Kevin Brooks

Kissing the Rain

Roman

Aus dem Englischen von
Uwe-Michael Gutzschhahn

Logo

Dank an Bob Colover und Eric Frank für die Beantwortung meiner Fragen. Und an all die Frauen bei Chicken House –

Rachel, Alison, Laura, Elinor und Imogen –,

die so wunderbar waren. An Mary, die für mich gesorgt hat und eine gute Freundin war. Und schließlich an Barry für tausend gute Dinge, vor allem aber dafür, dass er mir die Tür geöffnet und mich in mein Leben hineingelassen hat. Es ist ein ziemlich gutes Gefühl, wenn die eigenen Träume wahr werden – und ich werde nie vergessen, wer das ermöglicht hat.

Danke.

1/ Der Anfang der WAHRHEIT

Du willst die WAHRHEIT wissen? Ich sag dir die WAHRHEIT – ich hab die Schnauze voll. Die Schnauze voll von dem ganzen Scheiß mit FETT-Sein, von Callan und Vine und der Brücke, der Autobahn, den Wagen, den Blicken, den Worten, den Lügen …

SCHEISSE.

Ich wünsch mir, ich hätt nie da oben gestanden … wär nie in die Sache REINGEZOGEN worden …

Echt, DAS isses, was ich mir wünsch. Nix gesehn, von nix was mitgekriegt. Ich? Hätt meine große Klappe halten solln. HAB NULL GESEHN, KLAR?

Jetzt weiß ich das.

Jetzt muss ich das in Ordnung bringen. Ich muss was machen. Was Schlimmes machen.

Schlimm = gut.

Gut = schlimm.

WAHRHEIT = Lüge.

Lüge = WAHRHEIT.

Du willst die WAHRHEIT wissen?

Ich erzähl dir die WAHRHEIT.

Okay – mal sehn, was Sache is. Letztes Jahr, Anfang November, kurz vor Guy-Fawkes-Nacht mit Feuerwerk, Krachern und Böllern, so gegen fünf Uhr nachmittags. Hab kalte Hände, der Himmel is voll Rauch, Knaller zerreißen die Luft, auch wenn’s dafür noch zu früh is, mein Atem macht ’ne Dunstfahne, als ich den Gartenweg Richtung Schuppen langstampfe. Bin schon halb dort, zieh mir grad die Jacke zu, als mir Mum aus der Hintertür nachruft.

»Hast du deine Handschuh, Moo?«

»Ja.«

»Sicher?«

»Ja, hab ich dabei.«

»Okay – bleib nich so lang. Soll noch Frost geben heut.«

Ich wink ihr über die Schulter zu.

Die Hintertür schlägt zu – klack.

Hol mein Rad außem Schuppen und schieb’s an der Rückseite vom Haus vorbei, den Weg lang und dann durchs Tor. Zieh mir die Handschuh an, die Kapuze hoch, knall das Gartentor zu, schieb mein Rad übern Gehsteig, schwing ein Bein übern Sattel, setz mich drauf, fahr an, heb den Arsch, steig in die Pedale, schalt mich nach oben, werd immer schneller, dann übern Bordstein am Ende der Straße und weg bin ich, nich mehr da, fahr durch die dunklen Straßen.

Unterwegs – am Dorfrand lang, weg von den Häusern, weg von den Leuten, auf die schmalen Wege durch Wiesen und Felder, dann in die Senke runter und danach den Berg hoch, bin wie wild am Strampeln, ’n fauchender KESSEL, und schwitz wie die Sau … SCHEISSE, wenn ich bloß nich so schwitzen würd. Is echt kalt und klebrig wie gefrierendes Blut, die eisige Luft brennt in der Kehle, tut weh wie blöd und die Fingerspitzen werden total taub … aber das is mir egal. Geb ich ’n SCHEISS drauf. Denn ich fahr DAHIN, wo ich sein will. Ich fahr zur Brücke … zu MEINER Brücke. Und das is das EINZIGE, was ich will.

Die Brücke.

Jaaah …

Die Brücke.

Die Geländer – dit, dit, dit –, die Stufen, der Beton, der stumpfe graue Stahl. Die Form, die Winkel, die Farben … der Verkehr auf der Straße darunter, wie er anschwillt und abschwillt … die Hintergrundgeräusche, das Uuuurrrrhhhhsshhhhmmmm … das Wuu-uuusch-wuu-uuusch-wuu-uuusch von den PKWs, LKWs, Sattelschleppern.

Der Gesang der Autobahn.

Kann’s jetzt schon hörn, wird lauter, als ich mich den Berg hochacker – wuu-uuusch-wuu-uuusch-wuu-uuusch –, kommt immer näher, dringt in mich ein. Der Gesang, die Autobahn, die Brücke … ich FÜHL’S, die ziehn ihr DING DURCH, bringen mich zum Grinsen, räumen mir den Kopf frei … jetzt bin ich fast da. Die Steigung läuft aus und ich fahr im Leerlauf, ganz locker, schwing mein Bein übern Sattel, spring ab und lande, ziemlich lässig für so’n FETTEN Typen – schade, dass mich jetzt keiner sieht. Ich hüpf ein, 2 Schritte, schieb das Rad bis zum Fuß der Stufen und lass los – kleng. Einfach so. Lass es liegen. Kein Problem – is ja keiner da außer mir.

Nur ich und die Brücke.

Ich und die Autobahn.

MEINE Brücke.

MEINE Autobahn.

Is dieselbe Autobahn wie vor 5 Jahren, dieselbe Autobahn, auf der wir hergekommen sind. Wusste ich damals noch nich, kannte die Brücke nich. KENN ich sie jetzt? Ja, tu ich. Tag um Tag. Sie is meine Erlösung. Mein ORT. Mein Schutz vorm REGEN. Keine Ahnung, von wo sie herkommt und wo sie hinführt … von irgend’nem Ort zu irgend’nem andern Ort, sag ich mal. Spielt aber keine Rolle … is IRRELI… IRRILE… egal. Fängt an und hört auf, bis wohin ich gucken kann. Der Rest … wen kümmert der Rest? Der Rest hat nix mit mir zu tun. Und die Brücke? Was is mit der Brücke? Wozu is die da? Was SOLL die? Ich will jedenfalls nirgendwo hin. Die Brücke geht von hier nach da, von dieser Seite der Autobahn zur andern. Und was is auf der andern Seite? Das Gleiche wie hier – nich viel. Wege, Straßen, kleine Orte, Felder, Hecken und so …

Wozu die Brücke da is?

Für MICH.

Jeden Tag …

Denn seit eh und je is jeder Tag gleich – Eintag, Zweitag, Dreitag, Viertag, Fünftag, dann Ramschtag und Grautag … jeder Tag bloß wieder so’n Tag … genau wie der Tag davor, genau wie der Tag davor, genau wie der Tag davor. Gibt nich viel, was passiert, nur den ewig gleichen Scheiß, immer und immer wieder …

Du weißt doch, wie das läuft.

Irgendwas muss man ja machen, stimmt’s?

