Kevin Brooks

Bunker Diary

Roman

Aus dem Englischen von
Uwe-Michael Gutzschhahn

Logo

Montag, 30. Januar

10.00 Uhr.

Das ist alles, was ich weiß. Ich befinde mich in einem rechteckigen Bau mit niedriger Decke. Er besteht aus weiß getünchtem Beton, ist circa zwölf Meter breit und achtzehn Meter lang. In der Mitte gibt es einen Flur, von dem ungefähr auf halbem Weg ein etwas kürzerer Flur zu einem Aufzugschacht abgeht. An dem Hauptflur liegen sechs kleine Zimmer, drei auf jeder Seite. Alle gleich groß, dreieinhalb mal fünf Meter, jedes mit einem Stahlrohrbett, einem ungepolsterten Stuhl und einem Nachttisch. Am einen Ende des Flurs ist ein Badezimmer, am andern eine Küche. Gegenüber der Küche befindet sich ein offener Bereich, mit einem rechteckigen Holztisch und sechs Holzstühlen in der Mitte. An jeder Ecke hat der Bereich eine L-förmige Sitzbank. Es gibt keine Fenster. Auch keine Türen. Der Aufzug ist der einzige Weg rein oder raus.

Das Ganze sieht etwa so aus:

S015.jpg

Im Bad gibt es eine Stahlwanne, ein Waschbecken aus Stahl und eine Toilette. Keinen Spiegel, keine Schränke, keine Ablagen oder sonst was. In der Küche befinden sich eine Spüle, ein Tisch, ein paar Stühle, ein Elektroherd, ein kleiner Kühlschrank und ein Wandschrank. Im Schrank stehen eine Plastikschüssel zum Abwaschen, sechs Plastikteller, sechs Plastikgläser, sechs Plastikbecher, sechs Plastikbesteck-Sets.

Wieso sechs?

Keine Ahnung.

Ich bin der Einzige hier.

Es fühlt sich hier drinnen an wie unter der Erde. Die Luft ist schwer und feucht. Sie ist nicht wirklich feucht, fühlt sich aber so an. Und es riecht alt hier und doch neu. Es wirkt, als gäbe es den Bau schon lange, aber anscheinend wurde er nie benutzt.

Es gibt nirgendwo Lichtschalter.

An der Flurwand hängt eine Uhr.

Das Licht geht morgens um acht Uhr an und um Mitternacht aus.

Tief in den Wänden hört man einen leisen Brummton.

12.15 Uhr.

Nichts passiert.

Die Zeit vergeht zäh.

Ich dachte, er wäre blind. So hat er mich erwischt. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich auf den Trick reingefallen bin. Ich gehe es in Gedanken wieder und wieder durch und hoffe, dass irgendwas anders läuft, doch es kommt immer das Gleiche heraus.

Es ist am Sonntag passiert, frühmorgens. Gestern Morgen. Ich tat nichts Besonderes, hing bloß in der Halle der Liverpool Street Station rum, versuchte, halbwegs warm zu bleiben, und schaute nach irgendwelchen Überresten von Samstagnacht. Ich hielt die Hände in den Taschen, hatte die Gitarre auf dem Rücken und die Augen zu Boden gerichtet.

Sonntagmorgen ist eine gute Zeit, um etwas zu finden. Am Samstagabend betrinken sich die Leute. Danach rennen sie zum letzten Zug, der nach Hause fährt. Lassen Sachen fallen: Bargeld, Kreditkarten, Mützen, Handschuhe, Zigaretten. Die meisten guten Sachen erwischen die Reinigungsleute, aber manchmal übersehen sie was. Einmal habe ich eine gefälschte Rolex gefunden. Hab einen Zehner dafür kassiert. Deshalb lohnt es sich immer zu schauen. Doch gestern Morgen habe ich nur einen kaputten Regenschirm und eine halb leere Schachtel Marlboro gefunden. Den Schirm habe ich weggeworfen, aber die Zigaretten behalten. Ich rauche zwar nicht, aber Zigaretten kann man immer gebrauchen.

Da war ich also, hing bloß so rum und beschäftigte mich mit meinen eigenen Gedanken, als plötzlich zwei Bahnhofswachleute aus einer Seitentür traten und auf mich zukamen. Einer von ihnen gehörte zum Stammpersonal, ein junger Schwarzer, der Buddy heißt und normalerweise ganz okay ist, aber den anderen kannte ich nicht. Mir gefiel nicht, wie er aussah. Er war ein schwerer Typ mit Schirmmütze und Stahlkappen vorn an den Schuhen. Und er wirkte, als ob er Streit suchte. Vielleicht stimmte das gar nicht, vielleicht hätten sie gar nichts von mir gewollt, aber es ist immer besser, auf Nummer sicher zu gehen. Also senkte ich den Kopf, zog die Kapuze über und verschwand Richtung Taxistand.

Und da sah ich ihn. Den Blinden. Regenmantel, Hut, dunkle Brille, weißer Stock. Er stand am Heck von einem dunklen Lieferwagen. Einem Transit, glaube ich. Die Hecktüren waren offen, davor stand ein schwer aussehender Koffer. Der Blinde quälte sich, den Koffer hinten in den Lieferwagen zu kriegen. Es gelang ihm nicht. Irgendwas stimmte mit seinem Arm nicht, er steckte in einer Schlinge.

