Cover

«Ich habe keinen einzigen Traum aufgegeben»

Ernst Augustin zum Gedächtnis

Herausgegeben von Lutz Hagestedt

C.H.Beck

Abbildung 1 (© Isolde Ohlbaum)

Zum Buch

Ernst Augustin (1927–2019) war und ist ein Glücksfall für die deutschsprachige Literatur. Sein Werk repräsentiert mit seiner Originalität, seinem Witz, der Tiefe und Leichtigkeit, Beobachtungsschärfe und Menschenkenntnis, Welterfahrung und Lebensweisheit etwas Seltenes und Besonderes in unserer Literatur, diese Fabulierfähigkeit und Geschmeidigkeit der Sprache suchen ihresgleichen. Der Unterhaltungswert von Ernst Augustins Büchern ist enorm, und gleichzeitig reist man mit ihnen durch Zeiten und Räume, durch Bewusstsein und Unbewusstsein, die Welt ist eine andere und sie wird als andere kenntlich.

Der Band «Ich habe keinen einzigen Traum aufgegeben», herausgegeben von Lutz Hagestedt, einem Kenner von Augustins Werk und langjährigen Wegbegleiter, versammelt Texte von Augustin, Auszüge aus seinem Werk, Reden und Interviews, ebenso wie Beiträge über ihn, Laudationes und Aufsätze, Porträts, Essays und Reportagen, aber auch die Beerdigungsreden und Nachrufe. So entsteht noch einmal das Bild eines ganz einzigartigen Werkes und eines bezaubernden, liebenswerten, großzügigen, unvergesslichen Autors und Menschen.

Zum Autor

Lutz Hagestedt (Hg.), Jahrgang 1960, ist Literaturwissenschaftler und lehrt seit 2004 an der Universität Rostock, an der Ernst Augustin Medizin studierte.

Inhalt

Ernst Augustin: Ich über mich

Wolfgang Beck: Trauerrede für Ernst Augustin (am 5. November 2019)

Ernst Augustin: Das Bild des Verlegers

Uwe Timm: Nachruf auf Ernst Augustin

Lutz Hagestedt: Trauerrede

Hildegard Baumgart: Ein paar Worte zum Abschied von Dixie

Mary Banbury: I Remember Ernst

Ernst Augustin: Gastürme und Rehe

Tilman Spreckelsen: Aufwachen im Traum. Zum Tod des Autors
Ernst Augustin

Ulrich Rüdenauer: Fantastischer Fantastiker – Nachruf auf Ernst Augustin

Ernst Augustin: Glücklich

Adelbert Reif: Schizophrenie in Literatur und Gesellschaft – Zwei Gespräche mit Ernst Augustin

(1) 

(2) 

Katrin Hillgruber: Im Bann des Sonnengottes – Auf Preußenart das Licht des Südens preisen: Ernst Augustin schickt seine Leser in «Die Schule der Nackten»

Hans Magnus Enzensberger: Ernst Augustin:
Der Kopf

Stephan Lesker: Der Kopfmensch und sein Körper – Weltenwanderer bei Ernst Augustin und Walter Kempowski – mit einem Seitenblick auf Flammarion

Anmerkungen

Cornelia Zetzsche: Das Sein ist das eigentliche Geheimnis – Gespräch mit Ernst Augustin in der Orffstraße

Katrin Hillgruber: Das Hirn liegt da und friert – Ernst Augustins «Das Monster von Neuhausen»

Himmelschreiendes Unrecht

Ernst Augustin: Ein zärtlicher Erfinder

Adolf Muschg: Spielwitz – Rede auf Ernst Augustin

Hanns-Josef Ortheil: München ist eine exotische Stadt – Laudatio auf Ernst Augustin

Cornelia Zetzsche: «Donnerwetter» – Laudatio auf Ernst Augustin zum Ernst Hoferichter-Preis

Anmerkung

Ernst Augustin: Das blutige Herz Afghanistans – Eine Trauerrede

Uwe Wittstock im Gespräch mit Ernst Augustin: «Schwarze Romantik liegt mir am meisten» – Über die Lust am Fabulieren und die Gruppe 47

Johannes Willms: im Gespräch mit Ernst Augustin über ‹Raum›

Thomas von Steinaecker: Der Mann der vielen heimlichen Leidenschaften – «Hier entlang bitte!» – Ein Besuch im Haus des Schriftstellers Ernst Augustin

Hansjörg Schertenleib: Der Phantast – Ein Besuch bei dem Schriftsteller Ernst Augustin

Jan Bürger: Orffstraße 10 – Zu Besuch im Zwischenraum

Ernst Augustin, Psychiater und Schriftsteller: im Gespräch mit Wolfgang Habermeyer

Malte Herwig und Sven Michaelsen im Gespräch mit Ernst Augustin: «Ich schreibe mit der Hand, ohne zu sehen,
was ich schreibe»

Erdmute Klein: Ein Sprachmagier – Ernst Augustin im Gespräch über «Gutes Geld»

Ernst Augustin: Das Abenteuer der Menschheit

Martin Hielscher: Die dünne Eierschale der Wirklichkeit – Der Schriftsteller Ernst Augustin

Die stählerne Mamma

Vertrackte Zeitspur

Traum und Spiel

Erzähler Tod

Türmanns Phantasien

Eine Liebesgeschichte & Das Phänomen
der Schizophrenie

Wahn und Phantasie

Kalkül und Autobiographie

Schwindeleffekte

Anmerkungen

Sherko Fatah: Laudatio auf Ernst Augustin

Christiane Freudenstein: Unsichtbar werden – Gedanken zu «Robinsons blaues Haus»

Anmerkung

Ernst Augustin: Die Taucherglocke

Harald Eggebrecht: Magische Augenblicke – Abenteuer mit Ernst Augustin

Der perfekte Käfer

Im Labyrinth

Bayerisch Lernen

Das Versagen

Tolle, lege Augustin: Nachwort und Dank des Herausgebers

Nachweis der Erstveröffentlichungen

Die Beiträger

Ernst Augustin

Ich über mich

Im Jahr 1955 glaubte ich, es geschafft zu haben. Ich stand in dem stark ummauerten Hof der schweren Station VIII der Nervenklinik der Berliner Charité, wo der Klettermaxe seit einem halben Jahrhundert einen dicken grünen Pelz an der Mauer hochgezogen hatte, und betrachtete gelassen die aufgesetzten Fanggitter. Gelassen, da ich hier nicht als Patient, sondern als junger Nervenarzt stand.

