Einleitung
Glücksökonomie – was soll denn das sein? Ganz einfach: alle Formen des Wirtschaftens, welche die Lebenszufriedenheit von Menschen und Gesellschaften fördern. Die internationale Glücksforschung liefert klare Kriterien: Eigentum und Geld steigern das Wohlbefinden nur begrenzt; Kooperation macht weit glücklicher als Konkurrenz und Statusstress; Menschen haben Spaß am Teilen und Teilhaben, weil sie soziale Wesen sind – was wir in den ersten vier Kapiteln des vorliegenden Buches ausführlich darstellen. Das widerspricht allerdings den gegenwärtigen Formen des Wirtschaftens. Auch können Ökonomen das Zahlenwunder nicht erklären, dass Solidarität, Lebenszufriedenheit, Lachen und Glück sich mehren, wenn man sie teilt. Dabei wissen ganz normale Menschen: Wer teilt, hat mehr vom Leben.
In den weiteren Kapiteln beschreiben wir, wie Bewegungen neue Formen ökosozialen Wirtschaftens von unten aufbauen – hierzulande und weltweit. Wir sehen darin das Potenzial zu einer fundamentalen gesellschaftlichen Transformation. Die Solidarische Ökonomie ist schon älter, zu ihr gehören etwa Genossenschaften; andere wie die SharEconomy oder frei zugängliche Formen von Wissenschaft, Technik und Produktion sind noch jung. Den Beteiligten geht es nicht um individualisierte Selbstoptimierung im Wettbewerb miteinander; sie kooperieren, teilen und nutzen gemeinsam, weil sie es attraktiver finden.
Das Internet hat diese neuen Entwicklungen stark befördert. Mitten im Herzen des auf oben und unten, reich und arm angewiesenen Industriekapitalismus ist eine Infrastruktur entstanden, bei der alle Teilnehmenden gleichberechtigt sind: Jeder ist Sender und Empfänger, alles wird gleich schnell transportiert. Visionäre Informatiker haben früh Betriebssysteme und Programme zu »offenen Quellen« erklärt (Open Source) und damit zum Gemeingut. Weil es nichts kostet, Dateien zu kopieren und zu verschicken, sind Teilen und Teilhabe heute in einem nie gekannten Ausmaß möglich. Gegenwärtig entstehen in enormer Geschwindigkeit Kooperationen unter Gleichen – also in Peer-to-Peer-Netzwerken. Wir nennen dies »elektr(on)ische Revolution« – denn ihre zwei Säulen ruhen auf den dezentralen Techniken des Internets und der erneuerbaren Energien. Dies stellen wir ab Kapitel 5 dar.
Die neuen Strukturen eröffnen nämlich auch neue Chancen für die Vollendung der Energiewende. Nicht nur die Stromgewinnung, sondern auch seine Verteilung zu dezentralisieren ist das Anliegen von Pionieren, die wir im Kapitel 11 »Elektr(on)ische Revolution Teil II« vorstellen.
All das hat auch politische Auswirkungen. Früher konnten autoritäre Regierungen Oppositionelle durch Verfolgung schnell mundtot machen, heute haben Bürger und Bloggerinnen viel mehr Möglichkeiten, auch unerwünschte Inhalte zu verbreiten. Sämtliche politischen Systeme in West und Ost, Nord und Süd sind auch dadurch in eine Legitimations- und Partizipationskrise geraten. Symptome dafür sind die Arabellion mit ihrem Schrei nach Selbstbestimmung, Brot und Würde oder die direkte Demokratie auf den öffentlichen Plätzen von Kairo, Istanbul, Madrid und anderswo. Aber auch für Proteste wie den gegen Stuttgart 21 ist das Internet ein zentrales Instrument. Dass Geheimdienste dasselbe Internet nutzen, um solche Bewegungen und sogar ganze Gesellschaften zu überwachen, wie wir seit Edward Snowdens Enthüllungen wissen, ändert nichts an dieser Diagnose. Vielmehr ruft auch totalitäre Schnüffelei wiederum Kräfte von unten auf den Plan.
So disparat die Bewegungen erscheinen mögen und so vielfältig ihre Motive, sie haben doch einen gemeinsamen Kern: Sie wollen mehr Selbstbestimmung in ihren Arbeits- und Lebensweisen, und sie zielen darauf ab, sich Politik, Wirtschaft, Demokratie und öffentliche Räume wieder anzueignen. Wissen, Energie und fruchtbarer Boden sollen zu Gemeingütern werden, Handels- und Handlungsketten wieder überschaubar und verantwortbar. Es sind Versuche, die Souveränität über das eigene Leben und die Gestaltung der Gesellschaft wiederzuerlangen – nicht zuletzt auch durch Maßnahmen der Entschleunigung. Die Beteiligten reklamieren, es besser zu können als die abgehetzte politische Klasse.
Dieser gesellschaftspolitische Klimawandel könnte entscheidend mithelfen, den physikalisch-atmosphärischen aufzuhalten. Die verstorbene Trägerin des Alternativen Nobelpreises, Dekha Abdi Ibrahim aus Kenia, hat es so ausgedrückt: »Wenn genug Individuen, Städte und Religionsgemeinschaften auf klimafreundliche Strategien setzen, wird die Politik nachziehen. Von oben wird es keinen Wandel geben. Die Politik führt nicht, die Gesellschaft führt – und die Politik folgt.«
Mühsam, noch sehr unreif und instabil, mit allen Problemen und Widersprüchen, zeigt sich hier der Anfang einer neuen ökosozialen Gesellschaftsformation jenseits eines erdölgetränkten Turbokapitalismus. Wir behaupten nicht, dass sie sich durchsetzen wird, aber dass es eine Chance dafür gibt.
Die Lage ist extrem komplex, wir stehen am Scheideweg – oder wohl eher an einer Kaskade von Scheidewegen: Einerseits erleben wir die totale Vereinzelung und Vereinsamung der Individuen, andererseits eine neue große Sehnsucht nach Gemeinschaft. Überarbeitete und Unterbeschäftigte prägen die heutige Arbeitswelt – und parallel wächst eine neue Lust am Selbermachen. Hier Symptome vielfacher Entfremdung, dort der weitverbreitete Wunsch nach Selbstwirksamkeit. Einerseits eine geradezu totalitäre Kontrolle des Internets durch Konzerne und Geheimdienste, andererseits völlig neue kollaborative Zusammenschlüsse ebenfalls auf Basis des Internets. Vor allem Letztere stellen die traditionelle Mehrwertproduktion des Kapitalismus infrage und tragen den Keim zu einer neuen Gesellschaftsformation in sich, die manche Vordenker im üblichen Denglisch eine »commonsbasierte Peer-to-Peer-Produktion« nennen, eine Gemeingüterproduktion unter Gleichen.