Es war immer noch ziemlich früh und der Bahnhof verlassen. Ich hörte, wie die beiden Wachleute mit ihrem Schlüsselbund klimperten und über irgendwas lachten. Am Klack-klack von den Schritten des Stämmigen erkannte ich, dass sie sich entfernten, Richtung Rolltreppe, die zu McDonald’s hochführt. Ich wartete ein bisschen, nur um sicher zu sein, dass sie nicht zurückkamen, dann schaute ich wieder zu dem Blinden. Bis auf den Ford Transit war der Taxistand leer. Keine schwarzen Cabs, kein Mensch, der wartete. Es gab nur mich und den Blinden. Einen Blinden, dessen einer Arm in einer Schlinge lag.

Ich überlegte.

Wenn du willst, kannst du einfach verschwinden, sagte ich mir. Du musst ihm nicht helfen. Du kannst dich einfach still und leise verdrücken. Er ist blind, er würde es bestimmt nicht mal merken.

Aber ich verschwand nicht.

Ich bin ja ein netter Junge.

Ich hustete, um ihm zu signalisieren, dass ich da war, dann ging ich hin und fragte, ob ich ihm helfen könne. Er sah mich nicht an. Er hielt den Kopf gesenkt. Und ich fand das ein bisschen merkwürdig. Aber dann sagte ich mir, vielleicht machen das Blinde so. Ich meine, wozu jemanden angucken, wenn du den andern doch nicht sehen kannst?

»Ist wegen dem Arm«, murmelte er und deutete auf die Schlinge. »Ich kann den Koffer nicht richtig greifen.«

Ich beugte mich hinab und hob den Koffer an. Er war nicht so schwer, wie er aussah.

»Wo wollen Sie ihn hinhaben?«, fragte ich.

»Hinten rein«, sagte er. »Danke.«

Es gab niemanden sonst in dem Lieferwagen und auch niemanden auf dem Fahrersitz. Was ein bisschen überraschend war. Auch die Ladefläche des Ford Transit war so gut wie leer, bis auf ein Seil, ein paar Plastiktüten und eine verstaubte alte Decke.

Der Blinde sagte: »Macht es dir etwas aus, mir den Koffer ganz nach vorn hinter die Sitze zu stellen? Dann kriege ich ihn später leichter wieder heraus.«

Mir wurde jetzt ein bisschen mulmig. Irgendwas war nicht in Ordnung. Was machte der Typ hier? Wo wollte er hin? Wo kam er her? Wieso war er völlig allein? Verdammte Scheiße, wie konnte er Auto fahren? Ein Blinder mit gebrochenem Arm?

»Wenn es dir nichts ausmacht«, sagte er.

Vielleicht ist er ja nicht vollständig blind, überlegte ich. Vielleicht sieht er ja noch genug zum Fahren. Oder vielleicht ist er einer von denen, die nur so tun, als ob sie behindert sind, damit sie eine Sonderplakette zum Parken bekommen.

»Bitte«, sagte er. »Ich habe es eilig.«

Ich zuckte die Zweifel fort und stieg in den Lieferwagen. Was ging es mich an, ob er blind war oder nicht? Trag ihm einfach den Koffer in den Wagen und dann ist gut. Such dir ein warmes Plätzchen. Gedulde dich, bis der Tag in die Gänge kommt. Schau, wen du triffst – Lugless, Pretty Bob, Windsor-Jack. Warte ab, was passiert.

Ich bewegte mich gerade auf die Sitze zu, als ich spürte, wie plötzlich die Federn des Lieferwagens nachgaben, und ich wusste, dass der Blinde hinter mir eingestiegen war.

»Ich zeig dir, wohin«, sagte er.

In dem Moment wusste ich, dass ich gelinkt worden war, doch es war schon zu spät, und als ich mich umdrehte, um ihn anzusehen, packte er meinen Kopf und drückte mir ein feuchtes Tuch aufs Gesicht. Ich begann zu würgen. Ich sog Chemikalien ein – Chloroform, Äther, keine Ahnung, was. Ich konnte nicht atmen. Es war keine Luft da. Meine Lunge brannte. Ich dachte, ich müsste sterben. Ich wehrte mich, stieß mit Ellenbogen und Beinen um mich, trat, stampfte, warf den Kopf herum wie ein Idiot, doch es half nichts. Er war stark, viel stärker, als er aussah. Seine Hände packten meinen Schädel wie in einen Schraubstock. Nach ein paar Sekunden wurde mir schwindelig, und dann …

Nichts mehr.

Ich muss ohnmächtig geworden sein.

Das Nächste, was ich mitbekam, war, dass ich in einem Rollstuhl in einer großen Stahlkiste saß. Mein Kopf fühlte sich ganz zermatscht an und ich war auch nur halb wach. Für einen kurzen Moment dachte ich wirklich, ich wäre tot. Vor mir sah ich nur einen nach hinten laufenden Tunnel aus kaltweißem Licht. Ich hielt ihn für den Tunnel des Todes. Ich dachte, ich läge in einem Stahlsarg begraben.

Als mir schließlich dämmerte, dass ich nicht tot war, dass es kein Sarg war, dass die große Stahlkiste in Wahrheit einfach ein Aufzug war, dass die Lifttür offen stand und der Tunnel nichts anderes war als ein nackter weißer Flur, fühlte ich mich so erleichtert, dass ich einen Moment lang fast lachen musste.

Das Gefühl hielt nicht lange an.