Ich erinnere mich an den Augenblick, als man mir den Anstaltsschlüssel aushändigte, einen sonderbar speziellen Schlüssel mit hochgezogenem Bart. Mit diesem Schlüssel öffnete man die Stationstüren, aber auch die Türen der Einzelzellen und vor allem die Türen zu den beiden Villen, wo die schweren Fälle lagen. Ich hatte einige Assistentenzeit in anderen Charitékliniken hinter mir, Chirurgie und Innere, insofern glaubte ich mich auch in der Nervenklinik orientieren zu können.

Man trug hier kein Stethoskop um den Hals, sondern ein kleines silbernes Hämmerchen in der Kitteltasche, und auch sonst bemerkte ich ein paar Unterschiede. Oberarzt Fenchow zum Beispiel trug im Gegensatz zu den weißen Hosen der Chirurgen schwarze Hosen. Ich bemerkte: Trägt man in der Ohrenklinik diesen eindrucksvollen Kopfreif mit dem Spiegel, so trägt man in der Nervenklinik das Geheimnis. Das war es.

Ich erinnere mich an die inbrünstigen Stunden in der großen Staatsbibliothek am Humboldtufer, im November, wenn draußen der Regen auf die grauen Säulen fiel, und ich unter meinem Lämpchen studierte: Die großen Pathopsychologen und die großen Analytiker. Den großen Freud habe ich hier zum ersten Mal gelesen, und den großen Jung, den Adler, den Magnus Hirschfeld, den Steckel habe ich gelesen und der hat mich am meisten erschreckt. Und dann die Pathobiographien, die ich studiert habe, vom Strindberg, der wohl geisteskrank war, und van Gogh, dem Irren mit dem abgeschnittenen Ohr.

Abbildung 2: Ernst Augustin 2006

Dann 1958 Afghanistan, das Entwicklungskrankenhaus in Cha-i-anjirs. In meinen Träumen liegt es immer im Regen, die spitzen schwarzen Berge und die ausgesägten Grate der Kakaowüste. Obwohl es in Afghanistan nie geregnet hat, soweit ich mich erinnere, höchstens im Winter, und dann war es unheimlich still im Land, beides, still und unheimlich, ohne einen Menschen auf hundert Kilometer. Wenn man einen Schritt geht, hörte man, seine eigene Schuhsohle laut auf dem Sand, das Heben des Brustkorbes.

Der Reisende, der über den Quettopaß kommt, riecht sie von weitem. Die Holzkohlenfeuer Afghanistans, lange bevor er die nach außen geneigte Paßkehre erreicht, wo er das Land zum erstenmal sieht, die Sandstrecken und Schluchten, die Räuber und Tiger in den Schluchten, die da alle versammelt sind. Und Angst? Ja, Angst hat er unbedingt, aber eine noch viel größere, ob er nämlich jemals wieder herauskommen würde. Aus diesem Land, wie es da liegt, mit seinen grausamen Todesstrafen und seinen an Stricken hängenden Räubern, den abgeschnittenen Genitalien und den gehäuteten Ehebrechern.

Mein Hospital hatte dreißig Betten, einen Behandlungsraum, einen Operationsraum, einen Verbandsraum, Röntgenraum und eine Apotheke. Draußen war ein großer Hof, wo die Verwandten schlafen konnten, oder die Patienten, die am Abend ankamen, um am Morgen behandelt zu werden. Und da saßen sie alle. Voller Vertrauen. Und ich sagte: Was wollt ihr von mir, ich kann euch nicht helfen, ich kann nicht mal einen Blinddarm anständig operieren. Da freute sich die ganze Bande und dachte, ich habe eine Ansprache gehalten.

Einer hob seinen Arm und ich sah schon von weitem, daß er eine riesige Aleppobeule hatte, oder Kandaharbeule, wie man dort sagte. Oder die Frau, deren Bauch ich durch ein winziges Loch im Kleid untersuchte, welches der Ehemann mit der Schere herausgeschnitten hatte. Und trotzdem, abgemagert vor Angst und dünn vor Verantwortung bin ich auf seltsam ferne Art glücklich gewesen.

Ich habe damals in der «Mamma» drei Exemplare für dieses «Spiel» erfunden, Überlebenskünstler in den vorgegebenen Kulissen, was dann leider gründlich mißverstanden wurde. Vielleicht, daß das Buch zu früh kam oder zu spät, und die Werbung war wohl auch nicht ganz glücklich. Jedenfalls habe ich meine Absicht diesmal deutlicher ausgedrückt und habe dieses Buch «Raumlicht» geschrieben, das meinen Lebenslauf beschreibt, gleichzeitig aber einen Zeitraum von nur vier Stunden, eine Behandlungsdauer: Der Nervenarzt versucht seine schizophrene Patientin aus ihrem Schub herauszuziehen. Mit allen Mitteln und mit allem Einsatz, dazu muß er aber selbst an die Grenze seiner Existenz gehen, wenn er die Patientin erreichen will. An die Grenze der Vernichtung.

Und während des Schreibens habe ich entdeckt, daß mir im modern klinischen Milieu eine der schönsten antiken Liebesgeschichten untergekommen ist. Die Geschichte vom Mann, der hinabsteigt, um die geliebte Frau heraufzuholen. Das Orpheusmotiv.

Wolfgang Beck

Trauerrede für Ernst Augustin (am 5. November 2019)

Meine Damen und Herren, liebe Freunde Ernst Augustins, liebe Mary Banbury,

ich spreche hier als Verleger Ernst Augustins, d.h. ich sollte besser sagen: als sein Verleger in den letzten zwei Jahrzehnten. Denn im Jahr 2002 wechselte Ernst Augustin von Suhrkamp zu C.H.Beck, ein großer Glücksfall für unseren Verlag. Mittler dieses Wechsels – nachdrücklicher Dank sei ihm hierfür ausgesprochen – war Martin Hielscher, Lektor in unserem Verlag sowie Kenner und Verehrer Ernst Augustins seit langem. Siebzehn Verlegerjahre mit Ernst Augustin sind es somit für mich, eigentlich eine eher kurze Zeit, misst man sie an der Lebensspanne des bereits seit den frühen sechziger Jahren so wunderbar produktiven Autors.