Was gesellschaftlich üblich ist und den Alltag prägt, ist änderbar. Vielleicht hilft hier eine kleine Analogie aus den 1970er Jahren weiter: Wer hätte damals in den verrauchten Klubs und Kneipen gedacht, dass 40 Jahre später Zigaretten so verpönt sein würden und kaum noch jemand qualmt? In stillgelegten Tabakfabriken, etwa im österreichischen Linz, werden heute kreative Projekte der SharEconomy entwickelt. Die Analogie zum Wirtschaftswachstum ist dabei enger, als es auf den ersten Blick scheint. Wie das Rauchen, so ist auch der Wunsch nach »immer mehr« eine Sucht. Gegenwärtig lässt sie sich noch durch Billigenergie und Billigrohstoffe befriedigen, doch damit wird bald definitiv Schluss sein. Ein Ausstieg aus der Sucht ist nötig – und, wie wir glauben, auch möglich.
Noch drei letzte Vorbemerkungen seien gestattet. Erstens: Wachstum wird mit Zahlen gemessen. Überall und ständig wird deshalb alles quantifiziert und nach Geldwert berechnet. Ratingagenturen stufen Unternehmen und ganze Länder herauf oder herunter. Alles messende »Quantitäter« sind überall unterwegs, um Beschäftigte im Bildungs- oder Gesundheitswesen mit ständig neuen bürokratischen Aufgaben zu drangsalieren und von ihrer eigentlichen Arbeit abzuhalten. Dabei lässt sich Qualität nur in sehr eingeschränktem Maß durch Quantität beschreiben. Außerdem verändern auf Zahlen fixierte Evaluierer die Handlungen der Beobachteten – ähnlich wie in der Quantenphysik, wo die Messinstrumente Einfluss auf das Verhalten von Teilchen haben.
Dennoch kommen auch wir nicht umhin, Aussagen quantitativ zu untermauern. In unserer zahlengläubigen und zahlensüchtigen Gesellschaft nimmt niemand etwas ernst, was ohne Quantitäten daherkommt. Kein Diskurs ist heute ohne Zahlen führbar, die Debatte um Wirtschaft, Klima und Ressourcen schon gar nicht. Die Paradoxie könnte man so formulieren: Der Weg in eine neue zukunftsfähige, auf Qualität basierte Gesellschaft ist mit Zahlen gepflastert.
Auch die internationale Glücksforschung, deren Umfrageergebnisse und Rankings wir zitieren, ist dieser Paradoxie unterworfen. Ihre Forscherinnen und Wissenschaftler wollen Lebensqualität messen, können dies aber oft nur mit quantitativen Methoden. Das heißt nicht, dass ihre Aussagen nichts taugen. Sie können durchaus Trends erfassen, etwa die massive Abnahme von Lebenszufriedenheit in den Eurokrisenländern. Aber auch nicht mehr. Quantitäten sind Schatten von Qualitäten.
Dass ökosoziale Wirtschaftsformen längst den Mainstream durchwuchern, können wir ebenfalls nur mit Zahlen belegen: Der Sektor der unbezahlten und nichtberechnenden Ökonomie ist in allen Ländern größer als der bezahlte; weltweit ist etwa jeder siebte Mensch Mitglied in einer Genossenschaft; mindestens die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland hat Erfahrungen mit dem Tauschen und gemeinsamen Nutzen von Gegenständen gemacht.
Zweitens: Das journalistische Selbstverständnis gebietet es, Abstand zu halten zu dem, worüber man schreibt, und sich nicht mitreißen zu lassen von eigenen Gefühlen. Das ist uns bei der Recherche zu diesem Buch nicht gelungen. Als wir im Sommer 2013 anfingen, das Material zusammenzutragen, ahnten wir nicht, dass es uns selbst verändern würde. Auch war uns damals noch nicht klar, dass wir Berlinerinnen in einer Stadt wohnen, die für die sich global entwickelnde Vernetzungskultur vielleicht zurzeit die wichtigste ist. Junge Menschen aus aller Welt zieht es hierher, um neue Formen von Produktion, Kooperation und Teilen auszuprobieren, aber auch, um demokratische Werte gegen totalitäre Überwachungstendenzen zu verteidigen.
Sie pflegen ein neues Menschenbild, welches das Individuum nicht länger als isolierte Monade sieht, sondern als Vielfalt seiner Verbindungen zur Welt. Das ist keineswegs theoretisch oder abstrakt. Kommunikationsweisen verändern sich, wenn man das Glück und die Perspektive der anderen als elementar für das eigene Wohlbefinden ansieht. Konfrontation, Rechthaberei und Durchsetzungswillen dominieren dann nicht länger die Diskussion, sondern der Wunsch zu verstehen. Das impliziert eine Haltung, die das Gegenüber als gleichberechtigt und gleich wichtig sieht. Mit Psychokult und Ringelpiez mit Anfassen hat das nichts zu tun. Es ist schlicht sinnvoller, um Ziele schnell und mit weniger Aufwand und Kraftanstrengung zu erreichen. Für Alphatiere sind das freilich schlechte Nachrichten.
Wir haben bei unseren Recherchen viele sehr eigenwillige und willensstarke Persönlichkeiten kennengelernt. Nicht wenige faszinieren uns – und dazu stehen wir. Wir haben auch selbst erlebt, wie Peer-to-Peer in der Praxis funktioniert und sich anfühlt, nämlich selbststärkend. Das hat uns beide immer wieder überrascht – schließlich sind wir historisch geprägt von der in links-alternativen Kreisen üblichen konfrontativen Debattenkultur. Die nichtkonfrontative Empathie unserer Gesprächspartner hat sich auch auf uns übertragen und beim Verfassen des Manuskripts eine positive Energie freigesetzt.
Diese neuen Erfahrungen haben uns von Beobachterinnen zu Beteiligten gemacht. Das Buch ist im Geiste dieser neuen Kultur entstanden. Unsere intensive Zusammenarbeit hat zu deutlich mehr geführt, als wenn jede von uns für sich alleine recherchiert hätte. Ein Großteil der Gedanken, Ideen und Schlussfolgerungen in diesem Werk sind untrennbar mit unseren Gesprächspartnerinnen und -partnern oder den Aufsätzen und Büchern anderer Menschen verknüpft – und doch lässt sich vieles nicht Einzelnen zuordnen, sondern ist im Prozess der Vernetzung entstanden. Solche neuen Formen von Kollektivität basieren auf einer Wertschätzung vielfältiger Individualität, bei der die Einzelnen sich nicht dem großen Ganzen unterordnen, sondern darin einen selbst gewählten, ihnen angenehmen Platz finden. Wir sind Zeuginnen der These: Wer teilt, hat mehr vom Leben.
