Das neunte Gemälde

Cover

Inhaltsverzeichnis

Pablo Picasso

Stillleben mit Herz-As und Weinglas mit Kreuz-As. Im Pariser Winterquartier an der Rue Caulaincourt hatte die künstlerische Symbiose der beiden kubistischen Pioniere einen vorläufigen Höhepunkt erreicht und auch der nachfolgende Sommer 1914 sollte wieder wechselseitige Inspiration schenken. In geradezu euphorischer Vorfreude hatte Georges Braque die rund fünfhundert Kilometer lange Reise von Paris ins südfranzösische Sorgues mit dem Fahrrad angetreten. Picasso wartete schon und auch André Derain war mit von der Partie. Vieles sprach also dafür, dass es wieder produktive Wochen werden würden, wie einst im August 1912. Doch schon bald zogen dunkle Wolken über dem provenzalischen Himmel auf und den Männern war klar, was das für die beiden Franzosen zur Folge haben würde. Der Pinsel war gegen das Bajonett zu tauschen und der Zug zurück in Richtung Norden sollte direkt an die Front führen. Der Spanier hingegen war fein raus und wurde später mit den Worten zitiert: »Ich habe den Künstler Braque seither nie wiedergesehen.«

Rendezvous mit der Vergangenheit

Freitag, 22. April 2016, 9:25 Uhr,
auf dem Weg zum Flughafen Köln/Bonn und ebendort

Lennard Lomberg hatte es sich im Fond des Großraumtaxis bequem gemacht und blickte durch das halb geöffnete Schiebedach in einen wolkenlosen Himmel. Dem Rheinland stand ein sonniger Frühlingstag bevor. Zwölf Grad, Nieselregen, leichte Böen, lautete die Vorhersage für Central London. Er würde sich sofort wieder heimisch fühlen.

Peter Barrington hatte sich tags zuvor gemeldet und Lombergs Pläne für das Wochenende kurzerhand über den Haufen geworfen: ein hastig anberaumter Termin für den Freitagnachmittag, bei dem Lomberg die Joker-Rolle zugedacht war. Der designierte Neukunde hörte auf den Namen Cranston Ludlow Pelham – kurz CLP – und der war ihm natürlich ein Begriff. Bert Cranston und Peter kannten sich aus dem Reform Club, den Lomberg kannte, weil er Peter kannte. Die unverschämt erfolgreiche Investor-Relations-Agentur hatte sich zum zwanzigjährigen Firmenjubiläum mit einer haushohen Wandinstallation des legendär exzentrischen Künstler-Duos Gilbert & George beschenkt. Höchste Zeit für eine angemessene Versicherung, zumal die hinterleuchteten, an Glasmalerei erinnernden Fotomontagen schon längst im nicht minder pompösen Empfang der Firma hingen. Der Kunstversicherer Walcott war ein naheliegender Kandidat für den lukrativen Auftrag, aber es mussten noch ein paar Details geklärt werden. Wie immer in einem solchen Fall, galt es zunächst ein Wertgutachten zu erstellen, wobei nicht nur der gezahlte Kaufpreis zu berücksichtigen war. Auch die

