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Inhaltsübersicht

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel «Simmaren» bei Wahlström & Widstrand, Stockholm.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Simmaren» Copyright © 2013 by Joakim Zander

Redaktion Annika Ernst

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, Dominic Wilhelm,

nach dem Original von Wahlström & Widstrand (Gestaltung: Hummingbirds)

(Titelmotiv: Love Lannér)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc., All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-26888-5 (1. Auflage 2016)

ISBN E-Book 978-3-644-52911-3

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-52911-3

Für Liisa, Milla und Lukas

Around us, the madness of empires continues. Jane Hirshfield

Juli 1980
Damaskus, Syrien

Jedes Mal, wenn ich dich umarme, ist es das letzte Mal. Das weiß ich seit Anbeginn. Und wenn du doch zurückkommst und ich das Kind in meine schlaflosen Arme nehme, kann ich an nichts anderes denken als daran, dass ich es zum letzten Mal halten werde.

Du siehst mich an, die Augen so klar wie der Himmel nach einem Regenschauer, und ich weiß, dass du es weißt. Dass du genauso lange davon weißt wie ich. Von meinem Verrat. Jetzt, in diesem Moment, ist er so nah, dass wir seinen stinkenden Atem wahrnehmen, seinen ungleichmäßig hämmernden Herzrhythmus.

Das Kind wimmert in der Wiege, und du stehst auf, aber ich bin vor dir da und nehme es hoch. Halte es an meine Brust. Spüre seinen Atem, sein pochendes Herz durch die dünne hellblaue Decke, die deine Mutter gestrickt hat. Sein Herz ist mein Herz. Es gibt nichts, was es rechtfertigen würde, sein eigen Fleisch und Blut zu verlassen. Es gibt keine Gründe und keine Entschuldigungen. Nur unterschiedliche Deckmäntel, die man anlegen kann. Nur variierende Qualitäten von Lügen.

Und wer, wenn nicht ich, sollte diese perfekt beherrschen.

 

Die Hitze ist übermächtig. Nach zwei Monaten mörderischer Dürre glüht die Stadt wie Lava. Wenn der Abend kommt, ist sie nicht mehr grau oder beige, sondern durchsichtig, ermattet, wabernd. Niemand kann hier einen klaren Gedanken fassen. Alles stinkt nach Müll. Abfall, Abgase, Knoblauch und Kreuzkümmel. Aber ich nehme nur den Geruch des Kindes wahr. Ich schließe die Augen und atme tief ein, meine Nase an seine fast haarlose Stirn gepresst. Und sie ist noch immer heiß. Viel zu heiß. Das Fieber lässt nicht nach.

Du sagst, das ginge nun schon den dritten Tag so. Ich höre, wie du in den Schubladen nach Aspirin oder irgendetwas anderem kramst. Diese Hitze. Sie macht uns wahnsinnig. Wir wissen beide, dass ich keine Medikamente hier habe, in meiner Wohnung, meinem Blendwerk. Warum sind wir überhaupt hier?

«Gib mir die Autoschlüssel», sagst du.

Bewegst deine Hand wie die Händler auf dem Basar, wenn sie um Geld bitten. Und als ich zögere: «Gib mir endlich diese verdammten Schlüssel.»

Eine Oktave höher, eine Spur verzweifelter.

«Warte doch. Wäre es nicht besser, wenn ich –», beginne ich.

Das Kind liegt vollkommen reglos an meiner Schulter, sein Atem so leicht, dass ich ihn kaum mehr spüre.

«Und wie willst du zur Botschaft kommen? Du siehst doch, dass wir etwas gegen das Fieber brauchen?»

Widerstrebend angle ich den Schlüsselbund aus der Hosentasche. Das Kind mit der anderen Hand an meiner Brust balancierend, gleitet er mir durch die Finger und landet mit einem dumpfen Klirren auf dem Marmorboden im Flur. Die Hitze dämpft sogar die Geräusche, denke ich. Verzögert sie, bremst sie aus. Wir beugen uns beide gleichzeitig hinab, um die Schlüssel aufzuheben. Für einen kurzen Moment streifen sich unsere Finger und unsere Blicke. Dann schnappst du dir den Schlüsselbund und richtest dich auf. Verschwindest in das hallende Treppenhaus. Hinterlässt nur das leise Geräusch der Tür, die sacht ins Schloss fällt.

 

Ich stehe mit dem Kind in der einzigen schattigen Ecke auf dem Balkon, der zur Straße hinausgeht. Die Erinnerung an eine Brise streift mich. Die Hitze erschwert das Atmen. In der Luft liegt nur der Gestank der glühenden Stadt. Was ist aus dem Jasmin geworden? Früher duftete die Stadt nach Jasmin.

Das Amulett, das du mir geschenkt hast, bevor alles nur noch Hitze, Fieber, Flucht war, brennt auf meiner Brust. Es hat deiner Großmutter gehört und deiner Mutter. Ich denke, ich werde es hierlassen, es auf die Kommode mit Intarsien aus Perlmutt und Rosenholz legen, die wir zusammen auf dem Basar gekauft haben, als sich das Band zwischen uns zu knüpfen begann. Ich denke, dass ich nicht das Recht dazu habe, das Amulett mitzunehmen. Dass es mir nicht mehr gehört. Falls es das überhaupt jemals tat.

Ich weiß alles darüber, wie man überlebt. In dieser Stadt kenne ich jede Gasse, jedes Café. Ich kenne jeden schnauzbärtigen Antiquitätenhändler mit zwielichtigen Verbindungen, kenne die tratschenden Teppichverkäufer und den Jungen, der Tee aus dem meterhohen Samowar verkauft, den er auf dem Rücken trägt. Ich habe mit dem Präsidenten in verräucherten Zimmern importierten Whisky getrunken – im Beisein der Leiter von Organisationen, die er offiziell ablehnt. Der Präsident kennt meinen Namen. Einen meiner Namen. Ich habe das Geld verwaltet. Dafür gesorgt, dass es in jene Hände gelangt, die den Interessen am meisten dienen, welche zu wahren ich geschickt wurde. Wenn ihr mich trefft, spreche ich eure Sprache besser als ihr selbst. Und gleichzeitig: Setzt mich irgendwo anders ab, im Dschungel, in der Steppe, in der Lobby des Savoy Hotels. Gebt mir eine Minute. Ich verwandle mich in eine Eidechse, einen vergilbten Grashalm, einen jungen Banker in Nadelstreifen mit etwas zu langem Haar und einer schillernden, aber privilegierten Vergangenheit. Eure Studienfreunde kenne ich vage, über Dritte. Doch an mich erinnern sie sich nie.

