mal Glück gehabt!

Der Zug aber kam und kam nicht. Immer unruhiger wurde ich. Was, wenn das mit dem letzten Zug gar nicht stimmte und keiner mehr kam? Sollten wir dann etwa nach Eichenbrück zurück, um dort auf die russischen Soldaten zu warten, von denen in letzter Zeit so viel Grausames berichtet worden war und vor denen sich vor allem Frauen und Mädchen fürchten mussten?

Als Kutti nicht mehr stehen konnte, durfte er sich auf unseren großen Koffer setzen. Jockel, die Skimütze tief in die Stirn gezogen, tat, als würde er den Koffer nicht sehen. Er will ja immer der große Starke sein. Nur wenn Kutti aufstand, um sich die Füße warm zu trampeln, und Momm ihm streng befahl, jetzt nicht den Helden zu spielen, setzte er sich. Um dann bald wieder Kutti Platz zu machen.

Momm und ich setzten uns nicht. Momm schaukelte dich, Jutsch, ohne Pause hin und her, weil du, obwohl warm eingepackt, einfach nicht einschlafen wolltest. Hast uns nur ewig mit deinen großen, blauen Augen angeschaut. Vielleicht hast du dich ja gefragt, warum wir denn zwischen all diesen eingeschneiten Leuten herumstanden, anstatt zu Hause in unseren warmen Betten zu liegen. Ich – deine »Eena«, weil du »Rena« ja noch nicht aussprechen kannst – wollte Späßchen mit dir machen, um dich von all dem düsteren Drumherum abzulenken. Aber darauf bist du nicht eingegangen.

Das Bahnhofsgebäude mit dem Dienstraum des Bahnhofsvorstehers. Mutterseelenallein saß er hinter seinem nur schummrig beleuchteten Schreibtisch. Neben ihm bollerte ein Kanonenofen, auf seinem Schreibtisch stand eine Thermoskanne mit heißem Kaffee oder Tee. Wenn er uns zu sich hereingelassen hätte, wie viel besser wäre das gewesen. Aber natürlich, dann hätte er auch alle anderen in seinen Dienstraum lassen müssen, und wie sollte das gehen?

Ich musste an Pappka denken. Wenn er bei uns gewesen wäre, was hätte er jetzt getan? Euer Vater, hat Momm früher oft gesagt, ist klug, der findet sich überall zurecht. Seit er bei den Soldaten ist, sagt sie das nicht mehr.

Hab Angst um Pappka, sogar sehr, sehr große Angst. Aber jetzt durfte ich nicht zu lange an ihn denken. Er war nicht bei uns, also konnte er uns nicht helfen.

Wieder studierte ich die Leute um uns herum. All diese rot oder blau gefrorenen Gesichter – Frauen, Kinder und alte Männer –, wie verbissen sie in die Richtung starrten, aus der der Zug kommen musste. Wenn er denn überhaupt noch kam. Gesprochen wurde kaum, und wenn doch, dann nur leise flüsternd.

Die Furcht vor den Russen, wer verspürte sie nicht? Von Erschießungen war berichtet worden, von endlosen Plünderungen und besonders oft von den vielen, vielen Vergewaltigungen. Sogar noch ganz junge Mädchen – Kinder! – und Greisinnen sollten den russischen Soldaten zum Opfer gefallen sein. Momm hat oft gesagt, die Leute würden gern übertreiben. Doch vielleicht wollte sie mich damit ja nur beruhigen?

Heimlich sah ich sie an. Eine so hübsche, kupferrothaarige Mutter haben nicht viele. Selbst in dieser Kälte – ihre schwarze Pelzkappe über und über zugeschneit – war sie eine Dame.

Sie bemerkte meinen Blick und nickte mir zu. Und um uns aufzuheitern, zog sie Kutti die Mütze so tief in die Stirn, dass er nichts mehr sehen konnte. Kutti, der über seinem Kinderrucksack noch den vollgepackten Schulranzen auf dem Rücken trug und die Botanisiertrommel umgeschnallt hatte, schob sie empört wieder zurück. Aber dann lachte unser kleiner blonder »Sonnenschein«, der immer und überall für jeden Scherz zu haben ist. Dass wir »Momm« sagen und nicht Mama oder Mutti und »Pappka« anstatt Papa oder Papi, haben wir ihm zu verdanken. Als er noch ganz klein war, hat er mal gesagt, so riefen ja alle Kinder ihre Eltern. Wie wolle man denn da all die vielen Mamas und Muttis, Papas und Papis voneinander unterscheiden? Einen ganzen Nachmittag lang hat er darüber nachgedacht, wie wir unsere Eltern rufen könnten, und sich am Ende »Momm« und »Pappka« einfallen lassen. Na ja, und wir fanden das lustig, haben es übernommen und sind dabei geblieben.