Okay – also jeden Tag, nach der Schule, nach dem REGEN, nach dem Nachmittagstee, steig ich auf mein Rad und fahr zur Brücke – stöhnend und hechelnd, so FETT, dass ich kaum Luft krieg –, und wenn ich ankomm, schieb ich das Rad an die Stufen und lass los – kleng –, einfach so. Als Nächstes steh ich ’ne Minute oder auch 2 bloß da und schau zur Brücke hoch, saug das alles in mich ein, krieg wieder Luft, spür so’n Prickeln unter der Haut und dann fang ich an, die Stufen hochzusteigen – 3 Treppen im Zickzack, jede 12 Stufen, ausgetreten, grau, dröhnend. Zick, zack, zick – jeden Tag führen sie mich haargenau DA hin, wo ich sein will. Rauf auf die Brücke. Hoch über die Autobahn. Von wo ich dann runtergucke. Den Verkehr beobachte – 2 Spuren nach Norden, 2 Spuren nach Süden … uuuurrrrhhhhsshhhhmmmm … wuu-uuusch-wuu-uuusch-wuu-uuusch … den grauen Fluss.

MANN, tut das GUT hier oben.

Die Luft, der Wind, das Gefühl der Brücke unter meinen Füßen … die is aus irgend’nem griffigen, grauen, rutschfesten Zeug, macht Spaß, da drauf rumzulaufen – echt schön schluffig, trocken und sicher. Jeden Tag geh ich da drüber, tamp, tamp, tamp, rüber über die Brücke, manchmal schlag ich dabei mit meinen Fingern gegen die Geländer, bing, manchmal auch nicht – bis ich an meinen Platz komm …

MEINEN PLATZ.

Da isser, guck – 8 Schritte weiter, das Stück da, wo das eine Geländer so’n knieförmigen Knick hat und die Querstreben abgewetzt sind und speckig von 5 Jahren Dranlehnen …

MEIN PLATZ.

Und jetzt, mit dem aufwirbelnden Wind vom Verkehr, dem Wind, der mir die Haare zerzaust, und dem Puls der Brücke, der in den Füßen summt, jetzt ist der Moment da, an dem ich in meine Position sink … die Arme gekreuzt … vornübergebeugt … den Blick nach unten …

Ich lausch …

Ich beobachte …

Beobachte den Verkehr.

Jeden Tag …

Ich beobachte den Verkehr.

Das isses, was ich tu.

Ich beobachte den Verkehr.

Tag um Tag, Stunde um Stunde … eine Stunde, 2 Stunden, 3 Stunden, manchmal am Wochenende auch 4. 4? Okay, 5 … 5 Stunden. Is echt nich lang. Nich, wenn du drüber nachdenkst … oder besser gesagt NICH drüber nachdenkst, das is ja grade der PUNKT. Hier oben denkste nich nach. Hier oben denkste über NIX nach. Ja, okay, du denkst vielleicht irgendwelches Zeug, so’n Krempel, über den keiner nachdenken braucht, aber das is nich dasselbe – das is bloß einfach so rumdenken. Und dafür brauchste keine Zeit. Du brauchst NIX, das is ja der ganze PUNKT. Denn hier oben fließt die Zeit einfach so wie der Verkehr auf der Autobahn unten – ein Fluss ohne Ende, immer da – wuu-uuusch-wuu-uuusch-wuu-uuusch … PKWs, Sattelschlepper, Lieferwagen, LKWs, Motorräder … Richtung Norden, Richtung Süden, rumpelnd, rasend, rauschend, kreischend, still wie nix …

Trägt mich fort.

Jeden Tag.

Trägt mich fort. Von der Brücke aus läuft die Autobahn ungefähr 800 Meter schnurgerade, dann geht sie allmählich in so ’ne Kurve über. ’ne leicht abschüssige Kurve nach rechts, Richtung Osten, immer weiter runter, runter, runter und dann weg, wie’n langes schwarzes Band, wenn der Wind aufhört, runter bis hinter die Kuppe von so’m Hügel und weg, außem Blick. An klaren Tagen kann ich sie echt fast zwei Kilometer weit sehn.

Das is ’ne Tatsache, echt.

Ich weiß es, weil ich’s ausgemessen hab, als die Autobahn irgendwann mal gesperrt gewesen is wegen ’ner Baustelle. Ich werd dir nich ALLE Details erzählen, das is echt zu TROSTLOS und langweilig, aber ich hab’s ungefähr so gemacht: Ich bin die Autobahn langgelaufen, von der Brücke bis zu dem Stück, wo du sie nich mehr siehst, und hab den ganzen Weg über die Schritte gezählt, die ich vorher ausgemessen hab. Dann bin ich nach Hause und hab alles auf dem Taschenrechner zusammengerechnet. Darum WEISS ich, es sind 1204 Schritte bis zu dem großen grünen Schild, wo die Kurve anfängt, was rund 797 Meter macht, und ich weiß, es sind 1422 Schritte von dem grünen Schild bis zu dem Tor in der Hecke gegenüber von dem Pfeiler, bis zu dem ich sehn kann, was rund 941 Metern entspricht.

Also hab ich alles in allem knapp 2 Kilometer Autobahn zum Gucken. 2 Kilometer, um den Verkehr zu beobachten. 2 Kilometer mit haargenau dem, was ich will. Und es is ECHT voll das, was ich will – denn es gehört MIR. Ich kann damit machen, was ich will. Und das tu ich auch – ich mach, worauf ich grad Bock hab. Ich beobachte. Ich hör zu. Ich spür. Ich denk mir irgendwelche Sachen aus. Geheime Sachen. Mach so Spiele im Kopf. Überleg. Erfinde Sachen. Versetz mich irgendwo rein. TRÄUM. Atme die Auspuffgase. Saug die Bewegung ein.

Manchmal drift ich dann einfach so weg.

Kopfspiele.

Farben von Autos zählen is gut. Was du machst, is … na ja, hängt vom Verkehr ab. Wenn viel los is, was meistens der Fall is, bleibste besser bei einer Fahrbahn. Wenn’s ruhig is, kannste auch beide nehmen … aber das kann ganz schön heikel werden. Also gehn wir mal davon aus, es is viel los. Okay – dann nimmste dir die Autos auf der Fahrbahn Richtung Norden … das is jetzt, mal angenommen, dein Spielfeld. Du nimmst die Autos Richtung Norden und dann suchste dir paar Farben aus. Kannste so viele Farben nehmen, wie du willst, aber je mehr du nimmst, desto heikler wird’s. Also lass uns mal mit 2 anfangen – Rot und Blau zum Beispiel. Der Punkt is dabei, es läuft ab wie’n Rennen, wie’n Wettkampf. Rote Autos gegen blaue Autos. Wer hat die meisten? Is total simpel. Was du tun musst, is bloß die Autos beobachten und die Farben zählen. Streng deinen Kopf an. Da issen roter, macht 1:0. Noch ’n roter, 2:0. Blau, 2:1. Rot, 3:1. Natürlich musste dir am Anfang ’ne Ziellinie setzen, sonst geht’s ja immer weiter. Die Ziellinie is deine Sache. Du kannst Sprints machen – wer als Erster 20 hat, gewinnt – oder Mittelstreckenläufe – wer als Erster bei 50 oder 75 landet. Wenn du willst, kannste aber auch Marathons durchziehn – der Erste, der 100, 200, 300 … 1000 hat. Is echt deine Entscheidung.

Rot gegen Blau.

Der Gewinner spielt Grün.

Blau gegen Grün.

Der Gewinner spielt Grau.

Blau gegen Weiß.

Blau gegen Rot gegen Weiß …

Wie du willst.

Is echt DEINE Sache.

ALLES is deine Sache.