Ihr wisst es nicht, aber ich bin so viel besser als ihr. Ich verändere mich schneller. Passe mich geschickter an. Habe unschärfere Konturen und einen härteren Kern. Ich halte meine Bande kurz. Wenn sie stärker werden, kappe ich sie. Und jetzt? Jetzt habe ich nicht aufgepasst und sie stärker werden, sich festigen lassen. Blutsbande.

 

Das Spiel geht ewig weiter, aber diese Partie ist beendet. Ich presse das Kind fester an meine Brust, stampfe ungeduldig mit den Füßen auf dem Beton. Wenn die Bilder vom Tod durch meine Synapsen jagen, kneife ich die Augen zusammen und schüttle den Kopf. Rede unbewusst leise mit mir selbst.

«Nein, nein, nein …»

Das aufgedunsene Gesicht in der offenen Kloake an der Autobahn in Richtung Flughafen. Die aufgerissenen Augen. Die Fliegen in der Hitze. Diese Fliegen.

«Nein, nein, nein …»

Warum habe ich ihn nicht in Ruhe gelassen? Ich wusste doch schon alles. Warum habe ich Firas zu einem weiteren Treffen überredet, als die Spur bereits glühend heiß war, selbsterklärend? Aber die Sache war zu widersprüchlich, zu schwer zu glauben. Ich war gezwungen, alles noch einmal zu hören. Ein weiteres Mal in Firas’ nervöse Augen zu sehen, zu prüfen, ob sich etwas in seinem Blick verbirgt. Ob sich ein Schatten über sein Gesicht legt, wenn er die Details widerwillig ein letztes Mal wiederholt. Ob seine nervösen Tics eskalieren oder gänzlich verschwinden würden. All diese Zeichen. All die feinen Nuancen. All das, was diese fast unmerkliche Grenze zwischen Wahrheit und Lüge, Leben und Tod definiert. Ich kneife die Augen zusammen und schüttle den Kopf, während mich Angst und Schuld überwältigen. Ich hätte es besser wissen müssen.

Jetzt gibt es keine Zeit zu verlieren. Das Auto wurde von einem Kontakt gemietet und parkt um die Ecke. Ein Rucksack mit Kleidung, Geld und einem neuen Pass liegt im Kofferraum. Der Fluchtweg ist aktiviert, mit unsichtbarer Tinte auf die Innenseite meiner Augenlider geschrieben. Es ist die einzige Lösung, die jetzt noch bleibt. Zu Staub zu werden und anschließend zu Luft. Ein Teil von Kreuzkümmel, Knoblauch, Abfall und Abgasen zu werden. An einem guten Tag vielleicht auch zu Jasmin.

Ich halte das Kind vor mich und sehe es an. Es erleichtert mich, dass es deine Augen hat. So ist es einfacher. Was ist das für ein Mensch, der sein eigenes Kind zurücklässt? Auch wenn es darum geht, es zu beschützen. Verrat um Verrat. Lüge um Lüge. Wie lange kann die Relativität eine menschliche Seele retten?

Die Geräusche, die von der Straße heraufdringen. Langsamer, träger in der Hitze. Der Nachhall müder Stimmen, die mich im dritten Stock kaum noch erreichen. Autos, die über den glutheißen Beton kriechen, heiser, geplagt.

Und dann das Stottern eines Wagens, der nicht anspringt. Ein Schlüssel, der umgedreht wird, aber die Zündkerzen reagieren nicht. Einmal:

«Aaaaannnnnananananananan.»

Das Kind abschirmend, trete ich in die Sonne ans Balkongeländer. Es fühlt sich an, als würde ich in ein viel zu heißes Bad gleiten, der Schweiß rinnt meine Wangen hinab, meine Achselhöhlen, mein Rücken und meine Brust sind schon vollkommen nass. Ich beuge mich über das Geländer, suche den rostigen alten grünen Renault mit dem Blick. Auf der anderen Straßenseite. Gedanken schwirren mir durch den Kopf. Dass ich glücklich war, genau diese Parklücke gefunden zu haben. Dass ich dachte, er würde dort über Wochen stehen, wenn nicht Monate. Dass du am Ende vielleicht die Schlüssel finden und ihn umstellen würdest. Doch warum solltest du dich um das Auto scheren?

Sonnenreflexe blitzen von der Scheibe auf der Fahrerseite auf. Doch wenn ich blinzele, sehe ich dich. Dein schönes blondes Haar, platt und strähnig von den schlaflosen Nächten, dem Wassermangel. Vornübergebeugt, das Gesicht verzerrt von Gereiztheit, Kopfschmerz, all die Gedanken, all die Sorgen. Ich denke, dass du das Schönste bist, was ich je gesehen habe. Dass es das letzte Mal ist, dass ich dich sehe. Das Messer, das sich, Umdrehung für Umdrehung, in mein Herz hineinbohrt.

Du betätigst den Zündschlüssel erneut.

«Aaaaannnnnananananananan.»

Das ist ein Zeichen. Eines der Zeichen. Eines von Tausenden von Zeichen, die zu erkennen ich gelernt habe, um mein eigenes Überleben zu sichern. Und ich weiß, dass es zu spät ist, viel zu spät. Die Einsicht durchzuckt mich. Die Todesangst, die Hoffnungslosigkeit, die Schuld, Schuld, Schuld. Alles in dem Bruchteil von Sekunden, die ein Nerv braucht, um auf Schmerz zu reagieren.

Als die Explosion mein Trommelfell zerreißt, liege ich bereits auf dem Boden. Die Explosion ist nicht dumpf, nicht von der Hitze gedämpft. Sie ist fürchterlich, majestätisch. Sie ist eine ganze Feldschlacht, auf einen Augenblick komprimiert. Ich spüre, wie mich Tausende, winzige leichte, aber scharfkantige Partikel wie Asche bedecken. Glas und etwas, das Teilchen der Betonfassade sein könnten, Metallteilchen.

Anschließend ist es vollkommen still. Ich scheine unter einer Schicht aus Splittern zu liegen, einer Schicht aus Glas, billigem Beton, rostigem Stahl. Ich denke, dass ich wahrscheinlich blute. Ich denke, dass ich, solange ich denke, wahrscheinlich auch lebe. Ich denke, dass meine Arme hier irgendwo sein müssen, ich spüre sie unter mir, auf dem Boden des Balkons. Ich denke: Was umklammere ich hier, worauf liege ich? Es gelingt mir, mich auf die Seite zu rollen. Um mich herum knirschen Beton und Glas. Vorsichtig hebe ich den Oberkörper, stütze mich auf den Ellbogen, der den Signalen meines Rückgrats zu gehorchen scheint.

Unter mir liegt das Kind, dem ich die Hände fest auf die Ohren gepresst habe. Es blinzelt mich an, atmet schwer, fiebrig. Es hat nicht eine Glasscherbe abbekommen.