»Mal kucken, ob der Zug schon zu sehen ist.« Irgendwann konnte ich nicht mehr länger so tatenlos auf dem Bahnsteig herumstehen. Meine eiskalten Füße, ich musste sie endlich mal bewegen.

»Bleib lieber hier!« Momm wollte das nicht, doch da hatte ich mich schon bis an die Bahnsteigkante vorgedrängt und spähte den Schienenstrang entlang in die schwarz-weiße Finsternis hinein. Doch nein, kein einziges Licht näherte sich dem Bahnhof.

Wieder der Gedanke, was werden sollte, wenn kein Zug mehr kam. Und dann begann hinter mir auch noch ein Kind zu weinen. Es war ein so kläglich schreiendes Protestheulen, dass es mir durch und durch ging. Doch drehte ich mich nicht um. Das warst ja nicht du, Jutsch. Du hast – was mich noch immer wundert – in all der Zeit auf diesem eisigen Bahnhof nicht ein einziges Mal geweint. Hast nur immer all die Leute um uns herum angeschaut, als wolltest du herausfinden, was wir mit ihnen zu tun hatten.

Das Kind hinter mir hörte ewig nicht auf zu schreien. Eine alte Frau – vielleicht seine Großmutter – versuchte, es zu beruhigen, bis sie doch ungeduldig wurde. »Jetzt sei aber endlich mal still!«, schimpfte sie.

Eine andere Frau mischte sich ein: »Nu lassen Se de Kleine doch weinen! Weinen macht müde. Vielleicht schläft se dann ja ’n bisschen.«

Mittendrin schrak ich auf: Hatte ich mich getäuscht oder wurde die eine große Schneeflocke in all dem Schneetreiben tatsächlich immer größer und heller?

Aber nein, ein Raunen ging durch die Menge: Ein Zug näherte sich uns!

Alles geriet in Bewegung. Beinahe wäre ich aufs Gleis gestürzt, ein solches Gedränge und Geschiebe setzte ein. Dann der Bahnhofsvorsteher. Mit der Kelle in der Hand, mit der er das Signal zur Weiterfahrt geben musste, schob er die Vorwärtsdrängenden auseinander. »Aber meine Herrschaften, bitte!«, rief er. »Seien Se doch vernünftig! Treten Se zurück. Sie riskieren ja Ihr Leben.«

Einzige Antwort: ein unwilliges Murren. Keiner wollte zu weit hinten stehen. Vielleicht war der Zug ja schon überfüllt.

»Momm!«, schrie ich, so laut ich konnte. »Momm! Jockel! Kutti! Schnell! Hierher!«

Doch wie sollte Momm sich denn mit dir, Jutsch, auf dem Arm und Jockel und Kutti im Schlepptau und dem riesigen Rucksack auf dem Rücken und auch noch dem schweren Koffer in der Hand bis ganz nach vorn durchkämpfen? Ich musste zu euch, um Momm wenigstens den Koffer abzunehmen. Mit aller Kraft stemmte ich mich den Herandrängenden entgegen, mit noch mehr Kraft schoben sie mich zurück.

Hilflos brüllte ich noch einmal: »Momm! Schnell! Hierher!« Und fuchtelte dabei wie wild mit den Armen, um mich irgendwie bemerkbar zu machen.

Endlich Momms Stimme, fast genauso laut: »Rena! Wo bist du denn?«

»Hiiier!«, schrie ich. »Hiiier!« Und rücksichtslos um mich boxend kämpfte ich mich, mit meinem Rucksack auf dem Rücken, der dabei natürlich mächtig störte, durch all die Anstürmenden zu euch zurück, schnappte mir Momms schweren Koffer und drängte wieder auf die Bahnsteigkante zu. Jetzt mit der freien Hand auch noch Kutti hinter mir herzerrend. Momm, mit dir auf dem Arm und Jockel vor sich herschiebend, hielt sich dicht hinter mir.