Es war die schon gewohnte Mischung aus Vorfreude und Wehmut, mit der Lomberg seine Reise nach London antreten sollte. Die britische Hauptstadt war ihm ab Anfang der Neunziger für immerhin vierundzwanzig Jahre eine zweite Heimat gewesen. Seine Kollegen beim Auktionshaus Christie’s wollten den damals aufgekommenen Gerüchten um seinen Abschied deshalb auch erst keinen Glauben schenken. Schließlich gehörte Lomberg als mehrfacher Träger des Weißen Handschuhs nicht nur längst zum Inventar, sondern gar zu den Kronjuwelen des Hauses. Die von ihm ins Leben gerufene und fortan alle zwei Jahre kuratierte Brit Postwar & Contemporary-Auktion hatte im Jahr 2003 für seinen endgültigen Durchbruch gesorgt: White Glove Sale, einhundert Prozent verkaufte Lose. Lomberg sollte diesen Erfolg noch dreimal wiederholen und galt deshalb als unter Artenschutz gestellt. So verrückt kann er doch nicht sein! Doch der Flurfunk in der King Street sollte irren. Lennard Lomberg, Senior Expert für Europäische Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, hatte seinen begehrten Job tatsächlich an den Nagel gehängt. Bei seiner Verabschiedung im Januar 2015 begnügte sich der ansonsten für seine Eloquenz bekannte Kunsthistoriker mit einer vergleichsweise kurzen Ansprache. Etwas unverbindlich, für seine Verhältnisse fast schon ungelenk, war von einem neuen Kapitel die Rede. Eine Reise in die Zukunft fand Erwähnung und diese würde zugleich ein Zurück zu seinen Wurzeln bedeuten. Auch das Ziel der Reise kam zur Sprache. Sie sollte zurück nach Deutschland führen. In seine erste Heimat, die alte Hauptstadt Bonn.

Dieser Schritt schien lange undenkbar. Zu privilegiert war seine berufliche Situation, die private in mancher Hinsicht zwar ungeklärt, aber mindestens auch komfortabel. Das elegante Flat in den Pembridge Mews, das Büro in St. James’s, der Club in Mayfair. Das Westend war zu Lombergs Westentasche geworden. Gründe, sein Königreich gelegentlich zu verlassen, lagen, wenn überhaupt, in Luxemburg und später dann auch im Rhône-Tal. Besuche in

Den Anfang machte seine in England aufgewachsene Tochter Julie, die ihn im Sommer 2012 mit der Nachricht überraschte, ein Studium in Deutschland zu beginnen. Die fraglos mutige, aber auch ziemlich eigensinnige Entscheidung war dabei nicht nur von akademischen Zielen geleitet. Lomberg begriff das sofort und war erstmalig ins Grübeln gekommen.

Gute eineinhalb Jahre später trat der auf lange Sicht absehbare, aber dann doch plötzliche Erbfall ein, durch den Lomberg zum Eigentümer des Familiensitzes in Bonn geworden war. Mutter Elisabeth Lomberg hatte das längst zu groß gewordene Stadthaus nach dem Tod ihres Mannes fast zwanzig Jahre alleine bewohnt. Bis zu jenem wolkenverhangenen Tag im Oktober 2014, an dem die seinerzeit dreiundachtzigjährige Lady ihren gewohnten Mittagsschlaf antrat, ohne wieder aufzuwachen. Eine weitere Zäsur.

Und schließlich, nur wenige Wochen später, sollte Leo Aschenbrenner seinen Weg kreuzen. Der Kunsthistorikerkollege von der Bonner Universität berichtete von einer vakanten Gastprofessur an dem von ihm geleiteten Kunsthistorischen Institut. Die Sache war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen.

Für den Geschäftsmann Lennard Lomberg bedurfte es allerdings noch der Bestärkung durch seinen Mentor Peter Barrington. Sein vormaliger Chef bei Christie’s war 2009 auf den Hochsitz beim Kunstversicherer Walcott gewechselt und für neue Geschäftsideen die kritische Instanz, die es zu überzeugen galt. »Männer, die auf die fünfzig zugehen, können brillante Kunstgutachten auch in Bonn schreiben«, hatte Sir Peter schließlich geurteilt und nebenbei ein paar eigene Ideen beigesteuert, »damit sich das auch rechnet.«

Der Taxifahrer hatte den obligatorischen Stau auf der A 59 vorsorglich umfahren und stattdessen die Landstraße quer durch den militärischen Sperrbezirk der Wahner Heide gewählt. Lomberg

»LenLo International Art Advisors. Guten Tag.«

»Guten Tag, mein Name ist Dupret. Gilles Dupret«, gab sich der offenkundig französische, aber akzentfrei Deutsch sprechende Anrufer zu erkennen. »Spreche ich mit Dr. Lennard Lomberg?«

»Ganz recht. Was kann ich für Sie tun? Kennen wir uns?«

Lomberg hatte den Namen Dupret noch nie gehört und daraus sogleich geschlossen, dass der Anruf wohl doch nichts mit der Grafenberg-Sache zu tun haben würde.