Was passiert ist, nachdem ich aus dem Rollstuhl aufgestanden und in den Flur getaumelt war, weiß ich nicht genau. Vielleicht habe ich wieder das Bewusstsein verloren, keine Ahnung. Ich erinnere mich nur noch, wie sich die Aufzugtür schloss und der Lift nach oben fuhr.

Ich glaube nicht, dass er sehr weit fuhr.

Ich hörte, wie er anhielt – g-dong, g-donk.

Inzwischen war es neun Uhr abends. Mir war immer noch schlecht und ich fühlte mich benommen. Immer wieder würgte ich einen grässlichen Geschmack von Chemikalien hoch. Ich hatte Todesangst. Ich stand unter Schock. War zittrig und vollkommen verwirrt. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.

Ich ging in eines der Zimmer und setzte mich auf das Bett.

Drei Stunden später, genau um zwölf, ging das Licht aus.

Ich saß eine Weile in dem versteinerten Dunkel und horchte, ob der Aufzug wieder nach unten kam. Ich weiß nicht, was ich erwartete, vielleicht ein Wunder oder auch einen Albtraum. Aber da war nichts, gar nichts. Kein Aufzug, keine Schritte. Keine rettenden Reiter, keine Monster.

Nichts.

Der Ort war so tot wie ein Friedhof.

Ich überlegte, ob der Blinde vielleicht darauf wartete, dass ich einschlief, doch das ging nicht. Ich war hellwach. Und meine Augen standen weit offen.

Aber anscheinend war ich doch müder gewesen, als ich dachte. Entweder das oder es waren die Nachwirkungen von dem Zeug, mit dem er mich betäubt hatte. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.

Ich weiß nicht, wie spät es war, als ich endlich einschlief.

Als ich heute Morgen aufgewacht bin, war es immer noch dunkel. Ich hatte nicht dieses Gefühl von »Wo bin ich?«, das man angeblich kriegt, wenn man an einem fremden Ort aufwacht. Sobald ich die Augen aufschlug, wusste ich, wo ich war. Ich wusste natürlich immer noch nicht, wo ich wirklich war, aber ich wusste, es war dasselbe unbekannte Dunkel, in dem ich eingeschlafen war. Ich erkannte das Unterirdische der Luft wieder.

Der Raum war schwärzer als alles. Lichtlos. Sichtlos. Ich tastete mich zur Tür und trat hinaus auf den Flur, aber dort war es nicht anders. Stockfinster. Ich wusste nicht, ob ich die Augen auf oder zu hatte. Sah nichts. Wusste nicht, wie spät es war. Konnte nicht mal vermuten, wie spät es war. Es gibt hier nichts, woran du dich halten kannst. Keine Fenster, keinen Ausblick, keinen Himmel, keine Geräusche. Nur undurchdringliches Dunkel und dieses nervige tiefe Brummen in den Wänden.

Ich fühlte mich wie ein Nichts. Das im Nichts existiert.

Schwärze überall um mich rum.

Ich berührte immer wieder die Wände und tappte mit dem Fuß auf den Boden, um mich zu überzeugen, dass es mich wirklich gab.

Ich musste aufs Klo.

Ich hatte den Flur etwa halb geschafft, tastete mich an der Wand entlang, als plötzlich das Licht anging. Plong! Ein stummer Blitz und der ganze Ort wurde von einer Flut aus sterilem Weiß erhellt. Es erschreckte mich zu Tode. Mehr als fünf Minuten lang konnte ich mich nicht rühren. Ich stand nur da, mit dem Rücken zur Wand, und versuchte, mir nicht in die Hose zu machen.

Die Uhr an der Wand tickte.

Ticktack, ticktack.

Und es zog meinen Blick zu ihr hin. Es war mir auf einmal total wichtig zu wissen, wie spät es war, die Bewegung der Zeiger zu sehen. Irgendwie schien mir das bedeutsam. Ein Zeichen von Leben, nehme ich an. Etwas Verlässliches.

Es war fünf nach acht.

Ich ging aufs Klo.

Um neun kam der Aufzug wieder runter.

Ich stöberte gerade in der Küche herum, auf der Suche nach etwas, das sich als Waffe eignete – etwas Scharfes oder Schweres, etwas Scharfes und Schweres. Kein Glück. Alles hier ist entweder festgeschraubt, an die Wand geschweißt oder aus Plastik. Ich schaute gerade in den Herd und überlegte, ob ich wohl irgendein Metallteil dort rausreißen könnte, als ich auf einmal hörte, wie der Aufzug startete – g-dong, g-donk. Ein schweres, surrendes Geräusch, ein hartes Klonk, ein scharfes Klick

Und dann das Geräusch des herunterkommenden Fahrstuhls – nnnnnnnnnn

Ich packte die Plastikgabel fester und trat hinaus in den Flur. Die Lifttür war geschlossen, aber ich hörte, wie der Aufzug näher kam – nnnnnnnnnnnn

Meine Muskeln spannten sich. Meine Finger umklammerten die Gabel. Es fühlte sich lächerlich an, sinnlos. Der Aufzug hielt an. G-donk. Ich brach das Ende der Gabel ab, rieb mit dem Daumen über das raue, scharfe Endstück und wartete, dass die Lifttür aufging – mmm-kschhh-tkk.

Nichts.

Der Aufzug war leer.