Fauchend fuhr die Lok in den Bahnhof ein, dahinter all die Waggons, von denen wir nicht wussten, ob sie nicht bereits vollbesetzt waren. Die Räder quietschten, die Bremsen kreischten, zischend heißer Dampf stieg auf und alle drängten noch heftiger nach vorn. Für uns war endgültig kein Durchkommen mehr. Je rücksichtsloser ich versuchte, uns einen Weg zu bahnen, desto erbarmungsloser wurde ich zurückgestoßen. Am liebsten hätte ich mich geohrfeigt. Wie lange hatte ich ganz vorn an der Bahnsteigkante gestanden! Wäret ihr bei mir gewesen, wir wären unter den Ersten gewesen, die eine Waggontür hätten aufreißen können. Jetzt mussten wir zusehen, wie der Zug nicht nur von der Bahnsteigseite, sondern auch vom Gleisbett her von anderen geentert wurde.

Überall Kindergeschrei, lautes Frauenweinen und irgendwelche Rufe, die vom Durcheinander der Stimmen verschluckt wurden. Zum Glück war der Zug noch ganz und gar leer. Durch die Türen drängten sich die Leute und kletterten durch die von innen geöffneten Fenster und kleine Kinder wurden hineingereicht. Das Gepäck schoben die noch draußen Stehenden nach.

Momm, Jockel, Kutti und ich starrten nur stumm all die Leute an, die sich so hart bekämpften, um bloß schnell in diesen Zug zu gelangen. Ich hätte am liebsten geheult. Dann aber, ganz plötzlich, machte ich eine Entdeckung. Und ohne mich erst lange zu besinnen, ließ ich Kuttis Hand los und stürzte auf einen SS-Mann* zu. Groß und schlank war er, die vollgeschneite Mütze mit dem silbernen Totenkopfabzeichen trug er tief ins Gesicht gezogen, stumm beobachtete er all das Treiben um sich herum.

Mit beiden Fäusten trommelte ich auf seine Brust, heulte los und rief irgendwas Unzusammenhängendes.

Er packte mich am Arm und fauchte mich an: »Was ist los mit dir? Reiß dich zusammen! Bist du ein deutsches Mädchen oder nicht?«

»Meine Mutter, meine Brüder, meine Schwester …«, konnte ich nur stammeln. »Wir müssen doch auch in den Zug.«

Er: »Wie viele seid ihr denn?«

Ich: »Fünf. Und Jutsch ist doch erst zwei.«

Nur kurz überlegte er, dann zog er seine Pistole und befahl: »Führ mich hin!«

Und er fackelte auch danach nicht lange. »Folgen Sie mir!«, herrschte er Momm an, und dann schritt er mit der Pistole winkend vor uns her und befahl allen, die im Weg standen: »Machen Sie Platz, bilden Sie eine Gasse! Hier ist eine deutsche Mutter mit ihren vier Kindern.«

Die Leute vor uns gehorchten nur widerwillig. Eine noch sehr junge Frau schrie: »Bin auch ’ne deutsche Mutter. Hab auch drei Kinder. Muss auch in den Zug.«

»Schließen Sie sich an«, befahl er. »Mütter mit Kindern zuerst, gar keine Frage.«

Ein Tumult entstand. Wer Kinder an den Händen oder in den Armen hielt und noch nicht bis an die Bahnsteigkante vorgelangt war, drängte hinter uns her. Die vor uns aber wollten keine Gasse bilden. Allein der Anblick der Pistole ließ sie zurückweichen. Und so, ich hatte schon nicht mehr darauf gehofft, gelangten wir endlich doch noch in den Zug.

Heim ins Reich

Sitze wieder in meiner Räucherkammer. Kann gar nicht mehr anders, muss alles aufschreiben. Urschel hatte ja schon ab der Siebten Tagebuch geführt und es mir öfter zu lesen gegeben. Aber das war alles nur Schwärmerei. Mal hatte sie aus Illustrierten ausgeschnittene Fotos von Stuka-Fliegern* oder U-Boot-Helden in ihr Heft geklebt, mal einen berühmten Filmschauspieler. Drunter stand, was ihr an ihnen gefiel.

