Karl Kerényi

DIE MYTHOLOGIE
DER GRIECHEN

Götter, Menschen und Heroen

Teil I
Die Götter- und Menschheitsgeschichten

Teil II
Die Heroengeschichten

Impressum

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Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 1997 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Teil I ist erstmals 1951, Teil II erstmals 1958 im Rhein-Verlag, Zürich erschienen

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Gemäldes von © akg-images/Erich Lessing

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94373-3

E-Book: ISBN 978-3-608-10672-5

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20243-4

Dieses E-Book entspricht der 2. Auflage 2013 der Printausgabe

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Teil I
 
DIE MYTHOLOGIE DER GRIECHEN

Die Götter- und Menschheitsgeschichten

Meiner Frau Dildil

Ich entsinne mich dieses Planes. Es lag ihm, ich weiß nicht welche, sinnliche und geistige Lust zugrunde: Wie der gehetzte Hirsch ins Wasser, sehnte ich mich hinein in diese nackten, glänzenden Leiber, in diese Sirenen und Dryaden, diese Narzissus und Proteus, Perseus und Aktaeon: verschwinden wollte ich in ihnen und aus ihnen heraus mit Zungen reden.

HUGO VON HOFMANNSTHAL

INHALT

ZUR EINFÜHRUNG

I. VOM ANFANG DER DINGE

1. Okeanos und Tethys

2. Die Nacht, das Ei und Eros

3. Chaos, Gaia und Eros

II. TITANENGESCHICHTEN

1. Uranos, Gaia und Kronos

2. Kronos, Rhea und Zeus

3. Götter- und Titanenkämpfe

4. Typhoeus oder Typhon, Zeus und Aigipan

5. Kampf mit den Giganten

III. DIE MOIREN, HEKATE UND ANDERE VOROLYMPISCHE GOTTHEITEN

1. Die Schicksalsgöttinnen (Moirai)

2. Die Göttinnen Eurybia, Styx und Hekate

3. Skylla, Lamia, Empusa und andere Schreckgestalten

4. Die ältesten Töchter der Tethys und des Okeanos

5. Die »Alten des Meeres« Phorkys, Proteus und Nereus

6. Die »greisen Göttinnen« (Graiai)

7. Die Erinnyen oder Eumeniden

8. Die Gorgonen Sthenno, Euryale und Medusa

9. Die Echidna, die Schlange der Hesperiden und die Hesperiden

10. Acheloos und die Sirenen

11. Thaumas, Iris und die Harpyien

12. Die Töchter des Nereus

IV. DIE GROSSE LIEBESGÖTTIN

1. Die Geburt der Aphrodite

2. Aphrodite und Nerites

3. Aphrodite, Ares und Hephaistos

4. Die Geschichte von Pygmalion

5. Die Geschichte von Adonis

6. Aphrodite und Anchises

7. Beinamen der Aphrodite

V. DIE GROSSE MUTTER DER GÖTTER UND IHRE BEGLEITER

1. Idäische Daktylen und Kureten

2. Kabiren und Telchinen

3. Die Geschichte von Attis

VI. ZEUS UND SEINE GATTINNEN

1. Geburt und Kindheit des Zeus

2. Zeus und Hera

3. Zeus, Eurynome und die Chariten

4. Zeus, Themis und die Horen

5. Zeus, Mnemosyne und die Musen

6. Zeus, Nemesis und Leda

7. Kretische Geschichten

8. Orphische Geschichten

9. Beinamen des Zeus und der Hera

VII. METIS UND PALLAS ATHENE

1. Die Geburt der Athene

2. Väter und Erzieher der Athene

3. Athene und Hephaistos

4. Die Töchter des Kekrops

5. Beinamen der Athene

VIII. LETO, APOLLON UND ARTEMIS

1. Wanderungen der Leto

2. Leto und Asteria

3. Die Geburt des Apollon

4. Apollon und seine Feinde

5. Apollon und seine Geliebten

6. Geburt und Tod des Asklepios

7. Erzählungen von Artemis

8. Die Geschichte von Britomartis

9. Beinamen des Apollon und der Artemis

IX. HERA, ARES UND HEPHAISTOS

1. Empfängnisse der Hera

2. Ares und die Aloaden

3. Sturz und Erziehung des Hephaistos

4. Die Fesselung der Hera

5. Hera, Ixion und die Kentauren

X. MAIA, HERMES, PAN UND DIE NYMPHEN

1. Geburt und erste Taten des Hermes

2. Hermes, Aphrodite und Hermaphroditos

3. Geburt und Liebschaften des Pan

4. Von Priapos

5. Nymphen und Satyrn

XI. POSEIDON UND SEINE FRAUEN

1. Geburt und Widderhochzeit des Poseidon

2. Poseidon bei den Telchinen

3. Demeter und die Hengsthochzeiten des Poseidon

4. Poseidon und Amphitrite

5. Kinder der Amphitrite

XII. DIE SONNE, DER MOND UND IHRE SIPPE

1. Die Geschichte des Phaethon

2. Selene und Endymion

3. Eos und ihre Geliebten

4. Orion-Geschichten

5. Von den Windgöttern

XIII. PROMETHEUS UND DAS MENSCHENGESCHLECHT

1. Ursprung des Menschengeschlechts

2. Wettstreit mit Zeus und Feuerdiebstahl

3. Die Geschichte der Pandora

4. Bestrafung und Befreiung des Prometheus

5. Die Geschichte der Niobe

6. Thetis und der künftige Weltherrscher

7. Schicksal des Menschengeschlechts

XIV. HADES UND PERSEPHONE

1. Der Raub der Persephone

2. Andere Erzählungen vom Raub, von Tröstung und Auffahrt

3. Unterweltgeschichten

XV. DIONYSOS UND SEINE GEFÄHRTINNEN

1. Dionysos, Demeter und Persephone

2. Dionysos und Semele

3. Gefährtinnen und Feindinnen des Dionysos

4. Dionysos, Ino und Melikertes

5. Dionysos auf dem Meere

6. Dionysos und Ariadne

7. Beinamen des Dionysos

QUELLEN

BILDER

Zur Einführung

Thema und Herkunft

REGISTER

ZUR EINFÜHRUNG

Dieses Buch verdankt sein Entstehen der Überzeugung, daß die Zeit gekommen ist, eine ›Griechische Mythologie für Erwachsene‹ zu schreiben. Nicht nur für Spezialisten, die sich mit klassischen Studien, mit Religionsgeschichte oder mit Ethnologie befassen; noch weniger für Kinder, für die in der Vergangenheit solche Erzählungen aus Gründen und nach den Gesichtspunkten einer traditionellen Erziehung zurechtgemacht oder zumindest ausgewählt wurden; sondern einfach: für Erwachsene mit jedwelchem Interesse, das klassische, religionsgeschichtliche und ethnologische inbegriffen, aber das rein Humane allem vorangestellt. Eine zeitgemäße Form der allgemein-menschlichen Orientierung ist heute wohl auch die psychologische. Gerade der Psychologie sei – so wurde es von einem großen Vertreter moderner humanistischer Denkweise treffend formuliert – »das mythische Interesse genau so eingeboren, wie allem Dichtertum das psychologische Interesse eingeboren ist«.

