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ANDREA WEIDLICH

WIE DU MENSCHEN LOSWIRST, DIE DIR NICHT GUTTUN

OHNE SIE UMZUBRINGEN

ÜBER DIE KUNST DES LOSLASSENS VON TOXISCHEN MENSCHEN UND SELBSTZWEIFELN

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

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Originalausgabe

11. Auflage 2022

© 2021 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

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Redaktion: Diana Napolitano

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildung: Shutterstock.com/EugeniaSh

Layout und Satz: inpunkt[w]o, Haiger (www.inpunktwo.de)

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-7474-0344-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-755-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-756-4

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Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

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INHALT

NÄCHSTER HALT: SCHEISS DRAUF

GESALZENES KARMA

BIS BALDRIAN

DRAMA PANORAMA

REALISMUS IN HÄPPCHEN

OHNE SIE UMZUBRINGEN

WER FLIEGT?

DAS RÄTSEL

IM VISIER

NADELN IM HANDSCHUH

SCHWERE BROCKEN

BLUTGRUPPE NULL-SYMPATHISCH

GORDISCHER KNOTEN

SPIONAGE UND PRALINEN

DER EINE FÜR KEINE

DIE TASCHEN VOLLER STEINE

UNTER DER LUPE

TOXISCHE FREUNDINNENSCHAFT

SCHLANGENGRUBE

MARIE CURIE, DIE CHEFIN UND DAS GIFT

HÖLLE MIT POOL

IN DIE SCHRANKEN

DÄMONEN UND GIFTPFEILE

IM WUNDERLAND

DIE LAUTEN

INNERER LÄRM

PERFEKTE HEILE WELT

FENSTER IN DER RUSTÜNG

FLUCH DER AKRIBIK

FALSCHES SPIEL

AUF DEM ABSTELLGLEIS

PYGMALIONEFFEKT

ARSCHLOCH-DETOX

ALLE GUTEN DINGE SIND FREI

AUS DEM RUDER

LEICHEN ÜBER BORD

ZWEIFEL VERSENKEN

ENDE GELÄNDE

Wie viele zweite Chancen möchtest du anderen geben, bevor du dir selbst eine gibst?

NÄCHSTER HALT: SCHEISS DRAUF

Ich möchte vorausschicken: Ich bin ein sehr friedliebender Mensch. Ich halte Frieden für eine wichtige Sache. Nicht nur ganz generell, sondern auch den eigenen. Und genau darauf möchte ich hinaus. Wie oft im Leben nehmen wir uns und unsere Bedürfnisse, aber auch ganz häufig unsere eigenen Wünsche zurück, weil wir denken, es anderen recht machen zu müssen? Ich greife hier schon mal vorweg – das ist nicht der allerbeste Weg, um dich und paradoxerweise auch niemand anderen glücklich zu machen. Es hilft am Ende schlicht niemandem.

Wenn du das hier gerade liest, hast du jedenfalls aus einem bewussten oder vom Leben zugespielten Grund zu diesem Buch gegriffen und kennst vermutlich mindestens einen Menschen (mit großer Wahrscheinlichkeit auch mehrere), der dir schon mal das Leben schwer gemacht hat, und weshalb du an dir selbst gezweifelt hast oder es immer noch tust. Das können Fremde oder Vertraute sein, jemand aus deiner Familie oder eine andere Person, von der du denkst, sie aus irgendwelchen Gründen in deinem Leben haben zu müssen. Toxische Menschen verhalten sich wie eckige Kieselsteine auf Schotterstraßen, die einem plötzlich unerwartet von der Seite in den Schuh hüpfen. Niemand tritt sie sich freiwillig ein, weil das sehr schmerzhaft ist. Natürlich willst du diesen einen oder auch mehrere verletzende Menschen zwar loswerden, aber nicht wirklich um die Ecke bringen. Abgesehen davon, dass das selbstverständlich keine gute Lösung wäre und ich auch explizit davon abraten möchte, kann es aber passieren, dass wir uns – manchmal freiwillig, aber auch unfreiwillig – in ein inneres Gefängnis mit Menschen setzen, die uns nicht guttun, und denken, da für immer hocken bleiben zu müssen. Zumindest fühlt es sich dann an, als säßen wir eingesperrt mit ihnen in diesem eiskalten Raum auf einem Stuhl mit nur einem Stuhlbein und wundern uns, warum wir die Balance verlieren. Das Problem ist, dass wir andere oft viel wichtiger nehmen als uns und den Fokus so stark auf sie richten, dass wir uns selbst dabei verlieren. Das Gute ist, die Entscheidung, das zu ändern, liegt aber ganz in deiner Hand und darum geht es in diesem Buch.

Wer meine vorherigen Bücher Der geile Scheiß vom Glücklichsein und Liebesgedöns kennt (und nein, es ist nicht notwendig, sie für dieses Buch gelesen zu haben, auch wenn ich das natürlich sehr schön fände), weiß, dass es mir wichtig ist, das echte Leben zu beschreiben, damit du dich, und manchmal auch andere, in den einzelnen Geschichten der Charaktere wiederfindest. Ich habe auch dieses Mal viel recherchiert, zugehört und über wahre Begebenheiten geschrieben und wünsche mir, dass sie dich wieder zu all den Punkten führen, die dich tief im Inneren berühren und von da aus deine eigene, ganz neue Geschichte entstehen lassen.

Im Folgenden geht es um acht Menschen. Aber in Wahrheit geht es um dich und woran dich diese Menschen in deinem Leben erinnern. Eventuell befindet sich sogar ein Arschloch in der Runde. Aber ob das wirklich der Fall ist oder wir am Ende alle nur unsere Geschichte haben und wie wir mit diesem toxischen Verhalten letztlich umgehen können, wirst du auf den kommenden Seiten erfahren.

Irgendwann in diesem Buch wird sich voraussichtlich eine Stimme in dir melden und rufen: »Nächster Halt: Scheiß drauf!« Du wirst weiterlesen, aber plötzlich diesen Ort in dir entdecken, an dem alles viel leichter ist. Du bist dann in »Scheiß drauf« angelangt und fühlst dich augenblicklich freier, weil du losgelassen hast und bei dir selbst angekommen bist.

Ab da ist alles möglich für dich.

Wenn sich etwas in dir verändert, verändert sich etwas um dich.

GESALZENES KARMA

Rache, Bestrafung ... Vergeltung?! Wie würdest du es genau nennen?«, fragte mich Lukas, während er meine Sporttasche in den Kofferraum hob und mir dabei einen durchdringenden, gleichzeitig aber zutiefst gelangweilten Blick zuwarf.