Als ich klein war, habe ich immer wieder von einem Aufzug geträumt. Der Traum spielte in einem großen Hochhaus mitten in der Stadt, direkt an einem Kreisverkehr. Ich wusste nicht, was das für ein Gebäude war. Ein Wohnblock, ein Bürohaus, irgendwas in der Art. Und ich wusste auch nicht, in welcher Stadt es stand. Es war nicht meine Stadt, so viel wusste ich. Sie war riesig, irgendwie grau, mit vielen hohen Gebäuden und breiten grauen Straßen. So ein bisschen ähnlich wie London. Eine Traumstadt.

In meinem Traum ging ich in das Hochhaus hinein und wartete auf den Aufzug, beobachtete die Leuchtanzeige, und als der Aufzug herunterkam, trat ich ein, die Tür ging zu, und plötzlich merkte ich, dass ich gar nicht wusste, wohin ich eigentlich unterwegs war. Ich wusste nicht, in welche Etage ich wollte. Welchen Knopf ich drücken sollte. Ich wusste überhaupt nichts. Der Aufzug ruckte, fuhr los und dann setzte die Traumpanik ein. Wohin fahre ich? Was tun? Soll ich einen Knopf drücken? Soll ich um Hilfe schreien?

An mehr erinnere ich mich nicht mehr.

Heute Morgen, als der Aufzug herunterkam und die Tür aufging, hielt ich eine Weile Distanz, stand ein Stück entfernt und starrte hinüber. Ich weiß nicht, was ich erwartete. Wahrscheinlich wollte ich nur sehen, ob irgendetwas geschah. Aber nichts passierte. Schließlich, nach ungefähr zehn Minuten, trat ich vorsichtig näher und schaute hinein. Ich ging nicht wirklich hinein, sondern stand nur an der offenen Tür und schaute mich um. Viel zu sehen gibt es im Aufzug nicht. Keine Bedienelemente. Keine Knöpfe, keine Leuchten. Keine Luke in der Decke. Nichts außer einem Prospekthalter aus Plexiglas, der an die hintere Wand geschraubt ist. Durchsichtiges Plexiglas. DIN-A4-Größe. Leer.

Draußen an der Flurwand neben dem Aufzug hängt ein passendes Gegenstück, gefüllt mir leeren Blättern. Seitlich davon ist ein Kugelschreiber an der Wand befestigt. ???

Es ist jetzt kurz vor Mitternacht. Ich bin inzwischen fast vierzig Stunden hier. Stimmt das? Ich glaube schon. Jedenfalls bin ich sehr lange hier und nichts ist passiert. Ich bin immer noch hier. Immer noch am Leben. Starre noch immer die Wände an. Schreibe diese Worte. Denke nach.

Tausend Fragen sind mir durch den Kopf gegangen.

Wo bin ich?

Wo ist der Blinde?

Wer ist er?

Was will er?

Was hat er mit mir vor?

Was soll ich machen?

Ich weiß es nicht.

Okay, aber was weiß ich?

Ich weiß, dass man mir nicht wehgetan hat. Ich bin unverletzt. Beine, Arme, Füße, Hände. Alles funktioniert.

Ich weiß, dass ich Hunger habe.

Und Angst.

Und dass ich verwirrt bin.

Und wütend.

Meine Taschen wurden geleert. Ich hatte einen Zehn-Pfund-Schein in einer Socke versteckt, jetzt ist er weg. Der Blinde muss mich gefilzt haben.

Scheißkerl.

Wahrscheinlich weiß er, wer ich bin. Keine Ahnung, woher, aber es muss so sein. Es ist das Einzige, was Sinn macht. Er weiß, ich bin der Sohn von Charlie Weems, er weiß, dass mein Dad stinkreich ist, er hat mich gekascht, weil er Geld will. Mich entführt. Das ist es. Eine Entführung. Wahrscheinlich hat er sich schon bei Dad gemeldet. Hat die Nummer von irgendwoher und ihn angerufen, ein Lösegeld gefordert. Eine halbe Million in gebrauchten Scheinen in einem schwarzen Lederkoffer, abzustellen an einer Autobahntankstelle. Keine Polizei, oder er wird mir die Ohren abschneiden.

Ja, das ist es. Das muss es sein.

Eine schlichte Entführung.

Dad rast wahrscheinlich gerade über die Autobahn, total zugedröhnt mit Kognak und Dope, müde und mürrisch, angepisst, dass ich ihn wieder mal eine Menge koste. Ich sehe sein verkniffenes Gesicht förmlich vor mir, wie er im Schein der Autobahnlichter mit blutunterlaufenen Augen durch die Windschutzscheibe blinzelt und blöde vor sich hin murmelt. Ja, ich sehe ihn. Wahrscheinlich fragt er sich, ob er nicht hätte feilschen sollen, hundertfünfzig für mich bieten, sich bei dreihundert einigen.

Das Erste, was er sagen wird, wenn er mich zurückhat, ist garantiert: »Wo hast du die letzten fünf Monate gesteckt? Ich hab mir wahnsinnige Sorgen gemacht.«

Das Licht ist ausgegangen.

Dienstag, 31. Januar

8.15 Uhr.

Tag drei.

Ich habe seit Samstag nichts mehr gegessen.

Ich sterbe vor Hunger.

Warum gibt er mir nichts zu essen? Was ist mit ihm? Wieso zeigt er sich nicht? Wieso droht er mir nicht, wieso zieht er nicht härtere Saiten auf, wieso sagt er mir nicht, ich soll tun, was er sagt, und die Klappe halten, dann passiert mir nichts … wieso macht er überhaupt nichts? Absolut gar nichts.