Die fast schon nachbarliche Münchner Nähe seines neuen Verlags erleichterte die Zusammenarbeit. Persönliche Treffen waren häufig, ebenso Gespräche am Telefon, auch zu Lektorats- und Redaktionsfragen. Alles vollzog sich in direktem mündlichen Austausch, ich konnte zu meiner Überraschung keinen einzigen Brief Ernst Augustins in unserer Ablage finden.

Sein Einstandswerk in unserem Verlag mit hohem Potential an Lese- und Lachvergnügungen war ein – man darf sagen – hochkarätiger München-Roman mit dem Titel «Schule der Nackten». Ohne Ortswechsel, ausschließlich in Deutschlands südlichster und wärmster Großstadt und dort im Besonderen im hochsommerlichen FKK-Gelände eines großen Münchner Freibads spielt sich das Geschehen ab, das seinen Protagonisten in ein Wechselbad heftiger Erlebnisse stürzt.

In München lebten Ernst und Inge Augustin damals schon seit vierzig Jahren. Es war ihr bewusst gewählter Lebensmittelpunkt, den sie trotz vieler Reisen und Abwesenheiten zu schätzen wussten. Und den sie in künstlerischen Visionen ausschmückten und verschönerten. In Ernst Augustins Worten: «Wenn an warmen Sommerabenden die zweihundert Türme schwarz vor den apfelsinenfarbigen Alpen stehen. Und sich durch eine Luftspiegelung auch noch das abendliche Verona über die Alpen hereinspiegelt – an vier Tagen sind sogar die Glocken zu hören – […], dann möchte man doch noch ein bisschen dableiben.»

Ja, dazubleiben, das hieß insbesondere, sich wohnlich einzurichten in einem Haus, von dem wir alle wissen, dass es zu einem Gesamtkunstwerk ohnegleichen ausgestaltet war, an dem vor allem auch Inge Augustin künstlerische Hand angelegt hatte:

mit phantastischen Ausmalungen in perfekter Trompe-l’œil-Ausführung, mit schönsten Imaginationen italienischer Architektur und südländisch-tropischer Naturlandschaften. – – Inge Augustin war es auch, die dem Verlag die Gemälde-Vorlagen für die Umschlag-Gestaltungen der Bücher ihres Mannes lieferte, wie er es sich ausdrücklich gewünscht hatte. Dabei ging es nicht nur um die neuen Bücher, sondern auch um sukzessiv erscheinende Ausgaben aller älteren Werke Ernst Augustins. Bis zu seinem 80. Geburtstag im Herbst 2007 lag bereits eine höchst ansehnliche achtbändige Werkausgabe vor, an der ihr Autor deutlich sichtbare Freude zeigte. Einige frühere Romane wie «Das Badehaus» und «Mamma» waren dort in überarbeiteter Form und mit verändertem Titel enthalten. Mit zwei weiteren älteren Werken, die erst später neu aufgelegt wurden, und mit den Romanen «Robinsons blaues Haus» und «Das Monster von Neuhausen», die noch folgten, ergibt sich ein in unserem Verlag lieferbares Gesamtwerk von zwölf Büchern – ein Œuvre von einzigartigem erzählerischen Gehalt, wie alle Ernst-Augustin-Leser wissen.

Den 80. Geburtstag hatten wir nicht etwa im Münchner Literaturhaus, sondern mit einer Salsa-Party im Szeneclub «Ampère» gefeiert: Die Stimmung war vergnügt, heiter, ja ausgelassen, schöner hätten wir es uns nicht wünschen können. Zwar war zum Jahrestag kein neues Buch erschienen, wie wir im Geheimen erhofft hatten, doch arbeitete Ernst Augustin an einem solchen und sprach mit uns darüber. Als seinen «Faust» oder «Fäustchen» kündigte er den Roman an, in dem er einige seiner wichtigsten Lebensthemen zu verarbeiten gedachte. Doch dann, etwa anderthalb Jahre später, schlug das Schicksal zu. Die Operation eines gutartigen Gehirntumors verunglückte und ließ von Ernst Augustins Sehkraft nur noch minimale Reste übrig. Das Roman-Manuskript war bis dahin zwar zu einem vorläufigen Abschluss gelangt. Doch gehörte es zu Ernst Augustins Arbeitsweise, an seinen Texten zu feilen und sie mehrfach zu revidieren. Um das Manuskript nun trotz verlorenem Augenlicht in eine endgültige Gestalt zu überführen, die vor dem kritischen Urteil des Verfassers Bestand hatte, bedurfte es nicht nur gehöriger Motivation, woran es zum Glück nicht fehlte, sondern auch einer speziellen optischen Apparatur, die dazu diente, die Hand- und Maschinenschrift um ein Vielfaches zu vergrößern. Das Ergebnis freilich hätte überzeugender nicht ausfallen können. Mit «Robinsons blauem Haus» ist Ernst Augustin erneut ein meisterliches Werk gelungen: kein «Altersroman», obwohl der Tod in ihm eine wichtige Rolle spielt, vielmehr ein von jeglicher Schwermut freies Buch, das sprüht von Lebendigkeit, Geist, Witz und Komik und zusammengehalten wird von einer ebenso faszinierenden wie ungreifbaren Erzählerfigur, die changiert zwischen Identitäten, Orten und Lebensaltern.

Ernst Augustins entspannter, lockerer Erzählstil, die unbeschwerte Mündlichkeit, die für ihn charakteristisch ist, bei gleichzeitiger Blick- und Wahrnehmungsschärfe, floss dem Verfasser nicht von selbst aus der Feder. Er arbeitete im Detail an seinen Texten und bezeichnete sich als «Perfektionisten». Seine wunderbaren und in jedem Roman und in jeder Geschichte neu erfundenen Ich-Erzähler schildern das Geschehen nicht aus einer Perspektive distanzierten Durch- und Überblicks, sondern erleben es als unmittelbar Beteiligte, Betroffene und Agierende und sind dabei einem Strom wechselnder Emotionen und Gestimmtheiten ausgeliefert. Alles passiert gleichzeitig: Agieren, Reagieren, Beobachten, Wahrnehmen, Empfinden, Erzählen. Dies in einer leichtfüßigen, ungezwungenen und dennoch exakt-anschaulichen Sprache zu bewerkstelligen, das vermochte Ernst Augustin wie kein anderer.

