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Volker Skierka

Fidel Castro

Eine Biographie

Fidel Castro

Impressum

Über das Buch

Über den Autor

Rezensionen

1 Der Heldenmythos

2 Der junge Fidel

Unter Jesuiten

Unter Gangstern

3 Der junge Revolutionär

Sturm und Drang: Moncada

«El Che», der Argentinier

Sturmfahrt mit der «Granma»

Guerillero in der Sierra Maestra

321 Mann gegen 10 000

4 Der junge Sieger

Kommunisten und «Barbudos»

1500 Revolutionsgesetze

5 Alte Feinde, neue Freunde

Die Großmächte ante portas

CIA, Mafia und die Schweinebucht

Fidelismus

«Mongoose» und «Anadyr»

13 Tage am Rande des Dritten Weltkriegs

Drei Risikospieler

6 Der lange Marsch mit Che

Moskau, Peking und Havanna

Der neue Mensch

Ches Scheitern und Tod

7 Schlechte Zeiten, gute Zeiten

Krieg und Frieden mit Moskau

Zehn Millionen Tonnen

Aufbruch in die Dritte Welt

Die Revolution frisst ihre Kinder

8 Allein gegen alle

Exodus nach Florida

Rectificación und Perestroika

Das sowjetische Imperium zerbricht

Die Macht des Bruders

Kriegswirtschaft im Frieden

9 Der ewige Revolutionär

Klassenkampf auf Dollarbasis

Kuba und der Weltpolizist

Castro, Gott und der Papst

Freiheit oder «socialismo tropical»

10 Don Quijote und die Geschichte

Anhang

Dank

Bibliographie

Namenregister

Anmerkungen

Für Annette

Impressum:

Copyright © by Volker Skierka, Hamburg/Germany
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Ausgabe: Capital-Media GmbH, Hamburg/Germany, 2014
Titel: Porträtzeichnung von Ole Jensen (1924-1977), Copyright Nora Jensen
ISBN 978-3-944780-00-9

Erstveröffentlichung März 2001 im Kindler-Verlag GmbH, Berlin/Germany, ab September 2002 im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg/Germany.
Deutsche Nationalbibliothek Signatur 2001 A 12073

Über das Buch:

Der kubanische Staatschef Fidel Castro ist eine der interessantesten und umstrittensten Persönlichkeiten des zwanzigsten Jahrhunderts – Mythos und Ikone gleichermaßen. Der Jesuitenschüler und Großgrundbesitzersohn ist ein charismatischer Patron, der sein karg gehaltenes Land seit über 40 Jahren mit strenger Hand regiert wie eine riesige Latifundie. Seine Stärke bezog und bezieht er daraus, dass er der erste kubanische Caudillo war, der sein Land aus der Abhängigkeit von den USA löste und ihm eine nationale Identität gab. Der Lateinamerika-Kenner Volker Skierka rekonstruiert die Lebensgeschichte Fidel Castros und damit zugleich die Geschichte der kubanischen Revolution. Er greift dabei auf wenig bekannte Quellen und Dokumente zurück. Seine Untersuchung ist eine genau recherchierte und spannend geschriebene Darstellung des widerspruchsvollen Lebens und Wirkens von Fidel Castro. Am Ende steht die Frage nach der Zukunft des Karibikstaates: Wird Castro sein Land für Wirtschaftsreformen und Demokratisierung öffnen, oder behält sein alter Leitspruch Gültigkeit: «Socialismo o muerte» – Sozialismus oder Tod?

Über den Autor:

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Autor Volker Skierka (re.) mit dem kubanischen Staatspräsidenten Fidel Castro im Februar 2002 in der Residenz des damaligen deutschen Botschafters Bernd Wulffen in Havanna. - Foto: Ulli Isselbaecher

Volker Skierka, geboren 1952 in Rheinfelden/Baden. Seit 1973 Tätigkeit als Journalist bei den «Nürnberger Nachrichten» und der Nachrichtenagentur Reuters. 1979–1992 Korrespondent der «Süddeutschen Zeitung» für Berlin (West) sowie Norddeutschland und Nordeuropa, von 1989–1992 in Lateinamerika. 1992–1997 Chefredakteur der Zeitschrift «Merian». Seither freier Publizist für Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunksender. Autor mehrerer Bücher. Neben Stephan Lamby Co-Autor des Fernseh-Dokumentarfilms für den WDR und die ARD „Fidel Castro – Ewiger Revolutionär“ (2004). Volker Skierka erhielt 1981 den Egon-Erwin-Kisch-Preis und ist Mitglied im PEN-Deutschland.

Homepage und E-Mail:

www.skierka.de

volker@skierka.de

Rezensionen:

«Eine aufschlussreiche und fesselnde Analyse der jüngsten Geschichte Lateinamerikas, vor allem Kubas, und eine Erhellung der Folgen, die Hegemonialpolitik haben kann. Volker Skierka schont Castro nicht. Er legt seine Unzulänglichkeiten offen, seine Fehler, seine Irrtümer. […] Skierkas Buch ist auch ein Lehrbuch der Politik, dem man viele interessierte Leser wünscht. » – Hans-Dietrich Genscher, Bundesaussenminister a.D. in einem Beitrag für die Sendung «Politisches Buch» im  «DeutschlandRadio Berlin».

«Das Buch von Skierka könnte zumindest im deutschen Sprachraum zum Standardwerk über Castro und die kubanische Revolution werden. Da es wie eine gute journalistische Reportage geschrieben ist, wird es zu einer angenehmen, manchmal sogar amüsanten Lektüre, ohne an Seriosität und Genauigkeit zu verlieren. » – Walter Haubrich, «Frankfurter Allgemeine Zeitung».

«Es ist nicht einfach, die Biographie eines lebenden Denkmals zu schreiben. Der erste deutsche Castro-Biograph hat die Aufgabe bravourös gemeistert.» – Henning von Löwis, «Deutschlandfunk» Köln.