Dritte und letzte Bemerkung: Wir erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sondern können hier nur Ausschnitte und Porträts aus weltweiten Bewegungen zeigen, die immer mehr an Fahrt gewinnen – wissend, dass sich diese bereits bei der Veröffentlichung des Buches erneut verändert haben werden. Dennoch glauben wir, dass unsere Beschreibungen repräsentativ sind – auch für viele andere Projekte und Aspekte, die wir im begrenzten Rahmen eines Buches weglassen mussten.
Berlin, Mai 2014,
Annette Jensen und Ute Scheub
Kapitel 1
Wie geht’s dir, Menschheit?
Ergebnisse der internationalen
Glücksforschung
»Wer Glück erfuhr,
soll mit Beglückung niemals geizig sein.«
Sophokles
Ein Fischer hat einen guten Fang gemacht. Zurück im Hafen, ruht er sich zufrieden in seinem Boot aus. Ein schick gekleideter Tourist nähert sich, sein Fotoapparat klickt. »Wenn Sie noch mal rausfahren, werden Sie noch mehr fangen«, rät er dem Fischer. »Und wenn Sie das täglich viermal wiederholen«, redet er weiter auf den Verdutzten ein, »dann werden Sie in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei Booten oder dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen … Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisung geben. Sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren …« Der Fremde überschlägt sich vor Begeisterung. »Und dann?«, will der Fischer wissen. »Dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken.«
Aber das tue er doch schon, erwidert der Fischer. Der Tourist weiß nichts zu antworten. Beschämt und voller Neid auf den glücklichen Menschen schleicht er von dannen.
So erzählt es Heinrich Böll in seiner Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral, die so anschaulich wie kaum eine andere Geschichte ausdrückt, dass Wirtschaftswachstum Menschen nicht glücklicher macht.
Wirtschaft wächst, Glück nicht
Über 800 Meter hohe Wolkenkratzer, Einkaufshallen und Wellnesstempel, Kraftwerke, Computernetze, Keller voller Gold und Bankenpaläste. Die Weltbevölkerung hat in den vergangenen 30 Jahren unvorstellbare Reichtümer produziert. Das globale Bruttosozialprodukt hat sich zwischen 1983 und 2013 mehr als versechsfacht – von 11,6 auf über 74 Billionen US-Dollar.1 Würden die gängigen ökonomischen Annahmen stimmen, müsste die Menschheit heute ungefähr sechsmal so glücklich sein wie 1983 oder, sagen wir bescheiden, wenigstens wesentlich glücklicher. Doch tatsächlich ist die Lebenszufriedenheit im selben Zeitraum im Schnitt um kaum mehr als ein Tausendstel gestiegen. Ein Promille in drei Jahrzehnten – vernichtender kann die Bilanz unseres Wirtschaftssystems nicht ausfallen.
Die Umfrageergebnisse zum Wohlbefinden der Menschheit sind in zwei UN-Weltglücksberichten nachzulesen – wobei Glück darin nicht im Sinne einer augenblicklichen Verzückung verstanden wird, sondern als langfristiges Wohlbefinden und Zufriedenheit mit dem eigenen Leben.2 Für den ersten Report von 2012 haben die Glücksforscher John Helliwell und Richard Layard sowie der UN-Sonderberater Jeffrey Sachs sämtliche repräsentativen Umfragen zum Wohlergehen aus den letzten 30 Jahren ausgewertet, vor allem den Gallup World Poll, den World Values Survey und den European Social Survey.
Der Gallup World Poll befragt jährlich rund 150.000 Personen aus 150 Ländern, wie zufrieden sie mit ihrem gesamten Leben sind; der World Values Survey sammelt Daten aus 80 Ländern. Die Ergebnisse werden mit verschiedenen Methoden überprüft, etwa mit Untersuchungen, wie oft die Betreffenden am Tag vorher gelacht und sich glücklich oder traurig gefühlt haben, oder durch Interviews mit Dritten, wie sie die Stimmung der zuvor befragten Personen einschätzen.
Auch wenn grundsätzlich große Vorsicht gegenüber allen quantitativen Aussagen geboten ist – solche Befragungen sind nach Einschätzung des Schweizer Glücksforscherpaares Claudia und Bruno Frey trotz gewisser methodisch bedingter Verzerrungen »recht zuverlässig und stabil«: »Die Menschen sind durchaus in der Lage zu beurteilen, wie glücklich sie sind.«3 Ihr Fachkollege Richard Layard bestätigt: Zwar gebe es sprachliche und kulturelle Unterschiede in der Bedeutung des Wortes »Glück«, aber auch das könne methodisch berücksichtigt werden.4
Im zweiten Weltglücksbericht von 2013 geht es nur um die vergangenen fünf Jahre, und hier hat sich laut Umfragen das Wohlergehen der Menschheit leicht verbessert. Die deutlichsten Fortschritte gab es in Lateinamerika, der Karibik und den südlichen Ländern Afrikas. In der EU und Nordamerika sank das Glücksempfinden hingegen – am stärksten in den Krisenländern Griechenland, Spanien, Italien und Portugal. Auch im Nahen Osten, Nordafrika und Indien nahmen Unzufriedenheit und Verunsicherung auf breiter Linie zu, am stärksten in Ägypten.5
Besonders bemerkenswert im ersten Glücksbericht: Weder im globalen Norden noch im globalen Süden, weder in den westlichen Industrieländern noch in China oder Afrika, Lateinamerika oder Osteuropa ist die Lebenszufriedenheit der Menschen parallel zur Ökonomie gewachsen. In den USA hatte die Glücksrate der Bevölkerung 1957 ihren Höchststand erreicht und sinkt seitdem kontinuierlich, obwohl der materielle Wohlstand sich gleichzeitig rasant vermehrt hat.
Das gleiche Phänomen ist in der Bundesrepublik zu beobachten: Das Bruttosozialprodukt stieg innerhalb von drei Jahrzehnten pro Kopf um 60 Prozent, gleichzeitig sank die Lebenszufriedenheit um 10 Prozent; erst seit Kurzem steigt sie wieder leicht an. 2012 gaben 38 Prozent der Befragten an, ihre Lebensqualität habe im Vergleich zu früher abgenommen.6 2013 waren nur 29 Prozent der Bundesbürger »sehr zufrieden«; 60 Prozent waren »ziemlich«, 9 Prozent »nicht sehr« und 2 Prozent »überhaupt nicht zufrieden«.7
Parallel dazu schwindet das Vertrauen in den Kapitalismus. Nach einer weltweiten Umfrage des Pew Research Center von 2012 zeigte sich eine riesige Mehrheit der rund 26.000 Befragten pessimistisch gestimmt, besorgt und enttäuscht. In elf der 21 Länder – vor allem in den USA, Europa und Japan – stimmte nur die Hälfte oder weniger der Annahme zu, dass es Menschen in einer freien Marktwirtschaft besser gehe. In 16 von 21 Ländern machte eine Majorität ihre Politiker für die aktuelle Misere verantwortlich.8 In einer anderen Befragung der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2010 plädierten neun von zehn Österreichern und Deutschen für eine neue Wirtschaftsordnung, die stärker ökosozial ausgerichtet sein sollte. In derselben Umfrage vertraute nur noch gut jeder Vierte den Selbstheilungskräften des Marktes.9
Wohl kein Zufall: Zu den glücklichsten Menschen der Welt zählen die Bewohner der vergleichsweise egalitären Sozialstaaten Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland und der Niederlande. Das besagen nicht nur die im UN-Bericht ausgewerteten Befragungen, sondern auch viele weitere Umfragen aus den vergangenen Jahren, etwa die World Map of Happiness, der European Social Survey, der OECD-Better-Life-Index, der World Values Survey, der Legatum-Wohlstandsindex und der Social Progress Index. Die unglücklichsten Menschen leben laut UN-Glücksreport in armen afrikanischen Ländern – etwa in Benin, der Zentralafrikanischen Republik und Togo.