»Ich sehe weit und breit keine Pferde. Also nein, keine Retourkutsche. Und krieg dich bitte wieder ein, wir fahren schließlich an einen See!«

»Im November ...«

Ich konnte es zwar nicht sehen, weil er schon im nächsten Moment die Fahrertür aufzog und ins Auto einstieg, aber nichts war vorhersehbarer, als dass er dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit wild mit den Augen rollte und dabei vielleicht sogar den Frontallappen seines Gehirns massierte. Jener Teil, der für die Aufmerksamkeit zuständig ist. Ich war also sicher, er würde mir folgen können.

»Ach komm, es ist wunderschön da. Hast du dir das Hotel überhaupt angesehen?« Ich blieb unbeeindruckt von seinem Gehabe, als ich meine Jacke auf die Rückbank schmiss und es mir anschließend auf dem Beifahrersitz bequem machte.

»Nein, wozu? Wir sind in etwa viereinhalb Stunden dort. Dann werde ich es ohnehin sehen. Und das, obwohl ich extra nach Wien gekommen bin, um Zeit in meiner Heimat zu verbringen. Erinnerst du dich?«

»An deine Heimat? Ja – du meinst wohl Österreich – und genau da bleiben wir auch. Eine kurze Frage hätte ich noch: Soll ich schnell noch mal zum Kofferraum zurückgehen und meine Kopfhörer holen? Solltest du nämlich vorhaben, dich die nächsten viereinhalb Stunden darüber aufzuregen, das kommende Wochenende an einem wunderschönen See mit mir zu verbringen, würde ich genau jetzt einen kleinen Podcastmarathon starten und eventuell noch ein Hörbuch hinterherwerfen. Es wäre mir eine Freude, dich von der Seite zu beobachten, während du dich weiterhin erfolgreich selbst aus der Fassung bringst. Selbstverständlich würde ich dabei lächeln, weil ich dich nämlich nicht hören könnte. Oder aber ... du probierst stattdessen etwas ganz anderes! Was hältst du beispielsweise von: chauffieren statt echauffieren! Das bringt uns nämlich tatsächlich weiter.«

Lukas musste lachen. Er hätte es lieber nicht getan, da er doch eigentlich böse auf mich sein wollte. Aber im Grunde wollte er auch das nicht wirklich. Dazu waren ihm die Dinge zu egal. So gut kannte ich meinen besten Freund inzwischen. Und er mich. Wir waren mittlerweile ein eingespieltes Team, uns gegenseitig abzuholen. Nervlich und in diesem Fall sogar buchstäblich – mit dem Auto. Während er also versteckt in den Kragen seines Pullovers lachte, um mir keinesfalls recht zu geben, startete er den Wagen. Ich war sicher, dass er sich insgeheim ebenfalls darauf freute, ein Wochenende mit mir am See zu verbringen. Und falls er doch noch nicht so weit war, würde ich ihn schon noch davon überzeugen.

»Aber gib zu, ein wenig Genugtuung bereitet es dir schon, weil ich dich damals zu diesem Liebesgedöns-Seminar mit Paul Goldbach gezwungen habe, das du letztendlich so geliebt hast.« Er sah mich dabei erwartungsvoll an.

»Na gut, ja. Ein bisschen vielleicht. Aber genau so wird es dir auch gehen. Du wirst es lieben, vertrau mir.« Ich griff in die andere Tasche zu meinen Füßen, ließ es darin zischen und reichte Lukas eine geöffnete Flasche eiskalt prickelnden Mate-Tee, von dem ich wusste, wie sehr er ihn liebte. Es war meine Art eines kleinen Bestechungsversuches, damit er sich endlich darauf einließ, den Beginn eines außergewöhnlichen Wochenendes mit mir zu zelebrieren. Um es so richtig krachen zu lassen, öffnete ich noch eine Packung Pom-Bären und hielt sie ihm verführerisch unter die Nase. »Karma, gesalzen, der Herr?«

Lukas griff zu und machte das Beste daraus. Zu Recht. Denn um ehrlich zu sein, halte ich kaum etwas für einen erfreulicheren Vorteil des Erwachsenseins, als die selbst erteilte Legitimierung völlig übertriebener Mengen Snacks auf Roadtrips. Wenn man schon jeden Tag im Leben frisch geduscht in den Tag startet, zusammenpassende Sockenfarben wählt, seine Rechnungen bezahlt und all seinen Verpflichtungen nachkommt, sollte es dabei doch wenigstens einen kleinen Vorteil geben. Deshalb konnte so ein kleines, nach außen hin harmlos wirkendes Gepäckstück schon mal zu einem ganzen Vorratslager ausarten, das locker eine mehrköpfige Großfamilie hätte versorgen können. Und das, obwohl wir nur zu zweit waren. Da wir erwachsen waren, durften wir das. Weil, wer sollte es uns auch verbieten? Die Snackpolizei? Wäre man das selbst, müsste man dringend ein ernstes Wörtchen mit sich reden. Man sollte überhaupt viel öfter streng mit sich sein, wenn es darum geht, das Leben zu genießen, dachte ich, während ich dem Pom-Bären genüsslich den Kopf abbiss. Der musste sich nun keine Gedanken mehr machen. Über rein gar nichts. Ich für meinen Teil fühlte mich bereit für das bevorstehende Abenteuer.

BIS BALDRIAN

Sie will also Menschen umbringen?«, fragte Lukas, als wäre es das Normalste der Welt.

»Das ist alles, was bei dir hängen geblieben ist?«

»Ja, was sonst? Schließlich ist es eine verlockende Idee. Offensichtlich weiß sie Bescheid. Ich meine, wer wollte nicht schon mal – zumindest gedanklich – den einen oder anderen Menschen aus seinem Leben beseitigen? Elegant und manchmal eben auch radikal, weil manche Menschen einfach nerven. Jedenfalls wäre es hin und wieder doch ganz befreiend, jemanden loszuwerden, und zwar so, dass es sich endgültig erledigt hat und dieser Mensch für einen gestorben ist. Gepflegtes Eliminieren würde ich es nennen!«

»Und wen wolltest du schon mal gepflegt eliminieren?«

»Das verrate ich noch nicht. Wenn ich alles richtig verstanden habe, was du mir bisher erzählt hast, geht es doch darum, uns zu überlegen, wen wir aus unserem Leben beseitigen wollen. Also metaphorisch gesehen, vermute ich. Ich nehme an, wir sollen weiterhin die Guten bleiben und jetzt nicht wirklich die Axt schwingen.«

»Danke, jetzt hab ich ein richtig gutes Gefühl, mit dir in einem Wagen zu sitzen!«

»Gut so. Wir sollten alle achtsam sein, mit wem wir unsere Zeit verbringen.« Lukas grinste wie Chucky die Mörderpuppe und gäbe es nicht kaum einen Menschen, den ich besser kenne als ihn, hätte ich Angst bekommen.