Als Überschrift über seiner Kunst könnte der geflügelte Titel eines schon vor zweihundert Jahren geschriebenen Theaterstücks stehen: «Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung». Doch Wichtiges bleibt dabei ausgeblendet: Ernst Augustins Weltneugier und Weltläufigkeit, die sein Schreiben auszeichnet und so selten ist in der deutschen Literatur, und vor allem der unerhörte Erfindungsreichtum in seinen Texten, wo das Reale sich verbindet mit dem Surrealen, das Wirkliche verschmilzt mit dem Phantastischen, Autobiographisches durchsetzt ist von Erdichtetem, und darüber hinaus allerhand Merkwürdigkeiten ihr höchst anregendes Spiel treiben. «Die Phantasie ist mein Werkzeug», so wird Ernst Augustin zitiert. Zugleich erzählt er, dass er schon in der Kindheit unentwegt Traumwelten in seinem Kopf entworfen habe. Im bekannten Fragebogen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung äußerte er auf die Frage «Welchen Lebenstraum haben Sie aufgegeben?»: «Ich habe viele Leben gelebt und keinen einzigen Traum aufgegeben. Ich bin zu beneiden» und bezog sich dabei sowohl auf sein literarisches Werk wie auf sein Leben nach der Erblindung. Denn mit dem Verlust der Außensicht hörte das innere Sehen und Imaginieren ja nicht auf, im Gegenteil: Es gewann zusätzlich an Kraft und Bedeutung. Beglückt konnte Ernst Augustin hierüber sprechen: «Ich träume in ungeheuer brillanten Farben – und teilweise so schön, dass ich in die Knie gehe, weil ich während des Traumes denke, ich kann wieder sehen. Da bauen sich Städte von einer ungeheuerlichen Schönheit auf. Ich habe solche schönen Städte nie in meinem Leben gesehen.»

Und im gleichen Zuge äußert er: «Mein Grundgefühl ist, in einer großen Traumblase zu leben. Das Leben ist ein Traum in einem Traum.» Und der Tod, so fährt er fort, führe zu einem Aufwachen in einem neuen Traum. Hier und in seinen Büchern wird deutlich: Die Auffassung eines endgültigen Endes war Ernst Augustin fremd. Sie war ihm, so darf man es vielleicht deuten, zu unkünstlerisch, nicht zu vereinbaren mit seiner Vorstellung einer Welt, der eine Verschönerung stets gut tut.

Das durchaus faszinierte Erleben seiner bewegten inneren Bilder und imaginären Welten half ihm, trotz schwerer physischer Einschränkungen, zu einer Art von Lebensfreude, scheint mir, bis zuletzt. Als meine Frau und ich einen Besuchswunsch bei Mary Banbury ankündigten, gab sie uns grünes Licht mit den Worten: «Ernst is physically weaker than the last time you saw him. […] But his spirit is still strong.» Wir planten unseren Besuch für den 3. November und waren schon an der Rezeption im Seniorenheim, als wir erfuhren, dass Ernst Augustin am Vormittag vom Notdienst in eine Innenstadt-Klinik überführt worden war. Bei unserem Anruf dort hatten wir Benjamin Koßin am Telefon, der uns zu unserem Schrecken mitteilte, Ernst Augustin sei vor einer dreiviertel Stunde gestorben, und er habe, so fuhr er fort, mit schwacher Stimme noch gesagt, nun müsse er seinem Verleger absagen.

Ja, so war er: Berührend aufmerksam im Mitmenschlichen, ungemein sympathisch für alle, die ihn persönlich kannten und erlebten. Mit Charme und Charisma auch als Lebenskünstler, mit vielen liebenswerten Eigenschaften, die er mit seinen Erzählerfiguren teilte. Allein in unserem Verlag bildeten seine Fans ein ganzes Grüppchen, weiblich und männlich. Wir mochten ihn schon unerhört gerne – man darf getrost von Liebe sprechen –, und diese bleibt uns jetzt zum Glück ja erhalten, neben seinen wunderbaren Büchern, in denen Ernst Augustin fortlebt. –

Ich danke Ihnen.

Ernst Augustin

Das Bild des Verlegers

Ein Verleger, meine Damen und Herren, ein Verleger ist laut und schwer. Er ist dröhnend, er füllt im Stehen einen Türrahmen vollständig aus, und er hat den Bodensee mindestens einmal durchschwommen – das vor allem. Autoren läßt er auf gar keinen Fall zu Wort kommen, und Autorinnen, also Autorinnen läßt er zu Wort kommen. Zu diesem Zweck fährt er einen blauen Jaguar. Und zwar zügig.

So. Mit diesem literarischen Leitbild also – oder sagen wir, mit ein paar Erfahrungen fand ich mich eines Tages in München vor dem Backsteinbau Ainmillerstraße 12 ein, wo ein erstes Verlegergespräch stattfinden sollte. Zögerte vielleicht einen Moment auf den Stufen, vielleicht in Erwartung des blauen Jaguars oder doch zumindest einer bläulichen Münchner Variante? Übersah dabei völlig den Radfahrer, der soeben auf seinem Fahrrad in die Einfahrt einbog. Das heißt, übersah ihn natürlich nicht, sonst könnte ich mich nicht an seinen Fahrradkorb erinnern, in welchem er einen gewichtigen Stapel Papier transportierte, ein wahrscheinlich siebzehnmal abgelehntes Manuskript, wie ich mitfühlend annahm, denn sonst wäre der Mann ja nicht Fahrrad gefahren – nach siebzehn Verlegergesprächen. Deshalb vielleicht doch etwas zögernd, stieg ich an diesem hellen Frühlingstag die Stufen zu meinem Gespräch empor.

