AURIS

Vincent Kliesch

AURIS

Der Klang des Bösen

Knaur eBooks

Nach einer Idee von

Sebastian Fitzek

Inhaltsübersicht

Über Vincent Kliesch

Vincent Kliesch wurde in Berlin-Zehlendorf geboren, wo er bis heute lebt. Im Jahre 2010 startete er mit dem Bestseller »Die Reinheit des Todes« seine erste erfolgreiche Thrillerserie, weitere folgten. Die »Auris«-Reihe um den forensischen Phonetiker Matthias Hegel schreibt Vincent Kliesch nach einer Idee seines Freundes Sebastian Fitzek.

Prolog

Hegel

Vermutlich würde er bald sterben, aber im Augenblick hatte Matthias Hegel ganz andere Probleme. Vor ein paar Wochen war er heiser gewesen und hatte Schluckbeschwerden. Zwei Tage darauf warf er dann beim Husten Blut aus. Zu diesem Zeitpunkt war der studierte Mediziner noch von einem Lungenleiden ausgegangen, das er würde untersuchen lassen, sobald er etwas mehr Zeit dazu hatte. Und jetzt? Wie viel Zeit habe ich wohl noch? Die zerreißenden Schmerzen zwischen den Schulterblättern, die sich vor etwa einer Stunde plötzlich eingestellt hatten, konnte Hegel schließlich nicht mehr auf die lange Bank schieben, sodass er sich unverzüglich auf den Weg ins Herzzentrum Berlin aufgemacht hatte. Wenn er ehrlich zu sich war, ahnte er bereits, zu welchem Ergebnis man bei der Computertomografie gelangen würde. Und dennoch war es nicht die Sorge um sein Leben, die Matthias Hegel umtrieb. Wie konnte auch sein eigener Tod schlimmer sein als das Ende des Einzigen, was das Leben überhaupt lebenswert machte? Das Ende des Hoffens auf Erlösung von der Einsamkeit.

Patrizia war nicht am Treffpunkt erschienen. Und ob der Radiologe Hegels Vermutungen gleich bestätigen würde oder nicht, wie sollte ihm irgendetwas stärkere Schmerzen verursachen, als es der Platz getan hatte, der auf der Bank neben ihm leer geblieben war?

Mit sanftem Gleiten wurde Hegel in die Röhre des CT gefahren, ganz ruhig, den Blick regungslos nach oben gerichtet. Die Worte des Mitarbeiters drangen wie von weiter Ferne zu ihm vor, und sie waren auch nicht von Bedeutung. Hegel wusste, wie er sich zu verhalten hatte. Dass er still liegen musste, sich nicht bewegen durfte, ruhig und gleichmäßig atmen sollte. Jetzt, noch immer unter dem Eindruck der Enttäuschung, schenkte diese Röhre ihm sogar noch einen Augenblick der Stille, die er für eine kurze innere Einkehr nutzen würde.

So setzte er sich in seinen Gedanken noch einmal zurück auf die Bank im Garten von Schloss Sanssouci. Dahin, wo er gerade noch geduldig und hoffnungsvoll auf Patrizia gewartet hatte, sogar noch viel länger, als es zwischen ihnen vereinbart gewesen war. Auf diese eine, ganz bestimmte Bank unmittelbar neben dem Chinesischen Teehaus. Abseits vom großen Touristenstrom rund um das Schloss Friedrichs des Großen. Weit weg von den Terrassengärten und dem majestätischen Springbrunnen, weit weg von der Grabstelle des Preußenkönigs, die auf Wunsch Friedrichs ohne jeden Prunk gestaltet war und direkt neben dem Grab seiner Hunde lag. Abseits von dem Trubel der Reisegruppen, die kamen und gingen. So wie die meisten Menschen, denen man im Leben begegnete. Und die dadurch überhaupt erst den Wert der wenigen erschufen, die blieben. Tatsächlich oder im Herzen.

Hegel nahm gedanklich wieder da Platz, wo er und sie stets ungestört gewesen waren, ganz allein mit sich und dem, was keiner von ihnen hätte beschreiben können. Wozu auch, nicht jedes Gefühl bedurfte schließlich irgendwelcher Worte. Hegel hatte mit jeder Faser seines Herzens darauf gehofft, dass Patrizia kommen würde. Zu dieser Bank, auf der sie immer ungestört und unbeobachtet gewesen waren. In der Zeit, bevor Hegel ins Gefängnis gekommen war, weil man ihm vorgeworfen hatte, seine Frau ermordet zu haben. Damals, bevor der ganze Irrsinn losgegangen war, der seither sein Leben bestimmte.

Die Zeit mit Patrizia datierte vor dem Augenblick, in dem seine Welt schlagartig aus den Fugen geraten war. Hegels damalige Frau Johanna hatte schon lange nicht mehr an der gemeinsamen Ehe festgehalten, im Gegenteil. Von ihrer Arbeit beim Zeugenschutz hatte sie sich so sehr vereinnahmen lassen, dass sie sich nicht einmal mehr um ihre gemeinsame Tochter Mathilda gekümmert hatte. Und ja, Mathilda war nicht Johannas und Hegels leibliches Kind, doch was sollte denn das bitte für eine Begründung dafür sein, diesen liebevollen kleinen Engel nicht mit ganzem Herzen zu lieben? Wie konnte man denn überhaupt irgendeine andere Emotion für diesen wunderbaren Schatz gehabt haben? Rückblickend war Mathildas Ankunft in ihrer beider Leben wohl der Anfang vom Ende einer Liebe gewesen, die sich im Laufe der Zeit verflüchtigt hatte. In Gewohnheiten, Regeln und Vermutungen darüber, was der jeweils andere dachte oder nicht. Immer weiter hatten Hegel und Johanna sich voneinander entfremdet. So weit, bis es praktisch unausweichlich geworden war, dass Hegels Wunsch nach einem Menschen, von dem er fühlte, dass er zu ihm gehörte, übermächtig geworden war. Es war gar keine Absicht gewesen, er hatte nicht aktiv nach einer neuen Liebe gesucht. Er war schließlich kein Teenager mehr, und das Leben hatte ihn gelehrt, die Chancen auf wahre Liebe realistisch einzuschätzen.