»Nein, Herr Dr. Lomberg, wir kennen uns nicht. Oder ich sollte sagen: Sie kennen mich nicht. Es geht um einen speziellen kunsthistorischen Sachverhalt, über den ich mich gerne mit Ihnen austauschen würde. Passt es Ihnen gerade oder darf ich mich zu einem anderen Termin nochmals melden?«

Lomberg nahm den höflichen Tonfall des Anrufers wohlwollend

»Ich sitze gerade im Taxi und erreiche in circa zwanzig Minuten mein Ziel. So lange können wir meinetwegen reden«, bot Lomberg etwas gönnerhaft an. »Worum geht es denn?«

»Bevor ich zu meinem eigentlichen Anliegen komme, darf ich vielleicht ein paar Worte vorab verlieren?«

»Bitte sehr.«

»Ich bin Vertreter einer privaten Stiftung. Europäisches Ausland. Die Stiftung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Pflege des Kulturerbes und der Kunstförderung engagiert. Dabei wurde auch vormals privater Kunstbesitz an renommierte Museen weitergegeben. Weltweit und das auch in bedeutendem Umfang, darf ich anmerken.«

»Sehr lobenswert. Die Verdienste Ihrer Stiftung stehen gewiss außer Frage. Aber wie es sich für mich anhört, wollen Sie mir deren Namen leider verschweigen?«

»Ich bitte um Verständnis. Die Umstände zwingen mich dazu. Vorerst jedenfalls.«

»Das ist etwas ungewöhnlich und auch nicht unbedingt vertrauensbildend, Monsieur Dupret.«

»Es sind auch ungewöhnliche Umstände«, erwiderte Dupret knapp. Lomberg war für einen Moment versucht, das Gespräch vorzeitig zu beenden, entschied sich nach einigem Zögern jedoch um.

»Also gut. Was haben Sie mir zu sagen?«

»Die erwähnte Stiftung ist seit geraumer Zeit im Besitz eines Gemäldes, dessen Geschichte, wie soll ich sagen, als prekär zu bezeichnen ist.« Dupret legte wieder eine kurze Pause ein, auf die Lomberg jedoch nicht einstieg. »Der Stiftungsratsvorsitzende hat bislang aus persönlichen Gründen von einer Rückgabe des Werks abgesehen.«

»Sie sagten Rückgabe?«

»Ja, das sagte ich.«

»Monsieur Dupret, was soll das Versteckspiel? Wollen Sie nicht einfach das Kind beim Namen nennen?«

 

-Beutekunst. Lomberg galt als ausgewiesener Experte für das Thema, das ihn nun schon seit zwei Jahrzehnten nicht mehr loslassen wollte. Nicht ohne Grund: Lombergs Doktorarbeit aus dem Jahr 1995 behandelte die Wiedergutmachungspolitik der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit dem Raub von Kunstschätzen durch die Nationalsozialisten während des Krieges. Auf Drängen seines Doktorvaters war Lombergs Promotion schließlich in einem Buch gemündet, das sich im Laufe der Jahre mit rund siebzehntausend Exemplaren auch nennenswert verkaufte und unerwartet hitzige Kontroversen auslöste. Während die Publikation in der internationalen Kunsthistoriker-Gemeinde wohlwollend aufgenommen wurde, traf sie in den betroffenen politischen Kreisen auf heftigen Widerspruch. Vereinzelt wurde sogar der Vorwurf von Nestbeschmutzung erhoben, nicht zuletzt, da Lombergs Forschungsarbeit mit öffentlichen Mitteln aus der Bundeskasse bezuschusst worden war.