Das waren Worte von Thomas Mann in seinem Festvortrag von 1936 über ›Freud und die Zukunft‹. Die Verdienste des Psychologen würdigend, blickte der Dichter damit tatsächlich über ihn hinaus in die Zukunft. Er zeigte in unübertrefflicher Klarheit jene geistige Situation auf, aus der der Verfasser die Berechtigung zu seinem mythologischen Unternehmen schöpft. Das Zurückgreifen der Tiefenpsychologie in die Kindheit der Einzelseele sei – so bekennt der Verfasser des Josephromans – »zugleich auch schon Zurückdringen in die Kindheit des Menschen, ins Primitive und die Mythik. Freud selbst hat bekannt, daß alle Naturwissenschaft, Medizin und Psychotherapie für ihn ein lebenslänglicher Um- und Rückweg gewesen sei zu der primären Leidenschaft seiner Jugend fürs Menschheitsgeschichtliche, für die Ursprünge von Religion und Sittlichkeit … In der Wortverbindung ›Tiefenpsychologie‹ hat ›Tiefe‹ auch zeitlichen Sinn: die Urgründe der Menschenseele sind zugleich auch Urzeit, jene Brunnentiefe der Zeiten, wo der Mythos zu Hause ist und die Urnormen, Urformen des Lebens gründet. Denn Mythos ist Lebensgründung; er ist das zeitlose Schema, die fromme Formel, in die das Leben eingeht, indem es aus dem Unbewußten seine Züge reproduziert. Kein Zweifel, die Gewinnung der mythisch-typischen Anschauungsweise macht Epoche im Leben des Erzählers, sie bedeutet eine eigentümliche Erhöhung seiner künstlerischen Stimmung, eine neue Heiterkeit des Erkennens und Gestaltens, welche späten Lebensjahren vorbehalten zu sein pflegt: denn im Leben der Menschheit stellt das Mythische zwar eine frühe und primitive Stufe dar, im Leben des Einzelnen aber eine späte und reife.« Eine Auffassung des Mythos, die nicht vom »Leben« ausgeht – das immer nur einer der möglichen Aspekte ist – sondern vom »Sein«, wäre freilich mindestens ebenso berechtigt. Was aber ein großer Schriftsteller vor fünfzehn Jahren auf diese Weise an sich selbst erfahren hat, dürfte heute allgemeinere Geltung haben und nicht an das gleiche vorgeschrittene Alter gebunden sein.

So stellt sich der Verfasser jene »Erwachsenen« vor, denen er die Mythologie der Griechen in der Form einer zusammenhängenden Erzählung vorzulegen unternimmt, gleichsam einen um die Nachwelt völlig unbekümmerten und wie Aristophanes ungezogenen Klassiker. Er hofft sich an der besten Literatur unserer Zeit gereifte Leser: solche, denen es nicht allzuschwer fällt, die Mann’sche Einstellung zu finden zur archaischen Massivität und Freiheit, zur Eintönigkeit und Sprunghaftigkeit dieser an Spontaneität nicht leicht zu übertreffenden Dokumentation des Menschlichen, das die griechische Mythologie als Ganzes ist; solche, die sie zu genießen fähig sind und eben jene Dokumentation in ihr erkennen, welche zu den anerkannten Klassikern noch hinzutreten muß, um das ganze, reale Bild der griechischen Antike zu ergeben. Unter Dokumentation wird natürlich historische Dokumentation verstanden und nicht die psychologische Deutung der vorzulegenden Überlieferung. Ist diese Überlieferung selbst einmal von der oberflächlichen Psychologie der bisherigen Darstellungen befreit und als selbständiger Stoff mit eigenen Gesetzen in seiner Gesamtheit hingestellt, so wirkt die Mythologie ebenso wie die unmittelbarste Psychologie – wie eben eine durch Überindividuelles angeregte, in Bildern objektivierte Betätigung der Psyche wirkt.

»Überindividuelles« soll hier als minimale Definition gelten. Überindividuell sind – per definitionem – etwa die »Gestalten des Seins«, wie Walter F. Otto den Inhalt des Mythos auffaßt in seinem Werk ›Die Götter Griechenlands‹ oder auch alles »Archetypische« im Sinne Jungs. Die Wahl oder eine mögliche Verbindung – prinzipiell alle Möglichkeiten – bleiben in diesem Buch offen gelassen. Die Unmittelbarkeit der Traumbilder und der Bilder der Mythologie ist aber analog: darin stehen jene und diese, stehen Traum und Mythologie einander näher als Traum und Poesie. Darum glaubte der Verfasser in seiner mit Professor Jung herausgegebenen ›Einführung in das Wesen der Mythologie‹ (4. Ausgabe, Rhein-Verlag, Zürich 1951), von der »Individualmythologie« moderner Menschen – im Sinne ihrer Psychologie – reden zu dürfen. Mit dem gleichen Recht dürfte jede Mythologie, wenn man von ihrem künstlerischen Charakter absehen will, eine »Kollektivpsychologie« genannt werden: gemeinsames Beherrschtsein durch Überindividuelles in unmittelbar erfahrenen Bildern. Völlig darf man freilich davon nicht absehen, daß die Mythologie, in ihrer Eigenart betrachtet, eine besondere, schöpferische, also doch auch künstlerische Betätigung des Geistes ist, ein Mitgestalten an dem Erfahrenen. Sie berührt sich zwar mit der Dichtung, interferiert mit ihr, doch steht sie nichtsdestoweniger für sich da, neben der Dichtung, der Musik, den bildenden Künsten, der Philosophie und den Wissenschaften. Ebensowenig darf die Mythologie mit Gnosis oder Theologie verwechselt werden; von diesen trennt sie – auch von den heidnischen Theologien und von jeder Art Theosophie – ihr schöpferisch-künstlerischer Charakter. Den Gegenstand der Mythologie bildet immer etwas, was über dem Erzähler und über allen Menschen steht – »wie sie jetzt sind« –, aber immer nur als Sichtbares, Erfahrbares oder wenigstens in Bildern Faßbares, nie die Gottheit in abstracto, und die Gottheit auch in concreto nicht, wenn sie unfaßbar, nicht darstellbar bleiben will. Überindividuell zu sein und eine ergreifende, die Seele mit Bildern füllende Macht auf den Menschen auszuüben ist unerläßlich, um Gegenstand der Mythologie zu sein. Jene Bilder sind der Stoff der Mythologie, wie die Töne der Stoff der Musik sind. Ein »Stoff«, mit Shakespeare zu reden, aus dem unsere Träume gemacht sind, ein durchaus menschlicher Stoff, der sich seinem Gestalter, dem Mythenerzähler, als etwas Objektives darbot, wie aus einem überindividuellen Quell sich ergießend, und der sich auch dem Zuhörer – der neuen Gestaltung, die ihm der Erzähler gegeben hat, der neuen Variation ungeachtet – nicht als dessen subjektive Schöpfung, sondern wiederum als etwas Objektives darbietet.