Doch schließlich hatte das Schicksal es gewollt, dass er auf Patrizia getroffen war. Und das auch noch auf einer eher langweiligen Party in ihrer Villa am Kleinen Wannsee. Hegel hatte eigentlich gar nicht zu dem Empfang gehen wollen. Er hasste es, mit dummen Menschen, die sich wichtig vorkamen, weil sie reich waren, Small Talk zu halten. Doch dann hatte er wieder mit Johanna gestritten und war, um der gedrückten Stimmung zu Hause zu entkommen, schließlich doch noch in die Villa der Familie Berg gefahren. Der Regierende Bürgermeister von Berlin hatte auf der Gästeliste gestanden, zudem zahlreiche andere Hansel von Rang, Status oder Prominenz. Sogar einige Popstars aus früheren Zeiten hatten sich eingefunden, immerhin war Patrizias Ehemann, Martin Berg, früher einmal ein erfolgreicher Musikproduzent gewesen. Zumindest in der Zeit, bevor sich die Branche gewandelt hatte. Schließlich hatte Berg eine Baufirma gegründet, mit der er für so ziemlich alles, was in der Hauptstadt Rang und Namen zu haben glaubte, bereits tätig gewesen war.

Die Symptome auf die leichte Schulter zu nehmen war alles andere als vernünftig von ihm gewesen. Doch was hatte Vernunft Hegel in seinem Leben schon gebracht? Status und Geld, das schon. Aber wie stand es mit dem, was man nicht erwerben oder erlernen konnte? Mit dem, was wirklich zählte, gerade deswegen, weil es eben nicht zählbar war? War es vernünftig gewesen, Patrizia noch auf ihrem eigenen Empfang für den nächsten Tag zum Essen einzuladen, nachdem sie auf dieser ansonsten langweiligen Feier in ihrer Villa beinahe den ganzen Abend miteinander geredet und gelacht hatten? War es vernünftig gewesen, sie zu sich in sein Wochenendhaus einzuladen, während ihr Mann auf einer Geschäftsreise und ihr vierzehnjähriger Sohn Silvan zum Übernachtungsbesuch bei einem Freund gewesen war?

Nein, die Vernunft war eindeutig eine überbewertete Tugend. Eine, die man erst dann bemühte, wenn man keine überzeugenden Argumente mehr hatte. Schließlich trug Vernunft nur sehr selten etwas zur Lebensfreude bei. Natürlich war es nicht vernünftig gewesen, die Nacht mit Patrizia zu verbringen, und es wäre noch viel weniger vernünftig gewesen, danach ehrlich zu ihren jeweiligen Ehepartnern und Kindern zu sein. Wem hätte das helfen sollen, was wäre dadurch besser geworden? Sie hatten es für sich behalten, und das war beinahe schon zu einfach gewesen. Patrizias Mann war ohnehin so gut wie immer auf irgendwelchen Meetings oder Geschäftsreisen unterwegs, und Hegels Frau Johanna trieb sich damals entweder als angebliche Obdachlose vor Safehäusern oder als hochrangige Beamtin in irgendwelchen Besprechungsräumen herum. Platz für die Seele hatte es in keiner der beiden Ehen mehr gegeben, und das, was Hegel und Patrizia Berg miteinander verbunden hatte, war so kostbar für sie beide gewesen, dass sie es wie einen Schatz behandelten, der nur so lange sicher sein konnte, wie niemand außer ihnen beiden auch nur wusste, dass er existierte.

Und dann ist die Hölle losgebrochen.

Johanna wurde ermordet und Hegel dafür vor Gericht gestellt. Von einer Minute auf die andere hatte sich alles geändert, Hegel war in Untersuchungshaft genommen und nur wenig später innerhalb von nur zwei Prozesstagen zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die Welt war aus den Fugen geraten.

»Das wird sich alles klären, bald kommst du hier wieder raus.« Patrizia hatte bei ihrem Besuch in der JVA Moabit so gesprochen, als könne sie allein mit dem Klang ihrer Worte alles wiedergutmachen. »Aber ich weiß nicht, ob ich dann zu dir zurückkommen werde. Meinem Sohn geht es nicht gut, es wird immer schlimmer mit ihm. Und du musst für deine Tochter da sein, wenn du hier rauskommst. Sie hat ihre Mutter verloren, sie braucht dich jetzt mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt. Unter keinen Umständen kannst du es ihr antun, plötzlich mit einer anderen Frau dazustehen. Sie würde glauben, du hättest ihre Mama einfach ersetzt. Matthias, ich liebe dich, aber wir müssen diese wundervolle Reise beenden.«

Hegel erinnerte sich noch an seine Antwort, als sei es gestern gewesen. »Mathilda wird es nie erleben, dass ich eine andere Frau liebe als ihre Mama. Niemand wird das tun. Ich werde hier drinnen vermutlich viel Zeit zum Nachdenken haben. Aber ganz egal was dabei rauskommt, lass uns jetzt und hier etwas vereinbaren: Wenn ich aus dem Gefängnis komme, wann immer das auch der Fall sein wird, werde ich einfach am letzten Tag des Februars, der auf meine Entlassung folgt, um zwölf Uhr mittags für genau eine Stunde auf unserer Bank im Garten von Schloss Sanssouci sitzen. Wenn du dort hinkommst, dann weiß ich, dass wir zusammen sein werden. Nur für uns. Wenn du aber nicht zu unserer Bank kommst, akzeptiere ich deine Entscheidung, und du wirst nie wieder etwas von mir hören.«