«Skierka gelingt es aufzuzeigen, warum Castro trotz kommunistischer Diktatur und brutaler Repression Magnetkraft auf viele Menschen in Lateinamerika ausübt. […] Volker Skierka bietet eine detailreiche Analyse der Situation und beschreibt die Zukunft Cubas mit - und ohne - Fidel Castro.»Hendrik Groth, «Süddeutsche Zeitung», München.

«[...] Der Journalist Volker Skierka, der einige Jahre als Korrespondent in Lateinamerika gelebt und etliche Reisen nach Kuba unternommen hat, schildert [...] ausführlich und präzis, zum Teil anhand wenig bekannter Quellen und Dokumente. Aber er zeigt auch die ‚selbst gemachten Fehler‘ der Revolutionäre auf, […]. Hervorzuheben ist, dass Skierka sich der gängigen Klischees enthält, der Vorstellung etwa, Kuba sei ein allzeit devoter Vasall der Sowjetunion gewesen. […] Mit Fug und Recht bezeichnet der Autor die prekäre Beziehung zwischen Kuba und der Sowjetunion als ‚Vernunftehe‘. […] Es fällt auf, dass der Autor, wenn es um die ‚Sowjetisierung‘ vor allem der Kultur oder um den unwürdigen Umgang der Obrigkeit mit Dissidenten geht, einen besonders kritischen Ton anschlägt. Und bemerkenswert sind auch seine Notizen über die Annäherung zwischen den Kommunisten Kubas und den Christen […].» - Frank Niess, «DIE ZEIT», Hamburg.

«Eine kenntnisreiche und spannend zu lesende Abhandlung über die kubanische Revolution und ihre Entwicklung […] Das wirklich Neue ist die umfangreiche Auswertung von Material aus DDR-Archiven, besonders von internen, bisher unveröffentlichten Aktennotizen. Diese Dokumente belegen, wie tief einerseits in den sechziger Jahren das Misstrauen der osteuropäischen Genossen gegenüber dem unberechenbaren Partner in der Karibik war und wie eng, ja geradezu bedingungslos, anderseits in den letzten Monaten vor dem Fall der Berliner Mauer die Freundschaft war. […] Skierka erklärt die erstaunliche Stabilität des Regimes weitgehend mit dem ausgeprägten Pragmatismus von Fidel Castro, was seine Machterhaltung anbelangt […].» Geri Krebs, «Neue Zürcher Zeitung».

«Castro's current biographer is Volker Skierka, a German journalist who has dug deeply into source materials, including some recently accessible documents from East German archives. The result is a comprehensive and highly readable biography written in a remarkably even-handed tone. One quickly learns from Skierka that nothing about Castro is black or white. Nothing, perhaps, except his force of character.»Jay Parini, «The Guardian», London.

«L'Histoire m'acquittera!» avait lancé Fidel Castro en 1953, après l'assaut raté de la caserne de la Moncada. «L'Histoire est sans pitié», répond le journaliste allemand Volker Skierka, auteur d'une remarquable biographie du dirigeant cubain. Sans pitié, mais sans préjugés non plus, et Skierka s'attache à ce qu'elle soit juste, l'Histoire, qu'elle reste ce qu'elle doit être, le reflet d'une vérité que l'on remonte au plus près, comme un bateau le vent. Fidel Castro, «El Comandante» est un travail sérieux et sans passion, ce qui résume ses qualités et marque ses limites, tant on attend que se glissent parfois, dans ce froid récit de tumultes, d'idéaux, de batailles et de crimes, un zeste d'admiration ou quelque colère.» Michel Faure, «L’Express», Paris.

«This is a balanced, carefully researched, and sensitively written look at Fidel Castsro and his legacy in Cuba. It shows the warts on that legacy – the economic problems, the reluctance to adjust to a changed world – but it also notes that Castro has brought about an egalitarian society and that he has been true to his revolutionary principles. I have been involved in the Cuban drama since I first arrived in Havanna in 1958 as Third secretary of the old American Embassy. Yet even I learned much from this book. I highly recommend it.»Wayne Smith, US-Diplomat and former chief of the U.S. Interest section in Havana/Cuba, Washington.

1 Der Heldenmythos

«Eines ist sicher: Wo immer er sein mag, wann immer und mit wem auch immer – Fidel Castro ist da, um zu gewinnen. Ich glaube nicht, dass es jemanden auf dieser Welt gibt, der ein schlechterer Verlierer sein könnte als er. Sein Verhalten angesichts einer Niederlage, selbst in den kleinsten Dingen des täglichen Lebens, scheint einer persönlichen Gesetzmäßigkeit unterworfen zu sein: er wird es einfach nicht zugeben, und er wird keine Ruhe finden, ehe er es nicht geschafft hat, die Bedingungen umzukehren und einen Sieg daraus zu machen.»[1] Der diese Worte geschrieben hat, ist ein langjähriger Freund des «Máximo Líder»: der Schriftsteller Gabriel García Márquez. Seine Sätze vermitteln eine Ahnung davon, was Fidel Castro über ein halbes Jahrhundert lang angetrieben haben mag, seine Feinde, Gegner und kritischen Freunde zu überdauern: Er wollte Recht behalten in seiner Sache, moralischer wie politischer Sieger sein. Ohne jeden Selbstzweifel: «Sein» Kuba den Kubanern! Das endgültige Urteil über seine «Mission» sollte einzig die Geschichte fällen dürfen. Aber selbst ihr gegenüber hat Castro von Anfang an versucht, das letzte Wort zu behalten und das Urteil vorwegzunehmen. 1953, in dem Gerichtsverfahren um seinen gescheiterten Überfall auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba, mit dem er seine Laufbahn als Berufsrevolutionär begonnen hatte, beendete er sein berühmt gewordenes Verteidigungsplädoyer in der Gewissheit: «Die Geschichte wird mich freisprechen!» García Márquez glaubt: «Er ist einer der größten Idealisten unserer Zeit, und dies mag vielleicht seine größte Tugend sein, obwohl dies auch stets seine größte Gefährdung war.»[2] Aber da lauerte immer noch eine größere Gefahr: die Einsamkeit. Denn nur in der Einsamkeit gibt es keinen Widerspruch mehr.