Wieso bin ich noch hier?

Wo ist Dad?

Ich glaube langsam, Dad hat sich geweigert, das Lösegeld zu zahlen. Das würde ihm ähnlichsehen. Ich kann mir genau vorstellen, wie er glaubt, das Ganze ist bloß ein Witz oder eine Falle. Dass ich mich selbst entführt habe. Ja, das wird es sein. Verwirrtes Kind mit Pseudo-Promi-Vater sucht um jeden Preis Aufmerksamkeit und inszeniert seine eigene Entführung, um seinem Dad eins auszuwischen.

Scheiße.

Ich hab solchen Hunger.

Im Nachttisch liegt eine Bibel. Gestern Abend hab ich mich so sehr gelangweilt, dass ich angefangen habe, drin rumzublättern. Irgendwann merkte ich, dass ich mich so sehr nun doch nicht langweilte, und legte sie wieder in die Schublade zurück.

Es gibt in jedem Zimmer eine Bibel. Ich habe nachgeschaut. Bibel in der oberen Schublade, leeres Notizbuch und Stift in der mittleren. Dieses Notizbuch hier, dieser Stift.

Die Schubladen haben Schlösser und auf jedem Nachttisch liegt auch ein kleiner Schlüssel. Sechs Schlüssel, sechs Notizbücher, sechs Stifte, sechs Zimmer, sechs Teller …

Sechs?

Nein, wieso, das habe ich noch nicht rausgefunden.

Die Notizbücher sind von guter Qualität – schwarzer Ledereinband, glatte weiße Seiten. Leere Seiten. Viele leere Seiten. Ich weiß nicht, warum, aber das beunruhigt mich.

Der Stift ist ein Uni-Ball Eye micro, schwarz. Wasserfest/lichtecht. Von Mitsubishi Pencil Co. Ltd.

Nur falls es dich interessiert.

Es ist jetzt Viertel nach neun.

Seit einer Dreiviertelstunde ist wieder das Licht an.

Gestern Abend habe ich mich eine Zeit lang damit beschäftigt, die abgebrochene Plastikgabel zu schärfen. Ich hatte nur meine Fingernägel und meine Zähne als Werkzeug, aber ich glaube, ich habe es ganz gut hingekriegt. Sieht zwar nicht nach viel aus und umbringen kann ich damit sicher keinen, doch das Teil ist scharf genug, um Schäden zu verursachen.

Wenn ich recht habe, kommt in fünf Minuten der Aufzug von oben.

Er ist gekommen. Aber diesmal war er nicht leer.

Im Aufzug war ein kleines Mädchen.

Als ich es sah, blieb mir erst mal das Herz stehen und mein Hirn war wie taub. Ich konnte mich nicht rühren, nicht denken, nicht sprechen, überhaupt nichts. Es war mehr, als ich fassen konnte. Sie saß in dem Rollstuhl, demselben Rollstuhl, in dem auch ich gesessen hatte, ein bisschen zur Seite gekippt, die Augen geschlossen, den Mund halb offen. Ihre Haare waren total durcheinander und verknotet, ihre Kleider zerknittert und verdreckt. Auf ihren Wangen waren die Spuren von Tränen zu sehen.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wusste nicht, was ich fühlen sollte. Wusste überhaupt nichts. Ich stand nur einfach da, mit der geschärften Plastikgabel in der Hand, und starrte wie ein Idiot auf das arme kleine Mädchen.

Doch dann lief mein Herz heiß und ein Sturm der Gefühle schoss in mir hoch. Wut, Mitleid, Angst, Panik, Hass, Verwirrung, Verzweiflung, Trauer, Wahnsinn. Und ich wollte schreien und brüllen und die Wände einreißen. Ich wollte auf irgendwas einschlagen, auf irgendwen einschlagen. Auf ihn. Wie konnte er das tun? Wie konnte irgendjemand das tun? Verdammt, sie ist doch nur ein kleines Mädchen. Einfach bloß ein kleines Mädchen.

Ich schloss die Augen, holte tief Luft und ließ sie langsam wieder ausströmen.

Denk nach, sagte ich mir.

Denk nach.

Ich öffnete die Augen und betrachtete das Mädchen, suchte nach einem Lebenszeichen. Ihre Augen waren immer noch geschlossen, die Lippen bewegten sich nicht.

Atme … bitte atme.

Ich wartete, sah zu.

Nach ungefähr zehn Sekunden, die mir endlos schienen, ruckte ihr Kopf und sie rülpste leicht. Dann zuckten die Augen auf. Ich schüttelte die Lähmung aus meinem Körper, schoss in den Aufzug und schob sie heraus.

Sie heißt Jenny Lane. Sie ist neun. Sie war heute Morgen auf dem Weg zur Schule, als sie ein Polizist auf der Straße anhielt und ihr erklärte, ihre Mum hätte einen Unfall gehabt.