Und das sieht so aus, daß ich natürlich auf sämtliche Fangfragen vorbereitet bin, etwa: «Warum schreiben Sie?» Oder: «Warum schreiben Sie nicht etwas Vernünftiges?» Jawohl, ich bin mit sämtlichen Gewalttätigkeiten vertraut, mit allen Kraftakten mit denen mich der Verleger auf Zwergenhöhe verkürzen wird. Ich bin sogar darauf vorbereitet, daß er mich frißt, oh ja. In diesem Fall erlaube ich mir, ein hochgefragter Autor zu sein, ich bin so gefragt, daß sich vier Münchner Verleger um mich bemühen, inklusive einer Verlegerin (!), und das sollte doch zu denken geben. Herr Verleger, werde ich sagen, Herr Verleger, die ist scharf auf mich! Und zwar lautstark, damit er mich auch hört.

So präpariert also und so couragiert sieht man mich an diesem hellen Frühlingstag in München, in der Ainmillerstraße 12 an die Verlegertür klopfen. Ich öffne die Tür. Trete beherzt ein, wobei ich versuche, den Türrahmen auszufüllen, setze dröhnend an – soweit es meine Mittel erlauben, tief aus der Brust und fest im Geist –, um gleich voll durchzustoßen, und, was soll ich sagen – – – stoße voll ins Leere.

Vor mir steht der Radfahrer – – –

Ich erinnere mich, es war hell, ein helles Zimmer voller heller Bücher, im Fenster knisterten die verlagseigenen Bäume, und es herrschte Stille, ich konnte das Knistern hören. Dann, still, kam der Mann auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen. Ganz im Hintergrund knisterte noch ein weißmarmornes Treppenhaus, daran erinnere ich mich auch, das knisterte besonders still und fein.

Und der Mann sprach leise. «Warum schreiben Sie?»

Ja warum eigentlich. So gestellt wurde die Frage noch nie, nicht in dieser verhaltenen Tonlage. Und wenn er sagte: «Warum schreiben Sie nicht etwas Vernünftiges?», dann hörte sich das, so gesprochen, ganz vernünftig an. Ja, warum eigentlich nicht.

Oh, ganz zum Schluß sagte er noch etwas besonders feines Verlegerisches, und zwar mit wirklicher Delikatesse sagte er – und das will ich jetzt beschwören – er sagte: «Herr Augustin, wir sind scharf auf Sie!» Ich schwöre, er hat es gesagt, genauso delikat, Herr Hielscher hier ist Zeuge!

Und in diesem Sinn, meine Damen und Herren, wollen wir unser Glas erheben und ausrufen: «Herr Beck! Herr Beck, wir alle hier sind scharf auf Sie!»

Uwe Timm

Nachruf auf Ernst Augustin

Es gehört zu meinem Plan, dass ich nicht auffalle, oder doch kaum. So lässt Ernst Augustin seinen Roman «Raumlicht: Der Fall Evelyne B.» beginnen, und dann folgt eine genaue Beschreibung seines Hauses und des Münchner Viertels, in dem der Protagonist – wie auch sein Erzähler – wohnt. Wir können sagen, dass Ernst Augustin das Nichtauffallen gut gelungen ist, und das, obwohl seine Romane zu den außergewöhnlichsten in der neueren deutschen Literatur gehören. Ihrer Sprache, ihrer Konstruktion und ihren Stoffen ist Augustins Profession anzumerken, er war Arzt und Psychiater, vor allem aber war er ein Reisender. Nicht von Kulturinstituten gesponsert, sondern von eigenen Interessen geleitet, reiste er durch Afrika, Indien, Pakistan, Russland, China, getrieben von einer fragenden Neugierde, einem Interesse an dem Fremden, Anderen, Ungewohnten.

Am 31. Oktober 1927 in Hirschberg geboren, hatte er in der DDR, in Rostock und Berlin, Medizin studiert, arbeitete dann als Assistenzarzt für Neurologie und Psychiatrie an der Charité. 1958 nahm er die Stelle eines Arztes in einem einer amerikanischen Baufirma gehörenden Provinzkrankenhaus in Afghanistan an. Zu seiner Überraschung war er in diesem noch mittelalterlich lebenden Ort der einzige Arzt und der einzige Europäer. Diese wahrlich abenteuerliche Zeit hat er in dem Roman «Raumlicht: Der Fall Evelyne B.» beschrieben. Der Mut, sich in eine so andere, so ferne, fremde Kultur hinein zu begeben und die Umwelt mit diesem neugierig vorurteilsfreien Blick zu betrachten, korreliert mit einem tiefen Interesse an dem Nächsten, dem Innenleben, der Psyche, der eigenen wie auch jener der anderen, dem so rätselhaften Verhältnis von Traum und Realität, von Wahn und Wirklichkeit, wie es sich insbesondere in der Schizophrenie zeigt. Da, wo die Umgangssprache zur Beschreibung psychischer Absonderlichkeiten dunkle Kammern, Keller, Oberstübchen, Tunnel oder Abgründe aufruft, entstehen bei Augustin faszinierende Räume, Gebäude, unterirdische Gewölbe. Ich kenne keine andere Prosa, in der Räume so genau beschrieben und mit dem Unbewussten in Beziehung gebracht werden, bis eine Seelenarchitektur vor uns ersteht.

In allen seinen Romanen ist die genaue Beobachtung verbunden mit einem jähen Wechsel, bei dem das vertraut Wirkliche ins phantastisch Unwirkliche kippen kann. Sprachspiele, die zwischen Realistik und Phantastik oszillieren und mit Witz und Ironie den Erzähler kommentierend einbeziehen. Der Kritiker Ulrich Rüdenauer hat zu Recht Augustins Romane mit existentiellen Wunschmaschinen verglichen. Wer etwas erfahren will über die Psychowelle, über das London im architektonischen Umbruch der siebziger Jahre und darüber, wie man in einem Eisschrank, der die Form einer roten Coca-Cola-Flasche hat, einige Tage überleben kann, sollte den Roman «Eastend» lesen.