 

»Ihre Vorahnung ist nur zu berechtigt, Herr Dr. Lomberg. Bei dem betreffenden Werk handelt es sich um ein Gemälde, das einst einer jüdischen Sammlerfamilie in Frankreich gehörte und 1942 von den Nazis enteignet wurde. Nach dem Krieg gelangte das Bild in den Besitz jener Familie, die später die erwähnte Stiftung gründete.«

»Ich muss Sie enttäuschen, Dupret. Das ist nicht mehr mein Metier«, wiegelte Lomberg ab, der nicht die geringste Lust verspürte, sich der alten und obendrein auch persönlich konfliktbeladenen Thematik erneut zuzuwenden.

»Sie gelten als Spezialist auf diesem Sektor. Immerhin haben Sie darüber publiziert.«

»Aber das ist zwanzig Jahre her.«

»Darf ich trotzdem fortfahren?«

»Meinetwegen.«

»Die Lage hat sich aus bestimmten Gründen verändert. Die Stiftung möchte das Bild jetzt zurückgeben.«

»Verstehe. Und Sie suchen einen Kunstexperten, der Ihnen dabei hilft, den rechtmäßigen Besitzer ausfindig zu machen? Tut mir leid,

»Womöglich.«

»Nein, nicht womöglich, Monsieur Dupret, sondern ganz sicher!« Lombergs Stimmung begann zu kippen, doch Dupret zeigte sich unbeeindruckt.

»Im Umfeld der Stiftung gibt es Stimmen, die die Angelegenheit von der Firma Artclaim in Montreal erledigen lassen wollen. Der Name Artclaim sagt Ihnen sicher etwas, nehme ich an?«

»Natürlich«, erwiderte Lomberg, »eine gute Wahl. Die weltweit erste Adresse für solche Angelegenheiten. Umso weniger brauchen Sie jemanden wie mich. Die Kollegen bei Artclaim haben allerdings momentan ganz ordentlich mit der Modigliani-Sache zu tun, würde ich vermuten.«

 

Am 3. April 2016 waren infolge eines drei Terrabyte großen Datenlecks vertrauliche Unterlagen der panamaischen Offshore-Firma Mossack Fonseca an die Öffentlichkeit gelangt. Seitdem überschlugen sich die Medien mit immer neuen Meldungen über die systematische Geldwäsche und Steuerhinterziehung von vermeintlich seriösen Unternehmen und Privatpersonen, die nun der Reihe nach aufflogen. Die sogenannten Panama Papers gaben dem Skandal auch gleich einen Namen, der es in kürzester Zeit zu weltweiter Bekanntheit brachte. Und auch ein zuvor bestens gehütetes Geheimnis der Kunstwelt war damit ans Licht der Öffentlichkeit gelangt. Modiglianis verschollener Homme assis war in einem Freilager in Genf gefunden worden. Der Sitzende Mann, einst von den Nazis im besetzten Frankreich requiriert, war nach einer langen Odyssee in den Besitz des Nahmad-Clans gelangt. Die libanesisch-monegassischen Galeristen hatten ihre Geheimnisse bei Mossack Fonseca lange Zeit gut behütet gewusst, mussten sich jetzt aber peinliche Fragen stellen lassen. Die von den vermeintlich rechtmäßigen Erben des Gemäldes eingeschaltete Kunstdetektei Artclaim drosch mit einer ganzen Heerschar von Anwälten auf die Nahmads ein und inszenierte nebenbei ein mediales Inferno, um deren Ruf für immer zu

 

»Sie können davon ausgehen, dass Artclaim diesen Auftrag ganz sicher annehmen würde. Und zwar mit Kusshand!« Duprets Worte klangen jetzt wie eine Drohung.

