NIGEL KENNEDY

Mein rebellisches Leben

Aus dem Englischen von
Bernhard Schmid

Tropen Sachbuch

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Uncensored!«
im Verlag Essentialworks, London

© 2021 by Nigel Kennedy

Für die deutsche Ausgabe

© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,
gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Klett-Cotta-Design

unter Verwendung einer Abbildung von © Rankin

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Notensatz: Notengrafik Werner Eickhoff-Maschitzki, Freiburg i. Brsg.

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-50020-2

E-Book ISBN 978-3-608-11866-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Warnung

Wo ich nun mal vierundsechzig bin, mag meine Ausdrucksweise der heutigen Gedankenpolizei möglicherweise hier und da politisch nicht ganz korrekt erscheinen, vor allem wenn ich witzig zu sein meine. Diskriminieren Sie mich also nicht meines Alters wegen, indem Sie meine Art zu schreiben kritisieren. Ich habe mein Leben lang Barrieren zwischen Menschen einzureißen versucht und denke, das vorliegende Buch ist dafür Beweis genug.

Bitte ärgert euch nicht, entspannt euch! Ihr habt die Wahl …

Glossar

ARCM

Associate of the Royal College of Music(nicht länger vergebenes Konzertdiplom)

BULLSHIT-O-METER

instinktive sensorische App, die Albernheit, Bullshit, Dummheit oder sonstige geistige Instabilitäten anzeigt

CLASSICO

klassischer Musiker von der Stange

EXPERTE

Trottel oder Person, deren Kenntnisse weit überschätzt werden (meist von ihr selbst)

IRRIGENT

Typ, der mit einem weißen Stöckchen (meist)gegen das Orchester andirigiert

KOOL

gut

MAESTRO

je nach Kontext ein Kamerad oder ein besserer Affe

MATE

Freund, Kumpel, Spezi

MUSO

Musiker

PLATZ

angestammte und einzig korrekte Bezeichnung für den Ort,wo Fußball gespielt wird

SCHEISS

Sachen, Zeug, Kram

SCHMIERIGENT

Typ, der mit einem weißen Stöckchen (meist)gegen das Orchester andirigiert

SHITUATION

heikle, ungute Situation

SPEZI

Freund, Kumpel

ECHTER SPUTNIK

russische(r) Toptyp*in

TUTTI-FRUTTI

Konzertteil, bei dem das Orchester ohne den Solisten loslegt

WICHSER

jemand, der es charakterlich oder musikalisch nicht draufhat

ZWEISTEIN

zweimal so helle wie Einstein (DREISTEIN = dreimal dürfen Sie raten)

Intro

Liebe Freundin, lieber Freund,

willkommen in meinem Buch.

Schnallen Sie sich bitte an, sofern Sie das nicht als Übergriff auf Ihre sauer verdienten bürgerlichen Freiheiten empfinden und Sie schon genug in die staatliche Krankenversicherung eingezahlt haben, die sich im Ernstfall um Sie kümmern müsste.

Ein Anfang

Es war einmal ein Anfang, der fast mit dem Beginn meines Lebens zusammenfiel …

Von meiner Warte in dem Kokon aus ist es um mich herum hell, aber es herrscht eine durchdringende Kälte, die allmählich zunimmt. Und mit ihr auch der Hunger in mir. Mein Kokon ist so eng, dass ich mich nicht bewegen kann. Die Gefühle sind übermächtig, aber nicht voneinander zu trennen. Die Kälte und der Hunger werden jetzt unerträglich. Was kann ich tun? Normalerweise wäre ich bereits im Warmen und bekäme meine Milch. Ich weiß das. Ich kann mich nicht bewegen, aber ich kann schreien und heulen. Ich kann fühlen, wie das Gebrüll langsam in mir aufsteigt. Das sollte wohl genügen, jedenfalls tut es das normalerweise. AAAAOOOOUUUUWWWW! … Sie ist noch immer nicht da … keine Milch … AAAAOOOOUUUUWWWWAAAA! … kalt … kälter … keine Wärme … KALTER HUNGER … Das ist meine früheste Erinnerung aus der Wohnung am Regency Square in Brighton. Ich war gerade mal ein paar Monate alt. Meine Mutter war nach London gefahren, um Klavierstunden zu geben, vielleicht auch zu einer Probe. Ich bin mir nicht sicher, ich war nicht dabei. Sie musste sich verspätet haben, jedenfalls hatte sie mich auf dem Balkon vergessen. Es vergingen einige lange Stunden, bis sie wieder zurückkam, aber ich habe ÜBERLEBT! Heute würde man das Verwahrlosung nennen, aber Tatsache ist, ich verdanke der Episode eine frühere Erinnerung, als die meisten Menschen sie haben. Es ist heute große Mode bei Überprivilegierten aller Schichten, darüber zu lamentieren, wie »benachteiligt« sie aufgewachsen sind, um ihre ach so gewaltigen Leistungen herauszustellen. In dieser Zeit der Überfülle an Informationsmüll aus dem Internet ist Übertreibung an der Tagesordnung. Unterm Strich war mein Tag ohne Milch sicher hart, aber auf lange Sicht spielte er keine Rolle … Mittlerweile mag ich Milch nicht mal mehr.