Mit eisernem Willen hat Castro Generationen von amerikanischen Präsidenten, sowjetischen Generalsekretären, Staats- und Regierungschefs, Demokraten und Potentaten aus vielen Ländern überlebt, bis er die am längsten herrschende Nummer eins des 20. Jahrhunderts und eine der interessantesten Personen der Zeitgeschichte war. Bärtig, immer grün uniformiert, Hass- und Heldenfigur in einem, so kennt ihn die Welt. Gegen keinen wurden vermutlich so viele Mordkomplotte geschmiedet. Wer derart wenig geschmeidig, «unpolitisch» kompromisslos agiert, überlebt meist nicht lange in diesen Breitengraden, wird abgesetzt oder umgebracht. Dass er am Leben blieb, ist fast ein Wunder. Es bestand aus dem Zusammenspiel seines gut trainierten Instinktes mit seinem allgegenwärtigen Sicherheitsapparat, der als einer der effizientesten der Welt gilt. Kaum dass Castro 20 Jahre alt war, waren bereits Mörder und Verschwörer hinter ihm her: das politische Gangstertum an der Universität von Havanna Ende der vierziger Jahre, die Handlanger des später von ihm gestürzten Diktators Fulgencio Batista, Verräter in den eigenen Reihen, während der Revolution vertriebene Großgrundbesitzer, Exilkubaner aus Florida, Hand in Hand mit der CIA und der Mafia. Deren Bosse, allen voran der legendäre Meyer Lansky, hatten nach Castros Revolution auf Kuba 1959 ein Vermögen an Hotels, Clubs, Casinos, Bordellen und anderen Anlagen im Wert von über 100 Millionen Dollar verloren. Das war allein gut ein Zehntel des damals verstaatlichten US-Vermögens. Dass ein sturer Bauernsohn aus dem unterentwickelten Osten Kubas daherkam und dem sauberen Amerika dieses lukrative Paradies und Sündenbabel einfach wegnahm, dass er die «Yankees» und ihren Präsidenten Kennedy dann bei ihrem Invasionsversuch mit exilkubanischen Söldnern in der Schweinebucht 1961 vor aller Welt demütigte, dass seinetwegen auf Kuba stationierte sowjetische Atomraketen 1962 beinahe den Dritten Weltkrieg auslösten – diese tiefen narzisstischen Kränkungen im Angesicht der Geschichte wird ihm die Großmacht im Norden auch über seinen Tod hinaus nie verzeihen.

Es gibt kaum Bilder, die Castro lachend zeigen. Dabei sind die Kubaner temperamentvolle, lebensfrohe Menschen. García Márquez beschrieb Castro als «einen der wenigen Kubaner, die weder singen noch tanzen».[3] Dabei soll er ein humorvoller Mensch sein. Aber es ist, als ob er sich das Lachen und Vergnügen in aller Öffentlichkeit selbst verboten hat. Lachen ist privat. Ob es hinter dem politischen Castro auch einen privaten gibt, ist Staatsgeheimnis. Informationen über ihn und seine Familie sind gefiltert, teils widersprüchlich oder ungenau. Insgesamt gibt es nur wenig Persönliches über ihn zu erfahren. Man weiß von der früh geschiedenen Ehe, kennt ein paar leidenschaftliche Liebesaffären wie jene mit Natalia Revuelta, der einstmals betörendsten Frau Havannas, und mit Marita Lorenz, der schönen deutschen Kapitänstochter, die ihn später im Auftrag der CIA umbringen sollte und es doch nicht schaffte. Er hat einen ehelichen Sohn, Fidelito, ein promovierter Nuklearwissenschaftler, mehrere uneheliche Kinder und eine große Enkelschar. Allen, so wird gestreut, ist er ein gütiger und strenger Vater und Großvater. Alina, seine Tochter mit Natalia Revuelta, verfolgt ihn indessen mit Hass. Es ist bekannt, dass Castro gern schwimmt, taucht und das Baseballspiel liebt, wenig schläft und ein manischer Nachtarbeiter ist, dass er sich aus gesundheitlichen Gründen das Zigarrerauchen abgewöhnen musste, materiell anspruchslos ist und asketisch lebt, trotzdem Eiscreme liebt und Spaghetti, die er sich gern selbst zubereitet. Als García Márquez ihn einst in einer melancholischen Stimmung antraf und fragte, was er denn in diesem Augenblick am liebsten tun würde, antwortete Castro dem verblüfften Freund: «Einfach nur an irgendeiner Straßenecke herumhängen.»[4] Ob er je dachte, er hätte vielleicht doch Baseball-Spieler werden sollen? Die Chance hatte er schließlich. In seiner Studentenzeit war er ein so guter Pitcher, dass ihm die «New York Giants» einen Profi-Vertrag anboten. Dann hätte ein Stück Weltgeschichte einen anderen Verlauf genommen.

Doch stattdessen fühlte sich der im Osten Kubas geborene Sohn eines Großgrundbesitzers dazu berufen, mit einer Hand voll Gefährten, darunter der später als Pop-Ikone der 68er-Generation vergötterte Argentinier Che Guevara, den Diktator Fulgencio Batista zu stürzen. Und so regiert Castro seit 1959 wie ein Patriarch mit strenger Hand sein Volk wie eine große Familie. Die ganze Insel ist seine «Latifundie». Aber er will sich nicht als ihr Besitzer, sondern als deren Treuhänder verstanden wissen. Unter ihm wurden soziale Reformen eingeleitet, ein für Lateinamerika und darüber hinaus beispielloses Bildungs- und Gesundheitssystem durchgesetzt. Und unter ihm war es den Kubanern vergönnt, erstmals eine nationale Identität zu entwickeln und diese selbst in der Zeit der politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Sowjetunion beibehalten zu können. Dies, und nicht allein das allgegenwärtige Staatssicherheitskorsett, mag einer der Gründe sein, weshalb das System Castro sich trotz fehlender demokratischer und materieller Freiheiten so lange halten konnte. Jahrzehntelang lebt die Mehrheit der Kubaner mit einem gespaltenen Bewusstsein: einerseits Hassliebe zu den USA und der Sehnsucht nach einem Leben, wie es die westliche globalisierte Glitzerwelt vorgaukelt, und andererseits Verehrung, Respekt einer großen Mehrheit für Fidel, ihren Patron, selbst in armseligsten Zeiten.