Derselbe menschliche Stoff wird indessen sofort zu etwas anderem, wenn er als »toter Stoff« daliegt, aus dem Medium genommen, in dem er gelebt hat. Als toter Stoff liegt auch ein gedrucktes Gedicht oder ein in Noten aufgezeichnetes Kunstwerk da: so angeschaut ist es etwas anderes, als es in der Seele dessen war, dem es zuerst ertönte oder dem es noch getönt hat. Es ist nicht schwer, es wieder zu beleben, in sich selbst zurückzuverwandeln. Man tut es, indem man es in sein ursprüngliches Medium, in ein äußeres und inneres Tönen zurückversetzt. Auch die Mythologie muß, damit sie sich in ihrer Eigenart mitteilt, in ihr Medium zurückversetzt werden, in welchem sie noch äußerlich und innerlich tönte, das heißt, Resonanz erweckte. Das griechische Wort mythología hat nicht nur die »Geschichten«, die mythoi selbst, zum Inhalt, sondern auch das »Erzählen«, das legein: ein Erzählen, das auch Resonanz-Erwecken war; innerliches Resonanz-Erwecken, indem auch das Bewußtsein dadurch erweckt wurde, daß die erzählte Geschichte den Erzähler und die Zuhörer persönlich anging. Die überlieferten Bruchstücke der griechischen Mythologie müßten in das Medium eines solchen Erzählens und Zuhörens zurückversetzt werden, um sie aus »totem Stoff« wieder in sich selbst, in lebendigen menschlichen Stoff zurückzuverwandeln.

Das Experiment, die Mythologie der Griechen wenigstens zu einem gewissen Grad in ihr ursprüngliches Medium, in das mythologische Erzählen zurückzuversetzen, wird hier versucht. Eine künstlich hergestellte Situation, eine Fiktion, gehört notwendigerweise zum Experiment. Die fiktive Situation wird jenem exemplarischen Fall der Begegnung mit einer lebendigen Mythologie nachgebildet, die der Verfasser in seinem Buch ›Die antike Religion‹ (Klett-Cotta 1995) zur Beantwortung der Frage: »Was ist Mythologie?« herangezogen hat. Es ist der Fall von Sir George Grey. Dieser englische Staatsmann wurde im Jahre 1845 von der britischen Regierung nach Neuseeland geschickt, gab 1855 seine ›Polynesian Mythology and Ancient Traditional History of the New Zealand Race‹ heraus und erzählt im Vorwort, sich gleichsam entschuldigend, wie er als Generalgouverneur des Inselreiches zu diesem mythologischen Unternehmen kam.

Er fand nach seiner Ankunft in Neuseeland, daß er »Ihrer Majestät eingeborene Untertanen« mit Hilfe der Dolmetscher im eigentlichen Sinne nicht verstehen konnte. Als er sich die Sprache, in der noch keinerlei Bücher, auch keine Wörterbücher, veröffentlicht worden waren, mit großer Mühe angeeignet hatte, erlebte er eine neue Enttäuschung: Er konnte die eingeborenen Häuptlinge, mit denen er in diplomatischer Verbindung stand, auch im Besitz der Sprache immer noch nicht wirklich verstehen. »Ich fand« – so berichtet er weiter –, »daß diese Häuptlinge, in Wort und Schrift, zur Erklärung ihrer Ansichten und Absichten Bruchstücke alter Dichtungen und Sprichwörter zitierten oder Anspielungen machten, die auf ein altes mythologisches System gegründet waren; und obwohl die wichtigsten Teile ihrer Mitteilungen in diese bildliche Form gekleidet waren, versagten die Dolmetscher und konnten nur selten (wenn überhaupt) die Dichtungen übersetzen oder die Anspielungen erklären.« So mußte Sir George selbst sammeln und lernen, um die Mythologie der Bewohner Neuseelands schriftlich festhalten zu können. In schlichter, seinem Gefühl nach allzu treuer, englischer Prosa legte er die Sammlung vor, die mit der Erzählung über die Kinder des Himmels und der Erde beginnt: »Die Menschheit hatte ein einziges Paar zu Ureltern; sie entsprang dem mächtigen Himmel, der über uns ist, und der Erde, die unter uns liegt. Nach den Überlieferungen unseres Volkes waren Rangi und Papa, Himmel und Erde, die Quelle, aus der alle Dinge am Anfang ihren Ursprung nahmen …«

Der Leser wird nun gebeten, sich vorzustellen, wir besuchten in ähnlicher Gesinnung wie Sir George Grey eine griechische Insel. Wenn er durch klassische Studien gegangen ist, wird er sich erinnern, die Erfahrung des britischen Generalgouverneurs gemacht zu haben: Um die Griechen zu verstehen, mußte er außer ihrer alten Sprache auch ihre Mythologie lernen. Die klassische Altertumswissenschaft hat die Bedeutung der Mythologie auch in jenem Sinne zu begreifen, wie sie Sir George notgedrungen begreifen mußte. Man kann sich dabei auf die Beobachtungen großer Historiker berufen: »Um die Griechen dieser Zeit zu verstehen« – so lesen wir in Ulrich Wilckens ›Alexander der Große‹ –, »muß man sich in jene Eigenheit ihres Wesens hineindenken, daß, wie es Jacob Burckhardt einmal formuliert hat, ihr Mythos ›die ideale Grundlage ihres ganzen Daseins war‹. Es war ganz üblich, auch bei den nüchternsten politischen Fragen, sich auf mythische Vorgänge zu beziehen oder gar die Mythen nach Maßgabe der Interessen der Gegenwart umzugestalten und Anschauungen der Gegenwart, um ihnen mehr Kraft zu geben, in die mythischen Zeiten zu projizieren. Auch im Leben des Alexander hat dies eine große Rolle gespielt.« Die Anführung stammt von M. P. Nilsson in seinem Büchlein ›Cults, Myths, Oracles and Politics in Ancient Greece‹ (Lund 1951) und bildet somit die Äußerung von drei Historikern zugleich, von denen Burckhardt in seiner ›Griechischen Kulturgeschichte‹ nicht der kleinste ist; sie durfte, obwohl sie mehr die politische als die Lebensbedeutung der Mythologie anerkennt und mehr die Idealisierung und die Rückwirkung der Gegenwart als die Geltung von »Urnormen, Urformen« betont, nicht unerwähnt bleiben, wenn der Leser zum hier vorgelegten mythologischen Unternehmen eingeladen wird.