Auch in den früher sowjetisch regierten Staaten ist das Zufriedenheitsniveau sehr niedrig – anscheinend wurde dort das gesellschaftliche Gewebe nachhaltig zerstört. Die Deutschen kamen in den UN-Berichten von 2012 und 2013 trotz ihres Reichtums auf einen mageren 30. beziehungsweise 26. Platz.
Was macht Menschen glücklich?
Sofern sie nicht von Banken und Versicherungen bezahlt wird, ist sich die internationale Glücksforschung weitestgehend einig: Geld und Besitz sind sekundär. Am allerwichtigsten fürs menschliche Wohlbefinden sind stabile Beziehungen – in der Liebe, der Familie, der Nachbarschaft, der Gesellschaft insgesamt. Aber auch Gesundheit, sinnstiftende Tätigkeiten sowie Möglichkeiten der Selbstentfaltung und Mitbestimmung sind zentrale Faktoren.10 Darüber hinaus macht eine intakte Natur glücklich sowie eine kooperative, nichtmaterialistische, altruistische Lebenseinstellung. Die UN-Autoren sind überzeugt: Wichtig fürs Wohlergehen ist die Möglichkeit, Lebensmodelle selbstständig wählen zu können, soziale Unterstützung zu geben und zu bekommen und einen korruptionsfreien Zugang zu Dienstleistungen zu haben.11 Es seien »politische Freiheit, starke soziale Netzwerke und die Abwesenheit von Korruption«, die das gesellschaftliche Wohlergehen wachsen lassen, fassen sie ihre Erkenntnisse zusammen.
Laut Weltglücksbericht gibt es eine positive Rückkopplungsschleife zwischen sozialem Verhalten und Lebenszufriedenheit: »Wenn Leute in guter Stimmung sind, tendieren sie dazu, anderen zu helfen: Anderen zu helfen wiederum versetzt sie in gute Stimmung.« Und: »Unterstützende Beziehungen zu haben befördert subjektives Wohlbefinden, aber ein hohes subjektives Wohlbefinden führt wiederum zu besseren sozialen Beziehungen.« Stabile soziale Netzwerke erzeugen Glücksgefühle, und Glück wiederum habe »das Potenzial, positive Schneeballeffekte in der Gesellschaft zu generieren«. Zufriedene Menschen seien im Allgemeinen gesünder, lernfähiger, kooperativer, motivierter, kreativer und vertrauensvoller. Optimal sei nicht ein extrem hohes, sondern ein »moderates Niveau« von Glücks- und Zufriedenheitsgefühlen, das bei entsprechenden Anlässen auch erlaube, Trauer und Schmerz zuzulassen.12
Beide UN-Berichte führen diverse Studien auf, wonach Egoisten, Materialistinnen und Karrieristen zum Unglücklichsein neigen. Zudem gewöhnen sich Menschen schnell an ein bestimmtes Niveau von Geld und Besitz, mit dem Effekt, dass weitere Einkommenssteigerungen sie nur kurzfristig oder gar nicht zufriedener stellen (siehe Kapitel 4). Menschen mit altruistischen Zielen, Freiwilligen und Ehrenamtlichen geht es hingegen wesentlich besser. Zum selben Ergebnis kamen auch Umfragen in Deutschland und Großbritannien.13
Man könnte das Ergebnis unzähliger Glücksstudien so zusammenfassen: Wer sein Glück allein oder gar in Konkurrenz zu anderen zu maximieren versucht, verfehlt es; wer hingegen seine Lebenspriorität darauf legt, sich selbst nicht so zu beachten und andere glücklich zu machen, wird dabei selbst glücklich.
»Der Individualismus hat den Menschen bestenfalls das Ideal der Selbstverwirklichung zu bieten«, schreibt Forscher Richard Layard in seinem einflussreichen Buch Die glückliche Gesellschaft. »Doch diese neue Religion hat versagt. Sie hat die Menschen nicht glücklicher gemacht, im Gegenteil, sie setzt jeden unter Druck, möglichst viel und möglichst nur das Beste für sich selbst zu ergattern. Wenn wir aber wirklich glücklich leben wollen, dann brauchen wir ein gemeinsames Ziel, ein gemeinsames Gut oder Gemeinwohl, zu dem wir alle unseren Beitrag leisten können.«14
Regierungen sollten nicht länger nur das Wirtschaftswachstum, sondern auch das Wohlbefinden der Regierten befördern, regelmäßig messen und ihre Politik danach ausrichten, empfehlen auch die Autoren der UN-Glücksberichte und verweisen auf entsprechende Resolutionen der UN-Generalversammlung (siehe Kasten). Bislang aber zeitigt die internationale Zufriedenheitsforschung kaum Konsequenzen auf politischer Ebene, weil die nationalen Regierungen sie so gut wie nicht beachten. Dabei, so die UN-Autoren weiter, mache nichts glücklicher, als gemeinsam für ein höheres Ziel zu arbeiten – für die Umweltbalance der Erde, das Wohlergehen kommender Generationen und das Überleben aller Spezies, kurz: für Nachhaltigkeit.15
UN-Resolutionen zu Glück
»Glück: Auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Konzept für Entwicklung«, so heißt die UN-Resolution 65/309. Initiiert hat sie der kleine Himalajastaat Bhutan, verabschiedet wurde sie im Juli 2011 auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen. 66 Länder unterstützten den Beschluss, darunter auch Deutschland und andere EU-Staaten. Die Resolution betont, »dass das Streben nach Glück ein grundlegendes menschliches Bedürfnis ist«. Sie bittet die UN-Mitgliedsstaaten, zusätzliche Maßstäbe für Glück und Wohlbefinden zu entwickeln und sich in ihrer nationalen Politik davon leiten zu lassen, weil der Indikator Bruttoinlandsprodukt dies »nicht angemessen erfasst«.