Du kannst machen, was du willst. Kannst die Gesichter hinter den Windschutzscheiben beobachten. Sie beim Reden beobachten. Ihnen Namen geben – GROSSE NASE, VERTRÄUMTES MÄDCHEN, NERVÖSER VOGEL, TOUGHER TYP. Kannst dir ihr Leben ausmalen – ERBÄRMLICH, LANGWEILIG, VERSOFFEN, BESCHISSEN, SONNIG, TRIST, GLÜCKLICH, TRAURIG … Kannst beobachten, wie sie fahrn – langsam, schnell, schneller … 80 km/h, 100 km/h, 160 km/h, 250 km/h … huiii! DER muss echt irgendwo hin, das is MISTER RASER. Kannst auch die Laster und Sattelschlepper beobachten, beladen mit Sachen, von denen du keine Ahnung hast, unterwegs zu irgendwelchen Orten, von denen du keine Ahnung hast … Bergen? Rotterdam? Hamburg? Harrogate? Keine Ahnung. Kannst die Busse beobachten, voll mit gelangweilten Kindern oder Alten, die ihre Sandwiches essen – WO FAHREN DIE ALLE HIN, VERDAMMT? Kannst Motorräder, Kranwagen, Traktoren, Polizeiwagen, Schwertransporte mit Überbreite, Autopannen, auslaufende Tanks, Sachen, die aus Fenstern geworfen werden, beobachten … gibt JEDE MENGE, was so läuft. Hab schon mal ’n nackten Typen innem Ford Ka gesehn, der total schlabberig und weiß vorbeigeflasht is … war so’n Ford Ka 1.3i mit metallic lackierten Sechs-Speichen-Felgen und Heckspoiler … Doch, ja, mit Autos kenn ich mich aus. Bin ich nich STOLZ drauf. Is einfach so. Kenn sie alle – Mondeo, Legend, Jaguar XK8, Peugeot 106, 206, 306, 307, Micra, Clio, Punto, Saxo, Cruiser, Korando, Wrangler, Cherokee, Lexus RX, Space Wagon … zeig mir irgend’n Wagen und ich sag dir, was es für einer is.

Seh sie ja alle.

Wie sie so fließend dahinfahrn.

Wuu-uuusch-wuu-uuusch-wuu-uuusch

Manchmal, ab und zu, siehste was echt GROSSES, so was, das richtig Aufsehn macht. Das den ganzen Verkehrsfluss behindert. Kreischende Bremsen, Schleudern, Hupen, dann irgend’ne Radkappe, die über die Fahrspuren rollt und auf den Seitenstreifen scheppert. Oder ’n Wagen bremst, fährt an den Rand … jemand steigt aus, irgend so’n Typ mit ärmellosem T-Shirt … Mann, was hat DER denn vor? … schaut sich um, latscht rüber zur Hecke … ach, nee, alles okay, is nix, muss nur mal pinkeln. Oder wieder so’n Bremsenkreischen, wieder Schleudern, Hupen und diesmal KRACH! RUMMS!! – Metall auf Metall, dumpf, du weißt schon, das Geräusch, das die Luft zum Stillstand bringt – KRACH! RUMMS!! KRRRTSCH … DONK!! Danach Rauch und Dampf … Stimmen … Tränen … benommene Fahrer … als Nächstes vielleicht Polizei …

O ja, Unfälle hab ich schon richtig viele gesehn. Lassen sich echt gut beobachten. Is so, wie wenn wer irgendwas Riesiges in den Fluss wirft – großes Aufklatschen, überall fliegt Zeug rum, dann die Wogen, die kleinen Wellen, die ans Ufer schlagen, zurückspringen, den Fluss stören … schließlich, nach ’ner Weile, beruhigt sich alles und der Fluss wird wieder so, wie er vorher war.

Ja, so’n großer Klatsch is echt nich schlecht.

Aber das … heute, an diesem Eintag … Montag vor 7 Monaten. Das war anders.

Danach hat sich nix wieder beruhigt.

Nix wurde mehr so, wie’s vorher war.

Jetzt isses nach Mitternacht. Der Abend is warm, die Welt ganz still und ich mach ’ne Pause, um Atem zu holen. Atem und Plätzchen. Hab ich bei mir unterm Bett. Die Plätzchen natürlich, nich meinen Atem. Hab Haferflockenplätzchen, Vanilleplätzchen, Erdbeercremeplätzchen, Schoko-Vollkornplätzchen … echt die komplette Auswahl. Auf jeden Fall, es is wie gesagt nach Mitternacht und alles is still. Das Fenster steht auf und lässt das Sommerdunkel und das ferne Rauschen der Autobahn rein, das Flüstern vom Verkehr, der sein Lied singt … nach mir ruft – Mach‘s, Moo … mach’s, mach’s, mach’s …

Ja …

Mach‘s.

Is schon okay. Zeitmäßig, mein ich. Ich werd jetzt nich schlafen. Nich bei dem, was ich zu erzählen hab. Hab die ganze Nacht dafür Zeit.

Okay – ich bin also auf der Brücke und schau nach Norden … Ich schau immer nach Norden, Richtung Wickham. Nie nach Süden. Keine Ahnung, wieso. Vielleicht weil Süden da is, wo wir herkommen … ja, vielleicht isses das. Die Autobahn zurück, zurück Richtung Moulton, ungefähr hundert Meter südlich, da is die Abfahrt zum Dorf. Gibt nich viel zu sehn da – is bloß so’n lausig kleiner Abzweig, einfach ’n Loch in der Hecke, ’ne beschissene kleine Straße, 2 unleserliche weiße Pfeile auf ’nem Pfosten, die sagen: HIER ISSES, HIER LANG … Und ich will nich dorthin zurückgucken. Ich WEISS, wie’s da aussieht. Alles KLEIN. Ich will nich KLEIN aussehn, ich will GROSS aussehn. Ich will nach vorn gucken auf irgendwas anderes. Irgendwas da draußen … keine Ahnung, was. NIX BESTIMMTES. Nich Wickham – SCHEISSE, nein. Wickham is bloß so’n Ort 15 Kilometer die Autobahn weiter. Is ja vielleicht okay … ich mein, keine Ahnung, bin nie da gewesen … ja gut, EINMAL war ich da … aber das is nich der PUNKT. Der PUNKT is, Wickham is bloß so’n Ort. Und ich schau nich nach ORTEN. Ich schau einfach nur – das is alles. Einfach … keine Ahnung … nur gucken. Ich GUCK nich, um zu gucken, ich guck nich irgendwas AN. Ich guck nur runter, mit leerem Blick und blind – werd nur den REGEN los im Fluss.

Jedenfalls, wie ich gesagt hab, es is Montag, ich bin auf der Brücke und schau Richtung Norden. Is jetzt so gegen sechs. Bin seit fast ’ner Stunde hier und zieh mein Ding durch – beobachte den Fluss, den Lichterstrom, beobachte das Feuerwerk, das sich in die Nacht zeichnet und mit Schwirren, Stottern und Knallen die Luft zerreißt … Lichter oben und Lichter unten. In der Dunkelheit kannste Feuerfunken, Dorflichter und die leuchtenden Perlen in Rot und Weiß erkennen, da wo irgendwelche fernen Straßen die Ebenen von Essex durchschneiden. Das is meine Welt. Hier oben, da unten … die Lichter beobachten … beobachten, beobachten, beobachten, einfach mein Ding durchziehn …

Wird jetzt ziemlich kalt und ich überleg schon, ob ich zurückfahrn soll. Aber ich denk mir auch: Ja? Zurückfahrn zu was denn? Zu Mum und Dad, unserm Haus, dem Wohnzimmer, dem Fernseher, dem zischenden Gasofen, der uns alle schläfrig macht … 3 fette Nelsons, in unser kleines Wohnzimmer gelümmelt, die zur TV-Serie Hollyoaks vor sich hin grunzen, schnarchen und furzen …?