Es geschieht ihm hier etwas Ähnliches wie jenem Comte de Marcellus, französischer Gesandter an der Hohen Pforte, der 1818 von Konstantinopel aus die Inseln des Marmarameeres besuchte, um dort einen außergewöhnlich gebildeten Griechen namens Yacobaki Rizo Nérulos zu treffen, der ebensogut französisch wie griechisch sprach. Er machte den Grafen mit dem großen Dionysos-Epos des Nonnos bekannt, das dieser später übersetzte und herausgab. Es wird jetzt angenommen, daß wir auf unserer Insel einem ähnlichen Griechen begegnen, der uns die Mythologie seiner Vorfahren erzählt. Er weiß nicht mehr als das, was in der Literatur und durch die Denkmäler überliefert ist. Diese Überlieferung geht ihn aber persönlich an. Er nennt sie »unsere« Mythologie, und wenn er »wir« sagt, meint er die alten Griechen, seine – und gewissermaßen auch unsere – geistigen Ahnen.

Das »Wir« in diesem Buch ist ein Mittel der Erzählung, wodurch die Mythologie leichter in ihr ursprüngliches Medium zurückversetzt wird. Der Verfasser erhebt dadurch keinen Anspruch auf eine höhere Autorität als die Gelehrten sonst mit ihrem »Wir«. Ein subjektiver Faktor ist unter keinen Umständen zu vermeiden. Eine jede Darstellung der Mythologie ist bereits Interpretation, und jede Interpretation hängt von der Empfänglichkeit des Darstellers ab. Doch bedenke man, ob das Fehlen der Empfänglichkeit für Musik, Dichtung, Malerei eine gute Interpretation der Werke, die zu den genannten Kunstgattungen gehören, ergeben würde? Der subjektive Faktor ist nicht auszuschalten; er muß aber durch die Bewußtheit des Interpreten und durch seine Treue wettgemacht werden.

Treue wird im folgenden dadurch erstrebt, daß die Erzählungen den Urtexten womöglich wörtlich folgen. Verschiedene Versionen – die Variationen desselben Themas – werden unausgeglichen nebeneinander stehen. Die Voraussetzung solcher Darstellungsweise ist eine Annahme, die im großen und ganzen durch die gesamte Überlieferung bestätigt wird und nur eine minimale, unvermeidliche Verallgemeinerung bedeutet, daß nämlich über jedes mythologische Thema zu jeder Zeit mehrere Erzählungen nebeneinander liefen, durch den Ort, die Zeit und die Kunst des Erzählers bedingte Verschiedenheiten aufweisend. Von der richtigen Behandlung dieser Verschiedenheiten, die weder verwischt noch zu sehr betont werden dürfen, hängt es ab, ob eine Darstellung der griechischen Mythologie, wie sie hier versucht wird, gelingt: eine Darstellung dessen, was wirklich erhalten blieb.

Es wäre gewiß sehr verlockend, bei jeder Variation ausführlich darzulegen, wo und wann und bei welchem Autor sie zuerst aufgekommen ist, und einen mehr oder weniger wahrscheinlichen Grund zu erdenken, warum sie aufgekommen sei. Dies wurde bisher meist auch getan, und eben dadurch wurden die Erzählungen selbst auf eine Weise in den Hintergrund gedrängt, als wären nur jene wirklichen und vermeintlichen Gründe an der ganzen griechischen Mythologie interessant. Eine solche Verschiebung des Interesses von der Ebene der antiken Erzählungen auf die der modernen Erklärungen soll in diesem Buch möglichst vermieden werden.

Die ursprünglichen Erzähler der Mythologie begründeten ihre Variationen einfach damit, daß sie die ganze Geschichte auf ihre Weise erzählten. Erzählen ist in der Mythologie schon Begründen. Die Worte: »Es wurde erzählt«, denen der Leser in diesem Buch so oft begegnen wird, wollen die verklungenen Erzählungen selbst nicht ersetzen. Sie möchten nur die Aufmerksamkeit auf das einzig Wichtige konzentrieren: darauf, was erzählt wurde. Das war aber, so oder so gestaltet, im Grunde genommen immer ein sich gestaltender, sich entfaltender und in allen Variationen unverkennbar bleibender Grundtext. Die Worte dieses Grundtextes sind nicht wieder herzustellen, nur die Worte der Variationen können noch wiedergegeben werden. Hinter den Verschiedenheiten ist aber doch etwas Gemeinsames zu erkennen: eine Geschichte, die auf vielerlei Weise erzählt werden konnte und doch dieselbe blieb. In diesem Buch möchte der Verfasser die Starrheit einer strengen terminologischen Ausdrucksweise vermeiden, welche diesem fließenden Stoff gewissermaßen Gewalt antun würde, und sagt daher anstatt »Geschichte« nicht »Mythologem«. Dieser Ausdruck würde nur das betonen – und dies war einmal auch notwendig –, daß die »Grundtexte« der Mythologie ebenso textartige Werke sind wie die »Poeme« oder die musikalischen Kompositionen, die nicht willkürlich in ihre Elemente aufzulösen sind, sonst werden sie zu etwas anderem: zu einem Haufen von stummem und totem Material für alles und nichts. Hier soll die Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt der »Grundtexte« der griechischen Mythologie gelenkt werden.

Jene Grundtexte, die immer wieder erzählten »Geschichten«, sind wohl auch »Werke«, die Werke ihrer Erzähler. Doch sind sie es nicht völlig. Schon der erste Erzähler hatte nur die Personen eines Dramas – denn eine mythologische Erzählung ist immer eine Art Drama – auf die Bühne gesetzt. Er ließ sie nach der Weise seiner Zeit und seiner Kunst auftreten und reden. Es ist aber für die Mythologie eben dies charakteristisch, daß in ihr solche Personen auf die Bühne treten, welche – wie die Gestalten eines Traumes – ihr Drama nicht nur aufführen, sondern eigenwillig führen. Um in diesem Gleichnis zu bleiben und den Sachverhalt doch etwas genauer auszudrücken: Sie bringen gleichsam den Plan eines kleinen Dramas mit sich, welches meistens sogar schon eine notwendige Gruppe von Personen enthält, eine Zweiheit, eine Dreiheit oder Vierheit. So erscheint etwa die Große Mutter mit ihren zwei Begleitern und ihrem kleinen Liebling: mit drei Söhnen, die mit ihr zusammen eine Vierheit bilden. Schon das Ursprungsstadium des mythologischen »Werkes« – wie jedes Kunstwerkes – enthielt Elemente, die in der Macht des Künstlers stehen, und solche, in deren Macht er steht. Diese bestimmenden Elemente haben in der Mythologie die Oberhand. Die dramatis personae werden gewählt, und sie bieten sich zugleich an. Die eine zieht die andere nach sich, und die Geschichte – wie sie sich selbst gewollt hat – ist da; der Erzähler braucht sie nur auszuführen. Seine Ausführung bleibt aber an seine Personen und an deren eigenwilliges und doch planmäßiges Agieren gebunden.