Nein, es konnte kein Versehen gewesen sein, keine Unachtsamkeit. Patrizia konnte unmöglich entgangen sein, dass Hegel erst vor Kurzem unter großem Interesse der Medien freigesprochen worden war. Und sie konnte unmöglich den Februar vergessen haben. Den Monat, in dem sie sich kennengelernt und ineinander verliebt hatten. Dass Patrizia nicht zu ihrer gemeinsamen Bank gekommen war, konnte nichts anderes bedeuten, als dass es vorbei war. Und Hegel wurde spätestens hier, in dieser schrecklichen, seelenlosen Röhre, bewusst, dass er das Ende seiner vielleicht letzten echten Liebe nun endgültig würde akzeptieren müssen. Sein Handy vibrierte, als eine Nachricht einging. Eher aus einem Reflex denn aus Interesse heraus sah er auf das Display. Jula. Schon wieder. Bereits zum vierten Mal an diesem Tag. Hegel war sich durchaus im Klaren darüber, dass es wohl wichtig sein musste, wenn Jula ihn so dringend erreichen wollte. Doch genau aus diesem Grund hatte er ihre Nachrichten noch nicht gelesen, geschweige denn beantwortet. Nicht noch ein weiteres Problem. Nicht an diesem Tag.

»Herr Professor Hegel, kommen Sie bitte zu mir?« Kein Geringerer als der Chefarzt persönlich hatte sich die Mühe gemacht, sich das CT anzusehen.

Hegel trat mit ruhigen Schritten und in aufrechter Körperhaltung in das Sprechzimmer ein, nahm dem Arzt gegenüber am Schreibtisch Platz, lehnte sich zurück und überschlug die Beine.

Der Chefarzt sah Hegel mit Verbindlichkeit im Blick an. »Sie haben gewiss schon selbst Ihre Vermutungen angestellt. Die von Ihnen beschriebenen Symptome waren ja recht deutlich. Sie sind gerade noch rechtzeitig zu uns gekommen, Herr Kollege. Sie haben ein thorakales Aortenaneurysma, Stanford Typ A.«

»Also der aufsteigende Teil der Aorta.« Hegel war ganz ruhig, zumindest äußerlich.

»Professor Hegel, Sie müssen sofort in den OP, es könnte sonst sein, dass Sie die Nacht nicht überleben. Aber das muss ich Ihnen ja nicht erklären.«

Hegel regte sich nicht. »Irgendwann kommt für jeden von uns diese eine Nacht, die er nicht überlebt. Wissen Sie, wenn ich meine Tochter nicht hätte, wäre mir die heutige Nacht genauso recht wie jede andere auch. Aber ich habe meine Tochter ja – zum Glück. Also, wo muss ich hin?«

»Ich werde gleich einen OP vorbereiten lassen. Mit etwas Glück bekommen wir Sie vollständig wieder hin.« Der Chefarzt lächelte Hegel an. »Nach der Operation behalten wir Sie dann noch eine Woche hier, danach steht eine Reha an, mindestens vier Wochen. Sie bekommen unseren besten Operateur, das wird wieder!«

Gerade als Hegel darum bitten wollte, sich das CT-Bild ansehen zu können, vibrierte erneut sein Handy, das er vor sich auf dem Schreibtisch des Chefarztes abgelegt hatte. Doch dieses Mal war es nicht Jula, die etwas von ihm wollte. Oswald Holder vom LKA Berlin rief ihn an.

»Bitte entschuldigen Sie kurz. Ich weiß, das ist jetzt denkbar unpassend, aber wenn mich das LKA anruft, dann geht es in der Regel um sehr ernste Dinge. Da muss ich rangehen.«

Der Chefarzt sah Hegel eindringlich an. »Hier geht es auch um sehr ernste Dinge!«

Hegel griff sein Handy und nahm den Anruf entgegen.

»Können Sie spontan für ein Gutachten auf das Polizeirevier Wannsee kommen? Es müsste allerdings jetzt sofort sein, der Zeuge ist noch hier.« Holder klang so sachlich wie immer, wenn auch Dringlichkeit in seinen Worten mitschwang.

»Das ist gerade eher schlecht. Worum geht es denn?«

»Hier sitzt ein Schüler auf dem Revier, der vom Mord an seiner Mutter berichtet. Aber der Junge ist kein besonders verlässlicher Zeuge, eher im Gegenteil. Ich würde gern Ihre Meinung hören, bevor wir uns hier am Ende mit dem Gerede eines kleinen Jungen zum Gespött machen und Steuergelder verballern.«

Hegel spürte wieder das Kribbeln im rechten Arm. »Ich schätze, dieses Risiko werden Sie wohl eingehen müssen, Oswald. Ich bin zurzeit unabkömmlich.«

»Schade, aber dann ist das wohl so.« Holder klang alles andere als zufrieden. »Es war ein Versuch, kein großes Ding aus der Sache zu machen. Auch zum Schutz des Jungen. Er hat wohl ziemliche Probleme, die er gerade noch um einiges vergrößert.«

Hegel wollte sich schon verabschieden, als ihm etwas in den Sinn kam. »Sie sagten gerade, Sie befinden sich in Wannsee. Ich kenne mich in der Gegend ziemlich gut aus, das ist im Grunde ein Dorf. Wer soll denn laut der Aussage dieses Jungen ermordet worden sein?«

Holder schien ein Blatt Papier zur Hand zu nehmen und davon abzulesen. »Also, der Junge heißt Silvan, er ist siebzehn und auf dem Revier bestens bekannt. Seine angeblich ermordete Mutter heißt, Moment … ja, hier steht es: Sie heißt Patrizia Berg!«