Etwa ein Jahr später erkor die UN-Generalversammlung mit UN-Resolution 66/281 den 20. März zum internationalen Glückstag: Regierungen und Zivilgesellschaft sind aufgerufen, den Tag in angemessener Weise zu begehen.
Das Easterlin-Paradox
Bereits 1974 veröffentlichte Richard Easterlin eine entscheidende Beobachtung. Der US-Ökonom hatte 30 Umfragen zur Lebenszufriedenheit aus 19 Ländern ausgewertet und dabei festgestellt: In Gesellschaften, in denen Grundbedürfnisse wie Essen, Wohnen und Arbeit gedeckt sind, wirkt sich mehr Geld nur kurzfristig positiv auf die Stimmung aus.16 Dies sei ab einem Jahreseinkommen von etwa 15.000 Dollar der Fall, so Easterlin. Heute schätzen andere diesen Betrag auf 25.000 Dollar – wobei nicht genannt wird, auf welches Preislevel er sich bezieht.17 Das Phänomen erhielt den Namen »Easterlin-Paradox« und löste einen Boom von Glücksstudien aus.
Sie bestätigten: Menschen brauchen ein gewisses Grundeinkommen, das sie befähigt, ohne Not und existenzielle Ängste zu leben. Das subjektive Wohlbefinden von Bewohnern armer Länder steigt deshalb zunächst rasch an, wenn ihre Staaten sich entwickeln. Ist aber ein gewisses Level erreicht, bleibt der durchschnittliche Glückspegel mehr oder weniger konstant – oder sinkt sogar. Jenseits der Schwelle hat die Steigerung von Einkommen kaum mehr Wirkung. Der US-Psychologe Ed Diener, der 50 Superreiche mit einem Besitz von mehr als 100 Millionen Dollar interviewte, bestätigte: Auch sie sind kaum zufriedener als der Durchschnitt.18
Auf die Kritik, seine Datenbasis sei zu schmal oder falsch berechnet, reagierte Richard Easterlin mit neuen, wesentlich breiter angelegten Studien. Sie bestätigten die ersten Ergebnisse.19 Kernaussage seiner Untersuchung von 2010, für die sein Team über Jahrzehnte erhobene Daten aus 37 Ländern auswertete: »Das Glück wächst nicht, wenn das Einkommen eines Landes steigt.« Besonders deutlich zeige sich das in China, Chile und Südkorea, in denen sich das Pro-Kopf-Einkommen in nicht einmal 20 Jahren verdoppelt hat, die Lebenszufriedenheit laut Umfragen aber zurückgegangen ist.
Für manche stellt das Easterlin-Paradox alles infrage, an was sie glauben: dass materieller Wohlstand glücklich mache und Wachstum sein müsse, dass das Bruttoinlandsprodukt der beste Maßstab für Wohlergehen sei und der Markt mit seiner unsichtbaren Hand alles von alleine richte. »Geld macht doch glücklich«, halten etwa Joachim Weimann, Andreas Knabe, Ronnie Schöb in ihrem gleichnamigen Buch Easterlin entgegen.20 Sie kritisieren, dass er Daten aus Osteuropa und Afrika nicht einbezogen habe – und blenden dessen neuere Studien einfach aus, die diese Lücken geschlossen haben.
Max A. Höfer, Exgeschäftsführer der neoliberalen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, fiel durch Easterlins Paradox gar vom Glauben ab: Es »stellte mich und meinen Job vor eine grundsätzliche Frage: Wenn das Lebensglück der Menschen nicht zunimmt, warum sollten sich die Menschen dann den ganzen Stress antun und nach immer mehr Einkommen, Wachstum und Produktivität streben?«21 Höfer quittierte den Job und wurde zum freischaffenden Publizisten.
Bindungen machen glücklich
Die glücklichsten Momente unseres Lebens erleben wir, wenn die Macht des Geldes radikal ausgeschaltet ist – in der Sphäre der Liebe, der familiären Fürsorge, in Freundschaften, in allen Verbindungen zwischen Menschen, die nicht berechnend sind. Wie gruselig wäre eine Welt, in der eine Mutter ihrem Kind vor dem gemeinsamen Spielen eine Erziehungspauschale in Rechnung stellt oder ein Paar zuerst einen Liebesabnahmevertrag mit Garantiefristen, Rücktrittsklauseln und Zahlungsmodalitäten aufsetzt, bevor es sich küsst.
Bindungen machen glücklich, aber der Turbokapitalismus zerstört sie zunehmend. Unter seinem Verwertungsdruck werden warme Sozialbeziehungen in kalte Geldbeziehungen verwandelt. Dies dürfte einer der tieferen Gründe sein, warum in Ländern wie den USA und Deutschland materieller Reichtum mit sinkendem Glück, steigendem Stress und zunehmender Einsamkeit einhergeht.
Wir alle brauchen Freundschaften, auf die wir uns verlassen können, und Gemeinschaften, die uns ein warmes Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. In einem dichten sozialen Netzwerk können wir uns darauf verlassen, Hilfe in Not und Krisenzeiten zu finden. Solche festen Zugehörigkeiten sind existenziell wichtig für unsere Lebenszufriedenheit. Die heutige Anforderung, der Multiflex-Mensch möge allerorts und jederzeit flexibel arbeitsbereit sein, steht dem diametral entgegen.
Vor allem Liebe und Paarbildung machen glücklich. Und Hautkontakt. Ein gutes Körpergefühl erzeugt Lebenszufriedenheit, und Berührungen seien »wichtiger als Vitamine«, schreibt der Psychologe Saul Schanberg.22 Singles fühlen sich tendenziell weniger glücklich. Noch unglücklicher allerdings sind diejenigen, die in kaputten Ehen leben und sich nicht zu trennen trauen. Auch Paare und Familien, die sich nach außen abschotten, geraten ins Unglück.
»Glück ist für uns von größter Bedeutung, weil es uns umfassend motiviert«, erklärt Richard Layard. Es fördert die körperliche und geistige Gesundheit, stärkt das Immunsystem und erhöht die Lebensdauer signifikant.23 Empathische Bindungen an andere Menschen steigern in jedem Fall und unter allen Umständen die Lebenszufriedenheit, fand auch der englische Sozialpsychologe Michael Argyle heraus.24 Studierende in Wohnheimen steckten sich laut einer Studie der US-Medizinprofessorin Janice Kiecolt-Glaser weniger an ihren erkälteten Zimmergenossen und Kommilitoninnen an, wenn sie diese mochten.25 Unabhängig von Alter und Gesundheitszustand sind sozial eingebundene Personen psychisch und physisch gesünder und sterben seltener an bestimmten Infekten als isolierte, entdeckte der Epidemiologe James S. House.26 Brustkrebspatientinnen, die sich mit anderen austauschen und Verständnis finden konnten, lebten nach einer anderen US-Studie im Schnitt mehr als doppelt so lange, litten weniger unter Schmerzen und waren besserer Stimmung als Patientinnen, die nur Medikamente bekamen.27
In der sogenannten Grant-Studie begleiten Forscher seit mehr als 70 Jahren das Leben von 268 männlichen Absolventen der US-Eliteuniversität Harvard. Sie behelligen diese mit regelmäßigen Fragen zu ihrem momentanen Seelenzustand, um herauszufinden, was gelingendes Leben ausmacht.28 Klares Ergebnis auch hier: Der mit Abstand wichtigste Faktor ist Bindung. Nicht unbedingt zum Lebenspartner, sondern die grundsätzliche Fähigkeit, liebende und einfühlsame Verbindungen zu Mitmenschen einzugehen.