»Du denkst also, du kennst mich. Aber wie gut kennen wir die Menschen in unserem Leben denn wirklich? Das ist doch die Frage. Oder glaubst du, die beste Freundin vom Campus-Killer hätte ihn nicht für einen guten Menschen gehalten? Natürlich hat sie das, sonst wären sie nicht befreundet gewesen.«

»Ich glaube nicht, dass Ted Bundy eine beste Freundin hatte.«

»Zumindest hatte er eine feste Freundin, das habe ich letztens gelesen. Die hat vermutlich anfangs auch nichts geahnt.«

»Bevor du mir jetzt richtig Angst machst, lass mich ein wenig Licht ins Dunkel bringen. Ich habe nämlich extra Charlys Brief eingepackt. Möchtest du hören, was genau drinnen steht?«, fragte ich, während ich zwischen all den Snacks danach kramte und ihn etwas verknittert aus dem tiefschwarzen Kuvert hervorzog. Da hatte es wohl jemand sehr ernst gemeint, der geheimnisvollen dunklen Seite gehörig Ausdruck zu verleihen.

»Ich schätze eher, du möchtest ihn gerne vorlesen. Also leg los! Noch sind wir nicht auf der Autobahn. Wir haben jederzeit die Chance umzukehren.«

»Du wirst dich doch jetzt nicht aus der Sache herauswinden?« Ich grinste Lukas von der Seite an. »Genau das hast du damals zu mir gesagt, erinnerst du dich?«

»Ja, ich erinnere mich. Siehst du, du rächst dich doch!«

»›Rache‹ ist ein böses Wort. Ich würde es eher ›Karma‹ nennen. Also hör zu. Du weißt noch, wer Charly ist, oder?«

»Ja, diese neue Freundin von dir ... ich erinnere mich. Die mit dem unsympathischen Typen, der sie ständig wie Scheiße behandelt, und sie ist trotzdem immer noch unfassbar verliebt in ihn.«

»Na ja ... leider. So in etwa war das wirklich. Aber ... Konstantin gibt es nicht mehr!«

»Halleluja, hat sie ihn endlich stehen lassen?! Oder, komm, hör auf, hat sie ihn etwa ... umgebracht?!«

»Ja genau, und wir werfen jetzt alle gemeinsam seine Leiche in den See ...« Ich konnte mein Kopfschütteln nicht unterdrücken.

»Schade ... das wäre wenigstens spannend gewesen. Liest du mir jetzt irgendein Liebesgeplänkel vor?«

»Also wenn du mich fragst, ist es das Gegenteil davon. Und was Konstantin anbelangt, war es leider genau umgekehrt: Er hat sie abgeschossen. Ebenfalls im metaphorischen Sinn. Und natürlich ist es gut, dass er nicht mehr in ihrem Leben ist, aber leider hat nicht sie den Schritt gemacht, sondern er hat sich von ihr getrennt. Also wenn man überhaupt von Trennung sprechen kann. Er hat sie nämlich von einem Tag auf den anderen geghostet. Weg war er! Und bis heute hat er sich auf kein Gespräch eingelassen. Da du ja schon ein wenig über Charly weißt, kannst du dir ausmalen, dass sie es nicht besonders gut aufgenommen hat. Überhaupt war das bisher nicht Charlys Jahr. Nach allem, was passiert ist, hat sie eine Therapie bei Paul begonnen, und es lief eher so mittel – manchmal besser, manchmal schlechter, bis sich ihre Wut gemeldet hat.«

»Und sie jetzt Menschen umbringen will?«

»Lukas, bitte! Es kam jedenfalls der Zeitpunkt, an dem sie richtig wütend wurde. Paul meinte, das wäre eine gute Sache. Wut sei wichtig und der erste Schritt, um loszulassen. Etwa zu dieser Zeit lernte sie sogar jemand Neuen kennen.«

»Sie hat wütend jemand Neuen kennengelernt? Das sind ja gute Voraussetzungen!«

»Ja, eben. So optimal ist das nicht. Jedenfalls scheint ihr alles zu viel geworden zu sein und da hat sie einen Brief an ihre engsten Freunde verfasst. Anscheinend haben alle denselben bekommen, es sieht nämlich so aus, als hätte sie die Namen nachträglich eingefügt. Sie schreibt da von uns, aber wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass der Brief kopiert wurde.« Ich hielt ihn etwas geneigt gegen das Tageslicht. Danach begann ich zu lesen.

Liebe Andrea,

Alle Menschen, die mir wirklich nahestehen (und herzliche Gratulation, du zählst offensichtlich zu ihnen) haben es bereits mitbekommen. Das letzte Jahr war alles andere als leicht für mich. Um ehrlich zu sein, war es genau das Gegenteil. Es war beschissen. Manchmal frage ich mich, ob das Leben sich eine Zigarette anzündet, nachdem es mich gefickt hat. Es war jedenfalls so beschissen, dass ich letztens zu meinem Therapeuten gesagt habe, er soll doch bitte endlich etwas unternehmen, sonst bringe ich noch jemanden um! Auf jeden Fall will ich ausmisten. So richtig! Was Marie Kondo mit Kleidungsstücken in Schränken anstellt, habe ich mit einigen Menschen in meinem Leben vor. Aufräumen mit Methode! Ich möchte alle beseitigen, die mir nicht guttun, und mich freimachen. Ich persönlich hätte weder vor Müllsäcken noch vor irgendwelchen Tonnen zurückgeschreckt. Aber Paul meinte, das wäre karmatechnisch keine so gute Idee, und er würde sich etwas überlegen. Für alle, die nicht wissen, wer Paul ist: Das ist mein Therapeut. Aber ich glaube, ich habe ohnehin schon der ganzen Welt von ihm erzählt. Jedenfalls hat er mir in der darauffolgenden Sitzung unterbreitet, dass ich offenbar nicht die einzige Person in diesem Universum bin, der es guttäte, von dem einen oder anderen toxischen Menschen Abstand zu nehmen. Er hätte deshalb schon länger vorgehabt, ein Konzept dazu zu entwickeln. Während wir also gemeinsam über mögliche Orte sprachen, an denen er anderen seine Ideen an einem Wochenende näherbringen könnte, ist mir der Freund meines Vaters eingefallen, der dieses wunderschöne Hotel am Weissensee besitzt, das jetzt für längere Zeit geschlossen hatte. Diese verdammte Pandemie kam ja letztes Jahr auch noch dazu. Aber reden wir am besten nicht drüber. Ich möchte einen fetten Strich unter dieses Jahr ziehen und all den Mist aus meinem Kopf und aus dem Herzen streichen ... und ein paar anstrengende Menschen gleich dazu! Jedenfalls fand Paul die Idee mit dem Hotel am See richtig gut. Er konnte wohl einen sehr guten Deal aushandeln und hat mir im Gegenzug angeboten, alles vorab mit meinen engsten Freunden auszuprobieren. Als Experiment sozusagen! Und alles völlig kostenlos! Die Übernachtungen im Hotel und ein Wochenende für uns alle, an dem ihr euch überlegen könnt, wen ihr loswerden wollt. Ciao Kakao und bis Baldrian! Also selbst wenn ihr nicht die allergrößte Lust darauf habt, dann möchte ich euch gerne dazu zwingen, mir dieses Geschenk zu machen. Ich brauche das. Dringend! Und vielleicht wisst ihr es nur noch nicht, aber ihr könnt es auch gebrauchen! Paul meint nämlich, es zahle sich aus, immer mal wieder Inventur zu machen, das Lebenslager aufzuräumen und zu entscheiden, was – oder in dem Fall wer – fliegt. Glaubt mir, es wird uns allen guttun! Davon bin ich überzeugt. Und solltet ihr euch jetzt denken: Nein, in meinem Leben gibt es absolut niemanden, den ich aussortieren möchte, dann kommt schon! Grabt tiefer! Irgendwo unter der Oberfläche versteckt sich bestimmt der eine oder andere Energievampir, der euch immer wieder das ganze Blut aus dem Körper saugt und euch dabei ziemlich blass aussehen lässt und ohne die oder den euer Leben viel leichter wäre! Und genau dahin möchte ich mit euch. In Leichtigkeit passieren nämlich die guten Dinge, und man kommt seinen Träumen viel schneller näher, meint Paul. Diese Leichtigkeit, die gab es doch mal in meinem Leben? In eurem auch? Könnt ihr euch noch daran erinnern? Ich mich nur noch verschwommen. Also lasst uns Klarheit hineinbringen und sie finden! Und bringt feste Schuhe und eine Regenjacke mit.