Willste das?

Isses das, was du willst?

Vielleicht eher doch nich. Vielleicht bleib ich lieber doch noch ’n bisschen hier. Echt, vielleicht is die Kälte ja gar nich so schlimm …

Nee, ich glaub, die Kälte is ganz okay.

DAS is der Moment, wo’s passiert.

Genau da.

Der Anfang von allem …

Die WAHRHEIT.

Okay – ich beobachte also die Rücklichter, die an dem Pfeiler vorbeirauschen und den Hügel runter verschwinden. Beobachte, beobachte, beobachte … treib fort … HIPPNOTISIERT von der Spur der Lichter … die sich bewegen … schimmern … zu einem verschmelzen … wegbrechen … verblassen … ich beobachte … beobachte … mit geschlossenen Augen … beobachte … als – KA-WUMMM!! – ’n Vulkan in den Himmel spuckt, ’ne Fontäne in Blau, ’n Atompilz, und mein Blick springt hoch und scannt den schwarzen Horizont. Alles okay … war nix – nur so’n Feuerwerkskörper. Doch jetzt bin ich wach … jetzt bin ich wieder wachsam … jetzt kann ich SEHN. Ich seh 2 SCHNELLE Wagen die südliche Spur lang auf mich zurasen. Und wenn ich sag SCHNELL – huiii! –, dann mein ich echt SCHNELL. Ich kann sie noch nich erkennen, sind vielleicht 800 Meter weg, das Einzige, was ich seh, sind 2 Paar grell leuchtende Scheinwerfer, ein Paar hinter dem andern, 4 glühende Augen, die wie verrückt die Außenspur hochstochen.

DAS lohnt sich jetzt echt zu beobachten …

400 Meter weit weg – direkt nach der Parkbucht – schwenkt der zweite Wagen, der hintere, auf die Überholspur, beschleunigt stark, zischt an dem andern vorbei, zieht wieder rüber und tritt in die Eisen – quiiiiiiietsch! Der andere Wagen kreischt und heult auf, rammt fast den vordern und dann schießen sie beide wieder los.

Hier kommen sie …

Hier sind wir …

GROSSE Sache.

Sie kommen jetzt ziemlich nah, nah genug, dass ich die Wagen erkenn. Der vorn issen hellblauer oder grauer BMW – wahrscheinlich ’n 328 –, der dahinter ’n schwarzer Geländewagen … Discovery? Nee … ’n Range Rover. So’n echt guter. Top-Version. Groß und SCHNELL. Guck doch mal, wie der ABZIEHT … aufblendende Scheinwerfer, dröhnende Hupe, schwenkt raus neben den BMW … und der BMW beschleunigt und setzt sich wieder davor … da fährt der Range Rover zurück auf die Außenspur, holt auf bis neben den BMW … und fängt plötzlich an, ihn von der Straße zu SCHIEBEN. Jetzt guck dir DAS an! Berührt ihn mit der Schnauze, verlangsamt, drückt … SCHIEBT ihn von der Autobahn runter … DIREKT VOR MEINEN AUGEN. Ich kann alles sehn. GROSSE Sache … behindert den Fluss. Autos dahinter bremsen, bleiben zurück, geben den 2 Wahnsinnigen genug Raum und der Verkehr auf der nördlichen Fahrbahn bleibt auch zurück, die Fahrer bremsen, um die Sensation genau mitzukriegen, so nach dem Motto: Hey! Guck dir DAS an! Was issen da los? Guck … guck dir DAS an!

Und das is die WAHRHEIT – vergiss das nich. Das is die WAHRHEIT.

Die beiden Wagen stoßen zusammen. Knirschen und kommen 20 Meter vor der Brücke im Staub und Schotter vom Seitenstreifen zum Stehn. Glänzen im trüben Schein der Autobahnbeleuchtung. Überall Staubwolken und Qualm von den Reifen. Der BMW fast verdeckt vom Range Rover und alles unheimlich verschattet in dem orangen Licht. Aber ich kann das Ganze trotzdem gut genug sehn.

Der BMW … issen 328i. Ziemlich neu, hellblau, vielleicht auch grau. Fahrer: männlich, weiß, trägt ’ne schwarze Nike-Kappe. Der Range Rover issen Vogue SE 4.6 V8. Nagelneu. Schwarz glänzend. Mit allem Drum und Dran. Fahrer: männlich, weiß, schwarzes, drahtiges Haar, sieht irgendwie tough aus. In beiden Autos keine Beifahrer, soweit ich sehn kann. (Nich vergessen – SOWEIT ICH SEHN KANN.) Okay – die 2 Wagen stehn also am Straßenrand, ungefähr 20 Meter von der Brücke weg, und ich guck zu ihnen runter und beobachte, so gut ich kann. Der Fahrer von dem Range Rover steigt als Erster aus – steigt aus, lässt die Tür offen, marschiert durch den Schotterstaub zu dem BMW. Er wirkt wie vom Teufel besessen. Er is groß, über 1,80 Meter, trägt ’n langen Ledermantel und blitzende schwarze Schuh. Der BMW-Typ steigt auch aus, tritt ihm entgegen – weites T-Shirt und Jeans, Turnschuhe, Handschuhe an, nich so groß wie der andere Typ, aber breit. Range Rover bleibt vor ihm stehn und fängt an zu brüllen. Der Verkehr is ziemlich laut, deshalb kann ich nich hörn, was er sagt, aber ich seh seinen schreienden Mund, seine hervortretenden Augen, seinen ausgestreckten Finger, seine geballte Faust … sieht nich grade glücklich aus. Der BMW-Typ sagt gar nix, steht einfach nur da und sieht ihn seelenruhig an. Range Rover schreit weiter. Der BMW-Typ blickt sich um, sieht die Gesichter in den vorbeifahrenden Autos, dann schaut er über die Schulter … wie wenn er seinen Wagen anguckt … nach irgendwas sucht. Range Rover schreit wieder, will Aufmerksamkeit. Ich kann ihn leider immer noch nich richtig hörn, aber nehm an, er schreit ziemlich laut – HEY! HEY! HEY! Jetzt dreht sich BMW mit so ’ner unheimlichen Art von Halblächeln zu ihm, wie wenn er sich alles genau überlegt hätt, dann tritt er ’n bisschen vor und stößt Range Rover gegen die Brust. Einfach so. Nich schlimm, nur ’n halbherziger Stoß wie so’n Schulhofrempler, aber Range Rover is nich drauf gefasst. Er macht ’n Schritt zurück, sieht BMW an, als ob er’s nich glauben kann: Du hast mich gestoßen? Du hast mich GESTOSSEN! Dann setzt die Wut ein, sein Gesicht wird hart, er tritt vor und knallt BMW eine ins Gesicht – WAMMMS! Ich kann das Geräusch eigentlich nich hörn, aber du weißt schon, was ich mein – WAMMMS!