Lust, selber mal Tagebuch zu führen, hatte ich nie. Jetzt ist das anders. Vielleicht liest du’s ja später wirklich mal, Jutsch.

Der Abend in Posen. Der zugeschneite, zur Hälfte zerstörte Bahnhof. Dann der Zug, der endlich kam. Und wie übervoll er bald war! In den Gängen standen die Leute so dicht gedrängt, dass kaum ein Durchkommen war. Zwischen ihnen all das, was sie mitgeschleppt hatten: Rucksäcke, volle Taschen, Kisten, Säcke, Körbe, Bettzeug. Oft war auf den Rucksäcken oder Taschen noch eine Pfanne, ein Kochtopf oder irgendwas anderes festgeschnallt.

Unser Retter hatte uns in einen Waggon 1. Klasse geschoben, aber das galt ja nun nicht mehr und so waren auch dort alle Sitzplätze längst besetzt. Frauen hatten ihre Kinder oder die schon sehr alten Großmütter oder Großväter auf den Schoß genommen und auch in den Gepäcknetzen war nichts mehr frei. Meistens lagen kleine Jungen oder große Mädchen drin.

Der Gedanke, die ganze Fahrt über stehen zu müssen, und das in dem total überfüllten schmalen Gang zwischen den Abteilen, machte mir Angst.

Unser SS-Mann mit der Pistole aber gab nicht auf. Immer weiter drängte er sich vor uns her durch die so dicht Stehenden, bis wir vor einem Abteil angelangt waren, in dem es keine Kinder gab. Links quetschten sich vier schon etwas ältere Frauen auf den drei Sitzen, rechts drei junge Frauen und ein alter Mann. In den Gepäcknetzen lagen zwei große schlaksige Mädchen, die sich mit ihren Mänteln zudeckten, zwischen den Sitzen standen auch schon zwei Frauen und zwei alte Männer.

Feindselig starrten die drei jungen Frauen uns an. Sie fürchteten um ihre schwer erkämpften Plätze. Und richtig: »Hier ist eine Mutter mit ihren vier Kindern.« Unser SS-Mann hielt noch immer die Pistole im Anschlag. »Bitte machen Sie die Sitzplätze frei.«

Die drei – die Jüngste kaum älter als ich – blieben sitzen. Zwei hatten sich ihre schneenassen Skimützen über die Ohren gezogen, wie um nichts hören zu müssen, die dritte wollte gerade ihr total durchnässtes wollenes Kopftuch abnehmen. »Wissen Sie, was wir hinter uns haben?«, fragte sie bitter. »Wir schaffen das nicht mehr, die ganze Fahrt über zu stehen. Sonst klappen wir noch ganz und gar zusammen.«

»Das trifft auf viele zu.« Unser Retter schwenkte die Pistole. »Aber Kinder sind nun mal Kinder und damit Deutschlands Zukunft. Zwingen Sie mich nicht, Sie aus dem Zug zu werfen.«

»Komm, Ilse!« Die erste der drei jungen Frauen gab auf. »Der bringt es fertig und macht Ernst.«

Ihre Freundin zögerte noch zwei, drei Sekunden, dann wrang sie ihr Kopftuch aus, bis das Schneewasser auf den Fußboden plätscherte, und starrte unseren Retter dabei an, als würde sie ihm am liebsten eine kleben. Schließlich aber klaubte sie nur ihren unter den Sitzen verstauten Rucksack hervor und schob sich mit mürrischer Miene an uns vorbei in den Gang.

»Tut uns alles furchtbar leid.« Momm wollte sich für unser Eindringen in dieses Abteil entschuldigen, der SS-Mann unterbrach sie: »Ihnen muss überhaupt nichts leidtun! Schutz denen, die Schutz verdienen! Das sollte uns allen oberstes Gebot sein.« Und damit verließ er das Abteil, um den Müttern mit Kindern, die sich uns angeschlossen hatten, ebenfalls Sitzplätze zu verschaffen.

Ich hatte kein schlechtes Gewissen. Die drei jungen Frauen, egal wie müde und erschöpft sie waren, mussten für keine Jutsch, keinen Kutti und keinen Jockel sorgen. Wären sie nicht nur für sich allein verantwortlich gewesen, nie wären sie so schnell in den Zug gelangt, um noch Sitzplätze zu ergattern.