Auch wenn er von seinem Temperament her eher nach seinem Vater geraten schien: Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Wesen und den Charakter des Menschen Fidel Castro haben zweifellos der strenge katholische Glaube seiner Mutter und die langjährige jesuitische Internatserziehung gehabt. Nicht von ungefähr hat er immer wieder Parallelen zwischen dem Urchristentum und seinem Verständnis von Sozialismus gezogen, wenngleich er mit der Amtskirche dauerhaft im Konflikt lag. Vor diesem Hintergrund zimmerte er sich im Laufe der Jahre seine eigene «Ideologie». Sie bestand aus mehr als nur einer simplen Übernahme des Kommunismus sowjetischer Prägung. Sein karibisches Sozialismusmodell ist der «Castroismus» oder, wie die Kubaner sagen: «Fidelismus». Eine pragmatische Melange aus ein wenig Marx, Engels und Lenin, etwas mehr Che Guevara, viel José Martí und sehr viel Fidel Castro. José Martí war der kubanische Freiheitskämpfer, der Ende des 19. Jahrhunderts den entscheidenden Unabhängigkeitskampf der Kubaner gegen das Mutterland Spanien anführte. Mit ihm identifizierte Castro sich seit früher Jugend und sah sich stets in der Rolle des Erben und Enkels. «Er kannte die 28 Bände von Martís Werk gründlich und verstand es, dessen Ideen mit den Gedankenströmen einer marxistischen Revolution zu vereinigen», schrieb Gabriel García Márquez.[5] Martí fiel bereits in den ersten Kriegstagen des Jahres 1895 und musste nicht mehr erleben, wie am Ende die USA intervenierten, um sich nach der Niederlage der Spanier 1898 die Insel untertan zu machen. Voller Sorge hatte Martí an seinem Todestag an einen Freund geschrieben: «Die Geringschätzung durch einen gewaltigen Nachbarn, der uns nicht wirklich kennt, ist die schlimmste Gefahr für unser Amerika.»[6] Genau das ist die tiefere Ursache für das kubanisch-amerikanische, ja das lateinamerikanische Dilemma und wird es über Castro hinaus bleiben.

2 Der junge Fidel

Unter Jesuiten

Das erste Mal, dass im Weißen Haus in Washington der Name des kubanischen Staatsbürgers Fidel Castro zu den Akten genommen wird, ist im Jahre 1940. Mit Datum vom 6. November gratuliert der junge Internatsschüler des Jesuitenkollegs Dolores in Santiago de Cuba dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, Franklin D. Roosevelt, zu dessen Wiederwahl. Bevor er den dreiseitigen Brief mit einem «Good by[e] Your friend» und einer Unterschrift aus schwungvollen Schnörkeln beendet, äußert er noch eine persönliche Bitte: «Wenn Sie mögen, schicken Sie mir eine grüne amerikanische Zehn-Dollar-Note im Brief, denn ich habe noch nie eine grüne amerikanische Zehn-Dollar-Note gesehen und würde gerne eine davon haben wollen.»[7] In dem Brief behauptet Castro, zwölf Jahre alt zu sein. Sollte dies der Wahrheit entsprechen, würde es bedeuten, dass Castro zwei Jahre jünger ist als offiziell angegeben.[8] Eine Antwort des Präsidenten erhält er nicht, immerhin aber ein Dankschreiben des State Department. Ein Geldschein liegt allerdings nicht dabei. Niemand kann zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass dieser Junge, wenn er einmal groß sein wird, den Amerikanern alles wegnehmen wird, was sie auf Kuba haben.

Zur gleichen Zeit, als Fidel Castro seine Zeilen an den US-Präsidenten abfasst, tritt auch jener Mann erstmals als kubanischer Präsident in Erscheinung, der zwölf Jahre später das Feindbild des jungen Briefeschreibers als Büttel der Amerikaner verkörpern wird: Fulgencio Batista y Zaldívar, ein mulattischer Arbeitersohn aus Banes, unweit von Castros Geburtsstätte in der kubanischen Ostprovinz Oriente. Batista, Jahrgang 1901, gilt als verschlagen, rücksichtslos und bestechlich. Der ehemalige Armeestenograph hat sich 1933 nach dem Sturz des Diktators General Gerardo Machado auf die von Korruption und Gewalt beherrschte politische Bühne seines Landes geputscht. Er hält sich zunächst im Hintergrund, führt aber als Mann der Amerikaner die politische Regie und bringt es zum Generalstabschef. In dieser Zeit läuft ihm in Havanna der Mafioso Meyer Lansky über den Weg. Ihre Freundschaft sollte später das politische Gesicht der Insel prägen.

Bei der Besetzung des höchsten Staatsamts verschleißt Batista in sieben Jahren sieben Marionettenpräsidenten, ehe keine rechte Alternative mehr zur Wahl steht außer ihm selbst. So wird Batista von 1940 an als gewählter Präsident für die nächsten vier Jahre Roosevelts Gewährsmann auf der Zuckerinsel, die wirtschaftlich völlig am Tropf der USA hängt. An seiner Regierung ist nicht nur die moskauhörige PSP (Partido Socialista Popular) mit zwei Ministern beteiligt, was vor dem Hintergrund des alliierten Bündnisses im Zweiten Weltkrieg von den USA hingenommen wird. In dieser Zeit erhält Kuba die fortschrittlichste Verfassung Lateinamerikas, selbst wenn sie in wesentlichen Teilen wie der Umverteilung des von US-Konzernen beherrschten Grund und Bodens nicht umgesetzt wird. Nach einer achtjährigen Auszeit während der Präsidentschaft der nicht minder korrupten Präsidenten Ramón Grau San Martín (1944–1948) und Carlos Prío Socarrás (1948–1952) putscht Batista sich am 10. März 1952 unmittelbar vor den regulären Präsidentschaftswahlen wieder an die Macht und begründet eine Diktatur, welche der Regierung in Washington und seinen Freunden um Meyer Lansky gleichermaßen in die Hände arbeitet. Am 1. Januar 1959 wird er schließlich von einem jungen Revolutionär namens Fidel Castro gestürzt und davongejagt werden.