»Woher wusstest du, dass er Polizist war?«

»Er hatte eine Uniform an und eine Mütze auf. Er hat mir seine Dienstmarke gezeigt. Er hat gesagt, er fährt mich ins Krankenhaus.«

Sie fing wieder an zu weinen. Sie war in einem schrecklichen Zustand. Tränenströme, das Entsetzen in den Augen. Sie zitterte wie ein Blatt. Und sie hatte eine leichte Schürfwunde an der Lippe, ihr Knie war blau angelaufen und verschrammt. Aber das Schlimmste war, dass ihr Atem raste. In kurzen, scharfen, keuchenden Stößen. Es war beängstigend. Ich fühlte mich vollkommen hilflos. Ich weiß nicht, was man tun muss mit kleinen Mädchen, die unter Schock stehen. Ich weiß solche Sachen einfach nicht.

Nachdem ich sie aus dem Aufzug raushatte, brachte ich sie erst mal ins Bad und wartete draußen, bis sie sich sauber gemacht hatte. Dann holte ich ihr einen Schluck Wasser, brachte sie in mein Zimmer und versuchte, es ihr bequem zu machen. Es war das Einzige, was ich für sie tun konnte. Sie hinlegen. Trösten. Mit ihr reden. Sie anlächeln. Sie fragen, ob sie okay ist.

»Bist du okay?«

Sie schniefte und nickte.

»Hast du Schmerzen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Mein Bauch fühlt sich komisch an.«

»Hat er dir ein Tuch auf den Mund gedrückt?«

Sie nickte wieder.

»Was ist mit deinem Knie?«

»Hab ich mir angeschlagen. Ist nicht schlimm.«

»Hat er …?«

»Was?«

»Hat er …?« Ich hustete, um meine Verlegenheit zu kaschieren. »Hat er dich angefasst oder so?«

»Nein.« Sie putzte sich die Nase. »Wo ist er?«

»Weiß nicht. Irgendwo oben.«

»Was ist da oben?«

»Weiß nicht.«

»Wer ist er?«

»Weiß nicht.

»Wie heißt er?«

»Weiß nicht.«

»Kommt er hier runter?«

»Ich glaub nicht.«

Sie schaute sich um. »Was ist das hier? Wohnst du hier?«

»Nein, der Mann hat mich hergebracht.«

»Wozu?«

»Weiß nicht.«

Weiß nicht, weiß nicht, weiß nicht … nicht gerade die tröstlichsten Antworten, aber zumindest weinte sie nicht mehr. Auch ihr Atem beruhigte sich.

Ich fragte sie, wo sie wohnt.

»In 1 Harvey Close«, antwortete sie.

Ich lächelte. »Wo? In welcher Stadt?«

»In Moulton.«

»Moulton in Essex?«

»Ja.«

Ich nickte, dann gleich noch mal, und versuchte, mir etwas einfallen zu lassen, was ich ihr sagen könnte. Ich bin nicht so gut in Smalltalk. Keine Ahnung, was man neunjährigen Mädchen erzählt.

Ich fragte: »Wie spät war es, als dich der Polizist angesprochen hat?«

»Ungefähr halb acht.«

»Ist das nicht ein bisschen früh für die Schule?«

»Wir wollten einen Ausflug zur Nukularanlage machen.«

»Nuklear.«

»Was?«

»Nichts. Hast du deshalb keine Schuluniform an? Weil ihr einen Ausflug machen wolltet?«

»Hmm.«

Sie trug eine kleine rote Jacke, ein T-Shirt, Jeans und Turnschuhe. Auf dem T-Shirt war ein kleiner Tiger.

»Wie heißt du?«, fragte sie.

»Linus.«

»Wie?«

»Linus«, wiederholte ich, wie ich es fast immer tun muss. »Lai-nus.«

»Komischer Name.«

Ich lächelte. »Ja, ich weiß.«

»Gibt es hier irgendwas zu essen, Lai-nus?«

»Im Moment nicht.«

Ich schaute nach unten auf ihre Turnschuhe. Ziemlich neu, aber billig. Aufgeklebte Streifen. Ausgefranste Schnürsenkel.

Ich fragte: »Was arbeiten deine Mum und dein Dad, Jenny?«

»Wieso?«

»Interessiert mich nur, sonst nichts.«

Sie zog an ihren verknoteten Haaren. »Dad arbeitet in einem Baumarkt. Gefällt ihm da aber nicht.«

»Und deine Mum?«

Sie zuckte die Schultern. »Meine Mum ist meine Mum.«

»Arbeitet sie?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nee.«

»Dann seid ihr also nicht reich?«

Sie runzelte die Stirn. »Reich?«

»Vergiss es. Hier.« Ich gab ihr meine Kapuzenjacke. Es ist nicht kalt hier unten, aber sie zitterte wieder und ihr Gesicht war ganz blass. »Zieh das an, es hält dich warm.«

Also keine Entführung. Jedenfalls nicht aus Geldgründen. Von jemandem, der in einem Baumarkt arbeitet, kann er ja wohl kaum ein großes Lösegeld erwarten, oder? Und abgesehen davon: Wenn er weiß, wer ich bin, wozu entführt er dann ein zweites Kind? Ich meine, kein Mensch raubt erst eine Bank aus und hält dann unterwegs noch mal an, um einen Kaugummiautomaten zu knacken. Es sei denn, er ist ein Idiot.

Das ist Quatsch. Das ergibt keinen Sinn.

Keine Entführung.

Das heißt …

Was?

Ich muss hier raus, das heißt es.

Wir müssen hier raus.