BMW stolpert rückwärts, hält seine Hand an den Mund, halb gekrümmt, als wär ihm schlecht oder so. Dann – und das is der Moment, wo’s anfängt, unheimlich zu werden – wirft er wieder einen Blick auf seinen Wagen, wischt sich ’n bisschen Blut aus der Fresse und springt plötzlich auf den Range-Rover-Typ zu. Er schlägt ihn nicht oder so, sondern springt ihn nur an und packt ihn fest mit beiden Armen wie’n Geistesgestörter, wenn der jemand packt. Range Rover windet und wehrt sich, versucht freizukommen, strengt sich an wie bekloppt, kann aber nix machen, weil seine Arme sind an die Seiten geheftet … doch dann, ganz plötzlich, springt BMW zurück, geht zu Boden und hält sich die Hände vor’n Bauch, wie wenn er ’n Schlag voll in die Eingeweide gekriegt hätt, wie wenn ihm Range Rover einen mit der Faust voll in den Magen gedonnert hätt … und das is echt unheimlich … weil Range Rover hat ihn kein bisschen berührt. Ich sag’s dir, ER HAT IHN KEIN BISSCHEN BERÜHRT.

Jedenfalls geht BMW zu Boden, hält sich den Bauch und schreit wie am Spieß … und danach wird’s noch unheimlicher. Range Rover steht einfach da, ja echt, der guckt total verwirrt, schüttelt den Kopf, wie wenn er nich weiß, was Sache is, steht einfach da und beobachtet, wie sich BMW im Dreck windet, als plötzlich – da, schau mal – 3 Typen aus dem BMW aussteigen, 2 hinten und einer vorn. Und ich denk: Hä? HÄ? Wo kommen DIE denn her? Der, der vorn aussteigt, sieht aus wie’n Neandertaler auf Droge – so’n Typ mit schwerem Schädel, ziemlich groß und wirkt ziemlich bescheuert, trägt ’n sackartiges weißes T-Shirt und Handschuhe. Die andern 2, die beiden von hinten … der eine mit so ’ner Art Halbglatze, hat ’ne Reißverschlussjacke und Handschuhe an, der andere hat die Größe von BMW, trägt ’n weites T-Shirt und Jeans … genau wie BMW … und ’ne schwarze Nike-Kappe … GENAU wie BMW … HÄ?? Ich guck ihn noch mal an. HÄ???? Ich mein, is das nich echt verwirrend oder WAS? Denn jetzt pass auf, was als Nächstes kommt. Die 2 Typen, die hinten aus dem BMW ausgestiegen sind – Halbglatze und der BMW-Zwilling –, sie stehn zwischen den beiden Wagen, so, dass ich nich richtig sehn kann, was läuft, aber sieht aus, wie wenn sie kämpfen oder so … wie wenn sich Halbglatze BMW-Zwilling vornimmt, ihn an den Armen packt und zu Boden reißt, und dann kommt Neandertaler rumgerannt, steigt mit in den Kampf ein … und ich kapier’s echt nich. Wieso kämpfen DIE? Die sind doch aus demSELBEN Auto … DIE haben doch gar keinen Grund.

Aber dann wird’s erst RICHTIG verwirrend. Der BMW-Typ, der echte, der, der zu Boden ging, ohne getroffen zu sein, steht wieder auf den Beinen. Is aufgestanden – OHNE seine Nike-Kappe – und jetzt schnappt er sich Range Rover und knallt ihn gegen den Wagen. Range Rover is zu geschockt, als dass er zurückschlägt, der weiß überhaupt nich, was Sache is. Auf einmal kommt Neandertaler angelaufen und tut sich mit BMW zusammen, also sind’s jetzt 2, die Range Rover gegen den Wagen drücken, ihn festhalten, und dann kommt auch noch der andere, Halbglatze, angerannt, guckt sich kurz um und schließlich schlagen alle 3 Range Rover zu Boden. Sie langen voll zu, mit Prügeln, Hieben, Stößen – und nur für ’ne Sekunde blitzt in dem orangen Licht was auf, irgendwas Glänzendes … und dann seh ich nich mehr, was da läuft. Geht alles zu sehr durcheinander. Kann’s nich mehr auseinanderhalten. Sind alle am Boden, verschlungener Wirrwarr von Armen und Beinen … und ich weiß nich, wer was tut … und wieso … keine Ahnung, wo der andere Typ hin is, der, der wie BMW aussieht … er is nich mehr da … wo is DER HIN?

Das is der Zeitpunkt, wo ich echt hätt gehn sollen. Bevor die Polizei aufgetaucht is, bevor alles so’n Riesending wurde. Wenn ich sie da allein gelassen hätt, einfach von der Brücke gegangen, auf mein Rad gestiegen und nach Hause gefahrn wär …

Ja, jetzt is mir das klar. Aber was nützt mir jetzt für damals? Damals war’s anders. Damals war ich versunken in dem, was da grade ablief, in der AUFREGUNG, dem THEATER … und erzähl mir nix von wegen, so was würd dir nich gefallen – JEDER is doch bei so was gepackt. KRACH PENG BUFF … da liegt doch SPANNUNG in der Luft … Sirenen … auu-wauu-wauu-wauu-wauu

Ach ja, das is noch so was Komisches …

Die Sirenen.

Is weniger als 5 Minuten her, seit das Ganze passiert is, kapierste? Nur ’n paar Minuten, seit sich die 2 Wagen gerammt ham und auf dem Seitenstreifen stehn geblieben sind … und schon sind die Unfall-Cops da. Wie sind die so schnell hergekommen? Verstehste, was ich mein? Wieso wussten die davon?

Kapier ich nich.

Egal, jedenfalls kommen sie, heulen die südliche Fahrbahn lang – so’n Ford Explorer Einsatzwagen, dahinter einer von den neuen Mitsubishi Evos. Cops aus Essex, nehm ich an, aus Wickham. Halten an, wo das Ganze abläuft, und so’n paar Polizisten in gelben Mänteln steigen aus – 2 aus dem Explorer und 2 aus dem Evo. Gucken schnell und mit kaltem Blick. Legen den Eilschritt ein. Übernehmen die Kontrolle. Einer geht weg und sichert die Unfallstelle, die andern 3 holen ihre Schlagstöcke raus und machen sich auf zu den Typen am Boden. Blaulichter blitzen von den Polizeiwagen, vermischen sich mit dem Orange von der Autobahnbeleuchtung, gibt dem Ganzen so ’ne Stromfunkenfarbe. Dazu steigen im Hintergrund Feuerwerkskörper hoch, Raketen leuchten am Himmel, Scheinwerfer und Rücklichter ziehn auf der Autobahn lang wie Leuchtkäfer oder Sternschnuppen …

Is ’ne richtig starke Sache – und sie GEFÄLLT mir.

Is echt JENSEITS von allem. Total HEISS. Irgendwo DA DRAUSSEN. Keine Ahnung … is einfach ’ne völlig andere Welt, nehm ich an. Was total anderes.

Okay – deshalb beobachte ich weiter, hab aber keine Ahnung mehr, was da läuft. Echt keine LÖSUNG. Die Cops reden mit den BMW-Typen … einer von denen zeigt auf irgendwas am Boden zwischen dem BMW und dem Range Rover … der Range-Rover-Typ hat seinen Schock überwunden, brüllt sich die Kehle außem Hals, kämpft wie blöd und versucht dem Neandertaler ’n Haken zu verpassen … aber 2 von den Cops halten ihn fest und der andere is zwischen den beiden Autos und guckt nach, was da unten auf dem Boden rumliegt. Holt seine Taschenlampe raus, beugt sich runter … ’ne Minute oder 2 isser außem Blickfeld … dann steht er wieder auf, spricht in sein Funkgerät … spricht und schaut sich um … ernst wie sonst was.