Forscher befragten Bundesdeutsche 2008 nach ihren »persönlichen Quellen für Glück und Wohlbefinden«. Am häufigsten hörten sie: »Gesundheit der Familie« sowie »Aufwachsen in einem intakten Elternhaus« (je 74 Prozent), die »kleinen Dinge des Lebens« und »Freunde um mich herum« (je 64 Prozent), »Leben in einer Partnerschaft« (63 Prozent), Ziele erreichen (59 Prozent), »Gutes tun, um anderen zu helfen« und einen Arbeitsplatz haben (je 56 Prozent). »Keine Geldsorgen haben« fanden gerade mal 31 Prozent wichtig. Eigentum nannten offenbar so wenige, dass es in der Statistik nicht mal auftauchte.29 In einer weiteren Befragung gaben 61 Prozent an, dass Geld und Glück nichts miteinander zu tun haben.30 Die Sicherheit des Einkommens ist den Deutschen wichtiger als dessen Höhe, so auch das Ergebnis einer Studie des Ipsos-Instituts vom April 2014.31
Generell liegt das Glücksniveau im Osten und Süden Deutschlands niedriger als im Westen und Norden.32 Warum es in den neuen Bundesländern dem steigenden Lebensstandard hinterherhinkt, erklärt Glücksforscher Richard Layard so: Früher hätten sich die Ostdeutschen mit den »ärmeren Genossen in den sozialistischen Bruderstaaten« verglichen, heute mit den reicheren Westdeutschen.33 Wer sich ständig mit Höherstehenden vergleicht, fühlt sich immer unzufrieden (Näheres in Kapitel 4). Weshalb aber Norddeutsche deutlich zufriedener sind als Süddeutsche, ist kaum erforscht; es gibt Hinweise darauf, dass dies an einer größeren Egalität der Lebensverhältnisse im Norden liegt.
Kranke, Erwerbslose, Arme, schlecht Qualifizierte und frisch Geschiedene hadern am meisten mit ihren Lebensbedingungen. Trennungen und Kündigungen machen unglücklich.34 Und befördern psychische und physische Krankheiten. Weitere Erkenntnisse: Das durchschnittliche Glücksempfinden im Lebenslauf eines Menschen verhält sich wie eine U-Kurve. Mit 20 sind wir am glücklichsten, weil scheinbar frei und ungebunden, mit 40 folgt die Midlife-Crisis, ab 45 geht es wieder bergauf. Kinder hingegen spielen kaum eine Rolle fürs Glück.35 Kleine Kinder versetzen ihre Eltern zwar meist in Hochstimmung, aber sie bereiten ihnen auch schlaflose Nächte – ebenso wie Pubertierende. Etwa zwei Jahre nach einer Geburt pendeln sich Eltern wieder auf ihrem früheren Glücksniveau ein.36
Naturerfahrung heilt und macht glücklich, so eine weitere Erkenntnis der Glücksforschung. Studien aus den USA, den Niederlanden und Deutschland zeigen, dass viel Grün in der direkten Umgebung eine positive Wirkung auf Zufriedenheit und Gesundheit der dort Wohnenden hat. Unabhängig von Nationalität und Kultur ziehen Menschen eine natürliche Umgebung einem städtischen Ambiente vor. Laut US-Studien fördert der Blick aus einem Krankenzimmer ins Grüne den Heilungsverlauf und reduziert Schmerzmittelmengen.37
Letztlich ist es eine bewusste selbstbestimmte Lebensführung, die unser Leben gelingen lässt. Selbst Personen, die harte Schicksalsschläge erleiden mussten, können glücklich sein. Wir kennen mehrere Menschen persönlich, die eine schwere Erkrankung nicht als Unglück, sondern als »Geschenk« erlebten. Die Krankheit brachte diese Menschen dazu, bewusster zu leben, intensiver die kleinen Schönheiten des Alltags zu genießen und große Dankbarkeit für alles Lebendige zu empfinden. So geschah es auch Heidemarie Schwermer.
Reich ohne Geld: Heidemarie Schwermer lebt seit 18 Jahren bargeldlos
»Ich bin so reich«, sagt sie immer wieder. »Reich an Erlebnissen, an Erfahrungen, an Vertrauen und Liebe. Ich gebe und bekomme so viel, lebe ein Leben voller Abenteuer und Fülle. Geld lenkt doch nur ab vom Wesentlichen.« Das formuliert eine, die materiell ärmer nicht sein könnte: Seit 18 Jahren lebt Heidemarie Schwermer ohne Geld.
72 Jahre zählt die frühere Lehrerin und Psychotherapeutin – und sieht doch viel jünger aus. Die zweifache Mutter und dreifache Großmutter hat ein mädchenhaftes Lachen, ihre schulterlangen, weißblonden Haare fliegen, die grünen Augen blitzen. Ende 2013 hütet sie gerade die Zweizimmerwohnung einer verreisten Freundin in der Ruhrgebietsstadt Herne. Ein Bioladen überlässt ihr regelmäßig Gemüse, das krumm gewachsen oder unansehnlich ist, und Lebensmittel über dem Verfallsdatum. Zum Abendessen gibt es Kartoffeln mit ein wenig Kokosfett. »Mmmh, da könnte ich mich reinlegen«, freut sie sich wie ein Kind über die bescheidene Mahlzeit.