Eure Charly

PS: Ach ja, Freitag, den 26. November geht’s los. Am Sonntagabend darauf fahren wir wieder zurück. Auf der Rückseite findet ihr die Adresse und alle Details. Ausreden werden keine angenommen.

»Da musste sie sich also unbedingt das Wochenende aussuchen, an dem ich nach Wien komme?«, meinte Lukas, und sein Blick erklärte den Rest.

»Ja, das kann kein Zufall sein! Das Leben scheint es äußerst gut mit dir zu meinen und unbedingt wollen, dass du dabei bist. Als Charly erfuhr, dass ich dich auf keinen Fall nach Wien reisen lassen möchte, ohne dich zu sehen, meinte sie sofort, du solltest einfach mitkommen. Du hättest sie hören sollen! Sie war begeistert! Sie kennt dich ja bereits aus meinen Erzählungen.«

»Und da möchte sie immer noch, dass ich dabei bin? Eigenartig. Glaubst du übrigens, dass sich einige darüber gewundert haben, warum sie ihren Therapeuten mit dem Vornamen anspricht? Man könnte beinahe denken, sie schläft mit ihm.«

»Lukas, bitte! Wer sollte so etwas denken?! Schließlich ist sie bei ihm in Therapie, und da wäre das aus ganz vielen Gründen höchst unprofessionell. Außerdem wissen doch alle Bescheid, das schreibt sie sogar im Brief. Und dass wir uns damals im Seminar mit ihm geduzt haben, ist natürlich im Nachhinein wieder schwer rückgängig zu machen. Selbst du weißt davon, und du warst auch nicht dabei!«

»Ja, okay. Aber Paul muss doch wissen, dass du bestimmt wieder ein Buch darüber schreibst, oder genießt er den Star-Status?«

Ich musste lachen. »Ja, vielleicht tut er das. Sollte er jedenfalls. Ist doch eine gute Sache! Es wird sicher wieder spannend mit ihm. Schließlich können wir alle viel von ihm lernen.«

»Wenn man das möchte?«

»Wollen ist auch eine Entscheidung.«

»Und schon wieder tauchen wir ein ... in die unendlichen Tiefen der Erkenntnis.«

»Klar. An der Oberfläche geht’s schließlich nicht zum Kern.«

Wer in die Tiefe vordringt, schafft Raum für unentdeckte Höhen.

DRAMA PANORAMA

Und sonst?«, fragte mich Lukas, und wir vergaßen für ein paar Stunden alles, was sich irgendwann einmal schwer angefühlt hatte oder noch so anfühlen könnte. Wir hörten nicht auf, uns zu erzählen, was wir die letzten Monate alles erlebt hatten, was uns gerade beschäftigte und uns bewegte. All unsere Gedanken, sie rasten in hoher Geschwindigkeit, als hätten sie nur auf diesen einen Moment gewartet, auf der Südstrecke zum Weissensee endlich in Worte zu finden und mit uns mitzureisen.

Es war wie damals, als wir noch Kinder waren und sich unsere Mütter immer fragten, wie um Himmels willen wir einander nur verstehen konnten, weil doch alles fast gleichzeitig aus uns heraussprudelte. Aber wir verstanden uns und noch vielmehr: Wir genossen es. So lange hatten wir uns aufgrund der Pandemie nicht mehr gesehen. Und endlich holten wir alles nach, was wir uns vielleicht noch nicht oder bereits tausendmal über das Telefon erzählt hatten. Es fühlte sich anders, so viel besser an, als wir wieder Seite an Seite, so dicht nebeneinandersaßen. Als hätte uns nichts jemals voneinander getrennt. Weder das Virus noch die Zeit, und rein gar nichts, das zwischen uns lag.

Als wir ganze viereinhalb Stunden und gefühlte vierzehn Snacks weiter lachend durch das Drautal Richtung Neusach fuhren, schob sich zu unserer rechten Seite plötzlich der majestätisch im Sonnenlicht funkelnde See hervor, der sich wie ein ständig knipsendes Radar in wahnwitzig schnellen Bildern zeigte und uns dabei seine unfassbare Schönheit offenbarte. Beeindruckt von seiner Vollkommenheit, sprachen wir bis zur Einfahrt des Hotels kein Wort mehr. Ich spürte plötzlich eine unendliche Ruhe, obwohl doch gleichzeitig so viel Spannendes vor uns lag.

Als wir auf den Parkplatz des Hotels einbogen und dort anhielten, konnte ich Lukas’ Staunen in seinen Augen hervorblitzen sehen. Ich hätte ihn daran erinnern können, dass ich ihm bereits im Vorhinein versucht hatte zu erklären, wie sehr es ihm hier gefallen würde. Stattdessen schwieg ich und genoss den Blick auf das traumhafte Hotel, den Zauber des dahinterliegenden Sees – und das Staunen meines besten Freundes, von dem ich wusste, dass er nicht leicht zu beeindrucken war, es aber in dem Moment passierte.