1

Silvan, drei Stunden zuvor

Du blödes Mondkalb bist doch sowieso in ein paar Tagen zurück vom Mond und gehst mir hier wieder auf die Nerven.« Schulz hatte sich ganz nah zu Silvan hinuntergebeugt, damit er ihm seine Abschiedsworte ins Ohr flüstern konnte. »Nicht dass ich dich vermissen würde, aber ich schätze mal, wir werden uns wohl bald wiedersehen.«

Silvan vernahm die Worte ohne sichtbare Regung. Es war das letzte Mal, dass der Siebzehnjährige in diesem Speisesaal essen würde, und das nach drei langen Jahren. Schulz war so etwas wie Silvans Chefaufseher gewesen, auch wenn es diesen Posten so offiziell gar nicht gab. Aber es gab ja auch keine Mondkälber, zumindest nicht in dem Sinn, den Schulz sich wohl vorstellte. Denn schließlich ging dieser ungebildete Kerl mit den Minderwertigkeitskomplexen davon aus, dass die altertümliche Bezeichnung für die Fehlgeburt eines Rindes etwas mit dem Mond zu tun hatte, und das, obwohl doch nun wohl jeder wissen konnte, dass der erste Wortbestandteil des Mondkalbs von Mon herzuleiten war, was so viel wie Ungeheuer bedeutete und heute noch deutlich im Wort Monster zu finden war.

»Du hast ein anderes Deo, es riecht billiger. Haben die dein Gehalt gekürzt?« Silvan wandte den Blick nicht von dem Teller mit dem Brötchen und den beiden Scheiben Käse darauf, die unterschiedliche Namen hatten, aber trotzdem exakt gleich schmeckten, nämlich nach gar nichts.

»Da will es wohl einer zum Abschied noch mal wissen.« Schulz trat hinter Silvan vor und stellte sich jetzt neben ihn an den Tisch.

Silvan verstand Schulz’ Reaktion nicht, schließlich hatte er doch deutlich eine Frage formuliert. Dieser Typ hätte doch von sich aus schlussfolgern können, dass Silvan es wohl wissen wollte. Abgesehen davon, dass er es ja bereits wusste, schließlich war Schulz die ersten zweieinhalb Jahre mit einem Auto zur Arbeit gekommen, dann aber aufs Fahrrad umgestiegen, was an den Eindrücken der Fahrradklammern an seinen Hosenbeinen zu erkennen gewesen war. Das könnte zwar auch daher rühren, dass man Schulz den Führerschein abgenommen hatte, was allerdings unwahrscheinlich war, weil Schulz eine solche Erniedrigung zweifelsfrei an ihm ausgelassen hätte. Das Maß seiner täglichen Herabwürdigung war jedoch konstant gleich geblieben, während Schulz’ Zusatzschichten hingegen mehr geworden waren.

»Ich sage dir jetzt mal was.« Schulz roch unangenehm aus dem Mund, und er war nicht rasiert. »Du kleiner Spinner bist mir mehr auf die Nerven gegangen als die meisten anderen Bekloppten. Ich bin froh, dass sie dich endlich hier rauslassen, also komm bitte nicht so schnell zurück. Davon hätten wir beide was.«

Als Silvan den Blick hob, fiel er auf die vier Jungs am Nebentisch. Überall waren Unstimmigkeiten zu sehen, und Silvans Gehirn hatte so viel mit deren Verarbeitung zu tun, dass er gar nicht bemerkte, ob Schulz seine Beleidigungen fortsetzte oder nicht. Wer schmierte denn bitte Butter unter das Nutella, ließ den Teebeutel in der Tasse, während er bereits daraus trank, schnitt einen Pfannkuchen mit dem Messer oder trank einen Joghurt wie einen Milchshake aus dem Becher? Warum zur Hölle taten diese Jungs das?

»In einer halben Stunde bist du hier weg, bekommst du das hin?« Schulz’ Worte rissen Silvan aus seinen Überlegungen.

»Werde ich abgeholt?«

»Na ja.« Schulz grinste hinterhältig. »Dafür hätte ich deinen Eltern Bescheid geben müssen, dass du einen Tag früher rauskommst. Aber das habe ich versehentlich vergessen. Nimm dir ein Taxi, Geld genug hast du ja.« Schulz beugte sich mit großer Geste über Silvans Frühstück und spuckte mit strahlenden Augen auf den Teller des Jungen. »Das ist mein Abschiedsgeschenk für drei Jahre Auf-die-Nerven-Gehen!«

Spucke auf meinem Essen. Wie früher, wenn Papa … Das, nein, das … Silvan wurde blass, und es fiel ihm schwer, noch etwas zu sagen. Ruckartig sprang er von seinem Stuhl auf, sah sich im Rund der Anwesenden um und rief, so laut er konnte: »Schulz hat sich übergeben, er braucht einen Arzt!«

Es wurde schlagartig still im Raum, doch die Ruhe sollte nicht von Dauer sein. Allerdings traf niemand Anstalten, Schulz zu Hilfe zu eilen oder einen Arzt zu verständigen. Stattdessen drehten sich alle Anwesenden im Raum zu Schulz um und brachen nach und nach in schallendes Gelächter aus. Wild riefen sie durcheinander, ob er wieder besoffen sei oder ob er Silvan zum Abschied noch einen geblasen und sich dabei übernommen habe.

Schulz hingegen wandte sich Silvan mit Eiseskälte im Blick zu und lächelte ihn auf eine Weise an, die alles andere als freundlich war.