Seit 18 Jahren lebt Heidemarie Schwermer in Wohnungen abwesender Freundinnen und Bekannter. »Immer ergab sich etwas, unter einer Brücke musste ich noch nie schlafen.« Ihre Lebenserfahrung sei, dass sie bekomme, was sie brauche. Erstaunlich bei einer, die 1942 im heutigen Litauen geboren wurde und bei Kriegsende traumatische Fluchterfahrungen machen musste: »Wir waren Lumpenpack, als wir hier ankamen.« Das kleine traurige Flüchtlingsmädchen von einst habe sich damals selbst versprochen: »Ich werde alles dafür tun, an einer schönen Welt mitzuwirken. In dieser Welt soll es keine Kriege mehr geben. Und jeder Mensch soll in Würde leben.«
Sie geht zum Schrank ihrer Freundin und zieht eine Liste heraus. »Hier hab ich die Menschen aufgelistet, die ich zu meiner Beerdigung einladen will«, sagt sie so fröhlich, als ginge es um die nächste Gartenparty. Seit Kurzem weiß sie, dass sie Krebs hat – Gebärmutterkrebs im fortgeschrittenen Stadium. »Andere klagen: Warum gerade ich? Ich sage: Ja, warum ich gerade nicht? Die Krankheit ist auch eine Chance, sich mit dem eigenen Leben noch einmal intensiv auseinanderzusetzen. Ich gönne mir eine Auszeit und probiere alternative Heilmethoden. Sicher, ich möchte schon weiterleben. Aber wenn es sein muss, dann gehe ich. Ich hab ja immer auf dem Sprung gelebt.«
Anders als früher ist sie jetzt wenigstens krankenversichert, das kam mit der Pensionsbescheinigung ins Haus. Ihre Rente allerdings verschenkt sie an Freunde und Bedürftige. Auf ihrer Website schreibt sie: »Ich habe Karzi – so nenne ich meinen unliebsamen Gast – begrüßt, mit ihm ein Abkommen vereinbart. Er verlässt mich, wenn ich mir meine Störungen anschaue und daran arbeite, sie aufzulösen. Er will mich in eine neue Ebene bringen.« Immer wieder hat Heidemarie Schwermer ihr altes Leben abgelegt, um eine neue Stufe zu erreichen. Sie will »in die Tiefe« und ist auf eine unaufdringliche und nichtmissionarische Art sehr spirituell: »Ich glaube an Engel. Du nicht? Macht nichts. Gleichzeitig bin ich politisch.«
1978 schon hat sie ihren bequemen Beamtenstatus gekündigt, wurde Psychotherapeutin und Motopädin. Und als noch kaum jemand von Teilen und Tauschen redete, gründete sie 1994 in Dortmund eine »bargeldlose Zone«, den Gib&Nimm-Tauschring. Haareschneiden gegen Kuchenbacken, Haushaltshilfe gegen Wintermantel – zehn Jahre lang wurde dort ohne jede Abrechnung getauscht. »Die Mitglieder sagten irgendwann: Wir brauchen Geld für einen Computer und ein Büro. Ich antwortete: Wenn wir etwas brauchen, dann bekommen wir das auch – ohne Geld. Die Tür ging auf, und ein junger Computerspezialist suchte ein neues Betätigungsfeld. Und wir fanden ein Büro im AStA-Gebäude. So ging das immer.«
Heidemarie Schwermer. Foto: privat
Gib&Nimm – das wurde ihr Lebenswerk. Die Idee breitete sich in konzentrischen Kreisen aus, über das Ruhrgebiet, ganz Deutschland bis in andere Länder. Parallel bildeten sich an zahlreichen Orten Tauschringe und andere Initiativen der Schenkökonomie. Das Logo von Gib&Nimm, ein Kreis in Regenbogenfarben, klebt heute an vielen Gegenständen, Haus- oder Ladentüren.
1996 reichte ihr das nicht mehr. Sie wollte noch konsequenter leben: geldlos. Heidemarie Schwermer kündigte ihre Wohnung, verschenkte ihre Möbel, freute sich, als alles leer war. »Anfangs wusste ich ja gar nicht, wohin mich das noch treibt.« Die Presse entdeckte sie als »Habenichts«, sie wurde zu Talkshows eingeladen, zu Vorträgen, oft mit 500 Zuhörenden, in ganz Deutschland, nach Österreich, Italien und Spanien. Ein Film über sie, Living without money, ist in 30 Ländern zu sehen. Sie schrieb drei übers Internet erhältliche Bücher, Das Sterntaler-Experiment, In Fülle sein ohne Geld und WunderWelt ohne Geld, inzwischen übersetzt in 15 Sprachen. Für eines erhielt sie den Tiziano-Terzani-Preis. »Auch in Japan und Griechenland bist du berühmt«, sagte ihr jemand.
Doch sie selbst besitzt kein einziges ihrer Bücher, nicht mal in ihrem Rollkoffer, in den ihre gesamte persönliche Habe passt – Kleidungsstücke, Schuhe, Drogerieartikel. »Erinnerungsstücke hab ich bei einer Freundin deponiert, Fotos bei meinen beiden Kindern.«
Woher nimmt sie diesen Mut? Die Zuversicht, dass alles gut geht? Die Fähigkeit, auch für eine Abendmahlzeit aus nichts außer Kartoffeln dankbar zu sein? »Ich lebe sehr einfach und zugleich sehr bewusst. Ich habe gelernt, mich an Kleinigkeiten zu freuen«, erzählt sie. Hindernisse und negative Reaktionen auf ihr Lebensmodell sieht sie grundsätzlich positiv, sie könne ja daran wachsen. Natürlich sei dies kein Modell für jedermann und jedefrau, gibt sie freimütig zu, denn sie lebe ja indirekt vom Geld anderer. Auch der Gegensatz zwischen Arm und Reich bleibe bestehen. Aber sie träumt von dem Moment, in dem alle auf Geld verzichten: »Ich stelle mir das vor wie eine Erleuchtung.«
Immer wieder mache sie die Erfahrung, dass die Dinge zu ihr kämen, wenn sie sie brauche, berichtet sie – ob Schuhe, Verkehrstickets oder eine neue Brille. Vielleicht hat sie aber auch durch ihre mutige Lebensführung eine andere Brille aufgesetzt: Sie nimmt vor allem das Schenken und Beschenktwerden wahr, das Positive, Lebendige und Verbindende zwischen Menschen. »Die Leute kümmern sich um mich, schicken mir Handykarten, meine Ärztin schenkt mir Heilmittel. Und ich kümmere mich um sie – ich mache viel psychotherapeutische Beratung. Ohne jede Berechnung. Gib&Nimm.«
Wie zur Bestätigung klingelt ihr Handy, eine Bekannte in seelischer Not möchte einen Rat. Tauschringe, in denen Leistungen mit Punkten oder Zeitwährungen abgerechnet werden, gefallen ihr nicht so sehr, erzählt sie weiter. »Dann kann man ja gleich beim Geld bleiben.«
Heidemarie Schwermer glaubt fest daran, dass die Demonetarisierung weitergehen wird. »Mein Leben ohne Geld hat mich vorangetrieben«, schreibt sie auf ihrem Blog, »hat mir eine neue einfachere Welt gezeigt, die für mich schon Fakt ist und die ich als Zukunftsmodell empfinde … Ich bin glücklich über mein Leben in Fülle.«