»Ahhhhh, da seid ihr ja!«, durchbrach Charly die Stille und startete aufgeregt vom Eingang auf uns zu. Sie fiel mir in die Arme und drückte mich fest, ließ mich dann aber gleich wieder los und umarmte im nächsten Moment auch schon Lukas.

Für einen kurzen Augenblick hatte ich große Sorge, er würde bereits alles bereuen und auf der Stelle umkehren wollen, schließlich wusste ich, wie wenig er Umarmungen mochte. Noch weniger, wenn es sich um die fremder Menschen handelte. Genau das war Charly nämlich für ihn, obwohl sie so tat, als kannten sie sich bereits ewig. Das war aber schon deshalb nicht möglich, da Lukas kaum jemandem die Ehre einer Freundschaft erweist, weil er die meisten Menschen schlicht und ergreifend nicht leiden kann. Selbst dann nicht, wenn er sie gar nicht kannte. Manchmal aber auch gerade deshalb nicht. Das machte kaum einen Unterschied.

»Ich kann es gar nicht erwarten! Das wird so toll!«, rief sie völlig aus dem Häuschen. »Kommt schnell, schnappt euch euer Gepäck, ich muss euch alles zeigen ...«

Lukas sah mich verstört an, als Charly bereits Richtung Eingang lief. Ich wusste, was er sagen wollte, und blickte ermutigend zurück. Dabei schüttelte ich zweimal leicht den Kopf, was in etwa so viel bedeutete wie: Du brauchst keine Angst haben, es wird nicht so anstrengend, wie du gerade denkst und ... Nein, wir fahren jetzt nicht wieder zurück! Er zog beide Augenbrauen hoch, als hätte er mich verstanden, und folgte Charly wortlos.

»Sucht euch irgendein Zimmer aus! Jeder eines! Das Hotel hat noch geschlossen, ihr könnt also frei wählen. Nur das Panorama-Apartment im Dachgeschoss nicht, da treffen wir uns alle gleich heute Abend zu kleinen Häppchen und Wein mit Blick auf den See. Ansonsten empfehle ich euch, eines von den höheren Zimmerzahlen auszuwählen, vielleicht 204 und 206, die haben einen wunderschönen Seeblick!« Sie zeigte dabei auf die Wandleiste mit den Zimmerschlüsseln. Charly tat so, als gehörte ihr das Hotel. Sie machte sich gar nicht so schlecht als Hotelbesitzerin. »Adelina, die Geschäftsführerin und gute Seele des Hauses, hat mir eine kleine Hotelführung bei der Schlüsselübergabe gegeben. Sie hat außerdem dafür gesorgt, dass sogar die Küche immer wieder besetzt ist – für Frühstück, Mittag- und Abendessen ist daher gesorgt.«

»Wow, einfach unglaublich!«, sagte ich und sah dabei Lukas an. Gleich darauf griff ich nach dem Schlüssel 204 und drückte ihn Lukas in die Hand, während ich mir die Nummer 206 schnappte, weil ich die Sechs irgendwie stimmiger fand. Über die Logik dahinter könnte man natürlich diskutieren, aber es machte trotzdem sehr viel Sinn für mich.

»Wir treffen uns alle um 18 Uhr im Panorama-Apartment im dritten Stock ... Ich bin schon so gespannt, was ihr sagt! Der Seeblick ist einfach der Hammer! Aber ich will nicht zu viel verraten, ihr werdet es selbst sehen ... bis später!«, rief sie und verschwand irgendwo im Nirgendwo, als sie um die Ecke des Treppenhauses bog. So war Charly. Irgendwie nie ganz greifbar. Schnell da, aber auch genauso rasch wieder fort.

»Häppchen? Und was gibt es zu essen?« Lukas sah mich skeptisch an.

»Du wirst schon nicht verhungern! Und falls doch, bestellen wir uns später von irgendwo eine Pizza aufs Zimmer. Einverstanden?«

»Ja, okay. Auch wenn ich das Gefühl habe, ohnehin keine Wahl zu haben.«

»Du hast immer die Wahl. Wie du dich fühlst, kann dir niemand vorschreiben.«

»Hungrig?«

»Wie wär’s mit neugierig? Voller Vorfreude! Und später zufrieden, weil gerade das, was derzeit gar nicht deiner Vorstellung entspricht, am Ende vielleicht das Beste für dich ist. Wenn du die Kontrolle abgibst und dem Leben vertraust, könnte es nämlich ganz ohne Erwartung eine richtig gute Erfahrung werden.«

»Ganz schön viel hineininterpretiert in so ein winziges Horsd’oeuvre.«

Egal, was dir das Leben anbietet, du hast immer die Wahl, wofür du dich entscheidest, wie du dich dabei fühlst und was du daraus machst.

REALISMUS IN HÄPPCHEN

Bereit?«, fragte ich Lukas, während ich die Klinke zum Panorama-Apartment hinunterdrückte und die Tür dramatisch aufzog, um ... keine einzige Menschenseele darin vorzufinden. Dafür brachte ich für den Moment kein Wort mehr heraus, weil sich über die riesige Panoramafront direkt vor uns der gesamte Weissensee in atemberaubender Eleganz ausbreitete.

»Deshalb nennt es sich also Panorama-Apartment! Da haben sie nicht übertrieben.«

Ich war zuvor in meinem Zimmer bereits von dem hellen Holz und dem satten Türkisgrün der Inneneinrichtung beeindruckt gewesen, die zusammen die perfekte Harmonie von Wald und See widerspiegelten, aber das hier übertraf tatsächlich alles. Obwohl es schon fast dunkel war, durchflutete das verbleibende Licht den hohen Raum bis in die höchste Spitze des Dachgiebels. Über die nicht enden wollende Glasfront blieb das Gefühl, als stünden wir mitten am See, dessen grenzenlose Weite von den umliegenden Wäldern beeindruckend umspielt wurde.

»Das ist einfach unglaublich!«, platzte es aus mir heraus.

»Ja, schon. Aber kurze Zwischenfrage ... was ist mit den anderen? Hatten sie keinen Bock?!«, fragte Lukas und sah dabei auf die Uhr. Der Ausblick schien ihn nicht satt zu machen.

»Ach, die werden schon noch kommen. Und bis dahin haben wir das alles ganz für uns alleine! Wie schön kann ein Raum eigentlich sein?!« Ich kam immer noch nicht aus dem Staunen heraus.