»Ich verstehe Sie nicht, Dupret. Worauf wollen Sie hinaus? Was wollen Sie eigentlich von mir?«

Dupret ließ sich vom nunmehr unverhohlen ärgerlichen Ton Lombergs nicht aus der Ruhe bringen. »Nur mal angenommen, die Stiftung geht den Handel mit Artclaim ein …«

»… das möge sie doch bitte tun.«

»… dann ist im Zweifel anzunehmen, dass die spezielle Geschichte des besagten Gemäldes ohne Rücksicht auf Verluste ans Tageslicht gezerrt wird.«

»Ich bitte Sie, Dupret, im Zweifel hat die Öffentlichkeit ja wohl einen Anspruch darauf, diese spezielle Geschichte zu kennen. Ich verspüre wirklich nicht die geringste Lust, den Ruf Ihrer Stiftung zu retten und meinen dabei aufs Spiel zu setzen.«

»Auf Ihren Ruf, Dr. Lomberg, komme ich gleich noch zu sprechen.«

»Was soll denn das bitte schön heißen?«

»Aufgrund der Lage der Dinge wäre das Aufsehen beträchtlich. Nicht nur in der Kunstszene, auch in anderen Kreisen.«

»Mag ja sein. Ist aber nicht mein Problem. Ich denke, wir sollten das hier jetzt beenden.«

»Nicht so voreilig, Lomberg!« Am schlagartigen Wechsel des Tonfalls spürte er, dass Dupret endlich zur Sache kam. »Anstelle von Artclaim könnte die Rückführung des Gemäldes von Ihnen persönlich sichergestellt werden. Auf diskretem Wege, meine ich.«

»… Und das sollte auch in Ihrem ureigenen Interesse liegen!«

»Wie bitte?«

»Weil so, besser gesagt nur so, der Name Lomberg aus der Sache rausgehalten werden kann. Das wäre doch bestimmt in Ihrem Sinne, nicht wahr? Wir waren ja gerade schon beim Thema Ihres Rufs, der bekanntermaßen untadelig ist …« Lomberg verschlug es förmlich die Sprache. Dupret nutzte seine Verunsicherung sofort aus und legte nach: »Privat wie auch geschäftlich.«

»Sagen Sie mal Dupret, wovon reden Sie da? Was soll das? Ist das jetzt eine Art Erpressung, oder was?«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass ich irgendeine Forderung gestellt hätte«, antwortete Dupret mit eisiger Gelassenheit. »Ich habe Ihnen nur ein Angebot gemacht. Nicht mehr, nicht weniger.«

»So was nennen Sie ein Angebot?«

»Glauben Sie mir, ich habe meine Gründe. Wir können uns darüber unterhalten. Persönlich, unter vier Augen. Sie erreichen mich unter der Nummer, unter der ich Sie angerufen habe. Ich erwarte Ihren Terminvorschlag. Gute Reise.«

Lomberg schaute versteinert auf sein iPhone und war über das von Dupret abrupt beendete Telefonat immer noch so konsterniert, dass er die Frage des Taxifahrers erst nach zweimaliger Wiederholung vernahm.

»Altes Terminal, Eingang C«, antwortete er schließlich.

 

Esther hatte Lomberg wie gewohnt online eingecheckt. Ohne Umwege begab er sich zur Sicherheitskontrolle, die er unbeanstandet durchlief, um auf direktem Wege Gate C9 anzusteuern. Im Wartebereich lag neben den einschlägigen deutschen Zeitungen auch die englische Presse aus. Er entschied sich, alter Gewohnheit folgend, für den Guardian und setzte sich zu den schon zahlreich wartenden Fluggästen. Er überflog ein paar Wasserstandsmeldungen zum bevorstehenden Brexit-Referendum, faltete die Zeitung sorgsam zusammen und verstaute sie im Handgepäck. Lombergs Stimmung