8. Dezember 2013
Uppsala, Schweden

Mahmoud Shammosh war eigentlich nicht paranoid veranlagt. Wenn ihn jemand fragen würde, er würde sich als das genaue Gegenteil beschreiben. Rational. Analytisch. Und vor allem: zielstrebig.

Dass er ein Außenseiter war, ließ er nicht als Entschuldigung gelten, und als einen Anhänger von Verschwörungstheorien sah er sich auch nicht. Die waren etwas für Teenager, Dschihadisten und Feiglinge. Mit faulen Ausreden hätte er nicht die graue Vorstadt und die Hoffnungslosigkeit hinter sich gelassen und sich eine Doktorandenstelle in Uppsala erkämpft. Er war fest davon überzeugt, dass in neun von zehn Fällen die einfachste Lösung die richtige war. Paranoia war etwas für Verlierer.

Mit einem Ruck zog er sein verrostetes Crescent aus dem Fahrradständer vor der Universitätsbibliothek Carolina Rediviva. Früher war es wohl hellblau gewesen, aber schöne Fahrräder fuhren in Uppsala nur die Erstsemester. Die Alteingesessenen wussten, dass diese gleich in der ersten Semesterwoche gestohlen wurden. Mahmouds Rad balancierte auf dem schmalen Grat zwischen perfekter Tarnung und völliger Unbrauchbarkeit.

Er trat ein paarmal kräftig in die Pedale, dann ließ er das Rad den Abhang zur Stadt hinunterrollen. Selbst nach seinen knapp sieben Jahren in Uppsala genoss er es noch, mit dem Wind im Gesicht die Drottninggatan hinunterzusausen und die Kälte an den Fingern zu spüren. Gegen seinen Willen blickte er über die Schulter. In der frühen Abenddämmerung glommen die Straßenlaternen auf der Anhöhe einsam und wehmütig. Niemand folgte ihm.

Die Weihnachtsdekoration am Empfangstresen der Juristischen Fakultät am Gamla torg glitzerte. Obwohl Sonntag war, brannten die Adventsleuchter und die Lichter am Weihnachtsbaum, aber der Flur im zweiten Stock lag im Dunkeln. Hier war alles still. Er schloss die Tür seines kleinen, vollgestopften Arbeitszimmers auf, knipste die Schreibtischlampe an und fuhr den Computer hoch.

Mit dem Rücken zum Fenster setzte er sich auf seinen Bürostuhl und nahm zwei Bücher vom Schreibtisch, eines über die Privatisierung von Staatsaufgaben, das andere über Menschenrechte. Wenn alles nach Plan lief, würde er bald selbst stolzer Verfasser einer Abhandlung sein. The Privatization of War, so lautete der Titel seiner Doktorarbeit. Sie war etwa zur Hälfte fertig.

Was er bisher geschrieben hatte, war eigentlich nicht neu. Aber es basierte auf mehr Recherchen vor Ort als andere Promotionen der Rechtswissenschaft, und das machte die Arbeit neuartig, fachübergreifend. Er hatte mehr als fünfzig Angestellte amerikanischer und britischer Unternehmen im Irak und in Afghanistan dafür befragt. Unternehmen, die Aufgaben übernommen hatten, die bislang von den Armeen selbst ausgeführt worden waren, angefangen von Transporten über die Versorgung und verschiedene Sicherheitsaufgaben bis hin zu reinen Kampfeinsätzen.

Anfangs hatte er noch auf eine Sensation, ein neues Abu Ghraib oder My Lai, gehofft. Der Akademiker, der die furchtbaren Gräueltaten aufdeckt. Er wusste, dass seine Herkunft dabei von Vorteil war. Aber er war auf nichts Spektakuläres gestoßen, sondern hatte nur lückenlos die Unternehmen und ihre Vorgaben erfasst und katalogisiert, was jedoch zumindest für einen Artikel im European Journal of International Law und einen knappen Bericht in Dagens Nyheter ausgereicht hatte. Woraufhin sich ein überraschendes Interview mit CNN in Kabul ergeben hatte. Was wiederum dazu geführt hatte, dass man ihn plötzlich zu internationalen Konferenzen und Symposien einlud. Das war keine Sensation, ließ ihn aber den süßen Vorgeschmack von Erfolg kosten.

Jedenfalls bis die E-Mail gekommen war.

 

Seufzend griff Mahmoud nach einem fünfzig Seiten dicken Papierstapel auf seinem Schreibtisch. Das neueste Kapitel seiner Promotion. Schon auf der ersten Seite wimmelte es von roten Kommentaren. Sein Doktorvater, dieser alte Reserveoffizier, spürte jeden Versuch auf, mit dem Material abzuschweifen. Mahmoud merkte, wie mutlos er wurde, und ließ den Stapel wieder sinken. Zuerst die E-Mail.

Der alte Rechner gab ein Brummen von sich, als würde er dagegen protestieren, an einem Sonntag den Dienst anzutreten. Die Hardware der Fakultät war alles andere als neu, aber das gehörte zum Selbstverständnis wie ein Statussymbol. Man kam schließlich nicht wegen der modernen Ausstattung an diese Fakultät, sondern wegen des Gegenteils: fünfhundert Jahre alte Traditionen.

Mahmoud betrachtete die Dunkelheit vor dem Fenster. Auch wenn sein Arbeitszimmer klein war, bot es doch die beste Aussicht von ganz Uppsala. Im Vordergrund der Fluss Fyrisån und das Haus, in dem Ingmar Bergman Fanny und Alexander gedreht hatte. Wie hieß es noch gleich? Akademikvarnen? Es stand hinter der Domkirche und dem Schloss, beinahe geisterhaft erleuchtet, mit all seiner makellosen akademischen Großbürgerlichkeit. Mahmoud dachte kaum noch darüber nach, welche Welten zwischen dieser Aussicht und dem Ausblick auf den winzigen Spielplatz und den porösen Beton seines Geburtsortes lagen. Endlich kam der Computer auf Touren, und Mahmoud konnte sein Mail-Programm öffnen. Nur eine neue Nachricht, ohne Betreff. Nicht weiter seltsam, schließlich hatte er seine E-Mails erst vor einer Viertelstunde in der Bibliothek abgerufen. Er wollte sie gerade in den Spam-Ordner verschieben, als er beim Lesen des Absenders stutzte. Jagare00@hotmail.com.

Sein Herz schlug schneller. Das war schon die zweite E-Mail von diesem Absender. Die erste war nach seiner Rückkehr aus Afghanistan gekommen und der Grund für die aufkommende Paranoia, gegen die er sich in den letzten Wochen gewehrt hatte.

Die Nachricht war kurz gewesen, auf Schwedisch und offenbar aus Afghanistan verschickt worden.