Das geht noch ’n paar Minuten so weiter – alle laufen rum, machen ihren Polizeijob, wusel, wusel, wusel. Lichter blitzen, Cops brüllen, Typen raufen und schubsen … dann kriegt Range Rover Handschellen an, wird nach hinten in den Explorer geschoben und der Cop hält ihm die Hand übern Kopf, so wie sie’s im Fernsehen immer machen.

Warum tun sie das eigentlich?

Was soll das?

Keine Ahnung …

Aber da isser jetzt jedenfalls, der Range-Rover-Typ, sitzt hinten in dem Explorer, mit schmalen Lippen, Handschellen an, wütend … und ich denk, jetzt beruhigen sich die Dinge langsam ’n bisschen … Wird allmählich RICHTIG kalt, ich überleg schon so ungefähr zu gehn. WILL zwar nich recht, aber ich krieg dieses kribbelige Gefühl in den Füßen, irgendwas kriecht in mir rauf, so’n Flüstern im Kopf: Wird Zeit, dass du abhaust, Moo, wird Zeit, dass du abhaust, Zeit, dass du abhaust …

Wieso?

Weil da irgendwas LÄUFT, du FETTARSCH mit Ohren.

(Ja, sogar meine Schizo-Stimme lässt Schimpfwörter auf mich runterREGNEN.)

Egal, jedenfalls tret ich vom Geländer zurück, unsicher, ob ich zurücktrete, um zu gehn oder – du weißt schon – einfach nur so, und dann tret ich wieder vor, als noch ’ne Sirene die Nacht zerreißt. Die gehört zu ’nem Krankenwagen, das hör ich am Ton. Und ich sag mir: Okay, Krankenwagen … den wart ich noch ab, mal sehn, was passiert, DANACH geh ich.

Deshalb guck ich runter und wart auf den Krankenwagen … und genau da spür ich den Blick. Kennste dieses Gefühl? Wenn dich jemand anstarrt? Ich kenn’s … SCHEISSE, und ob ich das KENN. Ich kenn’s derart gut, dass ich sogar den Blick spür, wenn er gar nich da ist. Is so’n GEMEINES Starren – so’n FETTES Starren, HÄSSLICHES Starren, so’n DU-BIST-ANDERS-Starren … so’n Starren, das sagt: O SCHEISSE, GUCK DIR AN, WIE DER AUSSIEHT. Verbrennt dir die Haut wie’n Laser. Du kannst echt spürn, wie’s in dich reinschneidet. Und du WILLST eigentlich gar nich wissen, woher’s kommt, aber du kannst null dagegen tun, du MUSST dich trotzdem umdrehn, damit du siehst, was kommt … und was diesmal kommt, is einer von den Polizisten aus dem Explorer. Der Fahrer, glaub ich. Er steht am Autobahnrand – Funkgerät, Mantel, blaulichtblitzendes Gelb, seine Laseraugen auf dich fixiert. Guckt rauf. Gesicht wie Granit, sieht verzerrt aus in dem irren Lichtermix … und nur für ’ne Sekunde seh ich, was er sieht. Seh so’n fetten Jungen auf der Brücke stehn. Fettes Gesicht, drumrum ’ne Kapuze. Fetter Kopf, fette Hose, fette Turnschuh … Sieht gar nich so schlimm aus. Nich für mich jedenfalls. Ja, er is FETT, stimmt schon, aber nich GRAUENVOLL oder so. Is echt nich das SCHLIMMSTE, was ich im Leben gesehn hab. Aber das find ich. Für ihn, für Laser-Cop, wirkt der fette Knabe wie ’ne Fliege in Schweinekot.

Verstehste, was ich mein?

Na ja, und die Sache is, jetzt, wo er mich gesehn hat, versengt er mich. Ich kann nix sehn AUSSER ihn. Und deswegen kann ich mich auch nich rührn. Das Einzige, was ich kann, is gucken. Ich seh, wie er sich umdreht und den andern Cops irgendwas zuruft. Ich seh sie zu mir hochgucken. Seh, wie Laser-Cop sie zum Krankenwagen rüberwinkt, als der anhält (und dem Farbmix noch mehr blitzendes Blaulicht untermischt), und dann seh ich ihn wieder zu mir hochgucken und die Hand heben, ausgestreckte Handfläche, so als Zeichen: STOPP, STEHN BLEIBEN, BLEIB DA, WO DU BIST. Dann schreitet er rüber zur Brücke, die Stufen auf der andern Seite hoch – zick, zack, zick –, und da kommt er, rückt seine Mütze grade, schaut sich um, richtet seinen Blick auf mich … kommt über die Brücke … über MEINE Brücke … stampf, stampf, stampf … und das GEFÄLLT mir nich. Es is nich richtig. WUT blitzt durch meinen Kopf, denn er dringt in MEINE WELT ein. Das hier is MEINE Brücke, Mister – was glauben Sie eigentlich, was Sie da TUN?

Die Wut hält ungefähr ’ne halbe Sekunde an, eh sie aufgesaugt wird von ANGST.

»Alles okay, Junge?«, sagt Laser-Cop, noch zehn Schritte entfernt. Ich seh seinen Blick zur Seite fliegen, hinab auf die Szene da unten, dann – stampf, stampf, stampf – steht er direkt vor mir, macht sein Polizeigehabe: Kopf hoch, Augen nieder, Nacken dehnen. »Alles okay?«, fragt er wieder.

Ich nick.

Er schaut sich um. »Was machste hier oben?«

»Nix.«

»Auf dem Weg irgendwohin?«

»Nich wirklich.«

Er wirft mir ’n Blick zu: Na komm schon …

»Häng nur so rum«, sag ich zu ihm. »Wissen Sie …«

»Wohnste hier in der Gegend?«

»Im Dorf.«

»Wo?«

Ich schwenk den Daumen über die Schulter. »Da hinten – den Weg lang. Ungefähr 800 Meter.«

Er starrt in die Dunkelheit, nickt, wie wenn er VERSTEHT, was ich mein. Reibt sich sein Kinn, sieht mich an, dann schaut er auf die Autos und Polizisten und blitzenden Lichter unter uns, wo 2 Sanis ’ne leere Bahre zurück in den Krankenwagen bringen.

Er fragt: »Haste gesehn, was passiert is?«

»Ja.«

»Alles?«

»Ja – sie sind den Hügel hochgerast –«

»Warte …« Er zieht ein Notizbuch aus der Tasche. »Erst brauch ich ’n paar Angaben … einverstanden?«

»Ja.«

»Willste dich setzen oder was?«

»Von mir aus nich.«

»Sicher?«

»Hm.«

»Okay … Sekunde.« Er blättert sein Notizbuch durch und findet ’ne leere Seite. »So – also, wie heißt du, Junge?«

»Moo Nelson.«

»Moo?«

»Mike … Michael Nelson.«

»Was bedeutet das Moo

»Nix – so nennen mich nur alle … verstehn Sie – fett, Kuh, muh …«

Er schüttelt den Kopf, schenkt mir ’n Krümel MITLEID … dabei kümmert ihn das ’n Dreck.

»Adresse?«, fragt er.

Ich sag sie ihm.

Er schreibt sie auf.

»Telefon?«

Dasselbe Spiel.