Wie Goethe an das Agieren seines Mephistopheles nicht nur durch das Volksbuch über Doctor Faustus gebunden war, sondern auch durch einen der Gestalt des Teufels eigenen Aktionsplan – wozu dann auch Verführte und Betrogene gehörten –, so war auch der antike Dichter, schon der Dichter des homerischen Hermeshymnus, an einen bestimmten Aktionsplan gebunden, wenn er etwa von Hermes erzählen wollte. Es wäre unberechtigt, dichterische Werke, die von solchen Personen handeln, wie Hermes, von den Prosatexten prinzipiell trennen zu wollen, die von denselben Personen erzählten. Alles ist Mythologie, was eben jene Art Personen auftreten läßt, die man aus der Religionsgeschichte als Götter oder Dämonen kennt. Sie sind historische Gegebenheiten einer vergangenen Kultur. In den hier vorgelegten Texten wird man sie von einer anderen Seite kennen lernen: in ihrem Agieren als Gegebenheiten des Menschen in einer Situation, in der solches Agieren noch nicht gehemmt war. Aus der damaligen Ungehindertheit soll jetzt der wissenschaftliche Nutzen gezogen werden, daß man die Agierenden und ihre Aktion wie ein Schauspiel beobachtet – wenn man will, um sich zu amüsieren. Das Schauspiel enthält aber eine Götterlehre, die zugleich auch Menschenlehre ist.

Eine völlige Unmittelbarkeit des Schauspiels kann freilich nicht versprochen werden. Solche Texte, die unmittelbar dramatisch wirken, wie der homerische Hermeshymnus, die beiden Hymnen an Aphrodite, die hesiodische Erzählung von der Tat des Kronos, sind selten. Sie sind zwar dichterische Texte, doch noch archaisch genug – zumal von dem Stilzwang des heroischen Verses befreit –, um jenen gegebenen Aktionsplan, den Grundriß der mythologischen Handlung, ungestört wirken zu lassen. Bei späteren Dichtern – bei den Alexandrinern, bei Ovid – wurde jener Grundplan, selbst wenn der ursprüngliche Grundtext wiedererzählt wird, meistens durch die neuen Motivierungen einer neuen, persönlichen Psychologie ersetzt. Die Tat des Kronos, die Situation der Aphrodite in der Mitte einer männlichen Zweiheit, das Bedürfnis des Hermes nach Finden und Erfinden – nach Erfinden auch im Sinne des Trugs – entstammen nicht jener persönlichen Psychologie: sie sind auf einer allgemeineren, unpersönlichen Ebene menschlich. Das sind Beispiele jener allgemeineren Menschenlehre, die uns die Mythologie erteilt, wohl in Übereinstimmung mit der Tiefenpsychologie, aber auf die ihr eigentümliche Weise der dramatischen Veranschaulichung.

Eine unmittelbare dramatische Veranschaulichung, welche zugleich den Grundplan des mythologischen Dramas durchblicken ließe, wie dies die erwähnten Texte tun, wird selten möglich sein. Außer den dramatis personae wird immer auch jene fiktive Person auftreten müssen, die der Verfasser eingeführt hat, um die griechische Mythologie wiederzuerzählen. Sie wird gleichsam den Prolog sagen vor den größeren und kleineren Abschnitten der ganzen Erzählung, wird die auftretenden Personen vorstellen, ihr »Kostüm« beschreiben – wie etwa im Fall der Erinnyen –, nach dem klassischen Muster der griechischen Tragödie. Doch erfaßt dieses Gleichnis die ganze Aufgabe der erzählenden Person nicht.

Was hier wiedererzählt wird, stammt aus verschiedenen Zeiten. Eine Kompilation der Bruchstücke auf einer fiktiven Ebene, als gehörten sie alle einer und derselben Zeit oder einer zeitlosen, statischen Antike an, war nicht die Absicht des Verfassers. Was er bietet, ist ein Mosaik, in der jedes Steinchen von dem anderen getrennt sitzt, ja noch beweglich ist. Wenn er auch den historischen Forscher nicht in den Vordergrund stellt – das würde den Stil dieses erzählenden Werkes durchbrechen und dessen Rahmen durch weitläufige, gelehrte Ausführungen sprengen –, so läßt er seinen Erzähler sich doch immer auch in der Dimension der Zeit bewegen. Er hat die relativen Datierungen der geschichtlichen Forschung vor Augen, selbst wenn er glaubt, aufgrund eigener, historischer Arbeiten, sie hie und da modifizieren zu müssen. So im Fall der frühen Datierung gewisser archaischer Erzählungen der Orphiker – einer Datierung, deren Begründung er im Rekonstruktionsversuch ›Die orphische Kosmogonie und der Ursprung der Orphik‹ in seinem ›Pythagoras und Orpheus‹ (Humanistische Seelenforschung, Klett-Cotta 1996) vorgelegt hat. Dadurch werden die Geschichten selbst nicht modifiziert.

Es war das Ziel, der griechischen Mythologie die heute noch erreichbare geschichtliche Konkretheit zu verleihen – eine ähnliche Konkretheit, wie jene war, in der Sir George Grey die polynesische Mythologie vorfand. Das geht ohne Rekonstruktion nicht. Rekonstruktion aber bedeutet für den Verfasser nur die Konkretisierung dessen, was in den Quellen steht. Er hat sich Beschränkungen auferlegt, die dem Leser, der den Erzählungen auch über die überlieferten Texte hinaus gern folgen würde, vielleicht nicht immer angenehm sein werden. Er führt die Fäden der Geschichten auch da nicht weit von den Quellen weg, wo er dies als Forscher mit seinem wissenschaftlichen Gewissen verantworten könnte. Auf Andeutungen der möglichen Fortsetzungen und Zusammenhänge hat er nicht verzichtet. Der Leser mag aber solche Andeutungen auch auf sich beruhen lassen und bei dem Wortlaut der Quellen selbst bleiben, die er – aufgrund der Nachweise – im Originaltext der klassischen Autoren nachschlagen kann. Er nehme auch das Register in Gebrauch, falls er alles erfahren will, was in diesem Buch an mythologischen Kenntnissen über einen Gott oder eine Göttin geboten wird.

Die Fäden wurden auch da nicht weiter verfolgt, wo sie in die Heldensage hinüberführen. Das Problem der Wiedererzählung der griechischen Heldensage ist noch schwieriger zu lösen als das der Mythologie in engerem Sinne. Die Themen der Heroenmythologie wurden von den alten Dichtern ausführlicher, aber auch freier behandelt als die Göttergeschichten. Es ist da mehr mit besonderen, rein künstlerischen Absichten, ja schon mit künstlerischen Mustern in den bestimmenden Elementen zu rechnen. Die Wiedererzählung soll in einem, nach diesem folgenden Band dennoch versucht werden. Das Spiel eines gelehrten Dichters war dem heutigen Darsteller der griechischen Mythologie weder vergönnt noch erlaubt. Was er erreicht haben möchte, ist hier, das Spiel der Götter in den wiedererzählten Geschichten so wenig gestört zu haben, als es bei der Schwerfälligkeit einer mit vielen Autoren, Quellen und Hinweisen arbeitenden wissenschaftlichen Forschung möglich war.