Ich hatte das Vergnügen, Ernst Augustin vor mehr als dreißig Jahren auf einer Reise nach Bordeaux kennenzulernen. Vergnügen meint nicht nur das gemeinsame gute Essen, den vorzüglichen Wein, sondern vor allem die Gespräche mit ihm auf den Wegen durch die Stadt. Das waren Wanderungen durch Möglichkeitsformen. Ständig blieb er stehen, weil er einen Erker, ein Gesims bewunderte, aber auch Umbauvorschläge machte, Verbesserungen erfand, auch den Abriss von Verschandelungen erwog oder mögliche Anbauten beschrieb. Tatsächlich kaufte er immer wieder Häuser, baute sie um, wohnte eine Zeit lang darin, in London, in den USA, auf Elba, um sie dann wieder zu verkaufen. Vor allem baute er an seinem Haus in München, das er über die Jahrzehnte zusammen mit seiner Frau ausgestaltet hat. Mir erschien es wie ein begehbarer Roman, mit den gemalten Scheintüren, Figuren, Grotten, der kleinen Salsa-Bar samt Diskokugel im Keller und den sechzehn unter dem Glasdach im Treppenhaus stehenden pazifischen Königspalmen, die seine Frau Inge, Malerin surrealer Bilder, von einem entfernten Supermarkt auf einem Fahrradanhänger herangeschafft hatte. Oben auf dem Dach ein kleiner Swimmingpool, in dem man zwar nicht schwimmen, sich aber in heißen Nächten hineinlegen konnte. Dort oben im Sommer zu sitzen und über ein Atoll, das er kaufen wollte, zu reden, mit einem seiner gerührten oder geschüttelten Drinks in der Hand, war – wer ihn nicht kannte, wird es nicht glauben – Literatur.

Ein Kunstfehler eines Chirurgen bei der Operation eines gutartigen Tumors im Kopf verletzte den Sehnerv derartig, dass Augustin, der Augenmensch, kaum noch sehen konnte. Zwei Romane hat er noch unter großen Mühen geschrieben, zog mit seiner Frau in ein Altersheim, erlebte ihr Dahinschwinden und starb dort einige Jahre später, am 3. November 2019.

Auf seiner Beerdigung waren seine Lebensfreundin Mary, der Verleger Wolfgang Beck mit seiner Frau, entfernte Verwandte, ein paar Freunde, ein paar Leser, die meisten grau, Kollegen fehlten, wie auch Mitglieder der Akademie, kein Vertreter der Stadt München, über die er wie kein anderer seit Thomas Mann und Lion Feuchtwanger geschrieben hat, und von der Landesregierung war natürlich auch niemand gekommen.

Ernst Augustin war es also gelungen, kaum aufzufallen. Seine Romane aber werden suchende Leser weiter zutiefst erstaunen.

Abbildung 3: Inge Augustin im Palmengarten

Lutz Hagestedt

Trauerrede

Es ist nun aber so, geehrte Trauergäste, verehrte Mary, dass der liebe Entschlafene an den Tod nicht geglaubt hat. Zwar hat er Geburt und Tod in seinem Werk beschrieben – die Geburt als «gewaltige Leibestätigkeit», den Tod als «ganz simples Niederwalzen» wie in «Mahmud der Schlächter» –, auch hat er uns die «Hühner von Antiochia» vor das «goldene Auge» gestellt, die sich erst «erkennen», als sie bereits «ausbluten» – aber er hat auch wirksam gegen den Tod opponiert, wie im «Amerikanischen Traum».

«Ich war tot, ich wußte es», heißt es in «Eastend», aber dann kommt es zur Verwandlung, zum Showdown, aus dem der Erzähler als Sieger, als Überlebender hervorgeht.

«Wir Abendländer», sagt Augustin in seinem Roman «Raumlicht», «Wir Abendländer sind auf diesem Gebiet von jeher schwer von Begriff, wir sagen: Tod, oder wir sagen: Ich werde einmal sterben, und horchen daraufhin, und es bedeutet gar nichts.»

Der Tod, sagte er damals (1996) im Seminar mit Bamberger Studenten, sei eine «reine Stimmungssache», er sei «einfach ein ganz anderer Bewußtseins-Zustand», in den man erst einmal hineinfinden müsse.

So hat er auch im wirklichen Leben gern und oft vom Tod gesprochen: da schon das Leben überhaupt «nicht möglich» sei, sei auch der Tod nicht vorstellbar: «Ich weiß gar nicht, wie man das macht, sterben!»

«Ich bin ja ein Innenmensch geworden», sagte er nach seiner Erblindung. Und er imaginierte sich lauter «Zwischenräume», in denen er sich einrichten konnte – wir haben davon in seinem Roman «Robinsons blaues Haus» gelesen. Zugleich aber galt: «In dieser Welt überlebt der Mensch nicht.»

Jedenfalls: Der liebe Augustin sah sich umsorgt, er genoss unsere «Fürsorge», die des Verlages und seiner Mitarbeiter, der Nachbarn und Freunde, die ihn besuchen kamen, auch natürlich des Pflegedienstes. Und: man umsorgte ihn gern! Denn er ertrug sein Schicksal mit Humor: «Mit zunehmender Demenz werden wir immer fröhlicher.» Damals lebte Queenie noch …

Er sah sich respektiert und wusste, seine Bücher würden erscheinen. Als er gerade an der dritten Fassung seiner Robinsonade arbeitete, sagte er mir: «Dieses Buch richtet mich auf, vermittelt mir ein eigenartiges Glücksgefühl. Es ist die Vorstellung, daß man der Welt etwas hinzugefügt hat.»

Ernst Augustin hat uns mit seinem Leben ein großes Geschenk gemacht.

Hildegard Baumgart

Ein paar Worte zum Abschied von Dixie

Außer der Schwägerin Urda, der Schwester von Ernst Augustins Frau, kenne sicher ich von allen, die hier sind, Ernst Augustin am längsten, schon aus den sechziger Jahren. Sehr bald nannten wir und unsere Kinder ihn mit dem Namen, den wohl seine Frau für ihn erfunden hatte, Dixie – Queenie und Dixie hießen sie seit den sechziger Jahren bei uns. Eine lange Geschichte also, mit vielen Schauplätzen. Dazu gehört nun seit einigen Jahren, sechs oder sieben, auch ein Alters- und Pflegeheim. Es waren keine häufigen Kontakte mit Dixie, aber wenn ich von Berlin nach München kam, habe ich ihn besucht; und auch öfter mit ihm telefoniert, wobei es schön war, dass er sich nach einigem Zusichkommen freute und wir immer lange sprachen. Sein Kopf, sein Geist war ja gegenüber allem sonstigen Kaputten klar und persönlich geblieben, und ich habe eigentlich jedes Mal mit ihm heiter über höchst ernste Dinge gesprochen, die mich, die ich nur zwei Jahre jünger bin als er, ja auch angehen. Das war erstaunlicherweise zuletzt drei Tage vor seinem Tod (wobei ich vergessen hatte, dass er gerade Geburtstag gehabt hatte – wir haben auch nicht darüber gesprochen).