Seither ging es mit meinem Leben aufwärts; es war erfüllt, abwechslungsreich und milchfrei. Nach der relativen Enge der Yehudi Menuhin School und der Juilliard School (künstlerischer Mittelmäßigkeit) erweiterte sich mein Horizont glücklicherweise, und ich durfte mit Robert Plant(1), Roger Daltrey(1), Pete Townshend(1), John Entwistle(1), Paul McCartney(1), Kate Bush(1), Jean-Luc Ponty, Stéphane Grappelli(1) und natürlich, wie zu erwarten, mit vielen klassischen Interpreten zusammenarbeiten, von Yehudi Menuhin(1) bis André Previn(1).

Außerdem war mir viel denkwürdige Zeit mit Freunden aus den Reihen der Boxer und Fußballer vergönnt, nicht zu vergessen die großen Augenblicke mit den ehrenwerten und großartigen Fans und Spielern des Clubs, dem wir den Fußball verdanken, wie wir ihn heute kennen: ASTON VILLA F. C. Es ist mit Abstand das größte Team, das die Welt je gesehen hat.

Für mich gehören Erinnerungen nur dann in ein Buch von mir, wenn sie entweder amüsant sind oder ein Ungleichgewicht korrigieren. Ich respektiere die Balance als Gegenpol zum Bullshit, und das innere Bullshit-o-Meter, das ich schon in jungen Jahren entwickelte, ermöglichte es mir, um mich herum ein ausgewogeneres Umfeld zu schaffen für meine Freunde und Kollegen in und außerhalb der musikalischen Welt. Genau darum und um nichts anderes ging es bei all den Scharmützeln, die ich mit Plattenfirmen, der BBC, der bayerischen Polizei, Dirigenten und anderen Machthabern von eigenen Gnaden ausgefochten habe. Es ist ein Verbrechen, uns unsere Welt von Schwachköpfen jeder Art verderben zu lassen. Näheres dazu später!

Frage: Nige, wozu schreibst du ein Buch für mich?

Antwort: Kurze Frage, lange Antwort. Vor vier Jahren boten mir eine Menge Leute eine Menge (wenn auch nicht genügend!) Moos, damit ich meinen Sechzigsten feiere. Was für eine alberne Idee. Sechzig ist ein durch und durch unbemerkenswertes Alter, zu jung zum Sterben, aber nicht jung genug, um unumstrittener Boxweltmeister im Weltergewicht zu werden wie Lloyd Honeyghan oder Sugar Ray Leonard. Und so sagte ich denen denn auch: »Kommt nicht in die Tüte, ihr Arschgeigen.«

Mittlerweile bin ich (fast) vierundsechzig, was denn schon ein weit amüsanteres Alter ist. So werde ich in einem Jahr kostenlos mit dem Bus fahren können, und man wird mich mit einem Song der berühmtesten Band aller Zeiten assoziieren. Es ist ein Alter, in dem man zwar noch eine Zukunft, aber andererseits auch genügend Jahre auf dem Buckel hat, um einige potenziell interessante Reminiszenzen zu haben. Ich schreibe das hier für Sie – einen Freund, der vielleicht mal in einem meiner Konzerte war oder sich eine meiner Platten zugelegt hat. Oder für den Fall, dass Sie nie was von mir gehört haben: Kommen Sie doch rein, setzen Sie sich, schlendern Sie ein bisschen rum und hören mal rein. Und falls Sie ein Fan des wichtigsten Vereins der Welt sein sollten, dem der Fußball alles verdankt – angefangen beim Ligaformat: Es gibt ein ganzes Kapitel über Aston Villa.

Wir sehen uns dann auf der nächsten Seite.