Es sei zum Schluß noch ein persönlicheres Wort an die geneigten Leser erlaubt. Dieses Buch wird Ihnen die Gelegenheit bieten, die Göttergeschichten der griechischen Mythologie und diejenigen vom Ursprung und Schicksal der Menschheit wie die Kapitel eines einzigen Erzählungswerkes vom Anfang bis zum Ende zu lesen. Der Autor tat alles, um ein solches Lesen leicht zu machen. Mußte er einen Faden fallen lassen, so vergaß er doch nicht, das ausdrücklich zu sagen und zu bemerken, wo er den Faden wieder aufnahm. Was er nicht tun durfte, ist dies: Dadurch, daß so viele Erzählungen in ihrer ursprünglichen, archaischen Form verlorengegangen sind, ist die ganze Überlieferung, die vorgelegt werden konnte, überaus dicht geworden. Diese Dichtheit durfte nicht künstlich aufgelöst werden. Die Worte der Verdünnung verfälschen schon bei Ovid die archaische Psychologie. Es schien besser, auf eine solche Art der Erleichterung zu verzichten. So bleibt den Lesern nichts anderes übrig, als nicht allzuviel auf einmal von der dichten Nahrung zu sich zu nehmen: immer nur wenige Seiten auf einmal und auch diese lieber wiederholt zu lesen wie ein altes Gedicht, dessen verklungene Form den inhaltschweren menschlichen Stoff nur mit Mühe beflügelt. Die Worte des Komponisten im Vorspiel von Hofmannsthals ›Ariadne auf Naxos‹ dürfen hier angeführt werden: »Das Geheimnis des Lebens tritt an sie heran, nimmt sie bei der Hand …«

Diese einführenden Zeilen trugen in der ersten Ausgabe das Datum Ponte Brolla, 4. Juni 1951. Seitdem ergaben sich auf Reisen in den mythologischen Landschaften und bei der Arbeit, namentlich an der Fortsetzung, der ›Heroengeschichten‹ (Teil II), immer wieder Anlässe und Gelegenheiten zur Nachprüfung, ob die Schrift, in die hier die Mythologie der Griechen gefaßt ist, zu stehen und zu bleiben vermag. Geändert wurde einiges am Kabiren- und Telchinenkapitel als Ergebnis der Fahrt nach Samothrake, deren Tagebuch man in den ›Unwillkürlichen Kunstreisen‹ (Zürich 1954) lesen mag. Walter F. Ottos Buch ›Die Musen und der göttliche Ursprung des Singens und Sagens‹ brachte Erweiterung für das Musenkapitel. Klarer wurde in den einführenden Zeilen der Standpunkt des Erzählers – des einsichtigen inselgriechischen Gelehrten, der nie als ein alter Grieche gedacht war – herausgestellt: damit der Leser nicht in die Versuchung kommt, darin den Standpunkt eines festgelegten Theoretikers zu suchen, anstatt die gleiche Offenheit sich zu eigen zu machen, die dem Stoff gegenüber einzig richtig ist.

Ascona, Weihnachten 1955.

I. VOM ANFANG DER DINGE

1. OKEANOS UND TETHYS

Es gab in unserer Mythologie mehrere Erzählungen vom Anfang der Dinge. Die älteste war vielleicht jene, auf die unser ältester Dichter, Homer, anspielt, wenn er Okeanos den »Ursprung der Götter«1 und den »Ursprung von allem« nennt2. Okeanos war ein Flußgott; Fluß oder Strom und Gott in einer Person, wie die übrigen Flußgötter auch. Unerschöpfliche Zeugungskraft besaß er gleichfalls wie unsere Flüsse, in deren Wasser die Griechenmädchen vor ihrer Hochzeit badeten und die daher auch als die Stammväter alter Geschlechter galten. Doch war Okeanos kein gewöhnlicher Flußgott, da sein Strom kein gewöhnlicher Strom war. Nachdem alles aus ihm seinen Ursprung genommen hat, fließt er immer noch, am äußersten Rand der Erde, in sich zurückströmend, im Kreise. Die Flüsse, Quellen und Brunnen, ja das ganze Meer, alle entspringen fortwährend seinem breiten, starken Strom. Er allein durfte, als die Welt schon unter der Herrschaft des Zeus stand, an seinem alten Ort bleiben, der eigentlich kein Ort, sondern nur Strömung, Umgrenzung und Abtrennung ist vom Jenseits.

Es ist indessen nicht richtig, zu sagen: »er allein«. Mit Okeanos war die Göttin Tethys verbunden, die mit Recht als »Mutter« bezeichnet wird3. Mit wem hätte Okeanos der »Ursprung von allem« sein können, wenn in seiner Person nur ein männlicher Urstrom dagewesen wäre und keine empfangende Ur-Wassergöttin mit ihm? Wir verstehen auch, warum bei Homer berichtet wird, das Ur-Paar halte sich seit langer Zeit schon von der Zeugung zurück4. Sie tun dies aus Zorn gegeneinander: eine Begründung, die in solchen uralten Erzählungen wohl natürlich ist. Hätte aber die Urzeugung nicht aufgehört, so würde auch unsere Welt keinen Bestand haben, keine runde Grenze und kein Kreislauf würde in sich zurückkehren. Alles wäre ins Grenzenlose weiter gezeugt worden. Dem Okeanos blieb also nur die Strömung im Kreise, das Nähren der Quellen, der Flüsse und des Meeres – und die Unterordnung unter die Macht des Zeus.

Von Tethys hören wir wenig in unserer Mythologie, es sei denn, daß sie die Mutter der Okeanostöchter und der Okeanossöhne war5. Die Söhne sind die Flüsse, an der Zahl dreitausend6. Die Zahl der Töchter, der Okeaninai, war ebenso groß7. Nur die ältesten sollen später noch erwähnt werden. Unter den Enkelinnen war eine, deren Name Thetis an Tethys anklingt. Unsere Sprache unterscheidet streng zwischen diesen zwei Namen. Es ist aber möglich, daß sie für Menschen, die vor uns in Griechenland wohnten, in Laut und Bedeutung einander noch näherstanden und ein und dieselbe große Herrin des Meeres waren. Von Thetis wird bald wieder die Rede sein. Diese Erzählung und diese Gottheiten herrschten wahrscheinlich früher an unserem Meer, als griechische Stämme dort lebten.

2. DIE NACHT, DAS EI UND EROS

Eine andere Erzählung vom Anfang der Dinge war lange in heiligen Schriften überliefert, die die Anhänger und Verehrer des Sängers Orpheus bewahrten, blieb aber zuletzt doch nur durch einen Komödiendichter und in Anspielungen von Philosophen erhalten. Man erzählte sie ursprünglich eher unter Jägern und Waldbewohnern als bei den Menschen am Meere. Am Anfang war die Nacht – so begann diese Geschichte8. In unserer Sprache hieß die Nacht Nyx, eine der größten Göttinnen auch für Homer, vor der selbst Zeus eine heilige Furcht empfand9. Nach dieser Erzählung war sie ein Vogel mit schwarzen Flügeln10. Befruchtet vom Wind legte die Urnacht ihr silbernes Ei11 in den Riesenschoß der Dunkelheit. Aus dem Ei trat der Sohn des wehenden Windes, ein Gott mit goldenen Flügeln, hervor. Er wird Eros, der Liebesgott, genannt; das ist aber nur ein Name, der lieblichste unter allen Namen, die dieser Gott trug. Die übrigen Namen, die wir noch kennen, klingen sehr gelehrt, aber auch sie drücken nur einzelne Begebenheiten dieser alten Erzählung aus.