Momm sah das anders. »Tut mir ja alles so leid«, sagte sie wieder. »Aber unsere Kleine ist erst zwei und den Jungs fallen gleich die Augen zu, so müde sind sie.«

Keiner antwortete irgendwas. Bestimmt dachten alle: Hauptsache, wir behalten unsere Sitzplätze. Auch der alte Mann, der dann die ganze Fahrt über neben mir saß – ein graubärtiger, mürrisch wirkender Borstenkopf in dicker Bauernjoppe, der ohne Ende seine nasse Schirmmütze in den Händen drehte –, stierte nur stumm in sich hinein.

Ich quetschte den Koffer und all unsere Rucksäcke unter die für uns frei gemachten Sitze, Jockel und Kutti nahmen ihre Ranzen und Kutti auch noch seine Botanisiertrommel auf den Schoß. Die beiden Mädchen in den Gepäcknetzen sahen uns dabei zu. Ich, schon neben dem Alten, versuchte, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, Jockel und Kutti zwängten sich auf den Fensterplatz. Momm setzte sich zwischen uns. Du, Jutsch, auf ihrem Schoß, hast so neugierig geblickt, als fragtest du dich immer noch, was das denn alles sollte.

Die drei jungen Frauen, die wir verdrängt hatten, starrten uns durch die offene Abteiltür hindurch an. Um diesen Blicken auszuweichen, zog ich dich zu mir herüber, als wollte ich Momm Gelegenheit geben, sich von deiner Last auszuruhen. Und dann sang ich dir dein Lieblingslied ins Ohr:

»Rena – Jockel – Kutti – Jutsch
fahren mit der Kutsch.
Fahren in den Wald hinein,
wollen bald zu Hause sein.
Doch da macht die Kutsch ’n Rutsch –
und ist futsch!
«

Fünf- oder sechsmal sang ich dir das Lied vor und ließ dich bei jedem »Rutsch!« nach hinten fallen, wobei ich dich an den Händen festhielt. Jedes Mal hast du vor Begeisterung gekräht.

So war bis jetzt alles noch ziemlich glimpflich abgelaufen. Wenn nur der Zug endlich losgefahren wäre! Wir standen und standen, als hätte der Lokführer vergessen, weshalb er überhaupt gekommen war.

Unruhe machte sich breit. »Wann geht’s denn endlich los?«, schimpfte eine der Frauen, die stehen musste, und zog das Fenster herunter, um den Bahnsteig entlangzuspähen. Jockel und Kutti drängten sich neben sie, und da sahen sie, warum wir nicht losfuhren – weil all die Leute, die nicht in den Zug gelangt waren, sich auf die Puffer und Wagendächer gesetzt oder an den Trittbrettern festgeklammert hatten, dort aber nicht bleiben durften. Einer nach dem anderen mussten sie vom Bahnhofsvorsteher davon überzeugt werden, dass sie sonst schon nach wenigen Kilometern steifgefroren auf die Gleise fallen würden. »Wir haben Januar und nicht Juli oder August«, hörte ich ihn schimpfen. »Seien Se doch vernünftig!«

Jetzt drängten noch mehr in den Zug, und unser SS-Mann lief von Abteil zu Abteil, fuchtelte mit seiner Pistole und schrie immer wieder: »Zusammenrücken! Alle zusammenrücken! Vorher geht’s nicht weiter.«

Nicht lange und eine alte Frau schrie, dass sie keine Luft mehr bekäme. In unserem Abteil aber stand noch immer das Fenster offen. Der Alte neben mir hustete und beschwerte sich: »Nu machen Se doch endlich ’s Fenster zu! Denken Se, der Lokführer fährt los, nur weil Se kucken?«

Die Frau am Fenster gehorchte nur unwillig. »Ich will endlich hier weg«, schimpfte sie zurück. »Hab die Schnauze gestrichen voll. Trödeln wir noch lange rum, schnappt uns noch der Russe.«

»Ja.« Das Mädchen im Gepäcknetz gegenüber nickte ihr zu. »Im Radio haben se’s gesagt, für jeden gefallenen Russen wollen se fünf Deutsche abknallen, ganz egal, ob Mann, Frau oder Kind.«

»Scheißhausparolen!«, knurrte der Alte neben mir und drehte die Mütze in seinen Händen gleich noch ein bisschen schneller. »Bin kein Russenfreund, aber so was? Alles nur Scheißhausparolen! Damit wir bis zuletzt für unsere hohen Herren die Köppe hinhalten.«

»Na, wenn Se meinen!« Das Mädchen hatte keine Lust, mit dem Alten zu streiten. Sie zündete sich lieber eine Zigarette an.