»Sehr schön?« Lukas war sichtlich noch etwas irritiert. »Nein, ehrlich. Es ist wirklich schön hier. Aber auch Häppchen sehe ich keine weit und breit ...«

»Ach, daaaa seid ihr!«, rief Charly, nachdem sie scheinbar unbemerkt den Raum betreten hatte und plötzlich hinter uns stand. »Ihr seid im falschen Apartment! Das hier ist das Panorama-Apartment Morgenrot, wir sind im Bergspitz. Kommt!«, rief sie und winkte uns weiter in den Flur und von da aus zur nächsten Eingangstür, die ich davor gar nicht gesehen hatte.

»Ach es gibt zwei davon?«, fragte ich immer noch beeindruckt, »... mit derselben Aussicht?!«

»Ja, keine Sorge! Es ist genauso traumhaft dort. Nur gibt es auch Essen und Wein!«

»Gott sei Dank!«, hörte ich Lukas erleichtert hinter mir murmeln, und wir folgten Charly in das andere Apartment. Es sah tatsächlich sehr ähnlich aus, und der Ausblick war ebenso atemberaubend, nur mit dem Unterschied, dass ein Raunen den Raum ausfüllte, da sich alle anderen bereits eingefunden hatten und angeregt unterhielten. Das war auch nicht weiter überraschend. Schließlich hatten sie alle eine Gemeinsamkeit: Sie kannten Charly und waren miteinander befreundet. Nur Paul stand etwas weiter vorne am Panoramafenster und fügte sich optisch ganz gelungen in das Gesamtbild ein.

»Immer noch eine Schnitte«, haute mich Lukas zwinkernd von der Seite an. »Wie frisch in Photoshop bearbeitet – als hätte man ihn nachträglich in die Aussicht hineinretuschiert! Ich meine, sieh dir nur seine Augen an – sie haben exakt dieselbe Farbe wie der See! Das ist schon fast unangenehm. Auf Instagram würden wir uns jetzt alle fragen, welchen Filter er benutzt!«

Als Paul uns sah, startete er direkt auf uns zu, und ich war froh, dass er nichts von dem hören konnte, was Lukas von sich gab.

»Andrea! Ich freu mich sehr, dass ihr da seid! Charly hat schon erzählt, dass du in Begleitung kommst«, sagte er und sah wohlwollend zu Lukas.

»Oh ja, ich freue mich auch sehr, es ist so unfassbar schön hier!«, meinte ich noch schnell, bevor Lukas etwas Unangebrachtes sagen konnte. »Das ist Lukas, mein bester Freund! Er ist für das Wochenende in Österreich und wollte gerne mitkommen.«

»Oh, das wollte ich unbedingt, ja …«, erwiderte Lukas und streckte Paul auch schon seine Hand entgegen. Niemand außer mir verstand den Sarkasmus in seinen Worten, das beruhigte mich ein wenig.

»Kennen wir uns nicht von irgendwoher?«, fragte Paul nach und überlegte.

»Ach, nein!«, unterbrach ihn Lukas mitten im Gedankengang. »Ich habe einfach ein Allerweltsgesicht. Sie wissen gar nicht, wie oft ich das höre! Da dürften wohl ein paar sehr ähnlich aussehende Gene auf dieser Welt im Umlauf sein. Auch wenn ich mich natürlich trotzdem selbst für einzigartig halte.«

Paul lachte. Ich für meinen Teil war gewohnt, dass Lukas die Wahrheit gerne blumig umschrieb. Offensichtlich wollte er nicht verraten, dass er ihm schon mal begegnet war.

»Wollen wir uns der Einfachheit halber auch duzen?«, fragte Paul. »Ich habe es den anderen bereits angeboten. Da wir hier ja noch jede Menge Zeit miteinander verbringen werden, ist das doch irgendwie sympathischer.«

»Sympathisch, ja!«, meinte Lukas, und ich konnte wieder Chucky die Mörderpuppe in seinem Lächeln erkennen. Ich wollte lieber nicht hinterfragen, was sich in seinem Hirn gerade so zutrug.

»Wir werden die kommenden Tage sicher noch viel Zeit zum Plaudern haben«, erklärte Paul und drehte sich im nächsten Moment auch schon wieder weg. »Dann wollen wir mal, würde ich sagen!«, rief er mit etwas lauterer Stimme in den Raum. »Was meint ihr, sollen wir uns alle an den Tisch setzen und langsam starten?!« Er deutete auf den großen Holztisch, der direkt vor der gigantischen Aussicht zum Panoramafenster positioniert war und auf dem bereits einige Gläser, zwei Wasserkaraffen und vier Flaschen Wein in Kühlern bereitstanden. Es sah alles sehr einladend aus. »Holt euch doch noch etwas zu essen und macht es euch gemütlich. Danach würde ich gerne ein paar Worte sagen.« Er sah wieder zu uns hinüber, und ich fand seine Attraktivität zugegebenermaßen immer noch etwas irritierend. Daran hatte sich im Vergleich zum letzten Mal rein gar nichts geändert. Lukas hingegen blieb auf das Wesentliche konzentriert und startete bereits auf die Kücheninsel mit den Häppchen zu. Es schien, als wären sie allein der Grund, warum er überhaupt hier war.

Ein paar hatten sich bereits etwas von dem wunderschön angerichteten Essen geholt und stellten ihre Teller am Tisch ab, und auch Lukas kam mir bereits mit seinem entgegen.

»Spoiler! Da sind nicht nur Häppchen, es gibt auch Quiche und Flammkuchen!« Er grinste dabei, als hätte er den Jackpot geknackt.

»Aber Hauptsache, schon im Vorhinein meckern! Kann es sein, dass sich hier jemand gelegentlich selbst im Weg steht, indem er immer vom Schlechtesten ausgeht?«

»Dem möchte ich entschieden widersprechen. Wenn ich negativ denken würde, wäre ich ein Pessimist. Ich bin aber Realist. Und realistisch gesehen, hätten mich Häppchen nicht glücklich gemacht.«

»Aber realistisch gesehen gibt es ja nicht nur Häppchen!«, hielt ich entgegen, und obwohl ich noch pappsatt von den unzähligen Snacks der Autofahrt war, lud ich selbstverständlich trotzdem ein paar Spinatteigtaschen auf meinen Teller und drapierte dazu einige gesunde Karottenstreifen für den positiven Gesamteindruck an der Seite. »Du bist also falschgelegen mit deinem negativen Häppchen-Realismus«, fügte ich noch hinzu.

»Ich wurde falsch informiert!«

»Oder du gehst in deiner Welt einfach nie davon aus, dass sich alles zu deinem Besten entwickeln könnte. Möchtest du jetzt recht haben oder dich einfach darüber freuen, dass alles viel besser gekommen ist, als du dachtest?«

»Von mir aus. Dann bin ich eben froh, dass das Glück nicht in kleinen Häppchen serviert wurde, sondern dass ich mir ein großes Stück reinschaufeln kann.«

»Satt wärst du aber so oder so geworden.«

Bevor Lukas wieder etwas erwidern konnte und wir uns vermutlich ewig im Perspektivenkreis gedreht hätten, unterbrach Paul unsere kleine Häppchen-Philosophie.