Nigel Kennedy

Aller Anfang

Aller Anfang, Teil 1

Angefangen hat alles 1956 in Brighton; geboren zu werden lässt sich ja bekanntlich nicht vermeiden. Meine Mutter hatte es alles andere als leicht. Die Klavierstunden waren nicht sonderlich einträglich, und da so das nötige Kleingeld für einen Babysitter fehlte und meine Mutter alleinerziehend war, lag ich in einem Kinderbettchen unterm Klavier, während sie einem endlosen Reigen von Schülern Unterricht gab. Das Haus gehörte einem Zahnarzt, der seine Praxis in den beiden unteren Etagen hatte, während wir oben zur Miete wohnten. Die Wohnung bestand aus einer Küche, einem Wohnzimmer, in dem das Klavier stand, und drei winzigen Zimmern mit schrägen Wänden (ich weiß jetzt nicht mehr, ob es eine Mansarde oder ein Dachboden war). Den Zahnarzt jedenfalls schien es nicht zu stören, dass da klassische Musik durch die Decke kam, während er mit Bohrern, Hämmern und Zangen an seinen Opfern zugange war. Wahrscheinlich hat er durch die einschläfernden Klänge einiges Geld für die Narkose gespart, ganz zu schweigen davon, dass das Ganze seinen Quälereien einen nobligen Anstrich gab. Meine Mama hatte zu viel Geschmack, um etwas anderes als intellektuelle Musik zu unterrichten; der Zahnarzt musste sich also keine Sorgen machen, dass da ein Hitchcock-Soundtrack heruntertönte.

Rechnerisch gesehen rentierte sich diese Kombi aus Babysitting und Unterricht gleich in dreifacher Hinsicht: Der Zahnarzt wurde kostenfrei musikalisch beschallt, es brauchte keine Babysitter und darüber hinaus gab es vom ersten Tag an noch kostenlosen Musikunterricht für meiner Mutter Sohn. Nicht nur bekam ich unter dem Klavier Bach(1), Beethoven(1), Chopin(1) und Konsorten zu hören, die Led-Zeppelin-eske(1) Lautstärke hob auch die wichtigen inneren Stimmen der Musik hervor. Das Unvermögen von Schülern und Sängern, auf ihre Kollegen im Orchester einzugehen, ist oft frustrierend, und die leblosen musikalischen Resultate zeugen von einem Mangel an harmonischem Verständnis dafür, was die anderen Musiker spielen. Ich denke mir dann immer: »Wo zum Geier sind die denn? In einer Telefonzelle, verflucht noch mal? Was ist mit den Komponisten und all den anderen großartigen Musikern, mit denen sie auf der Bühne stehen? Wo ist ihr Gefühl für die Situation, für die Kollegen, das Publikum? Mann, das ist alles so was von mechanisch.«

In solchen Augenblicken muss ich an meine Zeit unterm Klavier zurückdenken, die mir zu einem besseren Verständnis für Harmonie und das größere musikalische Ganze verholfen hat, das zu erlangen andere, die ganz auf die Entwicklung ihres technischen Könnens konzentriert sind, nie eine Chance haben. Dieser Mangel an Wissen in der Brust des Interpreten ist der Grund dafür, dass klassische Musik so oft zwar beeindruckend klingt, irgendwie aber nichts zu passieren scheint. Hey! Grünschnäbel! Wenn ihr wollt, dass das Publikum die von euch gespielte Musik wirklich schätzt und ihr die Musik auch selbst wirklich schätzen wollt, dann schlage ich vor, ein bisschen Klavier oder Gitarre zu lernen, um euch das Wissen in Sachen Harmonie anzueignen, das es in eurem Job braucht.

Die Yehudi Menuhin School

Im Alter von sechs Jahren hatte ich bereits Klavierunterricht bei meiner Mum und lernte seit einiger Zeit Violine bei Amina Lucchesi(1), einer ausgezeichneten Lehrerin in Brighton. Ich zog das Klavier zwar vor, kam aber auf beiden Instrumenten gut voran. Miss Lucchesi(2) erzählte meiner Mutter zu dieser Zeit, dass Yehudi Menuhin(2) jüngst eine Musikschule für Hochbegabte aufgemacht hatte und ich ihrer Ansicht nach das Zeug dazu hätte, um dort unterzukommen. Wie für viel zu viele andere Mütter auf dieser Welt kam auch ich für meine Mum gleich nach Jesus Christus, und eh ich mich’s versah, war ein Vorspielen arrangiert.