Das Problem ist nur, ich weiß nicht, wie. Alles hier ist aus stabilem Beton. Die Wände, der Boden, die Decke. Der einzige Weg nach draußen ist der Aufzug. Aber das ist aussichtslos. Wenn der Aufzug runterkommt, bleibt die Tür offen. Wenn der Aufzug wieder rauffährt, schließt sich die Tür. Die Tür ist aus robustem Stahl. Durch und durch massiv. Und der Aufzug selbst wirkt unzerstörbar. Aber selbst falls ich irgendwie durch die Tür käme, wenn der Aufzug oben ist, was dann? Ich weiß nicht, was hinter der Tür ist. Ich weiß nicht, wie hoch der Aufzugschacht ist. Wer weiß, vielleicht besteht er aus dreißig Meter hohem Beton.

Außerdem beobachtet uns der Mann.

Heute Nachmittag, als Jenny schlief, habe ich mich noch mal umgeschaut. Ich meine, so richtig gründlich umgeschaut. Bin rumgegangen, hab dies nachgeguckt und das nachgeguckt, hab rumgestochert, vor Wände getreten, auf den Boden gestampft.

Es ist aussichtslos.

Genauso aussichtslos wie der Versuch, aus einem versiegelten Container zu fliehen.

Nach einer Weile setzte ich mich an den Esstisch und starrte zur Decke. Dabei dachte ich unwillkürlich an ihn da oben. Was tut er? Setzt er sich, steht er auf, geht er hin und her? Lacht er? Grinst er? Zwickt er sich in die Nase? Was tut er? Wer ist er? Was? Wer? Warum?

Wer bist du?

Was willst du?

Was ist der große Kick für dich?

Was ist dein großes Ding?

Und plötzlich, als all diese Fragen in meinem Kopf kreisten, merkte ich, was ich da oben eigentlich anstarrte. In die Decke war ein kleines rundes Gitter eingelassen, direkt über dem Esstisch. Meine Augen hatten es die letzten paar Minuten unentwegt angeschaut, aber ich hatte es nicht wahrgenommen. Ein kleines rundes Gitter, etwa zehn Zentimeter im Durchmesser, aus weißem Drahtgeflecht, bündig in der Decke befestigt. Ich starrte genau hin, überzeugte mich, dass ich es mir nicht einbildete, und dann schaute ich überall nach und entdeckte noch mehr solcher Gitter. Eins, zwei, drei, vier. Vier Stück, gleichmäßig über die Länge des Flurs verteilt.

Ich stand auf und sah in den anderen Zimmern nach.

Die Gitter sind überall. Eins ist im Aufzug, eins in der Küche, eins ist im Bad und eins in jedem der anderen Zimmer.

Ich ging zurück und stieg auf den Tisch, um mir die Sache genauer anzuschauen.

Jedes Gitter bildet einen perfekten Kreis und ist in zwei Hälften geteilt. Aus der einen Seite kommt ein schwacher, leicht warmer Luftstrom, in die andere Seite wird ein ähnlich schwacher Luftstrom eingesaugt. Belüftung, nehme ich an.

Heizung.

Aber da ist noch was.

Auf beiden Hälften des Gitters ist ein kleines Loch in den Fliegendraht geschnitten. In jedes Loch sind zwei wanzenartige Dinger eingelassen. Das eine ist eine flache Silberscheibe, ungefähr so groß wie eine Fünf-Pence-Münze, das andere sieht aus wie eine kleine weiße Perle mit einem winzigen Glasauge vorne drauf.

So etwa.

S037.jpg

Mikrofon.

Kamera.

Scheiße.

Ich hab versucht, das Teil rauszuziehen. Ich hab nach oben gefasst und meine Finger gegen das Gitter gedrückt, um Mikro und Kamera rauszureißen, aber ich hab sie nicht zu fassen gekriegt. Die Dinger sitzen zu fest und das Gitter ist zu stabil. Ich hab dran rumgeprokelt, alles genau betrachtet, mit der Handfläche davorgeschlagen. Noch mal davorgeschlagen. Mit der Faust dagegengehämmert. Richtig fest. Aber dabei habe ich mir nur die Haut an den Knöcheln aufgerissen, sonst ist nichts passiert.

Und dann bin ich durchgedreht.

Irgendwas in mir machte klack und plötzlich spuckte und schrie ich das Gitter an wie ein Geisteskranker. »Du WICHSER! Was willst du? Wieso zeigst du dein Scheißgesicht nicht? Wieso tust du nicht irgendwas? WAS WILLST DU?«

Er antwortete nicht.

11.30 Uhr.

Ich hab mich wieder ein bisschen beruhigt. Ich habe an beruhigende Dinge gedacht und die Wut im Kopf zum Schweigen gebracht. Unter der Oberfläche steckt aber immer noch die Todesangst und ich bin immer noch scheißwütend und möchte mir das Herz aus dem Leib brüllen, doch ich bin nicht mehr allein. Ich kann nicht mehr einfach tun, was ich will. Wenn ich tobe und schreie, geht es mir vielleicht ein Stück besser, aber Jenny tut es nicht gut. Sie hat so schon genug durchzustehen. Das Letzte, was sie jetzt braucht, ist ein Geisteskranker in ihrer Nähe.

Sie hat lange geweint, als sie heute Nachmittag aufwachte, schwere, verrotzte Tränen, die ihr übers Gesicht und in die Kleider liefen. Danach hat sie sich auf dem Boden zusammengerollt und leise vor sich hin gemurmelt. Das gefiel mir nicht, es machte mir Angst. Erst als sie wieder anfing zu weinen, ging es mir besser. Diesmal war ihr Weinen nicht so verrotzt und feucht, aber dafür viel heftiger. Sie hat nach ihrer Mum und ihrem Dad gerufen, sie hat gezuckt und gezittert, sie hat gewimmert, sie hat geschrien.