Shammosh,

ich habe vor ein paar Tagen das Interview mit dir auf CNN gesehen. Du scheinst ja furchtbar seriös geworden zu sein. Können wir uns in den nächsten Tagen in Kabul treffen? Ich habe Informationen, die für uns beide relevant sind. Sei vorsichtig, du wirst beschattet.

Mut, Willenskraft und Ausdauer.

Dieser vertraute Ton. «Mut, Willenskraft und Ausdauer.» Bekannte Worte aus einer anderen Zeit. Diese Person kannte ihn ganz offenbar.

Und davor: «Du wirst beschattet.» Mahmoud hatte das abgetan, darüber gelacht. Das musste ein Bekannter sein. Jemand, der sich einen Scherz mit ihm erlaubte. Schon bald würde er eine neue E-Mail mit dem Text ‹LOL! Gottya!› bekommen. Seine Herkunft war ungewöhnlich in den gesellschaftlichen Kreisen, in denen er heutzutage verkehrte, und gab seinen neuen Bekannten immer wieder Anlass, ihn auf die Schippe zu nehmen. Aber es kam keine Auflösung des Rätsels. Und er begann sich in alle Richtungen umzusehen. Nur, um auf der sicheren Seite zu sein. Nur, um zu … tja, warum nicht?

Und schon am selben Abend war er ihm aufgefallen. Ein gewöhnlicher Volvo V70. Bürokratengrau. Unter einer erloschenen Straßenlaterne vor seiner kleinen Einzimmerwohnung in Luthagen. Und im Lauf derselben Woche sah er ihn wieder, als er nach seinem wöchentlichen Basketballtraining aus der Unisporthalle kam. Mahmoud prägte sich das Kennzeichen ein. Danach sah er den Wagen überall. Ihn überlief ein Schauer. Vielleicht war es nur ein Zufall. Vielleicht auch nicht.

Er klickte die neue E-Mail an. Vielleicht wurde die Sache jetzt als Scherz enttarnt? Er würde dem Witzbold gegenüber nie zugeben, dass er teilweise darauf hereingefallen war.

Auch dieser Text war auf Schwedisch:

Shammosh,

ich nehme in Brüssel Verbindung zu dir auf. Wir müssen uns treffen.

Mut, Willenskraft und Ausdauer.

Mahmouds Puls raste. Woher konnte diese Person wissen, dass er diese Woche nach Brüssel musste? Eigentlich war nur sein Doktorvater darüber informiert, dass er die Einladung angenommen hatte, am Donnerstag auf einer Konferenz der International Crisis Group zu sprechen. Mahmoud spürte, dass ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Womöglich war alles trotzdem nur ein Scherz? Der Volvo nur Einbildung? Aber andererseits war es in gewisser Weise auch spannend und versetzte ihm einen kleinen Adrenalinschub.

Er schüttelte den Kopf. Vielleicht sollte er einfach abwarten, ob ihn jemand in Brüssel kontaktierte. Aber eine Sache musste er noch erledigen, bevor er die Fakultät wieder verließ. Eine E-Mail schreiben, die überfällig war. Es war ein Kontakt, der schon lange darauf wartete, wiederbelebt zu werden.

 

Klara Walldéen war plötzlich und aus einer völlig unerwarteten Richtung gekommen. Eines Tages war sie einfach da gewesen, hatte vor seiner Wohnungstür gestanden. Damals hatte er eine schwere Zeit durchgemacht. Er hatte nicht schlafen können, sich leer und verwirrt gefühlt, erschöpft und furchtbar einsam.

«Ich habe dich bei den Vorlesungen gesehen», sagte sie. «Du bist der Einzige, der noch einsamer wirkt, als ich mich fühle. Also bin ich dir gefolgt. Bescheuert, oder?»

Dann war sie ruhig über die Schwelle getreten, hatte ihre Arme um ihn geschlungen, ihren Kopf an seine Schulter gelehnt und ihre Finger in sein halblanges Haar geschoben. Hatte ihre Einsamkeit wortlos neben seine gelegt. Und Mahmoud ließ seine Einsamkeit, wo sie war, sodass sich die ihre und die seine von selbst annäherten, bis sie miteinander verschmolzen.

Es war ein befreiendes Gefühl, dass sie sich ohne Worte verstanden. Dass sie einfach so auf seiner spartanischen Matratze oder Klaras schmalem Bett in der Studentenstadt Rackarberget liegen und einer ihrer Soul-Scheiben vom Flohmarkt lauschen konnten, die auf dem betagten Reiseschallplattenspieler knisterten.

Noch immer dachte er jeden Tag daran. Wie sie so leise geatmet hatten wie möglich, damit die zarte Hülle, die sie umschloss, keinen Riss bekam. Wie ihre Herzen im Einklang mit dem Rhythmus von Prince Phillip Mitchells «I’m So Happy» geschlagen hatten.

Trotzdem hatte er von Beginn an gewusst, dass es nicht funktionieren würde. Dass ihn etwas daran hinderte, unvereinbar war mit dem, das Klara und er erschaffen hatten. Etwas, das er jedoch für sich behielt, im tiefsten Winkel seines Herzens. Als Klara nach dem Jurastudium an der London School of Economics angenommen wurde, hatten sie sich hoch und heilig geschworen, regelmäßig zu pendeln, und gedacht, dass eine so starke Beziehung wie die ihre das aushielt. Aber insgeheim wusste Mahmoud, dass damit das Ende gekommen war. Weil der Funke, den er so lange zu ersticken versucht hatte, erneut in einer zielstrebigen Flamme auflodern würde.

Nie würde er Klaras Blick vergessen, als sie in Arlanda standen und er sich durch seinen in- und auswendig gelernten Text stammelte. Dass ihnen eine Beziehungspause vielleicht ganz gut tun würde. Sie keine Belastung für den anderen darstellen sollten. Sie es nicht als Ende, sondern als eine neue Chance ansehen sollten. Unzählige Gründe nannte er, aber nicht die Wahrheit. Klara sagte nichts, nicht ein Wort. Sah ihn nur unverwandt an. Als er fertig war oder die Worte ihn schließlich im Stich ließen, lag in ihren Augen keine Liebe, keine Zärtlichkeit mehr. Sie blickte ihn mit einer Verachtung an, die so unbarmherzig war, dass ihm die Tränen kamen. Dann nahm sie ihre Koffer und ging zum Check-in-Schalter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Das war jetzt drei Jahre her. Seitdem hatte er nicht mehr mit ihr gesprochen.

 

Mahmoud beugte sich über den Rechner und öffnete eine neue Nachricht. Er hämmerte auf die Tastatur ein. Seit er nach Brüssel eingeladen worden war, hatte er nur noch daran gedacht, Kontakt zu Klara aufzunehmen. Aber er hatte es nicht geschafft. Hatte sich nicht dazu überwinden können.

«Los doch! Nun mach schon!», redete er sich laut zu.