Sofort rief eine der Frauen unter ihr: »Das hier ist Nichtraucher

»Raucher! Nichtraucher!« Das Mädchen lachte nur. »Danke, liebe Tante, aber so was gilt schon lange nicht mehr.« Und seelenruhig rauchte sie weiter – und zwinkerte mir zu. »Wie heißt denn deine kleine Schwester? Die ist so süß, so eine hätte ich auch gern.«

»Sag, wie du heißt«, ermunterte ich dich.

Du aber hast dieses Mädchen lange nur angeblickt, wie um herauszufinden, ob sie eine Antwort wert war, und erst danach ganz leise »Jutsch« gesagt.

»Jutsch?«, staunte das Mädchen. »Ist das denn überhaupt ’n Name?«

Stolz hast du genickt, und ich hab allen im Abteil erklärt, dass du natürlich nicht Jutsch, sondern Jutta heißt und wir dich Jutsch riefen. Das Mädchen wollte noch etwas sagen, aber da ging plötzlich ein Ruck durch die lange Reihe der Waggons: Wir fuhren! Zwar ging es nur sehr, sehr langsam aus dem Bahnhof hinaus, immerhin – wir fuhren! Wie unwichtig war nun alles andere.

Diese Zugfahrt! Wie soll ich sie beschreiben? Sie erschien mir endlos – und das war sie ja auch. Sie machte mich müde, und doch war ich fast die ganze Zeit über, egal ob Tag oder Nacht, so hellwach, als müsste ich überhaupt niemals mehr schlafen. Das sonst so einschläfernd wirkende Rattern der Räder, es fraß sich in meine Gedanken, bohrte im Kopf – und machte mich immer wacher.

Wie denn jetzt alles weitergehen sollte, fragte ich mich. Wir fuhren ja nicht einfach nur weg, wir fuhren in eine unbekannte, düstere Zukunft hinein. Zwar ist Berlin Momms und Pappkas Heimatstadt, doch sollte dort ja vieles längst zerbombt sein. Standen die Häuser, in denen Tante Mala, Onkel Egon und Onkel Rudi zuletzt gewohnt hatten, denn überhaupt noch?

Die Nacht über war von der Landschaft draußen nichts zu sehen. Und im Abteil war es auch finster, weil aus Furcht vor Fliegerangriffen alle Vorhänge zugezogen sein mussten und wir trotzdem kein Licht einschalten durften. Es sollte kein einziger, noch so schmaler Lichtstrahl verraten, dass hier ein Zug unterwegs war.

Oft blieben wir auf freier Strecke stehen, und der alte Mann neben mir wusste, warum. Weil so viele Schienenstränge und Bahnhöfe längst zerstört waren. »Wir müssen Umwege fahren«, erklärte er Momm. »Haben wir Pech, brauchen wir bis Berlin ’ne ganze Woche. Mit viel Glück drei Tage.«

Drei Tage? Eine Woche? Damit hatte ich nicht gerechnet. Wir hatten doch früher nach Berlin immer nur ein paar Stunden gebraucht. Für eine so lange Fahrt hatten wir ja gar nicht genug zu essen und zu trinken mit. Wie sollten wir – und vor allem du, Jutsch – denn so lange aushalten, ohne was in den Bauch zu bekommen?

Endlich wurde es draußen hell. Wir konnten die Vorhänge zurückziehen und in die Schneelandschaft hinausschauen. So viel endloses, in der Sonne glitzerndes Weiß hatte ich noch nie gesehen. Ein weißes Meer war das, Büsche und Bäume versanken darin. Verschneite Strommasten und schneegepolsterte Warntafeln flogen an uns vorüber. Fast sah es aus, als blickten sie uns nach.

Die plötzliche Helligkeit machte mir Mut. Drei Tage? Eine Woche? Der Alte neben mir hat ganz bestimmt übertrieben. So was kann ja gar keiner aushalten. Aber dann entdeckte ich eine Rinderherde, die brüllend durch all dieses Weiß lief, und mein Mut war wie weggeblasen: Wer hatte die Tiere denn freigelassen? Im Winter gehörten sie doch in den Stall. Waren ihre Besitzer ebenfalls auf der Flucht? Und brüllten die Kühe, weil sie schon viel zu lange nicht mehr gemolken worden waren und ihnen die Euter schmerzten?