»Du siehst lieber zu, dass du nie wieder hierher zurückkommst. Denn wenn ich dich jemals wieder hier sehe, hast du keine ruhige Minute mehr!«

2

Der Tag war eigentlich viel zu schön, um in einer Katastrophe zu enden. Doch zu diesem Zeitpunkt konnte Silvan davon nun wirklich noch nichts ahnen. Der Junge hatte sich vom Taxifahrer schon unten an der Weggabelung absetzen lassen, von der man noch ein paar Hundert Meter gehen musste, um die Villa am Kleinen Wannsee, in einer der schönsten und teuersten Wohnlagen Berlins, zu erreichen. Schon damals, bevor er hatte gehen müssen, war der Schönheit seines Wohnorts für ihn auch ein Hauch von Wehmut beigemischt gewesen. Denn das weitläufige Grundstück mit der Bootsanlegestelle samt Jacht war zwar ein traumhaft schöner Ort zum Leben, doch der Wohlstand seiner Mutter hatte auch zahlreiche Schattenseiten mit sich gebracht. Zum Beispiel meinen Vater. Nein, trotz des vielen Geldes war es für Silvan nie einfach gewesen, ganz und gar nicht. Die meisten von Silvans Freunden hatten sich im Laufe der Zeit von ihm entfremdet, und er hatte ohnehin niemals viele Freunde gehabt. Trotzdem waren es mehr als während der ganzen letzten drei Jahre zusammen. Silvan hatte nie so recht verstanden, warum andere ihn lieber mieden, schließlich beleidigte er niemanden, trat, biss und spuckte nicht. Oft behaupteten sie, er sei für alles zu dumm und es mache einfach keinen Spaß, mit ihm zu spielen. Sie hatten ja nicht wissen können, was sich hinter den Mauern dieser herrschaftlichen Villa zutrug, sobald sie gingen und ihn allein zurückließen.

Wieder sah Silvan sich an dem Ort um, den er jahrelang nur in seiner Erinnerung erlebt hatte. Das Anwesen war für ihn immer auch einschüchternd gewesen, zumal Silvan durchaus bewusst war, dass es nur sehr wenigen Menschen auf der Welt vergönnt war, in so opulent vermögenden Verhältnissen leben zu dürfen. Und nichts anderes als das Geld meiner Familie haben sie dann auch in mir gesehen. Leider hatte auch sein Vater Martin wohl nur die Vorzüge des Reichtums seiner Mutter gesehen, als er sie vor achtzehn Jahren kennenlernte. Angespannt atmete Silvan beim Gedanken an seinen Vater aus, während er seinen Fußmarsch zum Eingangstor kurz unterbrach. Ja, er freute sich darauf, seine Mutter endlich wiederzusehen. So wie er es immer getan hatte, selbst wenn er nur für wenige Stunden weg gewesen war. Doch seinen Vater? Nein, auf den hätte er liebend gern verzichtet. Dieser despotische Möchtegernmusikproduzent, der vor zwanzig Jahren mal mit einer Band einen Hit gelandet hatte – und danach nie wieder. Der alle Einnahmen aus seinem One-Hit-Wonder mit dem behämmerten Titel Like a skunk mit vollen Händen rausgeballert hatte, bevor er dann im Zuge des Baubooms in und um Berlin ohne jegliche Fachkenntnisse eine Baufirma gegründet hatte, die schon bald darauf vor dem Bankrott stand. Damals, als er seine Mutter mit den Geschichten aus der Welt der Popstars und mit seiner Platinschallplatte an der Wand irgendwie um den Finger gewickelt und sie ihn nur allzu schnell geheiratet hatte. Silvan kannte die Geschichten aus der Zeit vor seiner Geburt zur Genüge. Seine Mutter hatte sie ihm oft erzählt, und es hatte ihm jedes Mal Schmerzen bereitet, zu erleben, dass sie sich in diesen schrecklichen Mann verliebt hatte. Nur durch die Verbindungen zu den Reichen und Mächtigen, die Silvans Mutter in die Ehe eingebracht hatte, war Martin Berg, der herrische, koksende Macho, der seine Mutter öfter als nur einmal geschlagen hatte, schließlich doch noch zu Bauaufträgen gekommen. Große, lukrative Aufträge, die ihm ohne den tadellosen Ruf der Familie, in die er eingeheiratet hatte, niemals zugänglich gewesen wären.

Doch Silvan wollte sich jetzt nicht über seinen Vater aufregen. Noch nicht. Drei Jahre war er schließlich nicht mehr zu Hause gewesen, und das Anwesen mit all den Bildern, Geräuschen und Düften jetzt wieder zu erleben entzog ihm genug von seiner Kraft. Seine Mutter würde ihn gleich strahlend in die Arme nehmen und ihn mit Liebe begrüßen, auf nichts anderes wollte er sich jetzt fokussieren. Wieder sah sich Silvan um. Nach so langer Zeit des unfreiwilligen Exils wollte er sein Zuhause behutsam erleben. Es vorsichtig atmen, riechen und spüren. Lass es auf dich wirken, aber nur im Guten. Dieser gewaltige Backsteinbau mit seinen vollkommen unnötigen zwanzig Zimmern und der Garage, in der ein ganzer Fuhrpark Platz hatte, war für Silvan niemals der verschwenderische Ort gewesen, für den so mancher ihn gehalten hatte. Für Silvan war das alles hier Kindheit. Und das bedeutete für ihn Träumen, Lachen und Weinen. Und nichts anderes! Lass den Rest draußen, er ist vergangen und kann dir nichts mehr tun. Letztlich war dieses Anwesen sein Zuhause, wenn dieser Ort irgendwie auch der Grund dafür war, warum er die vergangenen drei Jahre nicht hatte hier sein können. Das sanfte Knirschen, das die Kiesel unter seinen Füßen verursachten, klang erfreulicherweise wie Musik in Silvans Ohren. Die wilden Pflanzen am Wegesrand, das Schild mit der Aufschrift Privatweg und die Steigung der Zufahrt, die zunächst leicht war, aber später dann noch ziemlich steil wurde, fühlte sich nach den Jahren der Abwesenheit wie ein alter Freund für ihn an, mit dem er schon so viele Abenteuer erlebt hatte, dass niemand sie mehr zählen konnte.