»Wie alt biste denn, Mike?«

»15.«

»Und du wohnst bei deinen Eltern?«

»Ja.«

»Sind sie zu Hause?«

»Ja.«

»Sind sie wohl morgen auch da?«

»Wahrscheinlich.«

»Okay«, sagt er, steckt sein Notizbuch weg und sieht runter auf die Straße. »Also, ich muss da jetzt wieder hin, aber wir werden ’ne Zeugenaussage brauchen, müssen klären, was du gesehn hast, was passiert is und so. Verstehste?«

Hält mich wohl für blöd.

»Ja«, sag ich.

»Wir schicken so schnell wie möglich jemand vorbei, der dich besucht. Wenn nich heut Abend, dann wahrscheinlich morgen. In Ordnung?«

»Morgen hab ich Schule.«

»Wann biste zurück?«

»So gegen 4.«

»Okay«, sagt er. »Deine Mum oder dein Dad müssen dabei sein, wenn du ’ne Aussage machst. Geht das?«

»Denk schon.«

»Gut.« Er schaut hinaus in die Dunkelheit und reibt sich das Kinn, wie wenn er denkt, oder vielleicht will er auch nur, dass ich denk, er denkt … keine Ahnung. Is mir auch egal. Ich steh bloß da und seh ihn an. Er is eher groß, wirkt ’n bisschen zerfurcht, so in etwa wie der … wie heißt noch der Typ aus Emmerdale? Oder der eine, der früher bei Heartbeat mitgespielt hat … du weißt schon, der, der davor noch woanders dabei war. So wie der … nur ’n bisschen älter … aber nich viel … ich mein, Laser-Cop is nich steinalt oder so, wirkt nur ’n bisschen zerfurcht. Zerfurchtes Gesicht, flache grüne Augen, kleine kerbenartige Narbe an der Seite von seiner Nase …

»Haste sonst noch jemand gesehn?«, fragt er.

»Was?«

»Ob du sonst noch jemand gesehn hast?«

»Wen denn?«

»Egal wen. War noch jemand in der Nähe, der gesehn haben könnte, was passiert is?«

»Keine Ahnung«, sag ich schulterzuckend. »Leute in ihren Autos vielleicht … da waren jede Menge Autos, die vorbeigefahrn sind.«

»Ich mein hier. Auf der Brücke.«

»Nee.«

»Und was is mit der Straße da drüben, den Feldern …?«

»Glaub ich nich.«

»Sicher?«

»Hab jedenfalls niemand gesehn.«

Sein Funkgerät knarrt. Er klappt es auf, rattert irgendwelchen Polizeicode runter – alfie bravo coca cola –, dann dreht er mir den Rücken zu und schaut auf die Autobahn. »Ja«, hör ich ihn sagen, »ja, ja … ’n Junge … richtig … ja …«

Ja, ja, ja.

Der Krankenwagen fährt jetzt weg und noch ein Polizeiwagen hält am Straßenrand. Diesmal isses ’n neutraler Rover 600. Kastanienbraun. Fahrer: männlich, weiß, T-Shirt, Jacke. Beifahrer: männlich, weiß, Wachstuchmantel. Das is der Chef, der Typ mit dem Mantel. Als er aussteigt, halten ihn alle im Auge. Ich halt ihn auch im Auge, beobachte ihn. Er geht rüber, dahin, wo die andern Cops stehn, zu der Stelle, wo irgendwas auf dem Boden liegt. Schaut runter. Stellt Fragen. Sieht sich um. Zeigt auf den BMW, dann auf den Range Rover …

Leute, die dich im Auge halten + Fragen stellen + mit dem Finger zeigen = CHEF.

Unter der Brücke beginnt der Fluss wieder zu strömen. Er is nich allzu sehr gestört. Auf der nördlichen Fahrbahn läuft es ziemlich wie immer, vielleicht ’n bisschen langsamer wegen dem ganzen Blaulicht und so. Der Verkehr auf der südlichen Fahrbahn quetscht sich langsam an den Absperrungen vorbei, Fahrer verbiegen sich die Hälse, damit sie sehn, was los is, suchen Blut und Knochen und Körperteile, danach werden sie wieder schneller und strömen fort unter die Brücke, weiter Richtung Moulton. Schätze, die haben heut echt was zu erzählen, wenn sie daheim sind.

»Okay, Michael«, sagt Laser-Cop, dreht sich wieder zu mir um und schiebt sein Funkgerät in den Mantelausschnitt. »Wie kommste nach Hause? Soll dich jemand heimfahrn oder so?«

»Fahrrad«, sag ich zu ihm und zeig drauf.

»Gut. Also dann, nach Haus mit dir. Wir melden uns.«

Ich rühr mich nich.

Er starrt mich an. »Was is?«

»Nix.«

»Also dann, wie ich gesagt hab, wir melden uns.«

»Okay.«

Und das war’s. Kein Danke, kein Pass auf dich auf, keine Erklärung, kein Garnix. Ich dreh mich um, geh los und denk: Na gut, wird wohl so laufen, oder? Wir melden uns, sagt er, wir melden uns … Dumpfbacke, hat nich mal die Adresse gecheckt. Was, wenn ich sie erfunden hab? Dann könnt er nich mehr so großkotzig tun, oder? Nee … morgen steht er nich mehr so großkotzig da, wenn ihn sein Chef zur Sau macht, weil er die Adresse nich gecheckt hat … Weißte, wie in so’m Fernsehkrimi, wenn der große, fette Polizei-Obermacker den Cop reinruft, der sich nich an die Regeln hält, und ihn zusammenscheißt wegen dem Chaos: WAS IS LOS, LASER-COP? HAM SIE DIE ADRESSE VON DEM ZEUGEN NICH ÜBERPRÜFT? UND WIE SOLLN WIR JETZT ’NE AUSSAGE KRIEGEN? HÄ? VERDAMMTE SCHEISSE, MANN, SIE SIND DRAUSSEN AUS DEM FALL. GEBEN SIE MIR IHRE POLIZEIMARKE UND DANN RAUS HIER …

Hä hä hä.

Ich brauch ’n paar Minuten, bis ich kapier, dass ich Laser-Cop aber NICH die falsche Adresse gegeben hab. Also wird er auch nich von seinem Chef fertiggemacht … also isses auch kein bisschen LUSTIG … sondern einfach nur PEINLICH.

Zu Hause sitzen Mum und Dad im Wohnzimmer und essen überbackene Sandwiches und gucken Crimestoppers, als ich reinkomm. Geht um so’n nachgestellten Überfall aufen Juwelierladen. Schlechte Schauspieler, die einen auf gerissen machen … Fantombild … ’n kurzes Foto von Ketten auf ’nem Tablett … dann so ’ne dürre Frau, die in die Kamera quatscht und so tut, wie wenn sie furchtbar betroffen wär …

»Hey, wisst ihr was?«, sag ich. »Da hat’s ’n Kampf auf der Autobahn gegeben, so ’ne echte Autobahnrowdy-Geschichte.«

»Das is schön«, sagt Mum, wischt sich die Krümel vom Mund und starrt auf ein weiteres Phantombild im Fernseher. »O Gott, schau dir den an. Guck mal, diese Augen

»Nein, hör doch mal zu … Mum?«

»Hmmm?« Mampf, mampf, mampf …

»Ich hab’s gesehn. Ich war da. Ich hab alles gesehn.«

»Was denn, Schatz?«

»Auf der Brücke. Die Polizei war da. Polizei, Krankenwagen, alles … die 2 Autos, ja, so’n BMW und ’n Range Rover, die warn mit 200 Sachen … mindestens … unterwegs … Das war echt wie im Film, so ’ne Verfolgungsjagd –«

»Polizei?«, sagt Dad hustend.