»Nehmt doch gerne auf den hinteren beiden Stühlen Platz«, deutete er uns und zeigte ans andere Ende des Tisches. Da sich alle anderen bereits hingesetzt hatten, blieb nur noch für einen von uns der Tischvorsitz direkt gegenüber von Paul, der als Einziger mit dem Rücken zum See saß.

Lukas sah mich an und blickte auf den leeren Platz am Tischende. »Da hast du die bessere Aussicht«, meinte er und schob den Sessel für mich nach hinten. »Auf den See, meine ich!«, ergänzte er noch und grinste.

»Falls du nicht möchtest, dass ich dich in Häppchen loswerde und an die Schwäne im See verfüttere, solltest du weniger frech sein und mich hier ein wenig unterstützen«, flüsterte ich ihm zu. »Alles zu deinem Besten! Du musst einfach lernen, dir nicht nur Häppchen, sondern das große Stück vom Glück zu gönnen«, flüsterte er zurück, setzte sich rechts an die Ecke neben mich und nahm einen extragroßen Bissen von seiner Quiche.

Ich fragte mich, ob Lukas recht behielt und wir im Leben immer nach dem Großen Ausschau halten sollten? Oder übersehen wir auf der Suche danach die vielen kleinen Stücke, die sich zusammen am Ende mindestens genauso groß anfühlen, wenn wir es nur zulassen? Vielleicht verlernen wir durch die Jagd nach den großen Stücken, die kleinen Häppchen zu schätzen, die längst vor uns liegen und nur darauf warten, von uns genossen zu werden. Oder war es tatsächlich so, dass es uns so viel schwerer fällt, nach dem Großen zu greifen, weil das Kleine uns bekömmlicher erscheint?

Die Wahrheit ist reine Fiktion. Erst durch unsere Gedanken wird etwas gut oder schlecht, unmöglich oder möglich.

OHNE SIE UMZUBRINGEN

Schön, dass ihr alle gekommen seid ....«, erklärte Paul, der wie bei einer Hochzeitsrede am vorderen Ende des Tisches aufstand. Es fehlte nur noch, dass er mit einem Löffel an ein Glas schlug, um uns zuzuprosten.

»Na ja, nicht alle ... aber dazu komme ich noch«, meinte Charly etwas genervt.

»Ahh ... verstehe.« Paul schien ein wenig irritiert, fuhr aber dann weiter fort. »Jedenfalls freue ich mich über alle, die nun hier sind. Ich denke, wir haben ein wirklich spannendes – und wer das Ambiente und die Landschaft schon auf sich wirken lassen konnte – auch ein wunderschönes Wochenende vor uns. Charly hat mir von ihrem Brief an euch erzählt. Darin hat sie euch bereits erklärt, was sie die letzten Wochen beschäftigt hat. Und genau dazu möchte ich mit euch ein Experiment wagen.«

»Keine Menschen umzubringen?«, flüsterte Lukas mir zu, aber vermutlich eine Spur zu laut, da alle plötzlich lachten.

»Ja, so könnte man es auch beschreiben. Aber vielleicht möchtest du mal kurz erklären, was du in einer unserer letzten Sitzungen zu mir gemeint hast, Charly?«, antwortete Paul, den nichts so leicht aus der Fassung brachte.

»Okay, ja ... ich würde sagen, etwa dasselbe, was ich auch in dem Brief geschrieben habe. Es läuft einfach ziemlich beschissen bei mir! Ich habe seit geraumer Zeit das Gefühl, dass mich etwas zurückhält. Als würde ich ständig losrennen und mich wirklich anstrengen voranzukommen, aber trotzdem immer wieder auf derselben Stelle treten! Nichts ändert sich, eher das Gegenteil ist der Fall. Es ist alles so fürchterlich schwer und anstrengend! Ob im Job mit meinem mühsamen Chef oder privat die Geschichte mit Konstantin, die eigentlich hinter mir liegen sollte, aber irgendwo mitten in meinem Herzen festhängt ... oder dieser neue Mensch, der jetzt an meiner Seite ist, den ich aber die meiste Zeit gar nicht um mich haben möchte. Und dann wäre da noch Joanna, meine sogenannte beste Freundin, auf die ich mich nie wirklich verlassen kann! Genau das ist auch der Grund, warum sie hier wieder mal nicht mitgekommen ist! Es war ihr anscheinend nicht wichtig genug. Ich war es nicht! Ich könnte noch so viele Menschen aufzählen, die mich in den Wahnsinn treiben. Ich meine, wie viele anstrengende Menschen laufen da draußen eigentlich herum und vergiften die Welt mit ihren Einstellungen, ihrem Benehmen und einem Horizont, der nicht mal über ihren durchsichtigen Einwegbecher hinausreicht?! Und trotzdem stellen sie ihre Meinung überall einfach so ab und verdrecken die Welt damit. Ich habe das Gefühl, sie alle halten mich davon ab, glücklich zu sein. Also so richtig! Dabei möchte ich endlich wieder das Gefühl haben, mich leicht zu fühlen, das Leben zu genießen und Freude zu empfinden! Aber ich fühle nichts mehr. Und wenn doch, dann nur Wut und manchmal sogar Hass, weil jeder so egoistisch ist und keiner sich mehr Mühe gibt, diese Welt zu einem freundlicheren Ort zu machen. Oder aber sie kriechen einem in den Arsch, nur um geliebt zu werden, was mindestens genauso erbärmlich ist. Wenn ich es zusammenfasse, dann nerven mich gefühlt alle Menschen auf diesem Planeten. Anwesende hier ausgenommen. Die nur manchmal!« Sie lachte, aber es war ihr anzumerken, wie sehr sie das alles mitnahm.