»Was ist mit diesem Dupret, Lenn?«

»Komische Sache. Ruf den Mann bitte unter der Nummer an, die ich dir geschickt habe. Nicht sofort, später am Tag. Sag ihm, dass ich ihn am kommenden Montag um 18:30 Uhr hier am Flughafen treffe. Direkt im Anschluss an meinen Rückflug. In der StäV, altes Terminal. Sag ihm auch, dass ich exakt dreißig Minuten Zeit habe. Lass dir den Termin bestätigen und gib mir dann Bescheid. Details später. Danke!«

Dreieinhalb Tage später, Montag, 25. April 2016, 18:30 Uhr,
Flughafen Köln/Bonn, Gaststätte Ständige Vertretung

Die knapp vier Tage in London waren angenehm kurzweilig und nebenbei auch erfolgreich verlaufen. Bert Cranston von CLP hatte schon nach weniger als einer Stunde keine Lust mehr auf Details und drängte bereits vor Vertragsunterzeichnung auf einen Standortwechsel. Die erste Station war mit drei Sternen dekoriert: Alain Ducasse at the Dorchester. Von dort ging es gegen elf in den einst mondänen Roof Gardens Club auf der Kensington High, bevor der Abend schließlich am frühen Morgen in einer Karaoke-Bar in Soho endete. Lomberg war wie immer bei seinem Freund am Holland Park einquartiert. Peter hatte für den Samstag Karten besorgt und vorgeschlagen, die weniger als vier Kilometer zum Craven Cottage zu Fuß zu bewältigen, um den Restalkohol des Vorabends auszuschwitzen. Der unerfreuliche Zweitliga-Kick ging mit 1:3 an die Gäste aus Nottingham und verfestigte die Misere von Lombergs Herzensclub Fulham FC. Doch Lombergs Laune war nur für kurze Zeit getrübt. Den Abend im The Arts Club mit Peter und einer Reihe von alten Bekannten aus dem Londoner Kunstbusiness genoss er in vollen

Die zwischenzeitlich von Esther bestätigte Verabredung mit Dupret kam ihm erst auf der Rückreise am Montag wieder in den Sinn. Er hatte ab Paddington Station den Heathrow Express genommen, der mit fünfzehn Minuten Fahrzeit bis Terminal Eins konkurrenzlos schnell war. Aus dem Stimmengewirr der zahlreichen Geschäftsleute war wieder der drohende Brexit als bestimmendes Thema herauszuhören. Lomberg genoss das Privileg der doppelten Staatsbürgerschaft. Für den immer noch unglaublichen Fall eines EU-Austritts des Vereinigten Königreichs hielten sich seine Sorgen bislang in Grenzen. Dennoch löste die politische Geisterfahrt der Tories auch bei ihm zunehmendes Unbehagen aus.

 

Vom Gate kommend passierte Lomberg eilig den Übergang vom Sicherheitsbereich ins alte Terminal. Leuchtdisplays klärten ankommende Reisende ungefragt über das sogenannte Kölsche Grundgesetz auf. Die provinzielle Selbstverliebtheit der großen Nachbarstadt ging ihm schon seit jeher auf den Wecker. Dennoch entschied er sich kurze Zeit später für ein Glas Obergäriges, nachdem er den Flughafenableger der Ständigen Vertretung überpünktlich um 18:20 Uhr betreten hatte. Lomberg hatte einen der zentral postierten Stehtische gewählt, um für neu ankommende Gäste gut sichtbar zu sein. Das Lokal war nur spärlich besucht. An der Theke sammelte sich eine fünfköpfige Gruppe von Männern in funktioneller Freizeitkleidung, die offenbar von einer Urlaubsreise zurückgekehrt und bester Laune waren. Weiter hinten an der Theke: eine elegant gekleidete Frau mittleren Alters, die sich nervös mit ihrem Smartphone beschäftigte, sowie, an einem anderen Stehtisch, zwei Geschäftsleute, denen ein offenbar nur mäßig erfolgreicher Arbeitstag deutlich ins