Silvan musste verschämt schmunzeln, als er daran zurückdachte, wie es ihm immer wieder gelungen war, das Anwesen unbemerkt zu verlassen. Doch das Schmunzeln verging, als ihm einfiel, dass es ihm niemals gelungen war, danach auch wieder unbemerkt zurückzukommen. Manchmal auch deswegen, weil er sich gar nicht mehr hatte erinnern können, dass er überhaupt ausgerissen war.

Silvan sah auf die Uhr. Dieser Schulz hatte seinen Eltern nicht gesagt, dass sie ihn schon heute abholen sollten. So war sein verfrühtes, eigenständiges Eintreffen nun also eine echte Überraschung für seine Mutter, und das würde er auskosten. So, wie er jetzt auch noch die letzten Meter seines Weges zum Haus hinauf genießen würde, ganz gleich was früher mal an diesem Ort vorgefallen sein mochte. Jeden Schritt, jeden Atemzug wollte er in sich aufnehmen. Alles, was ihn in glückliche Zeiten seines Lebens zurückführen konnte, selbst wenn es nicht allzu viele waren.

Silvan erreichte das Tor. Früher war es noch glänzend und prachtvoll gewesen. Doch davon war mittlerweile nichts mehr zu sehen. Rost hatte sich an mehreren Stellen gebildet, und schon lange hatte es niemand mehr gesäubert und poliert. Das ist vermutlich alles viel zu groß für die Angestellten, bei der Instandhaltung dieses Anwesens kommt ja keiner hinterher. Silvan schloss den obersten Knopf seiner Jacke. Dieser Februar war zwar nicht eisig, doch der Wind wehte ihm dennoch mit frischen Temperaturen ins Gesicht.

Er schrak aus seinen Gedanken auf, als sich etwas bewegte. Nur ein paar Meter von dem Jungen entfernt. Als er näher hinsah, erkannte Silvan einen Schmetterling, der in Bodennähe flatterte. Wie schön! Das muss einer der ersten in diesem Jahr sein. Der Schmetterling ist Mamas Lieblingstier. Sie sieht ihn als Symbol der Verwandlung. Von der kriechenden Raupe zum frei fliegenden, wunderschönen Tier. Silvan spürte Wehmut, als er sich vorstellte, auch er und seine Mutter könnten sich in Schmetterlinge verwandeln und einfach davonfliegen. Er zog sein Smartphone aus der Tasche und aktivierte die Kamera.

»Guck mal, Mama!« Silvan richtete das Handy auf den Schmetterling. »Ein besonderer Gast kommt dich besuchen. An einem besonderen Tag! Ich bin wieder bei dir, und es ist auch noch der 29. Februar. Wenn das kein Anlass zum Feiern ist!«

»Ahhhh!« Der gellende Schrei einer Frau brachte Silvan aus dem Konzept.

Er kam von weiter hinten, kurz und hell. Der Junge senkte das Handy und wandte sich in die Richtung um, aus der das Geräusch gekommen war. Das Herrenhaus war noch vielleicht hundert Meter entfernt, doch die Geräusche waren von der Rückseite gekommen. Silvan lief so schnell er konnte um die Ecke und sah, dass sich an einem der Fenster im dritten Stock etwas bewegte. Jemand stand auf der Fensterbank, und Silvan meinte sehr deutlich zu erkennen, um wen es sich dabei handelte.

»Mama?!«

Ohne nachzudenken, lief er weiter, näher zu dem Fenster hin. Immer wieder rutschte er leicht weg, wenn die Kiesel unter seinen Füßen ihm zu wenig Halt boten. Sein Blick war nach oben zu seiner Mutter gerichtet. Er sah, wie ihr Kleid – oder ihr Nachthemd oder was immer es auch war – im Wind wehte. Wie sie sich auf der Fensterbank nach vorn und dann wieder zurück bewegte. Unsicher, wackelig, Furcht einflößend. Und dann, kaum dass er unter dem Fenster angekommen war, passierte es. Sie kippte nach vorn, unweigerlich, so lange, bis die Schwerkraft sie nicht mehr auf der Fensterbank halten konnte. Ein kurzer, heftiger Schrei, ein furchtbar fremdes Geräusch von einem Körper, dessen Sturz von Steinen gebremst wurde – dann Stille.

Wie paralysiert sah der Junge zunächst auf den Körper, der reglos vor ihm auf den Kieseln lag, bevor sein Blick sich nach oben bewegte. Dahin, wo sie gerade noch gestanden hatte. Silvan meinte, hinter dem Fenster einen Schatten gesehen zu haben, und es konnte keinen Zweifel für ihn geben, zu wem dieser gehörte. Papa hat es getan! Er hat Mama ermordet! O Gott, ich hatte immer Angst davor, aber dass er es wirklich tun würde? Silvan konnte nicht ins Haus, um Hilfe zu rufen. Er würde seinem Vater in die Arme laufen, und dieser würde nicht mit Gleichgültigkeit hinnehmen, dass es einen Zeugen für seine Tat gab. Ich muss weg hier, so schnell es geht! Bevor er mich auch umbringen kann.

Silvan stürmte zurück auf das Tor zu. Ob sein Vater ihn wohl da unten gesehen hatte? Ob er ihm sogar schon auf den Fersen war? Silvan drehte sich nicht um, nicht jetzt, nicht in dieser Situation. Ich muss schnell sein, vielleicht können die Ärzte Mama ja noch retten! Silvan hatte das Tor erreicht, das noch immer offen stand. Er würde die Polizei anrufen, und den Rettungswagen würde er auch kommen lassen. Jetzt musste er aber erst mal lebend vom Gelände entkommen. Ein letztes Mal bremste er seinen Lauf und wendete seinen Blick um, bevor er schnellen Schrittes auf die Zufahrt stürmte. Niemand verfolgte ihn, und … Noch ehe Silvan seine Gedanken fortsetzen konnte, hatte er auch schon den Motor gehört, und der Wagen schoss zügig von der Straße her um die Ecke. Silvan spürte noch einen dumpfen Aufprall, dann wurde es schwarz.