Er brauchte eine halbe Stunde für eine E-Mail, die nur fünf Zeilen lang war. Eine weitere Viertelstunde verging damit, alle möglichen Doppeldeutigkeiten zu löschen, alle Anzeichen von Verzweiflung, alle Hinweise auf eine Geschichte, zu der er keinen Zugang mehr fand. Schließlich holte er tief Luft und klickte auf ‹senden›.

Als er zwanzig Minuten später die Fakultät verließ, fiel sein Blick als Erstes auf den grauen Volvo. Auf einem Parkplatz, unten am Fluss, im Dunkeln. Während er sein Fahrrad aufschloss, hörte er, wie der Motor angelassen wurde, sah die Vorderscheinwerfer erwachen, ein gespenstischer Lichtkegel, der das alte Metallgeländer am Fyrisån erhellte. Zum ersten Mal seit langem hatte er Angst.

8. Dezember 2013
Sankt-Anna-Schärengarten, Schweden

Die Stille danach war fast ebenso lähmend wie die beiden ohrenbetäubenden Schüsse davor. Nur das Quaken der Enten, die in die Bucht hinausstoben, und das leise Winseln des Hundes, der am Halsband zerrte, waren zu hören. Die Klippen und das Meer, alles war grau. Kahle Bäume und Sträucher. Raschelnd strich der Wind durch das blasse Schilf an der Wasserkante.

«Du hast sie verfehlt», sagte der alte Mann mit dem Fernglas.

«Von wegen», erwiderte die junge Frau neben ihm. Die Schrotflinte lag noch immer an ihrer Schulter, das Kirschholz des Kolbens lag kühl an ihrer Wange.

«Vielleicht mit der ersten Salve, aber nicht bei der zweiten. Lass Albert laufen, dann werden wir ja sehen.»

Der alte Mann beugte sich vor und löste die Leine vom Halsband des Spaniels. Der Hund stürmte laut bellend davon, durch das Schilf und über die Klippen, in die Richtung, in die der Schuss abgefeuert worden war.

«Du hast beide verfehlt, glaub mir. Du bist aus der Übung gekommen, Klara.»

Enttäuscht schüttelte er den Kopf. Der Hauch eines Lächelns zeigte sich auf ihren Lippen.

«Das sagst du jedes Mal, wenn wir hier draußen sind, Opa. Dass ich danebengeschossen habe. Dass ich es verlernt habe.» Sie ahmte seine betrübte Miene nach. «Und jedes Mal kehrt Albert wieder mit dem Sonntagsbraten im Maul zurück.»

Der Mann schüttelte den Kopf. «Ich sage nur, was ich sehe, das ist alles», brummte er und nahm eine Thermoskanne und zwei Becher aus seinem verschlissenen Rucksack. «Ein Becher Kaffee, und dann fahren wir nach Hause und wecken Oma», sagte er.

Am Ufer ertönte ein kurzes Bellen, gefolgt von wildem Wasserplatschen. Klara lächelte übers ganze Gesicht und tätschelte die Wange ihres Großvaters.

«Ich bin also aus der Übung, ja?»

Der Mann zwinkerte ihr mit seinen eisblauen Augen zu und reichte ihr den Kaffee. Mit der anderen Hand zog er einen kleinen Flachmann aus der Tasche.

«Wollen Sie ein Schlückchen, Frau Großwildjägerin? Um Ihren Triumph zu feiern.»

«Ich glaub’s nicht, hast du etwa Schnaps dabei? Weißt du, wie spät es ist? Das erzähle ich aber Oma.»

Klara schüttelte ernst den Kopf, ließ ihren Großvater aber einen kleinen Schuss Selbstgebrannten in ihren Becher kippen. Doch bevor sie einen Schluck davon trinken konnte, klingelte das Smartphone tief in der Tasche ihrer Wachsjacke. Seufzend reichte sie ihrem Großvater den Becher.

«Vorm Teufel kannst du dich nicht verstecken», sagte der mit einem schwachen Lächeln.

Klara griff nach ihrem Blackberry. Sie war nicht erstaunt, den Namen ihrer Chefin Eva-Karin auf dem Display zu sehen. Eva-Karin Boman, sozialdemokratisches Urgestein und Mitglied des Europäischen Parlaments.

«O nein», stöhnte sie, bevor sie das Gespräch annahm. «Hallo, Eva-Karin», meldete sie sich und klang dabei eine Oktave höher und bedeutend gehetzter als sonst.

«Klara, Schätzchen, was für ein Glück, dass ich dich erreiche! Jetzt liegt hier wirklich alles im Argen! Glennys hat mich gerade angerufen und mich nach unserer Position zum IT-Sicherheitsbericht gefragt. Und ich habe das Dokument noch nicht einmal öffnen können, weißt du. Es gab so viel zu tun mit dem …»

Die Stimme war einen kurzen Moment weg. Klara sah rasch auf ihre Uhr. Kurz vor neun. Eva-Karin saß wahrscheinlich im Expresszug zum Flughafen Arlanda. Klaras Blick schweifte über die grauen, windzerklüfteten Klippen. Wie absurd es war, so weit draußen im Schärengarten mit ihrer Chefin zu sprechen. Eva-Karins Stimme kam ihr wie ein Eindringling in ihren letzten Zufluchtsort vor.

«… wenn du also bis – was wollen wir sagen? Bis heute Abend um fünf, einverstanden? – eine Zusammenfassung für mich hättest? Damit ich sie vor der Besprechung morgen noch durchgehen kann? Das schaffst du doch sicher, oder? Du bist ein Engel, Schätzchen.»

«Natürlich», sagte Klara. «Aber, vielleicht erinnerst du dich nicht mehr daran, Eva-Karin – ich bin in Schweden und fliege erst heute Nachmittag um zwei wieder zurück nach Brüssel. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es bis um fünf Uhr schaffe …»

«Ich weiß sehr wohl, dass du in Schweden bist, Klara», schnitt Eva-Karin ihr mit einer Stimme das Wort ab, die keinen Raum für weitere Diskussionen ließ. «Aber während des Flugs kannst du doch wohl arbeiten? Ich meine, Herrgott noch mal, du hast doch das ganze Wochenende frei gehabt, oder nicht?»

Klara ging im feuchten Moos in die Hocke und stützte den Kopf in die Hände. Es war Sonntagmorgen. Sie hatte einen freien Samstag gehabt. Ihr war, als wäre ihre Lebenslust wie weggeblasen.

«Klara? Klara? Bist du noch da?», hörte sie Eva-Karins Stimme an ihrem Ohr. Klara räusperte sich, schüttelte den Kopf. Atmete tief ein und strengte sich an, ihre Stimme munter, dynamisch und diensteifrig klingen zu lassen.