Ich habe ihn da angerufen, weil ich selbst durch eine Augenbehandlung reduziert war und eine ganze Reihe von Dingen, die mir geläufig und natürlich sind, nicht unternehmen konnte. Die Vorstellung, dass er seit Jahren in einem viel schlimmeren Zustand war und nicht depressiv wurde, überwältigte mich anders als früher, und also sagte ich in diesem Gespräch: «Dixie, ich glaube, du bist ein Heiliger!» Das löste Heiterkeit aus, ich glaube sogar sein früheres Kichern – und wir kamen in ein Gespräch, wie wir es öfter hatten, über das Sterben, wozu er immer sagte: «Ich weiß nicht, wie das geht, daher kann ich es nicht …»

Manchmal sprachen wir auch über Gott. Über den Gott, der ihm sozusagen beigebracht worden war, sagt er, das sei nicht der Richtige, mit dem sei er aber zutiefst böse, weil er ihm Queenie genommen hatte. Der richtige Gott aber – oh, das sei was anderes …

Beim Nachdenken über seinen Tod und sein Leben kam ich dann aber doch auf eine Überlieferung – ich lese sie Ihnen vor. Es ist die Geschichte von Elija, der Schwerstes erlebt hat, sterben möchte und zum Gottesberg Horeb flieht. Dort bleibt er in einer Höhle (1. Kön. 19, 11 f.).

Der HERR sprach: Geh heraus und tritt hin auf den Berg vor den HERRN! Und siehe, der HERR ging vorüber. Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem HERRN her; der HERR aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht im Erdbeben. 12 Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der HERR war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen.

Martin Buber übersetzt: Eine Stimme verschwebenden Schweigens. Ein theologischer Freund von mir sagt, genauer übersetzt: eine zerschlissene Stimme, dünn geworden bis zum Schweigen. Elija kann offenbar nur verstehen, was so zu ihm spricht, wie er selbst in seinem abgekämpften Zustand hätte sprechen können. Diese Stimme ruft Elija aus seiner Höhle heraus.

Es wäre jetzt leicht, all die schrecklichen Erscheinungen, in denen der Herr in der Bibel nicht war, für Dixies letzte Lebenszeit zu interpretieren – sein Augenverlust, Queenies Tod, die immer schlimmeren Ausfälle an seinem Körper – aber ich gehe jetzt weiter: das Letzte, was wir von ihm wissen, war auch ein Schweigen. In der Bibel begegnet Elija im Zustand äußerster Erschöpfung dem Herrn, und so, denke ich, könnte es bei Dixie auch gewesen sein.

In alten frommen Zeiten habe ich täglich die Herrnhuter Losungen gelesen. Eine Freundin schenkt sie mir immer noch, aber gelesen habe ich sie in diesem Jahr noch nicht einmal. Ich habe aber vor kurzem, vor einer Woche etwa, jedenfalls nach Dixies Tod, gefunden, ich könnte das kleine Buch mal wieder einbinden, wie bisher in allen Jahren. Das immerhin. Und nun, als ich zugesagt hatte, hier ein paar Worte zu sagen, habe ich doch mal ein bisschen geblättert. Ein kleines Wunder: ich hatte mir die Elija-Geschichte schon vorgenommen – und fand an Dixies Beerdigungstag, dem 5. Dezember, als alttestamentlichen Text genau diesen, 1. Kön. 19.

Wie ging es nun weiter? Elijas Leben ging weiter. Das von Dixie auch? Er hat mir oft von seinen Bildern und Visionen voller Licht und Farbe erzählt, und so fiel mir dann etwas ein, was Queenie und Dixie wohl auch verstanden hätten, denn sie waren ja unter anderem länger in Italien: ein weltberühmter Satz von Giuseppe Ungaretti:

«M’illumino d’immenso.»

«Ich erleuchte mich mit Unermesslichem.»

Das wünsche ich ihm – und uns allen.

Mary Banbury

I Remember Ernst

The first time Ernst Augustin announced, «I don’t know how to die», I responded, «Perhaps you should ask the man from Grevesmühlen, the little elderly gentleman with a hat.»

Although I do not speak German, and I have not actually read «Robinsons blaues Haus», I am familiar with the story. Over time, Ernst introduced me to the characters and narrated the plot. He invited me into his homes: a diving bell, a broom closet, a dungeon, a penthouse, and the magical blue house, among others. On his word carpet, I travelled with him to Minden, Luxembourg, Istanbul, London, Schwerin, New York, Skull Island, the South Seas, and, yes, several times to Grevesmühlen.

… Blind and partially paralyzed, maneuvering between his wheelchair and the hospital bed, Ernst was not able to architecturally change his senior residence; there was no wainscoting, smelling faintly of cinnamon. However, in those last years, he would describe his existence as «in between,» neither here nor there. In fact, he realized that he lived his life in that «in between», first, by choice, and, in the end, by necessity. And this was how he declared his freedom.

I used to tease Ernst that his propensity for freedom, his passion for living life on his own terms was engendered and nurtured by his father. Ernst once reminisced that the first words he learned in his life were «Lass es doch». He laughingly noted, «Not mama or papa, but Lass es doch.» He then recounted a particular instance, «When I put my finger in the honey, my father would say, ‹Lass es doch.› The magic word. And when my mother tried to take it away, I would cry out ‹Lassendo›.»

… In his final year, Ernst would often awake from one of his many naps, roll over, and ask me to tell him a story from my youth. He would then regale me with stories from his early years. And, I must admit, there were many similarities between him as a child and as a 91-year-old man. One of my favorite narratives was the retelling of the first story he composed. Since he was only about three-years-old, he dictated to his father, «The King went on a journey. When he returned, he was asked what he saw. The king said, «I have seen many beautiful things such as gas towers and deer.»