Zum Vorspielen fuhren wir nach London, mein erster Besuch in unserer hammergeilen Hauptstadt. Ich fand mich in einem Raum mit drei Typen wieder, von denen der eine sich als Yehudi Menuhin(3) entpuppte; links und rechts neben ihm saßen Marcel Gazelle(1) (der musikalische Direktor) und Robert Masters(1) (der Chef der Streicher oder was weiß ich). Da ich mich in keinster Weise unter Druck gesetzt sah, besonders gut abschneiden zu müssen, stellte für mich das Ganze nur eine interessante neue Erfahrung dar. Da ich erst einige Monate Violine spielte, war ich mir sicher, dass ich nicht wie ein Weltmeister rüberkam, aber am Klavier war ich ganz okay. Gazelle(2) und Masters(2) waren nur irgendwelche merkwürdigen Anzugtypen, die eben zufällig dabei waren, aber Menuhin(4) mochte ich. Er war derjenige, der mit mir sprach, und da ich zu meinem fünften und sechsten Geburtstag ein paar seiner Alben bekommen hatte, kam er mir wie ein Bekannter vor. Zuerst bat er mich ein, zwei musikalische Phrasen nachzusingen, die Gazelle(3) am Klavier spielte. Kein Problem. Dann spielten sie mir ein paar musikalische Phrasen vor, für die ich mir eine zweite Hälfte ausdenken sollte. Ich mochte das Spiel und machte meine Sache gut. Und natürlich spielte ich ihnen ein bisschen was vor, sowohl auf der Violine als auch auf dem Klavier. Damit hatte es sich. Nach dem Vorspielen ging Mum mit mir in den Londoner Zoo. Ich sah ein paar Giraffen, Schimpansen und Gorillas und durfte mich auf einen Elefanten setzen. Alles in allem ein guter erster Tag in London. Danach ging es zurück nach Brighton.

Schließlich ließ man meine Mutter wissen, dass ich die Aufnahmeprüfung bestanden hatte. Aber so toll das auch war – schließlich bedeutete es, dass ich Talent hatte –, verdiente meine Mutter bei Weitem nicht genug für die immensen Schulgebühren, die dort anfielen. Und so hieß es denn auch gleich wieder GAME OFF. Klassische Musik war offensichtlich ein Spiel, das ausschließlich Kindern irgendwelcher Geldsäcke vorbehalten war. Bei einem Telefonat mit meiner Mutter sagte ihr Menuhin(5) jedoch, sie solle die Hoffnung nicht aufgeben, vielleicht ließe sich da etwas arrangieren. Kurz darauf kam ein Brief von ihm, in dem es hieß, er habe ein Stipendium für mich arrangiert. Das Menuhin-Stipendium, so schrieb er, würde Schulgebühren und Unterkunft abdecken, und zwar für die ganze Zeit, in der ich an der Schule war. GAME ON.

Es sah ganz so aus, als hätte Menuhin(6) meine Fähigkeit gefallen, für musikalische Phrasen einen zweiten Teil zu komponieren, und außerdem hatte ich auf der Fiedel offensichtlich nicht nur die Noten getroffen, sondern auch klanglich Eindruck gemacht. Etwas schmerzlich sollte die Trennung von Amina Lucchesi(3) werden, weil ich sie mochte; sie gab mir nicht nur Süßigkeiten, sie hielt mich auch für gut genug für ihr persönliches Schülerorchester. Ich fand es aufregend, endlich mit anderen jungen Musos aus meiner Gegend spielen zu können, anstatt immer nur Einzelunterricht zu haben und allein vor mich hinzuüben. Dass sie eine großartige Lehrerin gewesen sein muss, sieht man schon daran, dass sie einige Jahre später zwei weitere ihrer Schüler an der Menuhin School unterbrachte. Sie war damit die einzige Lehrkraft, von der mehr als ein Schüler an diese so winzige wie exklusive Schule kam. Was mich anbelangt, so hatte ich einen ausgezeichnet strukturierten Unterricht bei Amina Lucchesi(4); sie hatte ein wirklich solides Programm. Und das alles sollte ich über mein Zuhause hinaus jetzt hinter mir lassen, um einen großen Schritt ins Unbekannte zu tun.