«Aber natürlich, Eva-Karin», sagte sie. «Kein Problem. Ich maile dir die Zusammenfassung bis um fünf zu.»

 

Eine halbe Stunde später saß Klara Walldéen wieder in ihrem Kinderzimmer, die Füße auf den glatten, blankgescheuerten Holzdielen und umgeben von rosa Tapeten mit Blumenborte, die sie sich mit zehn Jahren von ihren Großeltern erquengelt hatte. Durch die kahlen Bäume vor dem Gaubenfenster sah sie die Ostsee schimmern, auf den Wellen schwammen Gänse. Noch vor Tagesende würde der Sturm die Küste erreicht haben, sie mussten sich beeilen. Ihr Freund aus Kindertagen, Bosse Bengtsson, der tiefer in der Bucht wohnte, würde sie mit dem Boot und dem Auto nach Norrköping bringen. Dann hieß es, den Zug nach Arlanda und den Flieger nach Brüssel zu nehmen, zurück in den Alltag.

Sie zog den fusseligen Helly-Hansen-Pulli über ihre schmalen Schultern und wählte ein helles, eng anliegendes Top und eine asymmetrisch geschnittene Strickjacke. Jeans aus japanischem Denim statt der verschlissenen Cordhosen ihrer Großmutter. Tauschte die gefütterten Gummistiefel, die sie bei der morgendlichen Jagd getragen hatte, gegen ein Paar limitierte Nike-Turnschuhe. Trug um die Augen ein bisschen kohlschwarzen Lidschatten auf. Noch ein paar Bürstenstriche durch ihre rabenschwarzen Haare, und aus dem Spiegel des kleinen weißen Schminktisches blickte ihr ein anderer Mensch entgegen. Die Fußbodenbretter knarrten, als sie sich bewegte.

Klara erhob sich vom Stuhl und öffnete die Tapetentür zu der kleinen Abseite. Vorsichtig, mit geübten Bewegungen, beugte sie sich vor und zog einen alten, ramponierten Schuhkarton heraus, dem sie einen Stapel Fotos entnahm.

Sie verteilte sie auf dem Fußboden und setzte sich im Schneidersitz davor.

«Guckst du dir wieder die alten Bilder an, Klara?»

Klara drehte sich um. Im fahlen Licht der kleinen Dachgaube wirkte ihre Großmutter beinahe durchsichtig, ihr Körper so zart und zerbrechlich. Hätte Klara es nicht mit eigenen Augen gesehen, würde sie es nicht glauben, dass sich die alte Frau immer noch in die Wipfel des knorrigen Apfelbaums schwang, um den Vögeln den letzten Apfel vor der Nase wegzuschnappen.

Die Großmutter hatte dieselben eisblauen Augen wie ihr Großvater. Sie hätten Geschwister sein können, aber darüber machte man hier draußen im Schärengarten keine Scherze. Ihr Gesicht wies ein paar Linien, aber keine Falten auf. Niemals Schminke, nur Sonne, Salzwasser und Lachen, lautete ihre Devise. Sie schien keinen Tag älter als sechzig zu sein, würde aber in ein paar Monaten fünfundsiebzig werden.

«Du weißt ja, ich will sie mir nur kurz ansehen», erwiderte Klara.

«Ich verstehe bis heute nicht, warum du sie nicht mit nach Brüssel nimmst. Warum sollen sie hierbleiben?»

Ihre Großmutter schüttelte den Kopf. Ein kummervoller Ausdruck, ein Anflug von Einsamkeit flackerte in ihren Augen auf. Für einen flüchtigen Moment schien es so, als wollte sie noch etwas sagen, besann sich dann jedoch offenbar anders.

«Ich weiß nicht», sagte Klara. «So soll es einfach sein, sie gehören hierher. Hattest du nicht etwas von Safrangebäck gesagt?»

Sie schob die Fotos zusammen und legte sie behutsam zurück in den Schuhkarton, bevor sie ihrer Großmutter die Treppe hinunterfolgte.

 

«Na, da isse ja! Und noch dazu in voller Montur!»

Bosse Bengtsson stand auf dem Bootssteg und wartete schon auf Klara, als sie wie unzählige Male zuvor den Pfad von seinem verfallenen Elternhaus herunterkam. Als würden ihre Füße den Weg von allein finden. Als wären ihr Kopf und ihr Nervensystem nicht beteiligt, wenn sie Wurzeln, Steinen und Pfützen auswich.

«Lass es gut sein, Bosse. Du klingst ja schon wie Opa», sagte Klara.

Unbeholfen umarmten sie sich. Bosse war ein paar Jahre älter als sie und für Klara wie ein Bruder. Sie waren wie Geschwister und dabei doch immer ein seltsames Paar gewesen. Klara klein und dünn, Klassenbeste und mit einer so großen Fußballbegabung, dass sie in Östervikings Jungenmannschaft gekickt hatte, und Bosse, der es liebte, zu angeln und – als er älter wurde – zu jagen, zu saufen und Schlägereien anzuzetteln. Während es sie immer wieder von hier wegzog, konnte er sich nicht vorstellen, jemals den Schärengarten zu verlassen. Trotzdem waren sie tagein, tagaus zusammen zur Schule gefahren. Im Sommerhalbjahr mit dem Schulboot, im Winter mit dem Luftkissenboot. So etwas ließ Vertrauen erwachsen, unerschütterlicher als alles andere.

Klara sprang an Bord und hievte die verbeulten Fender in Bosses altes Boot, dieses Arbeitspferd, während er ablegte. Als sie fertig war, leistete sie ihm in dem kleinen Ruderhaus Gesellschaft. Hinter den verdreckten Bullaugen waren die Wellen größer geworden, ihre Kämme weiß und entschlossen.

«Heut Abend gibt’s Sturm», sagte Bosse.

«So heißt es zumindest», antwortete Klara.

17. Dezember 2013
Brüssel, Belgien

Der kleine Park vor George Lööws Panoramafenster im sechsten Stock des Bürogebäudes von Merchant & Taylor, dem weltgrößten PR-Büro am Square de Meeus in Brüssel, sah kahl und frostig, ja einfach grässlich aus. George Lööw hasste den Dezember. Und vor allem Weihnachten. Er konnte den Weihnachtsschmuck die ganze Rue Luxembourg entlang bis zum Europaparlament sehen, und das irritierte ihn maßlos. Da half es auch nichts, dass der Dezember irgendwann zu Ende ging, denn diese stinkfaulen Straßenarbeiter von der Stadt würden den ganzen Mist wieder bis weit in den Februar hinein hängen lassen.