Heißt der Gott Protogonos, so will das sagen, daß dieser Gott der »Erstgeborene« unter allen Göttern war. Heißt er Phanes, so drückt dieser Name genau das aus, was der aus dem Ei soeben Geborene alsbald tat: er zeigte und brachte alles ans Licht, was bis dahin im silbernen Ei verborgen lag. Und das war die ganze Welt. Oben ein Hohlraum: der Himmel. Unten: das Andere. In unserer alten Sprache gibt es ein Wort für den hohlen Raum, das eigentlich nur soviel bedeutet, daß es »gähnt«: es ist das Wort Chaos. Für ein Gemisch, ein Durcheinander, gab es ursprünglich nicht einmal dieses Wort, das erst später, nach der Einführung der Lehre von den vier Elementen, die heute geläufige Bedeutung erhielt. So war auch das »Andere«, unten im Ei, kein unnatürliches Gemisch. Man erzählte diese Geschichte auch so, daß unten im Ei die Erde war und Himmel und Erde sich begatteten12. Das war die Wirkung des Gottes, der beide ans Licht brachte und dann zur Vermischung zwang, des Eros. Sie zeugten das Geschwisterpaar Okeanos und Tethys.

Die alte Erzählung in unserem meerumflossenen Lande ging aber wahrscheinlich so weiter, daß sich ursprünglich Okeanos unten im Ei befand, doch nicht allein, sondern mit Tethys, und sie empfanden als erste die Wirkung des Eros. Wie es in einem Gedicht des Orpheus hieß13: »Okeanos war der erste, der schön fließende, der mit der Begattung begann: er nahm die Schwester von derselben Mutter, die Tethys, zur Frau.« Die gemeinsame Mutter aber war jene, die das silberne Ei gelegt hatte: die Nacht.

3. CHAOS, GAIA UND EROS

Die dritte Erzählung vom Anfang der Dinge stammt von Hesiod, einem Bauer und Dichter, der in seiner Jugend die Schafe am Götterberg Helikon weidete14. Es lagen da die heiligen Stätten auch solcher Gottheiten, die von den Anhängern des Sängers Orpheus besonders verehrt wurden und deren Kult vielleicht erst sie dort, in Böotien, aus nördlicheren Gegenden eingeführt haben: des Eros und der Musen. Die Erzählung des Hesiod lautet jedenfalls so, als hätte er nur die Eierschale aus der Geschichte von Nacht, Ei und Eros weglassen und als Bauer dem festen Boden, der Erde, der Göttin Gaia, den Rang der ältesten Göttin geben wollen. Denn Chaos, das er zuerst nennt, war für ihn keine Gottheit, sondern nur ein leeres »Gähnen«: eben das, was von einem leeren Ei bleibt, wenn man die Schale wegnimmt.

So erzählt er15: Zuerst entstand das Chaos. Danach entstand Gaia, mit breiten Brüsten, der feste und ewige Sitz von allen Gottheiten, die hoch oben, auf dem Berg Olymp wohnen, oder in ihr selbst, in der Erde, und Eros, der schönste unter den unsterblichen Göttern, der die Glieder löst und den Geist aller Götter und Menschen beherrscht. Vom Chaos stammt das Erebos her, die lichtlose Dunkelheit der Tiefen, und Nyx, die Nacht. Nyx gebar den Aither, das Himmelslicht, und Hemera, den Tag, sich mit dem Erebos in Liebe vermischend. Gaia aber gebar vor allem, als ihr gleichen, den gestirnten Himmel, Uranos, damit er sie völlig umfange und fester und ewiger Sitz sei den seligen Göttern. Sie gebar die großen Gebirge, in deren Tälern so gerne Göttinnen wohnen: die Nymphen. Sie gebar auch das öde, schäumende Meer, den Pontos. Und dies gebar sie ohne Eros, ohne Begattung.

Dem Uranos gebar sie außer den Titanen und Titaninnen (bei Hesiod sind auch Okeanos und Tethys dazu geworden) drei Kyklopen: Steropes, Brontes, Arges – Gestalten mit einem runden Auge auf der Stirn und mit Namen, die Donner und Blitz bedeuten. Ferner gebar ihm Gaia drei Hekatoncheiren: Riesen mit hundert Armen und fünfzig Köpfen, Kottos, den »Stoßenden«, Briareos, den »Starken« und Gyes, den »Begliederten«. Doch die ganze Geschichte von der Verbindung von Uranos und Gaia – obwohl sie ursprünglich sicher zu den Erzählungen vom Anfang der Dinge gehörte – führt schon zu den Titanengeschichten hinüber und ist die erste aus dieser besonderen Art von Erzählungen in unserer Mythologie. Sie sollen nun der Reihe nach folgen.

II. TITANENGESCHICHTEN

Die Titanengeschichten handeln von Göttern, die einer so fernen Vergangenheit angehören, daß wir sie nur aus einer bestimmten Art von Erzählungen, in einer bestimmten Rolle, kennen. Der Name Titan, mit dem wir sie bezeichnen, ist am längsten an der Gottheit der Sonne haften geblieben und scheint ursprünglich der hohe Titel von Himmelsgöttern gewesen zu sein, doch von sehr alten, noch keinen Gesetzen unterworfenen, wilden Himmelsgöttern. Sie waren uns keine kultischen Gottheiten, mit der Ausnahme vielleicht von Kronos und – wenn wir auch den gebändigten, Gesetzen unterworfenen Sonnengott hierher rechnen – von Helios, die hie und da doch ihren Kult hatten. Die Titanen waren solche Götter, die nur in der Mythologie eine Rolle spielten. Ihre Rolle ist – selbst wenn scheinbare Siege dem endgültigen Schluß der Geschichten vorausgehen – immer die Rolle der Unterlegenen. Diese Unterlegenen trugen die Züge einer älteren männlichen Generation, Züge von Ahnen, deren gefährliche Eigenschaften in den Nachkommen wiederkehren. Wie sie waren, wird man in den folgenden Erzählungen hören.

1. URANOS, GAIA UND KRONOS

Uranos, der Himmelsgott, kam in der Nacht zu seiner Gattin, der Erde, der Göttin Gaia16. Die beiden lichten Kinder der Nacht und der Dunkelheit, Aither und Hemera, die bei Tag da waren, wurden schon genannt. Uranos kam allnächtlich zur Begattung. Aber die Kinder, die er mit Gaia zeugte, waren ihm von Anfang an verhaßt17. Sobald sie geboren wurden, pflegte er sie zu verbergen und ließ sie nicht zum Licht herauf. Er verbarg sie in der inneren Höhlung der Erde. An diesem bösen Werk – so wird bei Hesiod ausdrücklich gesagt – fand er seine Freude. Die riesige Göttin Gaia stöhnte und fühlte sich eng durch die innere Last. Auch sie erfand nun eine böse List. Schnell brachte sie den grauen Stahl hervor; daraus machte sie eine Sichel mit scharfen Zähnen und wandte sich an ihre Söhne.