Die Idee zu seiner Schule ist sowohl ein Kind von Menuhins(7) Begeisterung als auch seiner Enttäuschung über die russischen Konservatorien. Offensichtlich hatten er und seine Gattin bei einer Russlandreise die Produkte selbiger zu hören bekommen. Ein junger Violinist nach dem anderen stand auf und spielte mit unglaublicher Fertigkeit, aber ohne Seele und Individualität, was Yehudi(8) überlegen ließ: Was, wenn er in England eine ähnliche Schule aufzöge, nur eben mit einer humaneren musikalischen Agenda? Es schien ihm so nützlich wie erfüllend. Ihm schwebte eine ganzheitlichere und entschieden philosophischere Ausbildung junger Talente vor. Ich halte es mit der Ansicht, dass man jedem Zwergaffen1 das Violinspielen beibringen kann, und das mit beeindruckenden Ergebnissen, solange er ausreichend Arme, Hände und Finger hat. Die weit brennendere Frage ist, ob jemand mit all seiner technischen Fertigkeit auch tatsächlich etwas zu sagen hat. Dem Zwergaffen die Möglichkeit ästhetischer Überlegungen zu erschließen, ist weit wesentlicher, als ihn endlos technische Fingerspielereien wiederholen zu lassen.

Wie an den russischen Schulen mochten die mit ihren diversen Aufgaben betrauten Lehrer zwar die musikalischen respektive schulischen Referenzen haben, nur hatten sie, wie ihr vermutlich längst erraten habt, absolut keine Ahnung, wie man mit Kindern umgeht. Ergebnis all dessen waren eine Menge hochtalentierter, richtungsloser, unglücklicher kleiner Scheißer. Was soll groß an Positivem dabei herauskommen, wenn man ein siebenjähriges Kind vier Stunden lang allein in einem Raum üben lässt? Meine persönliche Art, damit umzugehen, bestand darin, fünfzehn Minuten zu üben und mich dann eine halbe Stunde auf dem Klo in einen Science-Fiction-Roman zu vertiefen (ein Genre, das ich bei meinem Mitinsassen Simon Parkin(1) aufgeschnappt hatte). So verschwendete ich einen ordentlichen Teil meiner Zeit. Einige von uns Jungs machten einen Wettbewerb daraus, unsere Violine fallen zu lassen (die Mädchen machten so etwas nicht – was keine sexistische Bemerkung, sondern einfach eine Tatsache ist). Ziel dabei war es, die Violine so geschickt fallen zu lassen, dass sie nicht brach. Das entwickelte sich recht zufriedenstellend, bis die Fallhöhe eines Nachts die des obersten Stockbetts überschritt. So knapp unter der Zimmerdecke losgelassen, wirkte auf die Violine freilich eher die Schwerkraft als das Geschick, sodass dabei eine wertvolle Gagliano zu Schaden kam. Das Knirschen des Holzes war so aufregend wie das scharfe Jaulen der Saiten des italienischen Instruments, weniger freilich die neue Form. Hier mussten kreative Erklärungen für die Obrigkeit her. Eines jedoch stand fest: Selbst die russischen Schulen kamen bei dieser violinistischen Form des Russisch Roulette nicht gegen die unsere an. Als uns der Wettbewerb zu beschwerlich und riskant wurde, verlegten wir uns darauf, aufs Dach zu klettern … (natürlich ohne Sicherheitsnetz).

Das Problem, dass man als junger Scheißer Planung und Einhaltung der eigenen Übungszeit unmöglich selbst übernehmen kann, hatte ein Ende, als die Obrigkeit auf die Idee kam, unangekündigt vorbeizukommen und uns beim Üben zuzuhören. Eine dieser Aufsichtspersonen, Mrs. Masters(1), die Frau von Robert Masters(3), dem Mann, der Yehudis(9) britisches Orchester mit aufbauen half, nickte dabei regelmäßig ein, möglicherweise weil sie mein Spiel zu langweilig fand. Ich machte mir das auf Quidproquo-Basis zunutze – wenn sie es nicht der Mühe für wert fand, die gesamte ermüdende Übungssession über dabeizubleiben, hatte ich dazu auch keine Lust. Immerhin war sie der Profi von uns beiden. Kaum sah ich ihren Kopf wegkippen, war ich auch schon zum Fenster raus, um irgendwo außer Sichtweite Fußball zu spielen. Ich hätte zu gern ihr Gesicht gesehen, wenn sie aufwachte und sich in einem leeren Übungsraum wiederfand – was freilich aus geographischen Gründen nicht ging. Wie es schien, waren wir zu einer stillschweigenden Übereinkunft gekommen. Ich machte meinen Job nicht, sie machte den ihren nicht, und so wurde ich denn auch nie verpetzt. Womöglich verschlief sie auch die musikalischen Leiden anderer Kinder, denn im folgenden Jahr war sie nicht mehr da. Sie fehlte mir, wenn auch aus den falschen Gründen.