Dabei lässt Castros Herkunft auf alles andere als auf eine Karriere als Revolutionär schließen. «Ich wurde in eine im Wohlstand lebende Landbesitzerfamilie hineingeboren. Wir galten als reich und wurden entsprechend behandelt. Ich wurde mit all den Privilegien, die dem Sohn einer solchen Familie angemessen waren, großgezogen. Jedermann schenkte mir Beachtung, schmeichelte mir und behandelte mich anders als jene Jungens, mit denen wir spielten, als wir Kinder waren. Diese anderen Kinder gingen barfuß, während wir Schuhe anhatten, sie waren oft hungrig, während es bei uns am Tisch immer Gezänk gab, damit wir etwas aßen.»[9]

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Geburtsort Fidel Castros: Die «Finca Mañacas» bei Birán am Fuße der Sierra del Cristal im Osten Kubas zwischen Santiago de Cuba und Holguin. Foto: Volker Skierka

Der spätere Revolutionär und kubanische Staats- und Regierungschef wird, folgt man den offiziellen Angaben des kubanischen Staatsrates, am 13. August des Jahres 1926 geboren. Er kommt morgens gegen zwei Uhr, knapp zehn Pfund schwer, auf die Welt.[10] Nach seinen Geschwistern Ángela und Ramón ist er bereits das dritte uneheliche Kind des fünfzigjährigen Gutsbesitzers Ángel Castro y Argiz und dessen nur etwa halb so alter Haushälterin und Köchin Lina Ruz González. Wie seine Geschwister bekommt auch er den Namen eines Heiligen: Fidel. Sein zweiter Vorname wird Alejandro. Der Name Fidel ist abgeleitet von dem spanischen Wort «fidelidad», das für Treue und Glauben, Loyalität und Zuverlässigkeit steht. «In diesem Sinn bin ich völlig mit meinem Namen einverstanden, sowohl mit der Treue als auch mit dem Glauben, denn einige haben einen religiösen Glauben, andere glauben eben anders. Ich bin ein Mann des Glaubens, des Vertrauens, des Optimismus.»[11] Dabei sei «der Ursprung dieses Namens gar nicht so idyllisch» gewesen. «Sie gaben mir den Namen, weil irgendjemand mein Pate sein sollte.» Es handelt sich um Fidel Pino Santos, einen Freund des Vaters, «eine Art Bankier der Familie. Dieser Mann war sehr reich, viel reicher als mein Vater. Man sagte, er sei Millionär, […] Millionär zu sein, das war etwas ganz Kolossales; […] zu einer Zeit, als andere pro Tag einen Dollar oder Peso verdienten.»

Die Familienverhältnisse sind ziemlich zerrüttet. Angeblich verlässt die Ehefrau María Luisa Argote, mit der Fidels Vater zwei weitere Kinder hat – Pedro Emilio und Lidia –, nach Fidels Geburt die Familie. Die Ehe soll später geschieden worden sein. Ángel Castro heiratet schließlich seine Bedienstete, die ihm noch vier weitere Kinder schenkt: Juana, Raúl, Emma und Augustina. In welchem Jahr die Hochzeit stattgefunden hat, ist allerdings unklar. Die Trauung vollzieht Enrique Pérez Serantes aus Santiago de Cuba, ein befreundeter Priester, der wie Ángel Castro und die Eltern von Lina Ruz aus dem spanischen Galicien kommt. Er tauft auch Fidel. Allerdings erst, als dieser mit «fünf oder sechs Jahren» bei Pflegeeltern in Santiago de Cuba einquartiert ist, wo er privaten Schulunterricht erhält. Offenbar sind die zeitweilig unklaren familiären Beziehungen in Verbindung mit Fidel Castros unehelicher Geburt der wahre Grund dafür, dass der Taufpate nicht zur Verfügung steht und der kleine Junge den Segen der Kirche zunächst nicht erhält. «Die Folge des Wartens […] war, dass ich ungetauft blieb und daraufhin ‹Jude› genannt wurde. Sie sagten: ‹Da ist der Jude!› Ich war erst vier oder fünf Jahre alt […]. Ich wusste nicht, was das bedeutete, aber unbezweifelbar wurde das mit einer abschätzigen Betonung gesagt, als hätte die Tatsache, dass ich nicht getauft war, etwas Beschämendes an sich.»[12] Nachdem «mein reicher Pate niemals auftauchte, […] musste ich selbst eine Lösung für dieses Problem finden, denn ich war schon fünf Jahre alt und immer noch ‹Jude›, wie sie sagten. […] Eines Nachmittags brachten sie mich zur Kathedrale von Santiago de Cuba, […] wo sie mich mit Weihwasser besprengten und mich tauften. Dadurch wurde ich also zum normalen Bürger, den anderen gleich […].»[13] Das religiöse Vorurteil, durch das er eine offenbar sein Leben lang nachempfundene Diskriminierung erfährt, ohne zunächst die Umstände recht einordnen zu können, führt dazu, dass er selbst es ist, der seinen Pflegevater dazu bringt, die Patenschaft für ihn zu übernehmen: Er ist der Mann der Schwester seiner Lehrerin und immerhin Konsul von Haiti in Santiago. Es ist nicht klar, ob Fidels leibliche Eltern bei der Taufe überhaupt zugegen waren. Der Taufpater, der Geistliche Pérez Serantes, wird für Fidel Castro noch eine wichtige Rolle spielen: Viele Jahre später – inzwischen zum Erzbischof aufgestiegen – sollte er Fidel Castro nicht nur das Leben retten, als ihn Batistas Soldaten nach seinem gescheiterten Sturm auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba gefangen nehmen und kurzen Prozess mit ihm machen wollen.[14] Der Mann in der Soutane wird für Castros revolutionäre Bewegung auch zu einem wichtigen Verbindungsmann werden. Aber er sollte sich eines Tages dann enttäuscht von dessen Revolution abwenden und dafür sogar kurze Zeit unter Arrest gestellt werden.