I treasure these early stories from Ernst’s oral history. And I also cherish the last message he wrote me, an inscription on the title page of «Robinsons blaues Haus»:

My Mary,
With love from
Grevesmühlen

And so, Ernst Augustin, I will hold you to your promise to dream me again. And, in the meantime, I will keep an eye out for the man from Grevesmühlen, the little elderly gentleman with a hat.

*

Als Ernst Augustin zum ersten Mal verkündete: «Ich weiß nicht, wie man stirbt», da riet ich ihm: «Frag doch den Mann aus Grevesmühlen, den kleinen älteren Herrn mit dem Hut.»

Obwohl ich kein Deutsch spreche und «Robinsons blaues Haus» gar nicht gelesen habe, ist mir der Inhalt dennoch vertraut. Im Laufe der Zeit stellte Ernst mir die Figuren vor und erzählte mir die Handlung. Er lud mich in seine Häuser ein: eine Taucherglocke, eine Besenkammer, einen Kerker, ein Penthouse und natürlich das magische blaue Haus, um nur einige zu nennen. Auf dem fliegenden Teppich seiner Worte reiste ich mit ihm nach Minden, Luxemburg, Istanbul, London, Schwerin, New York, Skull Island, in die Südsee und, ja, auch mehrmals nach Grevesmühlen.

Blind und halbseitig gelähmt und zwischen Rollstuhl und Krankenhausbett pendelnd, war Ernst nicht in der Lage, seine Seniorenresidenz architektonisch zu verändern; es gab keine Wandverkleidung, die leicht nach Zimt roch. Und doch beschrieb er in jenen letzten Jahren seine Existenz als ein «Dazwischen», weder hier noch dort. Ihm war klargeworden, dass er – zunächst freiwillig, schließlich dann aus Notwendigkeit – sein Leben in diesem «Dazwischen» lebte. Und auf diese Weise verkündete er seine Freiheit.

Ich habe Ernst immer damit aufgezogen, dass sein Vater seinen Freiheitsdrang und das Bedürfnis, sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu leben, geweckt und tatkräftig unterstützt hatte. Ernst erzählte einmal, die ersten Worte, die er in seinem Leben gelernt habe, seien «Lass es doch» gewesen. «Nicht ‹Mama› oder ‹Papa›», bemerkte er und lachte, «sondern: ‹Lass es doch›.» Er konnte sich sogar noch an einen speziellen Fall erinnern: «Wenn ich den Finger in den Honig steckte, sagte mein Vater: ‹Lass es doch.› Das Zauberwort. Und wenn meine Mutter ihn wegnehmen wollte, rief ich: ‹Lassendo!›»

Wenn Ernst in seinem letzten Lebensjahr von einem seiner vielen Nickerchen aufwachte, drehte er sich zu mir um und bat mich, ihm eine Geschichte aus meiner Jugend zu erzählen. Anschließend revanchierte er sich mit Geschichten aus seiner Jugendzeit. Und ich muss sagen: Es gab durchaus Ähnlichkeiten zwischen ihm als Kind und als 91-Jährigem. Einer meiner Favoriten war die Nacherzählung der ersten Geschichte, die er sich je ausgedacht hatte. Da er damals erst etwa drei Jahre alt gewesen war, hatte er sie seinem Vater diktiert: «Der König verreiste. Als er zurückkam, fragte man ihn, was er gesehen hatte. Der König sagte: ‹Ich habe viele schöne Dinge gesehen, zum Beispiel Gastürme und Rehe.›»

Ich schätze diese frühen Geschichten, die Ernst mir erzählt hat, sehr und denke gerne an sie. Und genauso schätze ich die letzte Botschaft, die er mir schrieb, eine Widmung in der Titelei von «Robinsons blaues Haus»:

Meiner Mary,
Mit Liebe aus
Grevesmühlen

Und so, Ernst Augustin, möchte ich dich an dein Versprechen erinnern, wieder von mir zu träumen. In der Zwischenzeit werde ich nach dem Mann aus Grevesmühlen Ausschau halten, dem kleinen älteren Herrn mit dem Hut.

Ernst Augustin

Gastürme und Rehe

Die Landschaft des südlichen Southwark. Dieser ausgedehnte Stadtteil unterhalb der Themse, einst Stätte der Volkstheater, Bordelle, Lagerhäuser und Speicher, Südlondon sozusagen, ist heute nur noch ein einziger Abbruchplatz, er ist bewohnt, aber er ist unbewohnbar. Das ganze Gebiet wird jetzt von der Shell Company frisch mit Stahltürmen aufgeforstet; wo früher die Damen aus den Flohhäusern heraushingen, befinden sich heute Rohrlager und Gerüste, strichweise durchsetzt von Buschland, das sich in dem feuchtmilden Klima zu einem undurchdringlichen grünen Filz ausgewachsen hat und wo sich, nach allem, was wir wissen, Elefanten aufhalten könnten. Ich sah einen Busstop in Form eines Weltkrieg-I-Tanks. Ich sah Halden von Blechbüchsen unter smaragdfarbenen Teppichen, welche sich, obwohl mit Tilgungsmitteln gespritzt, als unausrottbar erwiesen hatten, was habe ich noch gesehen, Berge von Rost, Flüsse von Öl und Seife, Gastürme, Rehe, alles mit einem Auge, während wir der dunstigen Silhouette des in der Ferne aufragenden Waterloo-Bahnhofs zurasten. Wie ich mich vergewisserte, war es schon zwei Uhr sechzehn, und würden wir es schaffen?

Tilman Spreckelsen

Aufwachen im Traum. Zum Tod des Autors
Ernst Augustin

Wenn man die Rede vom «amerikanischen Traum» wörtlich nimmt, dann kommen Romane wie der um den mecklenburgischen Jungen heraus, der 1944 von einem amerikanischen Tiefflieger getroffen wird, vom Fahrrad stürzt und nun in einer Art Traum dem Helden seiner Lieblingsbücher begegnet, dem Privatdetektiv Hawk Steen, der sich vor seinen Augen aufmacht, die Besatzung des Tieffliegers zu verfolgen und nach zahlreichen hinreißend kolportagehaften Abenteuern zu stellen – so leicht sollen sie nicht davonkommen! 269 Seiten umfasst der Roman, doch als ganz am Ende das Fahrrad des Jungen langsam zum Stillstand kommt, sind seit dem tödlichen Angriff erst wenige Sekunden vergangen.

DDR