Ich hab alles versucht.

Ich hab mich neben sie gesetzt.

Auf sie aufgepasst.

Sie hat geschluchzt, sie hat geheult, sie hat gebebt, und ich hab bei ihr gesessen und auch ein paar stille Tränen geweint.

Ich wünschte, ich hätte mehr tun können, um ihr zu helfen.

Aber ich wusste nicht, was.

Später, als Jenny sich ausgeheult hatte, sagte sie, sie hätte Hunger. Sie maulte nicht rum oder so. Sie sagte bloß: »Ich hab Hunger.«

»Ich auch«, erklärte ich.

»Aber bestimmt nicht so großen wie ich.«

Wahrscheinlich hat sie recht. Ehrlich gesagt fühle ich den Hunger gar nicht mehr so stark. Aber ich weiß, dass er da ist. Ein paar Mal habe ich mich heute richtig müde und schlapp gefühlt, völlig kraftlos. Bestimmt kommt das davon, dass ich seit Langem nichts mehr gegessen habe. Noch mache ich mir keine großen Gedanken deswegen. Ich hab schon oft Hunger gehabt. Ich weiß, wie das ist. Man hält es sehr lange aus ohne Essen.

Scheiße. Durch das Nachdenken ist das Hungergefühl wieder stärker geworden.

Jedenfalls erleichtert es mich zu wissen, dass Jenny Hunger hat. Das ist doch ein gutes Zeichen, oder? Wie wenn du krank warst und keinen Appetit hattest, und dann geht es dir langsam besser und du kriegst wieder Hunger.

Ist doch gut, oder?

Keine Ahnung.

Was weiß denn ich? Ich bin doch nur ein Junge. Ich bin sechzehn. Ich hab keine Ahnung, wie man sich um andere kümmert. Kein Mensch hat sich je um mich gekümmert und ich selbst hab auch immer bloß auf mich aufgepasst.

Trotzdem sagt mir mein Bauchgefühl, dass es Jenny ein bisschen besser geht. Es ist natürlich nicht gut, dass sie Hunger hat. Aber es würde mir viel mehr Angst machen, wenn sie keinen Hunger hätte.

Vorhin, als ich den Rollstuhl zurück in den Aufzug stellte, hat mich Jenny gefragt, wozu das Plexiglasding an der Wand da ist. Sie nannte es Korb.

»Wozu ist der Korb da, Linus?«

»Weiß nicht.«

Sie sah ihn eine Weile an, dann schaute sie zu dem Gegenstück, das im Flur hing. Sie wirkte nachdenklich. Mit ihren klaren braunen Augen, dem neugierigen kleinen Mund.

»Wieso bitten wir ihn nicht um was zu essen?«, fragte sie. »Wieso schicken wir ihm nicht eine Nachricht?«

»Er weiß, dass wir Hunger haben«, antwortete ich.

Sie fasste nach oben und nahm ein Blatt Papier aus dem Prospekthalter. »Vielleicht will er ja, dass wir ihn bitten. Manche Leute sind so. Die geben dir nichts, wenn du sie nicht bittest.«

Ich sah sie an. Sie nahm den Stift von der Wand, dann hockte sie sich auf den Boden, legte das Blatt vor sich hin und machte sich zum Schreiben bereit.

»Worum soll ich bitten?«

Ich musste lachen. »Bitte ihn, uns gehen zu lassen.«

Sie schrieb: Bitte lass uns gehen.

»Was noch?«, fragte sie.

»Frag ihn, was er will.«

Sie schrieb: Was willst du.

»Vergiss nicht das Fragezeichen.«

Sie setzte das Fragezeichen dazu, dann schrieb sie: Bitte gib uns was zu essen. Brot. Käse. Äpfel. Chips. Schokolade. Milch. Und ein bisschen Tee.

»Du magst Tee?«, fragte ich.

»H-mm.«

Sie schrieb: Seife. Handtücher. Zahnbürsten und Zahnpasta.

Ich sagte: »Das kannst du gut.«

Sie warf mir einen Blick zu. »Ich bin ja kein Baby.«

»Entschuldigung.«

Sie nickte. »Sonst noch was?«

»Ich denke, das reicht.«

Sie schrieb: Danke. Dann stand sie auf, steckte das Blatt in den Prospekthalter im Aufzug und klemmte den Stift wieder an der Wand fest.

»Glaubst du, es klappt?«, fragte ich.

Sie zuckte die Schultern und wirkte mit sich zufrieden.

Ich sagte: »Es macht nichts, wenn es nicht klappt, was?«

»Nein.«

»Dann geht es uns auch nicht schlechter als jetzt.«

»Stimmt.«

Ich lächelte. »Ich glaube, du findest dich ganz schön schlau.«

»Schlauer als dich.«

Es ist jetzt fast Mitternacht. Was das Licht angeht, habe ich Jenny vorgewarnt.

»Um zwölf geht es aus«, habe ich ihr erklärt. »Dann wird es sehr dunkel. Aber keine Sorge, morgen früh geht es wieder an.«

»Ich hab keine Angst«, sagte sie. »Ich mag Dunkelheit.«