Castros Zuhause, die «Finca Mañacas» (Palmenhof), liegt eingebettet in einer idyllischen, sanften Hügellandschaft an den Ausläufern des Altiplano de Nipe der Sierra del Cristal zwischen Santiago de Cuba, der zweitgrößten und -wichtigsten Stadt des Landes, und dem Munizip Mayarí, gut 20 Kilometer südlich der Bucht von Nipe. Nahebei verläuft der alte «Königsweg» ins 1000 Kilometer entfernte Havanna. Die Gegend zählt zu den schönsten Landschaften Kubas; sie ist zu jener Zeit berüchtigt als der «Wilde Osten», der beherrscht wird von Banditen, dem Faustrecht und der nordamerikanischen United Fruit Company mit ihren bewaffneten «Sheriffs». Es ist jener Landstrich, welcher von den alten Männern des «Buena Vista Social Club» in ihrem «Chan Chan» besungen und Ende der neunziger Jahre durch millionenfache Verbreitung ihrer Musik auf CD bekannt wird. «In kaum einer anderen Region Kubas», schreibt Hugh Thomas, «konzentrierten sich auf ähnliche Weise Macht und Einfluss der Nordamerikaner.»[15]

Bei Birán baute sich Castros Vater eine eigene Zuckerplantage auf. Zu ihr gehören 800 Hektar eigenes und 10 000 Hektar gepachtetes Land. Zuckerrohranbau, Viehwirtschaft und Holz, aber auch eine kleine Nickelmine sind die Einnahmequellen. Am Ufer eines kleinen Sees gruppiert sich eine bis heute erhaltene und wie ein Museum gepflegte Ansammlung ein- und zweistöckiger, in spanisch-galicischem Stil auf Pfählen errichteter Häuser, umgeben von einem Palmenwäldchen. Der Hof hat ein eigenes Post und Telegrafenamt, eine Molkerei, einen Laden, eine Bäckerei und Metzgerei, eine Werkstatt, eine Schule und eine Hahnenkampfarena. Etwa «zweihundert, vielleicht dreihundert» Familien, «ungefähr 1000 Menschen», überwiegend farbige haitianische Landarbeiter und ihre Familien, die in den Zuckerrohrfeldern und Wäldern arbeiten, leben hier unter dem Patronat von Fidels Vater, die meisten in einfachen Palmhütten auf nacktem Lehmfußboden.[16] «Es gab dort keine Kirche, nicht einmal eine kleine Kapelle», obwohl die «Menschen im allgemeinen […] schon Christen [waren]. […] Die Bauern hatten verschiedene Formen von Glauben: Sie glaubten an Gott und die Heiligen. […] Auch an die Jungfrau Maria […]. Und sie glaubten an die ‹Caridad del Cobre›, die Madonna der Nächstenliebe, die Schutzpatronin Kubas. Daneben glaubten noch viele Leute an Geister und Gespenster.»[17]

Die Gegend um Santiago de Cuba ist stets die Hochburg der afrokubanischen Religionen und Kulte gewesen, welche die afrikanischen Sklaven in Form eigener Götter und Voodoo-Zeremonien hierher mitgebracht hatten. Auf die andauernden Versuche der katholischen Amtskirche, die «Yoruba»-Religionen, die dunkle Mystik der hier lebenden, überwiegend schwarzen Bevölkerung zu verdrängen, reagierten die Menschen mit Phantasie. Sie stülpten der katholischen Glaubenslehre und Liturgie einfach ihre afrikanischen Riten über, vermengten sie miteinander, vereinnahmten die christlichen Heiligen und ordneten sie ihren Göttern, den «Orishas», zu: Changó ist auch die heilige Barbara und Lazarus ist «Babalu Ayé». Der Priester ist bei ihnen ein Babaloa und ein «Santéro», eine Art Medizinmann. «Ich erinnere mich», so Castro, «dass ich als Kind Geschichten von Geistern, Gespenstern und Erscheinungen gehört habe. Jedermann erzählte diese Geschichten. Man war recht abergläubisch. Mir fallen einige dieser Geschichten wieder ein: Wenn ein Hahn dreimal krähte und niemand ihm antwortete, war das ein Zeichen für Unglück. Wenn eine Eule nachts vorbeistrich und man ihren Flügelschlag und ihren Schrei hörte – sie nannten das den ‹Gesang der Eule› –, dann konnte auch das Unglück bringen. […] So gesehen bin ich in einer reichlich primitiven Welt geboren, in der es alle Arten von Glauben und Aberglauben gab […].»[18]

Umgeben von Natur und Tieren, jagt der junge Fidel Castro zu Pferd durch die Wälder, schwimmt im Rio Birán oder geht in der Bucht von Nipe tauchen. Seine Spielkameraden sind die Kinder der Arbeiter. Früh kommt er so mit der Landwirtschaft und mit den sozialen Nöten, dem Hunger der einfachen Landbevölkerung in der entbehrungsreichen Zeit zwischen den Ernten in Berührung. Beide Eltern, ursprünglich Analphabeten, lernen erst spät lesen und schreiben. Der Lebensstil der Familie ist ihrer Herkunft und der rauen Umgebung angepasst: «Wir lebten dort unter dem Volk, mit den Arbeitern, […] sogar mit den Tieren, […] Kühe, Schweine, Hühner usw. […]. Ich war kein Enkel eines Großgrundbesitzers, auch kein Urenkel, denn normalerweise hielt der Urenkel eines Großgrundbesitzers die oligarchische Kultur der aristokratischen oder reichen Klasse aufrecht […]. Aber weil meine Mutter eine sehr arme Bäuerin gewesen war, ebenso wie mein Vater, beide dann zu einigem Wohlstand kamen, einen gewissen Reichtum ansammelten, so atmete man in meiner Familie dennoch nicht die Kultur der Reichen, der Großgrundbesitzer: Wir waren Menschen, die Tag für Tag hart arbeiteten, die weder ein gesellschaftliches Leben führten noch bloß mit den Leuten aus derselben gesellschaftlichen Schicht Bekanntschaft schlossen.»[19]