»Bist du denn dieser freundliche Mensch?«, fragte Paul nach. »Bitte?«

»Ob du dieser freundliche Mensch bist? Vor allem zu dir selbst? Für das eigene Wohlbefinden ist es nämlich empfehlenswert, freundlicher zu sich selbst zu sein, wenn es die Welt da draußen schon nicht ist. Oder wir es so empfinden. Wir alle kennen diese Phasen, in denen wir denken, die Welt oder mindestens der Großteil davon hätte sich erfolgreich gegen uns verschworen. Böse Vorgesetzte, eine anstrengende Schwiegermutter, unfreundliche Nachbarn, die eigenen Eltern, Freundinnen oder Freunde, von denen wir uns im Stich gelassen fühlen, Menschen, die uns irgendwann verlassen haben ... vielleicht aber auch andere, die unsere Liebe nicht erwidern und uns einfach nicht zu schätzen wissen, unsere Bedürfnisse ignorieren, sich mit Ellenbogen durchkämpfen, sich schlicht furchtbar verhalten und keine Rücksicht nehmen ... es gibt unzählige Varianten. Wer auch immer das sein mag, es kommt uns vor, als hätten sie es auf uns abgesehen. Und ganz ehrlich, manchmal ist es auch so. Nicht alle Menschen meinen es gut mit uns. Meistens deshalb, weil sie es auch nicht gut mit sich meinen. Tatsache ist, dass es einige Menschen gibt, die uns nicht guttun. Und genau deshalb möchte ich mit euch ein Experiment wagen, in dem wir herausfinden, welche Menschen das sind, warum sie euch zu schaffen machen und wie ihr dem Ganzen ein Ende setzt. Es geht also darum, was ihr tun könnt, um Menschen loszuwerden, die euch nicht guttun – ohne sie umzubringen. Erst dann könnt ihr nämlich euer bestes Leben führen und habt die Kraft, eure Wünsche zu verwirklichen. Und das solltet ihr euch wert sein! Jetzt könntet ihr natürlich denken, dass da gar nichts zu machen ist und ihr ohnehin nichts tun könnt, weil manche Menschen sich eben nie ändern. Aber das ist nicht ganz richtig. Vielleicht ist es Zeit, etwas für euch selbst zu ändern, denn dann ändert sich alles. Charly hat recht damit: Wenn ihr das Gefühl habt, dass euch etwas im Leben davon abhält, wirklich glücklich zu sein und eure Träume zu verwirklichen, dann könnt ihr nicht nur etwas ändern. Ihr solltet es auch!«

Ich sah zu Lukas und war mir sicher, dass er bereits neugierig geworden war, es aber natürlich niemals zugeben würde.

»Also werfen wir keine Leichen in den See?«, meinte er stattdessen trocken und setzte wie immer seinen Humor als Waffe gegen aufkeimende Emotionen ein. »Falls doch, bitte nicht meine. Ich bin übrigens Lukas, für alle, die mich noch nicht kennen.«

»Doch, das werden wir! Vielleicht jetzt nicht deine, aber wir werden Leichen über Bord werfen«, erwiderte Paul ganz ernst, und auch wenn ihn vermutlich keiner für einen kaltblütigen Auftragsmörder hielt, der mir dabei unweigerlich in den Sinn kam, hatte er trotzdem plötzlich unsere ganze Aufmerksamkeit.

»Nachdem mir Lukas schon während der Fahrt erklärt hatte, dass wir sogar Menschen, von denen wir denken, sie richtig zu kennen, nie wirklich ganz kennen, bin ich mal gespannt! Ach ja, und um das Kennenlernen zu vereinfachen: Ich bin Andrea. Eventuell auch Annie Wilkes aus Stephen Kings Misery, und mein bester Freund hier zu meiner Rechten könnte der Zwillingsbruder von Hannibal Lecter aus Das Schweigen der Männer ... äh ... Lämmer sein!« Ich versuchte, eine anstrengende Vorstellungsrunde geschickt zu umgehen.

Alle lachten. Ich war zwar nicht sicher, ob das der allerbeste Einstieg für ein Kennenlernen war und mich damit alle für verrückt oder zumindest für verrückt mit Humor hielten. Letztendlich stimmte das aber ja auch irgendwie.

»Zwillingsbruder? Wirklich?!!«, brummte Lukas mit ironischem Unterton und lachte als Einziger nicht. »Also ganz ehrlich, du brauchst dringend eine Brille«, fügte er noch hinzu.

»Zweieiig natürlich und der Gewinner bei der Verteilung der optischen Pluspunkte im Genpool. Zufrieden?«

»Komm schon. Er könnte mein Vater sein! Wenn er früh begonnen hat, auch mein Großvater. Also bitte ...«

»Ein Bild! Es ist doch nur ein Bild dafür, dass alles möglich ist. Ich sehe hoffentlich auch nicht aus wie Annie Wilkes ....« Ich kam mir vor wie in der Schulzeit, in der wir uns gegenseitig aufzogen, um auf keinen Fall aufzupassen und später keinem mehr folgen zu können. Und das, obwohl wir nie an derselben Schule gewesen waren.

»Warum denkt ihr, dass Horrorfilme und Thriller so beliebt sind?«, stellte Paul plötzlich die Frage in den Raum, um sie im nächsten Moment gleich selbst zu beantworten, denn er sah in ahnungslose Gesichter. »In der Psychologie sprechen wir von der sogenannten Angstlust, und begegnen darüber hinaus der unheimlichen Faszination des eigenen Schattens, wie Carl Gustav Jung ihn bezeichnete. Dabei handelt es sich um alle von uns selbst abgelehnten Gefühle wie Angst, Wut oder Rache, die wir durch die Beobachtung bei anderen auf gewisse Weise genießen, aber gleichzeitig auch verabscheuen, weil wir sie uns selbst nicht gestatten. Diese Filme spielen daher mit unseren innersten Urphobien. Wenn wir beispielsweise Angst fühlen, allerdings gleichzeitig die Sicherheit haben, dass uns nichts passieren kann, weil wir mit Popcorn auf der Couch sitzen, und unser Gehirn weiß, dass wir da natürlich wieder lebend rauskommen, kann es uns sogar einen gewissen Lustgewinn bescheren, die Aggression anderer zu beobachten. Manchmal befriedigen wir damit sogar eine gewisse Wunschvorstellung, weil ein Teil von uns die eigene Aggression nicht leben kann, vielleicht aber leben möchte und wir sie über die Fiktion zumindest ein wenig miterleben können. In der Wahrnehmungspsychologie geht es in der sogenannten Katharsis-Hypothese im weitesten Sinne daher um die Befreiung von Aggressionen über die Beobachtung aggressiver Handlungen anderer. Das heißt jetzt natürlich nicht, dass wir dem Chef auch brutal den Kopf abhacken wollen. Aber vielleicht wünschen wir uns insgeheim, uns weniger gefallen zu lassen, und konnten diese Aggression bisher nicht zulassen, weil wir uns für besonders verständnisvolle Menschen halten, die nur das machen, was man ihnen sagt, oder weil eine gewisse Harmoniesucht dahintersteckt.«

»Das ist ja eine interessante Theorie ... Das würde bedeuten, dass dann vielleicht in uns allen ein gewisser Anteil von Hannibal Lecter steckt?«, meldete sich der blonde Sunnyboy gegenüber von Charly zu Wort und grinste. »Adrian übrigens.« Er hob die Hand. »Und ich muss sagen, ich hab Das Schweigen der Lämmer sehr geliebt. Sagt wohl einiges über mich ...«