»Ja, überall. Verkehrspolizei, Kripo … die ham auch mit mir geredet.«

»Wer?«

»Die Cops.«

»Wann?«

»Heut Abend. Ich war auf der Brücke –«

»Was wollten die?«

»Wer?«

»Die Cops

»’ne Aussage … ich hab doch gesehn, was passiert is.«

»Wann?«

»Heut Abend. Ich war auf der Brücke …«

Ich setz mich und fang noch mal von vorn an, erzähl Stück für Stück, was passiert is – die Wagen, die Typen, der Kampf, die Polizei, wie dann Laser-Cop zu mir raufgekommen is und mit mir geredet hat, mich nach meinem Namen und meiner Adresse gefragt hat und so …

Als ich sag, dass die Cops demnächst herkommen, um meine Aussage aufzunehmen, stöhnt Dad.

»Was is?«, frag ich.

»Komm schon, Moo«, seufzt er. »Wie oft hab ich dir gesagt, du sollst dich raushalten?«

»Ja, aber –«

»Da gibt’s kein Aber. Ich hab’s dir immer wieder gesagt – lass deine Nase raus und halt die Klappe.«

»Aber er hat mich gefragt, Dad. Er hat mich gefragt …«

»Und?«

»Ich kann doch nich lügen, oder?«

»Wieso nich? Glaubst du, das macht ’n Unterschied? Der einzige Unterschied is, dass jetzt ’n Haufen Cops herkommt und Fragen stellt.«

»Was?«

»Du weißt, was ich mein. Schau – is sowieso kein Lügen. Also, nich LÜGEN zum Zweck, dass du lügst. Du sagst ja nich, dies oder das is oder is nich passiert, du sagst nur einfach, du hast nix gesehn. Mehr musste nich tun. Du hast nix gesehn. Du weißt nix. Okay?«

»Ja«, murmel ich vor mich hin. »Tut mir leid.«

Er stöhnt wieder, dann sieht er mich an und lächelt. »Na, is schon okay … Mach dir keine Sorgen. Wahrscheinlich kommen die am Ende sowieso nich. Wann, ham sie gesagt?«

»Weiß nich … heut Abend oder irgendwann morgen, wahrscheinlich nach der Schule.«

Er schaut auf seine Uhr. Is gleich halb 8. Crimestoppers is zu Ende, grade läuft das Schlussgedudel.

Dad zappt durch die Programme, um zu sehn, was sonst noch kommt.

»Was soll ich jetzt machen?«, frag ich ihn.

»Hä?« Klick, klick, klick …

»Wegen den Cops … du weißt schon, mit der Aussage. Wenn die jetzt doch vorbeikommen – was soll ich dann sagen?«

Er zuckt die Schultern. »Die WAHRHEIT, schätz ich mal. Für alles andere isses jetzt zu spät – da kannste ihnen auch gleich die Wahrheit sagen.«

Der Abend geht weiter – Sandwiches, Coronation Street, Pop-Flittchen, EastEnders, heißer Kakao, ’n Gerichtsfilm auf ITV, einer von diesen langweiligen Thrillern mit der Irin, die für die Cops mal Leichen aufgeschnippelt hat … und ich weiß nich, was ich machen soll. Ich weiß nich, ob ich drauf warte, dass die Cops vorbeikommen, oder nich. Laser-Cop hat gesagt, sie schicken so schnell wie möglich jemand vorbei, wenn nicht heut Abend, dann wahrscheinlich morgen … aber was heißt das? Wie wahrscheinlich is wahrscheinlich? Sehr wahrscheinlich? Ziemlich wahrscheinlich? Verstehste, was ich meine? Und wie läuft das? Geben sie mir Bescheid, ob sie kommen oder nich? Rufen sie an oder so? Oder muss ich einfach warten?

Keine Ahnung …

Also sitz ich bloß da, ess und trink und guck fern und weiß nich, ob ich wart oder nich … Dann isses fast 10 und Dad schaltet um zu Death Wish V auf Channel 5, was okay is, aber den hab ich schon vor 2 Wochen auf ITV gesehn und ich bin sowieso irgendwie müde … also hol ich mir noch ’n Glas Milch, sag Gutenacht und geh ins Bett.

Und das isses – 7 Monate her –, das is der Anfang davon. Wieder so’n Tag auf der Brücke … einfach wieder so’n Tag … der Anfang der WAHRHEIT.

Das isses …

Oder nich?

Denn jetzt fang ich an, drüber nachzudenken …

Keine Ahnung.

Vielleicht hab ich ja unrecht?

Vielleicht isses auch gar nich der Anfang …

2/ Die WAHRHEIT des Anfangs

Vielleicht is ja der ECHTE Anfang vor 5 Jahren gewesen, als wir hierher gezogen sind. 5 Jahre … SCHEISSE. Ich muss da so um die 9 oder 10 gewesen sein … fast 11 … keine Ahnung. Is irgendwie schwer, sich so weit zurückzuerinnern. Ich mein, nicht darum schwer, weil’s nich geht, weißte, so wie wenn sich alte Leute nich mehr an Sachen erinnern, weil ihr Gehirn total eingeschrumpft is. Sondern ich mein, es is schwer, weil ich mich gar nich erinnern WILL … weil es mich irgendwie traurig macht, wenn ich mich an die Zeit erinner. Denn damals war alles okay – der Ort war okay. Es war so’n RICHTIGER Ort, verstehste? Nich ’n bepisstes Dorf irgendwo in der Pampa. ’ne STADT, wo’s was gab, wo du hingehn und was machen konntest – Burger King, Bahnhof, Busbahnhof … so was. Okay, vielleicht war’s ja ’n bisschen dreckig, ’n bisschen tough – aber wenigstens war’s nicht TOT. War okay. Und ich war auch okay. Ja … damals war ich okay. Ich war nich DÜRR oder so – ich bin noch NIE dünn gewesen –, aber ich war kein 110-Kilo-FETTWANST. Und ich war auch nich Moo, sondern Mike. Mike Nelson. Und auf Mike REGNETE nich die ganze Zeit irgend so’n Mist runter, Mike wurde nich angestarrt, nich verprügelt und auch nich ausgelacht … ja, es hat mir sogar GEFALLEN, dass ich Mike war. Mike sein war echt okay. Ich sag nich, es war SUPER oder so … aber es war okay.

Dann is was passiert.

1) Dad wurde erwischt, weil er was bei der Stütze gedreht hat.

2) Wir hatten Mietschulden.

3) Mum wurde nervös.

4) Der kleine Mike hat Halsweh gekriegt.

Zeit zu verschwinden.

Es regnete an dem Tag, als wir umgezogen sind. Regnete und war kalt. Wir waren die halbe Nacht auf den Beinen gewesen, um unsere Sachen in Kisten und Kästen zu packen, und es war früh am Morgen, als wir losfuhren … 5 Uhr, 6 Uhr … irgendwas um den Dreh. War noch dunkel. Der Lieferwagen war so’n geliehener Talbot Luton mit Hubklappe am Heck und hatte null Heizung. War ECHT kalt. Was irgendwie komisch is, denn mir war heißer als in der HÖLLE wegen meinem Hals … ich hab geglüht vor Fieber, war total verschwitzt, alles hat gedröhnt, die Augen sind mir rausgequollen und mein Hals war wie ’n roter Luftballon. Wahrscheinlich hab ich auch geweint, gejammert und geweint …

»Es tut so weh, Mum … es tut so weh