Sein Vater, ein verschlossener, hart arbeitender und zupackender Mann, grob und aufbrausend, streitsüchtig und keinen Widerspruch duldend, ist ein Patriarch wie aus dem Bilderbuch. Etwa einen Meter neunzig groß und stattlich, stets mit einem breitkrempigen Hut auf der Glatze, die von Frau und Töchtern regelmäßig rasiert und poliert werden muss, führt er ein strenges Regiment über Haus und Hof.[20] Ángel Castro stammt aus dem kleinen Dorf San Pedro Láncara im rauen nordwestspanischen Galicien bei Lugo, unweit der Pilgerstraße nach Santiago de Compostela. Der am 8. Dezember 1875 geborene Bergbauernsohn hatte den Osten Kubas während des Befreiungskrieges gegen die Kolonialmacht Spanien zwischen 1895 und 1898 als Kavallerie-Quartiermeister der spanischen Armee kennen gelernt. Als er danach in seiner Heimat nur die berufliche Perspektive eines Tagelöhners sieht, kehrt er 1905 im Alter von 30 Jahren als Einwanderer nach Kuba in die Provinz Oriente zurück. Zunächst findet er in den Nickelminen bei Santiago Beschäftigung und arbeitet dann für die United Fruit Company. Später macht er sich selbständig, unter anderem als Transportunternehmer für die United Fruit, und kauft sich schließlich eigenes Land. 1920 ist er ein wohlhabender Mann. Hugh Thomas vermutet, Ángel Castro habe sicherlich hart gearbeitet und «seine Farm buchstäblich mit eigenen Händen aus dem Wald herausgehackt»: «Aber diese Arbeit», so spekuliert Thomas, «verrichtete er wohl häufig in mondlosen Nächten, in denen ihn niemand überraschen konnte, oder aufgrund von Rechtstiteln, deren Herkunft im Dunkeln lag.»[21] Nach den Worten Fidels war er «Unternehmer und hatte ein natürliches Organisationstalent».[22] 1950 wird Ángel Castros Vermögen auf eine halbe Million US-Dollar geschätzt.

Die Mutter ist der ausgleichende Charakter in der Familie. Sie gibt den Kindern die beim Vater vermisste Nähe, sorgt dafür, dass Fidel schon früh, offenbar mit fünf Jahren, die Dorfschule in Maracané bei Mayarí besucht. Ungewöhnlich gute Leistungen veranlassen die Eltern dazu, ihn kurz darauf in die Provinzhauptstadt Santiago de Cuba zu schicken, wo er bei einer dunkelhäutigen Lehrerin Privatunterricht erhält. «Dieser Unterricht bestand darin, dass sie mich Additions-, Subtraktions-, Multiplikations- und Divisionstabellen auswendig lernen ließ […]. Ich glaube, ich habe sie so gut gelernt, dass ich sie nie in meinem Leben wieder vergessen werde. Manchmal rechne ich mit derselben Geschwindigkeit wie eine Rechenmaschine.» Rückblickend meint Castro: «Von all den Menschen, die ich kannte, war sie die Erste, die mich motivieren konnte, die mir ein Ziel vorgab und meinen Ehrgeiz weckte.»[23]

Mit sechseinhalb oder sieben Jahren wird er in das Kolleg «La Salle» des französischen Ordens der Marianischen Brüder ebenfalls in Santiago de Cuba eingeschult. «Ich war weit weg von meiner Familie, von unserem Haus, von der Gegend, die ich so liebte, wo ich […] mich frei fühlte. [Sie] schickten mich unversehens in die Stadt, wo ich all diese Schwierigkeiten hatte.»[24] Vor allem seine Mutter scheint er zu vermissen. Ihr fühlt sich Fidel von klein auf offenkundig enger verbunden als dem Vater. Vielleicht waren sich Vater und Sohn auch einfach zu ähnlich. Tatsächlich scheint Fidel viel von des Vaters Wesen geerbt zu haben. Die früh entwickelte Willensstärke, die Durchsetzungsfähigkeit und Unbeugsamkeit spielt er bereits als Kind aus.

Als der Vater sich aufgrund von Klagen der Schulleitung entschließt, ihn und seine Brüder Raúl und Ramón von der «La Salle»-Schule auf die Finca zurückzuholen, weil sie sich wie Rabauken aufführen und der junge Fidel sogar einmal die Ohrfeige eines Lehrers erwidert, ist es nur der Intervention der Mutter zu verdanken, dass es nicht so weit kommt. «Das war ein entscheidender Moment in meinem Leben, […] obwohl ein Junge in dem Alter vermutlich gar nicht auf Lernen aus ist, hatte ich das Gefühl, dass es eine Strafe war, die ich nicht verdiente […]. Ich erinnere, wie ich zu meiner Mutter ging […] und ihr sagte, […] dass ich, wenn sie mich nicht zurückgehen lassen würden, das Haus anzünden würde. […] ich habe wirklich damit gedroht, alles in Flammen aufgehen zu lassen […].»[25]

Mit dreizehn Jahren probt er seinen ersten Aufstand. Er wiegelt die Zuckerrohrarbeiter der Finca auf und versucht einen Streik gegen seinen Vater zu organisieren. Er wirft ihm vor, seine Leute auszubeuten. Dieser ungeheuerliche, brüske Regelverstoß vor aller Augen gegen die in den hispanoamerikanischen Ländern tabuisierte Autorität des Patrons durch den Sohn führt zu einem tiefen Zerwürfnis. Rückblickend hat Castro seinen Vater denn auch stets nur knapp erwähnt, während er sich über seine Mutter immer mit großer Wärme und Zuneigung geäußert hat.