Die Welt, in der wir lebten, war Yehudi Menuhins(10) Schöpfung und hatte mit den besten Absichten begonnen, aber irgendwie war die Schule eine Mischung aus Gormenghast und Hogwarts. Ich habe noch mit keinem Ehemaligen gesprochen, der sie als wunderbaren Ort in Erinnerung gehabt hätte. Was mich angeht, so bin ich aufrichtig dankbar für Menuhins(11) Großzügigkeit, fühle aber nicht weniger aufrichtig für einige meiner Mitschüler, die dort für den Rest ihres Lebens traumatisiert wurden. Einige der Probleme dort sind mir nicht wichtig genug, um hier auf sie einzugehen, schließlich habe ich die Erfahrung völlig unversehrt überstanden, aber ich stehe nach wie vor zu allem, was ich in einem Zeitungsinterview gesagt habe, auf das hin mir die Schule mit einem Prozess gedroht hat, anstatt die Probleme anzugehen.

Die Schule hatte freilich auch viel Gutes zu bieten und daneben so einiges, das fast schon komisch anmutete, und ich bin mir sicher, dass Yehudi Menuhin(12) selbst dafür verantwortlich war. So gab es jeden Sonntagvormittag Unterricht in einer anderen Religion oder Philosophie, damit wir nicht Gefahr liefen, der einen oder anderen von religiösen Vorurteilen bestimmten selbstherrlichen Propaganda auf den Leim zu gehen. Sprüche wie »Unser Gott ist besser als euer Gott« oder »Es gibt nur einen Gott« sind so was von schwachsinnig. Wir wissen alle, dass Aston Villa FC die einzigen Götter sind. Das Jahrbuch des Vereins gehörte leider nicht zu den diversen Kopföffnern, die man uns in kleinen Dosen verabreichte, aber Buddhismus, Taoismus, Judaismus, Christentum, die Werke von Dostojewski(1), Tolstoi(1) und anderen gehörten dazu. Auch die Musik kam an diesen Sonntagvormittagen nicht zu kurz. Wir sangen Bach(2)-Choräle, bis dann einer von uns ein eigenes, eigens für die Stunde geschaffenes Werk zu präsentieren hatte. Für so einige dieser Werke zeichnete ich verantwortlich.

YOGA: Wann immer Yehudi(13) selbst in der Schule vorbeischaute, war er einer weiteren Marotte zum Opfer gefallen, die er dann uns unschuldigen Kindern aufs Auge drückte. Einmal waren es Scholls – klobige kleine Holzbrettchen, die wir an den Füßen zu tragen hatten, sodass wir mehr durch die Gegend stolperten als gingen. Ein andermal war es Bio-Strath, eine Nahrungsmittelergänzung, die uns als widerlicher brauner Trunk das Frühstück verdarb. Außerdem gab es Algentabletten, die in unseren Hosentaschen landeten und dann beim Waschen zu betonartigen Gebilden mutierten. Das Schlimmste freilich war das Yoga. Der Lotussitz war unbequem. Es war alles irgendwie albern. Und um das alles, wenn auch unbeabsichtigt, noch schlimmer zu machen, setzte man uns einen dicken Guru vor die Nase, der uns die Freude am Tischtennis verdarb, indem er die Platte dazu missbrauchte, uns all diese Albernheiten zu demonstrieren. Die Form der Platte war nie wieder die alte, nachdem sie sich seinem Gewicht ausgesetzt gesehen hatte. Wenn es mehrere Gründe dafür gibt, warum etwas scheiße ist, dann ist es normalerweise auch wirklich scheiße, also ist Yoga scheiße, denn 1) es ist unbequem, 2) es ist albern, 3) es lässt einen Fettsack die Tischtennisplatte verbiegen, 4) es ist eine kulturelle Aneignung fauler Arschgeigen, die darin einen Aerobic-Ersatz sahen und die spirituelle Komponente mitsamt ihrem halb verdauten Kentucky Fried Chicken zum Klo runterspülten, und 5) Menuhin(14) selbst fiel beim Yoga auf den Kopf, was sowohl seine Omme als auch seine Wirbelsäule schlimmer in Mitleidenschaft zog, als ihm das ohne Yoga je hätte passieren können. Da haben Sie’s … fünf Gründe … die beweisen, dass Yoga beschissener als scheiße ist.

Yehudi Menuhin with his yoga teacher B. K. S. Iyengar

RÜHREIER