In weniger als einer Woche musste er gezwungenermaßen nach Hause in die Achtzimmerwohnung in der Rådmansgatan fahren und den jährlichen Lebensbericht ablegen. In der Wohnung würde wie jedes Jahr ein nostalgischer Weihnachtsbaum im Stil von Elsa Beskow mit echten Kerzen stehen. Die geschmackvollen Weihnachtssterne wären angezündet, und der Naschtisch des Alten würde sich biegen vor Marzipan, den Karamellbonbons seiner neuen Frau Ellen und der sauteuren Schokolade, die George jedes Jahr aus Brüssel mitbrachte und die sie pflichtschuldig und ein wenig beschämt ebenfalls dorthin legten.

Die Verwandtschaft würde pappsatt auf den Svenskt-Tenn-Sofas verteilt sitzen, in den Händen die dampfenden Tassen mit hausgemachtem Glögg. Voll Pathos und in ihrer verdammten Scheinheiligkeit würden sie blasierte Blicke austauschen, wenn sie George baten, von seinem Job als «Lobbyist» zu erzählen, ein Wort, das aus ihrem Munde denselben Klang hatte wie «Exkrement» oder «Emporkömmling».

«Verdammte Arschlöcher», zischte George.

Die kleine Kaffeemaschine brummte und füllte seine Nespresso-Tasse zur Hälfte. Dies war schon sein dritter Espresso, und es war nicht einmal zehn Uhr. Er war ungewohnt nervös vor seiner morgendlichen Besprechung mit einem neuen Kunden, der sich Digital Solutions nannte. Georges Chef Richard Appleby, der amerikanische Geschäftsführer für Europa, hatte gesagt, dass sie unbedingt mit George zusammenarbeiten wollten. An und für sich war das natürlich gut. Offenbar hatte er sich einen Ruf erarbeitet. Den Ruf, in Brüssel etwas zu erreichen. Die Stimmung beeinflussen zu können.

Aber es war verdammt unangenehm, dass er nichts über seinen Kunden wusste. Es gab, zum Teufel, unzählige Firmen, die Digital Solutions hießen. Er konnte unmöglich herausfinden, was diese genau machte. Ein solches Treffen ließ sich nicht vorbereiten. Also galt es, seinen Charme spielen zu lassen und loszulegen. Solange sie das großzügig bemessene Honorar berappten, gab es keinen Grund zu Klagen. Merchant & Taylor hatten keine Skrupel. You pay you play, lautete das inoffizielle Motto. Chemikalien, Waffen, Tabak? Nur zu. Hatte Appleby nicht irgendwann Anfang der Neunziger sogar als Repräsentant für Nordkorea gearbeitet? Vielleicht war das auch nur ein Mythos. Wie auch immer. Jedenfalls zog George es vor zu wissen, wer sein Gegenüber war, bevor die Besprechung begann.

Er schwitzte noch immer nach seiner morgendlichen Squash-Runde im Fitnessstudio. Das hellblaue Hemd von Turnbull & Asser klebte ihm am Rücken. Ekelhaft. Hoffentlich hört das noch vor dem Meeting auf, dachte er. Kaffee war wahrscheinlich nicht unbedingt förderlich.

Mit einer Grimasse kippte er den kleinen Espresso in einem Zug hinunter. George trank seinen Kaffee wie ein Italiener. Nur ein kurzer Espresso im Stehen. Kultiviert. Stilsicher. Selbst wenn er allein im Büro war. Es war wichtig, die Haltung zu wahren. Du bist, was du darstellst.

Fünf vor zehn. Er suchte einen Stapel Papiere, einen Block und einen Stift zusammen. Die Dokumente hatten nichts mit Digital Solutions zu tun, aber das wusste der Kunde nicht. Er konnte schließlich nicht wie ein dahergelaufener Praktikant aussehen und nur mit einem Stift zu dem Treffen erscheinen.

George liebte den Konferenzraum an der Ecke im sechsten Stock, seit er bei Merchant & Taylor angefangen hatte, und er buchte ihn immer, wenn er noch frei war. Der Eckraum hatte zwei Glaswände, die ihn von der Bürolandschaft trennten, wo Georges Karriere selbst einmal begonnen hatte. Hier konnte man per Knopfdruck dafür sorgen, dass beide Scheiben im Nu milchig wurden, undurchsichtig wie dickes Eis. In den ersten Wochen in seinem Job, als George noch vor dem Computer gesessen und uninteressante Umfeldanalysen für Kunden aus der Zuckerbranche, der Automobilbranche oder der Polymerbranche erstellt und dämliche Newsletters geschrieben hatte, waren die Glaswände das Coolste gewesen, was er je gesehen hatte. Fasziniert hatte er beobachtet, wie die erfahreneren Berater in ihren handgenähten italienischen Lederschuhen über den Holzboden geschwebt und im Eiswürfel verschwunden waren. So unglaublich beeindruckend.

Mittlerweile schwebte George selbst über den Boden zum Eiswürfel. Er spürte die Blicke. Ähnliche Blicke, wie er sie selbst geworfen hatte, als er dort im Büro gesessen hatte. Nicht alle hatten eine solch steile Karriere gemacht wie er, und vielleicht sprach nicht aus allen Blicken nur ungeteilte Bewunderung. Aber die anderen wahrten die gute Miene. Winkten. Lachten. Spielten das Spiel mit.

 

Jedenfalls war es ein irres Glück gewesen, dass er diesen Job an Land gezogen hatte, nachdem er vor drei Jahren bei der schwedischen Anwaltskanzlei Gottlieb gekündigt hatte. Allein die Tatsache, dass er bei Gottlieb mit etwas so Scheußlichem wie Gesellschaftsrecht und Geschäftsübernahmen befasst gewesen war, hatte der Alte nur schwer akzeptieren können. War man in der Familie Lööw als Anwalt selbständig tätig, dann beschäftigte man sich mit Strafrecht. Großen Prinzipien, Recht und Unrecht. Nicht mit so schmutzigen Angelegenheiten wie Geschäftsvereinbarungen und Geld. Das war etwas für Emporkömmlinge und Arrivierte ohne «Ahnen, Sitten und Verstand», wie der Alte zu sagen pflegte. Man konnte wohl von Glück reden, dass er nicht die Umstände kannte, die Georges Kündigung begleitet hatten.

Immerhin war der Alte etwas besänftigt gewesen, als George nach seiner Zeit in der Kanzlei zu einem prestigeträchtigen Magisterstudiengang am Collège d’Europe in Brügge zugelassen worden war. Eine waschechte Eliteschule nach französischem Vorbild, von der aus man sofort nach Brüssel katapultiert wurde. Endlich würde aus dem Jungen etwas werden. Vielleicht eine Stelle im Außenministerium? Oder bei der EU-Kommission? Etwas Ordentliches jedenfalls.