Selbst- und Mitbestimmung machen glücklich
Politisch mitbestimmen zu können ist ebenfalls ein wichtiger Baustein für ein gutes Leben. Der Schweizer Forscher Bruno Frey wies nach, dass direkte Demokratie das gesellschaftliche Glücksniveau stark anhebt. Schweizer sind umso zufriedener, je mehr Volksbefragungen in ihrem Kanton stattfinden. Dadurch erhöhen sich auch ihre Identifizierung mit ihrem Gemeinwesen und ihre Steuermoral.38
Je selbstbestimmter ihre Arbeit und ihr Leben, desto glücklicher sind Menschen. Schon kleine Zuwächse machen sie entschieden zufriedener: In US-Altersheimen stieg die Glücksrate und sank die Krankheits- und Sterberate, nachdem Senioren statt der üblichen Rundumversorgung Menü oder Ausflugsziele selbst wählen und Zimmerpflanzen selbst gießen durften. Dasselbe gilt umgekehrt: Je weniger Menschen über ihre Arbeit bestimmen können, desto gestresster und unglücklicher sind sie. Laut einer britischen Studie sind kleine Beamte in der niedrigsten Hierarchiestufe dreimal so häufig krank wie ihre Vorgesetzten, und ihr Risiko, früh zu sterben, ist ebenfalls dreimal so hoch.39
Happy Planet
Eltern haben den natürlichen Antrieb, ihren Kinder ein besseres Leben zu ermöglichen. Heutzutage aber verschleißen wir so viele natürliche Ressourcen, dass für unsere Nachkommen weit weniger übrig bleibt. Wie wüchse unser Glücksempfinden, wenn wir den Lebensraum unserer Nachkommen mit einem kleineren ökologischen Fußabdruck belasten würden? Genau das misst der Happy Planet Index der britischen New Economics Foundation. Er geht von der Erkenntnis aus, dass laut weltweiten Umfragen Menschen drei Dinge am wichtigsten sind: Lebensglück, Gesundheit und das Wohlergehen ihrer Familie. Der Happy Planet Index wird errechnet, indem man pro Land die durchschnittliche Lebenserwartung mit der Lebenszufriedenheit multipliziert und durch den ökologischen Fußabdruck dividiert. Dieser kalkuliert den Umweltschaden, den unser Ressourcenkonsum – einschließlich Importgütern wie etwa in China produzierte Handys – verursacht. Länder, die enkelgerechter wirtschaften und in weniger rücksichtsloser Weise Ressourcen verschleudern, rutschen dadurch im Ranking weiter nach oben.40
Das Ergebnis des 151 Länder umfassenden Happy Planet Index: Costa Rica stand 2012 bereits zum zweiten Mal an der Weltspitze. Gründe: Der kleine mittelamerikanische Staat bezieht 99 Prozent seiner Energie aus erneuerbaren Quellen, hat die Entwaldung gestoppt und will bis 2021 CO2-neutral sein; seine Bewohner haben die höchste Lebenserwartung in ganz Amerika, unter anderem aufgrund eines vergleichsweise hoch entwickelten Sozialstaates; nicht zuletzt weil das Militär schon 1948 abgeschafft wurde, sind die Kassen voller als in Ländern, die sich eine teure Armee leisten. Die karibische Mentalität und die vergleichsweise intakte Natur fördern ebenfalls die Lebensfreude.
Auch Vietnam, Kolumbien, El Salvador und andere lateinamerikanische Länder rangieren auf den ersten Plätzen. Das zeigt allerdings auch die Begrenztheit solcher Indizes und Rankings, die sich auf wenige Faktoren beschränken: Mangelndes Sicherheitsgefühl, Gewalt und die Nachwirkungen von Kriegen bildet der Happy Planet Index nicht ab.
Deutschland nahm im Happy Planet Index nur den 46. Rang ein und lag wie viele andere europäische Staaten bloß im vorderen Mittelfeld, die USA mit dem 105. Rang sogar im hinteren. Der Hauptgrund dafür liegt in umweltfeindlichem Wirtschaften. Die niedrige Lebenserwartung und Lebenszufriedenheit in vielen afrikanischen Ländern brachte diese ans Ende der Tabelle: Auf den letzten zehn Plätzen befand sich unter anderem Botswana, der Tschad und Südafrika, aber auch die Ölverbrennungsstaaten Katar und Kuwait. Der Happy Planet Index Report von 2012 konstatiert jedoch auch: Alle Staaten, auch Costa Rica, leben über ihre ökologischen Verhältnisse.
Das BIP ist nicht das Maß aller Dinge
Wissenschaftler und Forscherinnen aus aller Welt haben inzwischen zahlreiche Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt entwickelt. Einer der Ersten war der von Nobelpreisträger Amartya Sen angestoßene Human Development Index, mit dem die Vereinten Nationen seit 1990 den Fortschritt in Ländern anhand von Pro-Kopf-Einkommen, Bildungsgrad und Lebenserwartung messen. Ebenfalls schon älter ist der 1989 von Umweltökonom Herman E. Daly entwickelte Index of Sustainable Economic Welfare (ISEW), der unbezahlte Arbeit ins Bruttoinlandsprodukt einrechnet, ökologische und soziale Kosten aber davon abzieht. Daraus ging der Genuine Progress Indicator mit 20 Kennziffern hervor, der zusätzlich dazu misst, ob Wirtschaftswachstum tatsächlich zu steigendem Wohlbefinden führt. Er ist bisher nicht fest definiert, sondern wird laufend weiterentwickelt – unter anderem von der EU und Kanada.
In Deutschland zeigt das Statistische Bundesamt im Auftrag der Bundesregierung seit 2002 mit einem Nachhaltigkeitsindex auf, wie sich die Zukunftsfähigkeit des Landes entwickelt. Er beinhaltet 21 Kennziffern, darunter Lebensqualität, Einkommensungleichheit, sozialen Zusammenhalt und Staatsverschuldung. Im Rahmen einer Pilotstudie des Bundesumweltministeriums haben Hans Diefenbacher und Roland Zieschank zudem den Nationalen Wohlfahrtsindex entwickelt, zu dessen 21 Variablen auch Umweltschäden, der Wert von unbezahlter Arbeit und Konsumausgaben zählen.
Wie aber kommt es, dass das BIP nach wie vor in weiten Kreisen als der wichtigste Wohlstandsindikator gilt? Und warum hat das Wirtschaftswachstum einen so zentralen Stellenwert, obwohl es den Planeten ruiniert und die Menschen nicht glücklicher macht? Wo sitzt der Motor des Ganzen? Bevor wir uns der Frage zuwenden, wie eine glücklichere Welt konkret aussehen könnte, wollen wir kurz die Mechanismen beschreiben, die das heute dominierende Wirtschaftssystem antreiben und so übermächtig gemacht haben.