Deren Zahl war damals schon groß. Hesiod nennt außer Okeanos: Koios, Krios, Hyperion, Iapetos und als jüngsten Kronos. Außer diesen sechs Brüdern waren sechs Schwestern da: Theia, Rhea, Themis, Mnemosyne, Phoibe mit dem goldenen Kranz und die liebliche Tethys. Zu ihren Kindern, aber hauptsächlich zu den Söhnen, sprach Gaia in ihrer Betrübnis: »Ach, meine Kinder, und Kinder auch eines verruchten Vaters, wollt ihr nicht auf mich hören und euren Vater für diese böse Mißhandlung bestrafen? Er war es, der eine schändliche Tat zuerst ersann!« Alle erschraken, und niemand tat den Mund auf. Nur der große Kronos, von krummen Gedanken, faßte Mut: »Mutter« – sagte er – »ich verspreche es und tue das Werk. Ich kümmere mich nicht um unseren Vater, verhaßten Namens. Er war es, der eine schändliche Tat zuerst ersann!« Da freute sich Gaia, versteckte ihren Sohn am Ort, der zum Hinterhalt geeignet war, gab ihm die Sichel in die Hand und weihte ihn ein in die ganze List. Als Uranos mit der Nacht kam und, zur Liebe entbrannt, die Erde umfaßte und sich ganz über sie legte, griff der Sohn aus dem Hinterhalt mit der Linken zu. Mit der Rechten nahm er die riesige Sichel, schnitt die Männlichkeit des Vaters schnell ab und warf sie hinter seinen Rücken.

Die Blutstropfen des Gatten fing Gaia auf. Sie gebar davon die Erinnyen – die »Starken« wie sie Hesiod bezeichnet –, die Giganten, und die Eschennymphen, die Nymphai Meliai, aus denen ein hartes Menschengeschlecht entstand. Die Männlichkeit des Vaters fiel in das Meer, und so wurde Aphrodite geboren: lauter Geschichten, die später erzählt werden sollen. Was Hesiod uns nicht erzählte, was aber wohl alle Hörer dieser Titanengeschichte sofort begreifen, sei noch ausgesprochen: seit der blutigen Tat des Kronos nähert sich der Himmel nicht mehr der Erde zu allnächtlicher Begattung. Die Urzeugung nahm ihr Ende, und es folgte die Herrschaft des Kronos. Das ist indessen eine andere Titanengeschichte.

2. KRONOS, RHEA UND ZEUS

Unter den aufgezählten zwölf Titanen und Titaninnen nahmen drei Brüder die eigene Schwester zur Frau, oder richtiger, drei Schwestern den Bruder zum Gatten. Hesiod nennt in diesen Fällen immer die Göttin an erster Stelle. So gebar18 die Titanin Theia dem Hyperion den Helios, die Sonne, Selene, den Mond, und Eos das Frühlicht. So wurde Phoibe durch Koios die Mutter eines hehren Göttergeschlechtes19, zu dem Göttinnen wie Leto, Artemis und Hekate und ein Gott, Apollon, gehören. Und so vermählte sich Rhea mit Kronos20, dem sie drei Töchter und drei Söhne gebar: die großen Göttinnen Hestia, Demeter und Hera und die großen Götter Hades, Poseidon und Zeus. Wie der Vater Kronos der jüngste Sohn des Uranos war, so war nach Hesiod, der vor der Herrschaft des Zeus die mütterliche Abstammung betont und hochhält, Zeus der jüngste Sohn der Rhea und des Kronos. Für jene, die die väterliche Abstammung höher schätzten, wie Homer, galt Zeus als der älteste Sohn des Kronos21. In der Erzählung der Titanengeschichten folgt man aber besser dem Hesiod als Homer, der, wie seine ganze Dichterschule, diese Art der Erzählung nicht liebte und nur selten und andeutungsweise auf sie Bezug nahm.

Alle seine Kinder verschlang der große Kronos, sobald eines aus dem heiligen Leib der Mutter zu ihren Knien kam22. Er war der König unter den Söhnen des Uranos, und er wünschte nicht, daß ein anderer Gott nach ihm in Besitz dieser Würde gelange. Er hatte von der Mutter Gaia und von seinem Vater, dem gestirnten Himmel, erfahren, daß es ihm bestimmt sei, durch einen starken Sohn gestürzt zu werden. Darum war er fortwährend auf der Hut und verschlang seine Kinder: ein unerträglicher Kummer für Rhea. Als sie nun im Begriff war, Zeus zu gebären, den künftigen Vater der Götter und Menschen, wandte sie sich an ihre Eltern, die Erde und den gestirnten Himmel, damit sie mit ihr einen guten Rat fänden, wie sie das Kind unbemerkt auf die Welt bringen und Rache nehmen könnte, des Vaters und der übrigen Kinder wegen, die der große Kronos, von krummen Gedanken, verschlungen hatte.

Gaia und Uranos erhörten die Tochter und verrieten ihr, welche Zukunft König Kronos und seinem Sohn beschieden sei. Die Eltern schickten Rhea nach Lyktos, auf der Insel Kreta. Dort fing Gaia den Neugeborenen auf. In dunkler Nacht brachte Rhea das Kind nach Lyktos und verbarg es in einer Höhle des bewaldeten Berges Aigaion. Dem Sohn des Uranos aber, dem ersten König der Götter, reichte sie einen großen Stein, in Windeln gewickelt. Der Schreckliche griff danach und legte den Stein in seinen Bauch, ohne zu merken, daß der Sohn, unbesiegt und unbekümmert um ihn, nur darauf wartete, den Vater zu stürzen, ihn seiner Würde zu berauben und an seiner Stelle zu herrschen. Schnell wuchsen die Glieder und der Mut jenes Herrschers – Hesiod nennt ihn nicht basileus, »König«, sondern anax, »Herr«, wie unsere Götter seit der neuen Herrschaft angeredet werden –, bis es nach Erfüllung der Zeit wirklich dazu kam, daß Kronos mit List und Kraft von Zeus besiegt wurde und seine verschlungenen Kinder von sich gab. Zeus befreite, außer seinen eigenen Brüdern, auch Brüder des Vaters, die noch von Uranos in Fesseln geschlagen worden sind: vor allem die Kyklopen. Diese schenkten ihm aus Dankbarkeit den Donner und den Blitz, die Zeichen und Mittel seiner Macht.

Mit Kronos blieb uns die Erinnerung an das Goldene Zeitalter verbunden. Sein Königtum fällt mit einer glücklichen Periode der Welt zusammen, deren Schilderung später folgen soll. Wie eng diese beiden zusammenhängen, zeigt die weitere Geschichte des Kronos, die uns andere Dichter ausführlicher erzählten als Hesiod. Im Goldenen Zeitalter floß Honig aus den Eichen. Die Anhänger des Orpheus wußten es so2324