Dörfer und kleine Städte flogen vorüber. Manchmal wurde im Abteil irgendein Ortsname genannt, doch hörte ich nicht zu. Wir kamen aus Eichenbrück und wollten nach Berlin, heim ins Reich, wie es jetzt überall hieß, alles andere ging uns nichts an.

Solange es dunkel war, hatten Jockel und Kutti dicht aneinandergelehnt geschlafen. Jetzt kramte Kutti sein Geduldspiel aus der Botanisiertrommel und bewegte die kleine Dose in seinen Händen hin und her, bis er alle drei Kügelchen eingelocht hatte. Gleich darauf schüttelte er die Kügelchen wieder raus und begann von neuem. Er wollte auch Jockel die Dose geben, aber der starrte nur stumm in sich hinein. Ich hätte gern gewusst, was er dachte. Er redet nicht mehr viel, seit wir aus Eichenbrück fort sind, ist jetzt oft so verschlossen. Und früher war doch ich, seine große Schwester, immer die Erste gewesen, der er anvertraute, was ihn bewegte.

Der Alte neben mir wurde unruhig. Die Helligkeit der Schneelandschaft sorgte ihn. »Wär besser, wenn’s bald wieder dunkel wird«, sagte er zu Momm. »Tagsüber kommen die Tiefflieger. Wie sollen sie uns in all dem Weiß nicht entdecken?« Und er verriet ihr, was sein Schwager von der Reichsbahn ihm erzählt hatte, nämlich dass die Züge aus dem Osten ja eigentlich angewiesen waren, nur bei Nacht zu fahren. Tagsüber hätten alle in einem Bahnhof oder Rangierwerk auszuharren. Jetzt aber sei schon lange Tag, ob das denn nicht sehr verantwortungslos sei, dass wir immer noch fuhren?

Jockel hatte zugehört und machte nun doch mal den Mund auf. »Aber wenn wir in einem Bahnhof herumstehen, dann sehen die Flieger uns ja auch«, sagte er. »Und unbewegliche Ziele sind noch besser zu treffen.«

»Nicht wenn der Bahnhof ’n Dach hat.« Den Alten ärgerte es, dass ein Jungspund wie Jockel es wagte, seine Worte anzuzweifeln.

Doch so schnell gab Jockel nicht auf. »Wir sind aber schon an vielen Bahnhöfen vorübergekommen, die keins hatten.«

»Jockel!« Momm stieß ihn an. Sie mag es nicht, wenn Jockel den Altklugen spielt.

Kutti dachte ein Weilchen nach, dann fragte er, auf einmal gar nicht mehr der kleine Kutti, sondern fast schon ein Kurt: »Und was ist, wenn ganz lange kein Bahnhof kommt, der ein Dach hat, und besonders viele Tiefflieger unterwegs sind? Wo hält der Zug dann?«

Darauf wusste niemand eine Antwort. Alle machten Gesichter, als lohnte es nicht, mit einem Kind zu streiten. Ich schloss lieber wieder die Augen und dachte weiter an Berlin: Wir waren zu fünft. Wo sollten wir unterkommen? Zwar hatte Tante Mala eine große Wohnung, aber was, wenn ihr Haus nicht mehr stand? Onkel Egons und auch Onkel Rudis Wohnung war für so viele Leute ja eigentlich viel zu klein. Aber Momm danach fragen? Wozu? Es war schon so lange aus Berlin keine Post mehr gekommen, woher hätte sie mehr wissen sollen als ich?