3

Da bist du ja wieder, kleiner Idiot.« Die Stimme seines Vaters drang wie in einem Albtraum zu Silvan vor und ließ ihm einen Schauer den Rücken hinunterlaufen.

Er fühlte sich schwer, und er konnte nicht erkennen, wo er sich genau befand oder was eigentlich geschehen war. Er glaubte, auf einem Ledersofa zu liegen, kühl und hart. Vorsichtig öffnete er die Augen, und sein Blick fiel auf eine mit Stuck und Ornamenten verzierte Zimmerdecke. Sie war hoch und weitläufig, und Silvan kannte jedes Detail auf ihr. Aber das konnte unmöglich die Decke seines Zimmers in dieser Einrichtung sein, in der er wohnte. Zumal sein Vater ihn da niemals besucht hatte. Zum Glück. Silvan erinnerte sich trotzdem ziemlich genau daran, in seinem Leben bestimmt Tausende Male auf dieser Couch gelegen und diese Decke betrachtet zu haben. Wo bin ich denn hier, und warum bin ich weggetreten? Silvan spürte einen pochenden Schmerz an der Stirn, und auch sein Körper fühlte sich an, als sei er wieder einmal von einem der Jungs verprügelt worden. Er wandte den Kopf in die Richtung, aus der er die Stimme vernommen hatte, die ihm gleichermaßen vertraut und zuwider war. Dabei traf er den Blick seines Vaters, der ihn wohl schon seit einer Weile betrachtete.

»Was ist denn hier los?« Silvans Hals war trocken, die Worte kamen nur schwer aus ihm heraus.

Sein Vater gab zunächst keine Antwort. Stattdessen neigte er sich vor und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Knien ab. Doch es war nicht die großkotzige Pose oder der viel zu seriöse Aufzug, in dem Martin Berg ihm gegenüber auf dem Sessel thronte. Das, was Silvans Puls schlagartig ansteigen ließ, war etwas ganz anderes. Etwas, was er noch nie zuvor bei seinem Vater gesehen hatte.

»Hast du etwa geweint?« Mühselig und unter Schmerzen richtete sich der Junge in seinem Sitz auf.

Was er im schwachen Licht der Wandleuchten erkannt zu haben glaubte, war ein Glänzen, das von den Augen seines Vaters die Wangen hinab reichte. Eindeutig die Reflexion von Tränenflüssigkeit, aber konnte das sein? War es möglich, dass der große Martin Berg, der ach so erfolgreiche Musikproduzent und Bauunternehmer, tatsächlich geweint hatte? Hat er überhaupt Tränendrüsen?

»Bilde dir mal bloß nichts ein, der Zusammenstoß war eindeutig deine Schuld. Du bist so schnell um die Ecke gerannt, ich konnte nicht rechtzeitig bremsen. Sei froh, dass offenbar nichts passiert ist, es scheint ja wohl alles mit dir in Ordnung zu sein. Oder hast du Schmerzen?« Silvans Vater wischte sich mit der linken Hand durchs Gesicht.

Noch immer fehlte Silvan die Erinnerung an die Umstände, die ihn auf diese Couch gebracht hatten. War er nicht gerade noch beim Abendessen im Speisesaal gewesen? Oder nein, es war doch schon hell gewesen, oder? Das verwitterte Tor zum Anwesen der Familie kam Silvan wieder in den Sinn.

»Ich bin den Weg hochgekommen, bis zum Eingang!« Allmählich kamen die Bilder zurück.

Doch sein Vater ging nicht darauf ein. Er räusperte sich nur und richtete sich noch ein bisschen höher in seinem Sitz auf. »Du bist zu früh gekommen, wir haben dich noch nicht erwartet.«

Zu früh? Nicht erwartet? Bin ich etwa gar nicht bei Schulz und den anderen? Moment, da war doch …

»Sie hat geschrien!« Silvan sprang ruckartig vom Sofa auf. »Sie stand auf der Fensterbank!«

Martin Berg sah seinen Sohn mit einer Teilnahmslosigkeit an, als habe dieser ihm soeben eine überflüssige Frage gestellt. »Ernsthaft, für solchen Scheiß habe ich jetzt keinen Nerv. Du bist einen Tag zu früh, so was macht man nicht, das ist unhöflich. Deine Mutter ist nicht auf dich vorbereitet, und ich sowieso nicht. Das Beste wird sein, du schläfst dich nach unserer kleinen Kollision jetzt erst mal richtig aus, ich gebe dir was zum Schlafen. Ich kann dich heute hier absolut nicht gebrauchen, und deine Mutter auch nicht.«

Silvan ließ die Worte an sich abprallen. »Sie ist gestürzt, direkt vor meine Füße!«

Der Junge konnte sein Herz jetzt bis zum Hals schlagen spüren. Ja, es war wirklich passiert, jedenfalls wirkte es so auf ihn. Silvan meinte sich zu erinnern, dass er gerannt war, einfach nur weg, weg von diesem Haus. Aber warum? Da, dieser Schrei schoss durch seine Erinnerung, und er sah noch einmal das Wehen eines weißen Kleides im Wind. Was war das bloß gewesen? Während er sich Hilfe suchend im Raum umsah, fiel Silvans Blick auf das Gemälde, das hinter seinem Vater an der Wand neben den alten Jagdgewehren und der Schrotflinte seines Großvaters aufgehängt war. Darauf war ein kleines Mädchen auf einer Wiese zu sehen, das einem Schmetterling zusah. Moment, der Schmetterling!