George wusste, dass eine Karriere in Schweden nach seinem kurzen Intermezzo bei Gottlieb ausgeschlossen war, und mit einem frischen Examen in EU-Recht in der Tasche war Brüssel genau der richtige Ort, um nach einer neuen Anstellung zu suchen. Anwaltskanzleien hatte er von vornherein ausgeschlossen. Er hatte keine Lust, endlose Nächte mit trockenen Rechenschaftsberichten zu verbringen und damit, Festplatten nach Verträgen und mehr oder weniger unseriösen Vereinbarungen zu durchsuchen.

Wie sich herausstellte, boten die PR-Firmen da eine ganz andere Welt. Verglaste Büros. Scharfe Bräute aus aller Herren Länder in kurzen, auf die Figur geschneiderten Kostümen und hohen Absätzen. Kühlschränke mit Cola und Bier, aus denen man sich bedienen konnte. Vernünftige Espressomaschinen statt Filterkaffee.

Vom grauen schmuddeligen Brüsseler Bürgersteig in Merchant & Taylors kühles und sanft beleuchtetes Bürogebäude aus Glas und Holz zu treten, mit seinen lautlosen Aufzügen und dem auf ein allgemeines Flüstern gedämpften Geräuschpegel, war einfach himmlisch. Natürlich bezahlten sie nicht die gleichen Einstiegsgehälter wie die bedeutenden amerikanischen Kanzleien, aber das große Geld konnte man hier verdienen. Und nach einem Jahr bekam man einen Leasingwagen. Nicht irgendeine Karre, sondern einen Audi, einen BMW, vielleicht sogar einen Jaguar.

Die großen englischen und amerikanischen PR-Büros waren die Legionäre von Brüssel. Sie verkauften Image, Information und Einfluss an den Meistbietenden – unabhängig von ideologischen und moralischen Überzeugungen. Viele sahen auf die Lobbyisten herab. Aber George liebte sie von der ersten Sekunde an vorbehaltlos. Das war sein Milieu. Das waren seine Leute. Sollten der Alte und der Rest seiner Verwandtschaft doch denken, was sie wollten.

 

Am Eiswürfel angekommen, trat George ein und schloss die Tür hinter sich. Es störte ihn, dass sein Kunde bereits in einem der hellen Ledersessel saß. Eigentlich war die Assistentin angehalten, die Besucher an der Rezeption warten zu lassen, wenn sie zu früh kamen. Aber George überspielte seine Irritation und brachte mit einem einzigen Knopfdruck nonchalant das Glas zum Gefrieren.

«Mr. Reiper! Willkommen bei Merchant & Taylor!», sagte er zu dem etwa sechzigjährigen Mann, während er sein breites selbstsicheres Lächeln aufsetzte und ihm die Hand entgegenstreckte.

Reiper saß in einer Haltung auf dem Stuhl, die alles, was Ergonomie hieß, außer Acht ließ, wenn nicht gar bewusst boykottierte. Überhaupt sah er aus, als führte er ein zutiefst ungesundes Leben. Er war nicht unbedingt fett, aber gewissermaßen aufgequollen und konturlos wie ein halb aufgeblasener Heliumballon. Sein Körper schien von Instantkaffee und Flugzeugmahlzeiten geformt worden zu sein. Reipers Schädel war beinahe kahl, und an den Seiten säumte das schmutzig graue Haar seinen Kopf in einem zerzausten, ungestümen Kranz. Das Gesicht war gelblich und fahl wie bei einer Person, die sich nur selten im Freien aufhielt. Von der linken Schläfe bis zum Mundwinkel hinab verlief eine wulstige weiße Narbe. Reiper trug einen zerschlissenen schwarzen Piqué-Pullover zu beigefarbenen Chino-Hosen mit Bügelfalte und am Gürtel Taschen für ein iPhone und eine Taschenlampe. Auf die blanke Glasplatte des Konferenztisches hatte er ein schmuddeliges Notizbuch und eine blaue Georgetown-Hoyas-Kappe gelegt. Seine gesamte Sitzhaltung, seine trägen Bewegungen, mit denen er das Display seines Handys bediente, die Art und Weise, wie er George ignoriert hatte, als dieser den Raum betrat – all das verlieh Mr. Reiper eine autoritäre Aura, die ebenso selbstverständlich wie rücksichtslos wirkte. George spürte, wie er eine Gänsehaut bekam, als Reaktion auf sein Unbehagen, auf dieses Gefühl, in der schwächeren Position zu sein, und er spürte intuitiv, dass er niemals erfahren würde, woher Mr. Reiper seine Narbe hatte.

«Guten Morgen, Mr. Lööw. Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, mich zu treffen», sagte Reiper irgendwann endlich und ergriff Georges ausgestreckte Hand.

Er hatte Georges Nachnamen beinahe perfekt ausgesprochen. Ungewöhnlich für einen Amerikaner, dachte George. Seine Stimme klang rau und ein wenig schleppend. Südstaaten?

«Hat man Ihnen Kaffee angeboten? Ich bitte um Entschuldigung, unsere Rezeptionsdame ist noch ganz neu, Sie wissen ja sicher, wie das ist.»

Reiper schüttelte nur kurz den Kopf und sah sich im Raum um.

«Ich mag Ihr Büro, Mr. Lööw, und das Detail mit dem gefrosteten Glas ist, well, spektakulär.»

«Ja, wir geben uns Mühe, unsere Kunden damit zu beeindrucken», antwortete George mit gespielter Bescheidenheit.

Er nahm gegenüber von Reiper Platz und arrangierte seine völlig irrelevanten Papiere penibel in einem kantigen Halbkreis um seinen Notizblock herum. «Also, womit können wir Digital Solutions behilflich sein?», fragte er dann und setzte ein weiteres Lächeln auf, von dem er meinte, dass es jeden Cent der dreihundertfünfzig Euro wert war, die es in der Stunde kostete.

Reiper lehnte sich zurück und erwiderte Georges Lächeln. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Lächeln, es hinkte gewissermaßen aufgrund der Narbe, was dazu führte, dass George am liebsten weggeschaut hätte. Und irgendetwas war auch an Reipers Augen merkwürdig. In dem warmen Licht der sorgfältig arrangierten Strahler im Konferenzraum sahen sie mal grün, mal braun aus. Kühl und abwartend schienen sie ihre Farbe scheinbar zufällig zu wechseln. Zusammen mit der Tatsache, dass er offenbar nie blinzelte, verliehen sie Reiper den träge ironischen und vollkommen teilnahmslosen Ausdruck eines Reptils.

«Die Lage ist wie folgt», begann Reiper und schob George ein paar zusammengeheftete A4-Seiten über den Tisch. «Ich weiß, dass ihr bei Merchant & Taylor unglaublich stolz auf eure Diskretion seid, aber ich weiß auch, dass ihr wie Kanarienvögel zwitschert, sobald der Wind in eine andere Richtung dreht. Dies hier ist natürlich eine reine Formalität.»

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