Unser Haus in Eichenbrück

Unser Haus in Eichenbrück! Wie oft sah ich es vor mir, während wir durch die immer trostloser wirkende Schneelandschaft fuhren: die schöne, grüne, rundum mit Pflanzen bewachsene Gartenpforte mit dem messingfarbenen Türschild Hermann Haak, Bauingenieur! Der von Momm und Frau Piwonka so liebevoll gepflegte Garten mit den vielen Gemüse- und Blumenbeeten und die Haustür mit dem bunten Glasfenster – bei Sonnenschein eine hell leuchtende Teichlandschaft! Ach, und unser Wohnzimmer mit den alten, oft sehr teuren Möbeln, die Momm und Pappka schon in Berlin und später in Frankfurt zusammengekauft hatten, wie tot und leer musste es darin jetzt aussehen. Und wie gern hätte ich jetzt in unserer großen, so gemütlichen Küche das Geschirr abgewaschen, Bohnen geschnippelt oder Kartoffeln geschält – und dabei ganz bestimmt nicht leise vor mich hin geschimpft wie sonst so oft.

Die Treppe rauf: in der Mitte das Elternschlafzimmer, links das »Bubenzimmer«, rechts die »Mädchenbude«. Bei Jutsch und mir schmückten farbige Drucke von wild wachsenden Blumen die Wände, bei Jockel und Kutti aus Illustrierten ausgeschnittene Fußball-, Flieger- und U-Boot-Helden …

Blöd! Jetzt ist mir eine Träne ins Heft getropft, alles ist verwischt. Kann erst mal nicht weiterschreiben. Ist ja wirklich alles zum Heulen.

Eichenbrück! Und Posen, unsere Gauhauptstadt! Die Posener Altstadt, wie schön war sie, bevor die Bomben einschlugen. Aber auch Eichenbrück ist nicht hässlich. Und waren wir dort etwa eine ganz und gar unbekannte Familie? Pappka als Tiefbauingenieur – am Straßen- und Autobahnbau hatte er mitgewirkt – galt lange als Persönlichkeit. Straßen für den Sieg hatte er gebaut. Auf unseren Pappka, sagt Momm noch heute, dürfen wir stolz sein.

Ja, alles war schön! Lange Zeit störte nicht mal der Krieg, es gab ja immer nur Siege. Wie ein heißes Messer durch warme Butter, so hätten wir Deutschen die Polen überrannt, hatte unser Klassenlehrer Herr Huberty uns voller Stolz verkündet. Aber die Polacken seien ja selber schuld, nie hätten sie wagen dürfen, das Deutsche Reich anzugreifen.

Später England, Frankreich, Dänemark, Norwegen und immer weitere Länder, die uns den Krieg erklärten. Doch im Radio nichts als Siegesmeldungen. Die Fanfaren, die die Sondermeldungen ankündigten, schallten laut auf die Straßen hinaus. Im Kino wurde Beifall geklatscht, wenn die Wochenschau zeigte, wie unsere Soldaten vorrückten. Wir alle – Urschel, Christel, Mechthild, Ruthchen Kösling und sogar Burkhard Schmidtchen, unser Mathe-Genie, aber ganz bestimmt kein zukünftiger Kriegsheld –, wie stolz waren wir auf unsere tapferen Soldaten.

Allein Frau Piwonka machte jedes Mal ein ernstes Gesicht, wenn sie eine dieser Siegesmeldungen mitbekam. Als ich einmal früher aus der Schule kam, war das Radio an, und sie glaubte, allein im Wohnzimmer zu sein. Da sah ich, wie sie den Kopf schüttelte und auf Polnisch irgendwas in sich hineinflüsterte. Es klang sehr ablehnend, vielleicht sogar hasserfüllt. Ob sie damit aber uns, die deutschen Sieger gemeint oder nur ganz allgemein den Krieg verflucht hatte? Das habe ich nicht heraushören können. Verstehe ja kein Polnisch. Doch ging mir ihr Geflüster nicht aus dem Kopf. Wenn sie damit uns Deutsche gemeint hatte, was dachte sie dann von unserer Familie? Sie arbeitete zu dieser Zeit ja schon lange für uns.

Viele Polinnen verdingten sich bei Deutschen als Hausangestellte. Die meisten gaben sich freundlich. Aber war das immer echt? Oder wollten sie nur ihre Arbeit nicht verlieren?

Frau Piwonkas Familie war mal sehr wohlhabend gewesen. Ihr Vater ist Tischlermeister, fünf Gesellen und zwei Lehrlinge soll er beschäftigt haben. Nach unserem Sieg wurde die Familie dann umgesiedelt, in eine Stadt weit im Osten des Landes. So wie viele andere Familien auch. Frau Piwonka durfte bleiben, weil ihr Mann für die Gauleitung als Dolmetscher arbeitete.