»Ich weiß es wieder! Ein früher Schmetterling, etwas ganz Besonderes! Ich war im Garten, ich muss mich da umgesehen haben. Vielleicht habe ich sogar ein Video gemacht!« Hastig tastete Silvan nach seinem Handy, doch es war nicht in seinen Hosentaschen. Er sah sich um und entdeckte, dass sein Smartphone vor ihm auf dem gläsernen Couchtisch lag. Sein Vater musste es dort abgelegt haben, aber das war ja auch egal. Silvan griff nach dem Handy und entsperrte es mit der Gesichtserkennung, um das entsprechende Album aufzurufen. »Ja, hier ist wirklich ein Video! Keine Stunde alt, ich wusste es doch.«

»Du hast gefilmt?« Martin Berg neigte sich vor, und seine Stimme klang schlagartig verändert.

»Ja, als ich den Schmetterling gesehen habe.« Silvan betätigte den Link und streckte seinem Vater das Display entgegen. In guter Tonqualität erklangen die Worte aus dem Handy: »Ein besonderer Gast kommt dich besuchen. An einem besonderen Tag! Ich bin wieder bei dir, und es ist auch noch der 29. Februar. Wenn das kein Anlass zum Feiern ist!« Dann erklang ein Schrei im Hintergrund, das Handy wurde gesenkt, Ruckeln, Laufen, Ende.

»Ich weiß es wieder, sie wurde aus dem Fenster gestürzt!« Silvans Puls raste, seine Schmerzen waren verflogen, und Speichel flog beim Reden aus seinem Mund. »Sie ist vor mir auf den Boden geprallt, wo ist sie? Geht es ihr gut? Ich will sofort zu ihr!«

Doch gerade als der Junge über den Glastisch hinweg auf seinen Vater zustürzen wollte, bemerkte er, dass sich etwas in dessen Blick verändert hatte.

»Was redest du denn jetzt schon wieder für einen Schwachsinn, du Trottel?« Martin Berg erhob sich langsam von seinem knarzenden Sessel. »Du schläfst dich jetzt erst mal aus, dann gehen auch die Drogen aus deinem Körper. Hast es wohl kaum erwarten können, gleich wieder ein bisschen Party zu machen, was?«

Warum sagte sein Vater das? Wo sollte er denn Drogen hergenommen haben? Silvan begann zu zittern. Er spannte jeden Muskel seines Körpers an, als sein Vater an ihn herantrat und ihm die Hände etwas zu kräftig auf die Schultern legte. Nein, bitte nicht!

»In diesem Zustand werde ich dich deiner Mutter ganz sicher nicht zumuten, das kannst du vergessen. Du ruhst dich jetzt aus, dann kannst du sie vielleicht morgen sehen. Wenn du bis dahin aufgehört hast, dir Horrorgeschichten auszudenken. Und dann kommst du zu Tante Sara. Deine Mutter hat sie gebeten, dich erst mal zu betreuen, ich habe den Brief an deine Tante vorhin eingeworfen. Deine Mutter kann sich zurzeit leider nicht um dich kümmern, und ich sowieso nicht.«

Silvan wurde schwindelig. »Wovon redest du?«

Intuitiv riss er sich von seinem Vater los und machte zwei Schritte nach hinten.

»Ich rufe jetzt diesen Schulz an und frage ihn, was er dir gegeben hat.« Den Blick seines Vaters hätte man fast als besorgt interpretieren können, wenn er auch vermutlich noch nie um seinen Sohn besorgt gewesen war.

»Du warst es.« Silvan stammelte nur noch, und seine Knie begannen zu zittern. »Du hast Mama aus dem Fenster geworfen, du bist ein Monster.«

»Okay, das reicht jetzt endgültig. Deiner Mutter geht es gut, ich höre mir deine Geschichten nicht mehr länger an.«

»Ich will sofort zu ihr!« Silvan kamen die Tränen.

Martin Berg sah seinen Sohn in etwa so respektvoll und interessiert an, als bewerbe sich dieser als Schülerpraktikant in seiner Baufirma. Schließlich zuckte er gleichgültig mit den Schultern. »Also gut, damit du endlich aufhörst zu nerven. Ich frage sie.« Damit wandte er sich ab und verließ den Raum.

Der Junge selbst blieb wie angewurzelt auf seiner Position stehen, als er Geräusche von der Tür her vernahm, die er nur allzu gut kannte. Er schließt mich ein! Silvan stürmte auf die Tür zu, doch er kam zu spät. Das mächtige Portal mit den Intarsien war bereits verschlossen. Er rüttelte an der Tür und schrie, doch das würde ihm natürlich nichts nützen. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass sein Vater ihn einsperrte. Der Junge wandte sich zu den Fenstern um, doch diese waren verschließbar und bruchsicher, sie würden ihm keinen Fluchtweg bieten. Die Sicherheitsmaßstäbe dieser Villa verschreckten zwar Einbrecher, konnten sie aber auch zu einem Gefängnis machen. Silvan überlegte noch, was hier eigentlich gerade geschah, als er von außen wieder den Schlüssel im Schloss hörte.

Die Tür öffnete sich, und Silvans Vater stand erneut vor ihm.

»Was hast du mit Mama gemacht?« Silvan ballte die Hände zu Fäusten.

»Du bist in den letzten drei Jahren offenbar noch bescheuerter geworden, als du es sowieso schon warst. Weißt du, ich sollte deine Mutter eigentlich vor dir schützen. Sie sollte in ihrem Zustand nicht mitbekommen, welche Horrorgeschichten du über sie erzählst.« Martin Berg sah seinen Sohn mit bedrohlicher Intensität an.

»Was ist mit Mama? Sie ist tot, oder? Ich will sie sehen!«

Sein Vater trat ganz langsam an Silvan heran, während er ihm fest in die Augen sah und mit klarer Stimme antwortete: »Rede nicht solchen Dreck, kleiner Idiot. Deine Mutter ist zwar absolut nicht in der Verfassung für dich, aber damit du endlich Ruhe gibst, komm jetzt einfach mit. Ich bringe dich zu ihr.«