Eine wichtige Rolle in seinem Leben spielt seit frühester Kindheit die Erziehung im katholischen Glauben. «Eines der ersten Dinge, an die zu glauben sie uns beibrachten, waren die Heiligen Drei Könige. Ich war vielleicht drei oder vier Jahre alt, als zum ersten Mal einer der Drei Könige auftauchte. Ich erinnere mich an die ersten Geschenke, die ich von den Königen erhalten habe, einige Äpfel, ein kleines Auto, Bonbons und andere Kleinigkeiten, […] und wir lernten, dass die Drei Könige, die aus Anlass der Geburt Christi gekommen waren, […] jedes Jahr wiederkamen, um Spielzeug für die Kinder zu bringen. […] Den [Weihnachtsmann] gab es in Kuba nicht. […] Die Kinder mussten einen Brief an die Könige Kaspar, Melchior und Balthasar schreiben.»[26]

Seltsamerweise verbringt der kleine Fidel dreimal hintereinander das Drei-Königs-Fest nicht bei der Familie auf der Finca in Birán, sondern bei den Pflegeeltern in Santiago de Cuba, zu denen er ein zunehmend schwieriges Verhältnis entwickelt. Dort schreibt er seine ersten Briefe an die Drei Könige. «Ich habe mir darin alles gewünscht: Autos, Lokomotiven, eine Kinomaschine und so weiter. Am 5.Januar wurden lange Briefe an die Drei Könige geschrieben und unter das Bett gelegt, […] und am Tag danach kam die Enttäuschung. […] Ich erinnere mich, dass das erste Geschenk ein Horn aus Pappe war, nur die Spitze war eine Art Metall, Aluminium ähnlich. Ein Horn von der Größe eines Bleistiftes, das war mein erstes Geschenk. Drei Jahre hintereinander schenkten sie mir ein Horn. Ich hätte Musiker werden müssen, denn wirklich … Im zweiten Jahr schenkten sie mir ein anderes Horn, es war zur Hälfte aus Aluminium, zur anderen Hälfte aus Pappe. Das dritte Horn hatte sogar drei Tasten und war ganz aus Aluminium.»[27] Der Grund, weshalb er die Weihnachtszeit und das wichtigste Fest im Jahr so oft in Folge nicht bei seiner Familie verbringt, liegt im Dunkeln. Ob er wegen des häuslichen Durcheinanders ganz bei den offenbar kinderlosen Pflegeltern bleiben sollte? Der junge Fidel muss darunter nachhaltig gelitten haben.

Wie sehr er sein Zuhause offenkundig vermisst hat, wird aus seiner Erinnerung an spätere Jahre deutlich: «Das Land bedeutete für mich Freiheit. Heiligabend war etwas Wunderbares, denn dies bedeutete fünfzehn Tage Ferien und noch mehr als das: fünfzehn Tage in einer Feststimmung mit Leckerbissen wie Salzgebäck, Süßigkeiten, […] Marzipan, die es in unserem Haus nach Belieben gab. […] Wenn diese Tage nahten, freuten wir uns schon darauf, den Zug und dann die Pferde zu nehmen. Die Wege waren unvorstellbar morastig. In den ersten Jahren besaß die Finca noch keine Motorfahrzeuge, es gab nicht einmal elektrisches Licht! […] Die Weihnachtsferien waren glückliche Zeiten. Die Karwoche war eine andere phantastische Gelegenheit, wieder eine ganze Woche zu Hause zu verbringen. […] Die Karwoche auf dem Land waren Tage der Andacht, und man war tieftraurig. Sie sagten, Gott sei am Karfreitag gestorben; man durfte nicht sprechen, nicht spielen, nicht die geringste Freude ausdrücken […].»[28] Im Gegensatz zum Vater war die Mutter sehr religiös – «eine eifrige Christin, sie betete jeden Tag, zündete immer Kerzen an für die Madonna und die Heiligen, richtete Bitten an sie, flehte sie an in allen Lebenslagen und legte Gelübde ab für jede kranke Person in unserer Familie oder für jede andere schwierige Situation». Später, während der Revolution, haben seine Mutter und die Großmutter «in jeder Phase des Kampfes mit seinen großen Risiken […] alle möglichen Gelübde abgelegt für unser Leben und für unsere Sicherheit. Die Tatsache, dass wir diesen Kampf lebend beendet haben, dürfte ihren Glauben zweifellos vervielfacht haben. […] ich habe die Kraft gesehen, die ihnen der Glaube gab, den Mut, den er ihnen einflößte, und den Trost, den sie aus ihren religiösen Gefühlen und Überzeugungen erhielten.»[29]

Das prägt. Vor allem in einer lateinamerikanischen Gesellschaft, in der die Mutter oft wie eine Heilige verehrt wird. Als sich An-fang der sechziger Jahre, nach seinem Bekenntnis zum Kommunismus, die römische Amtskirche und der kubanische Klerus, die sich immer noch der alten Oligarchie verbunden fühlen, gegen ihn stellen, lässt er zwar im Gegenzug für lange Zeit als einzigen Glauben in seinem Land nur den an seine Revolution zu. Wer sich zur Kirche bekennt, wird diskriminiert. Zugleich wird er später in seiner eigenen «fidelistischen» Dialektik nicht müde, auf eine enge Verwandtschaft zwischen Urchristentum und Sozialismus hinzuweisen.[30] Die Helden und Märtyrer seiner Revolution stellt er auf eine Stufe mit den Märtyrern aus der christlichen Glaubensgeschichte, was die Geistlichkeit zwar empört, ihn aber nicht bekümmert. Schließlich ist die Kirche nicht Gott.

Er hat es anfangs nicht leicht. Wegen seiner bäuerlichen Herkunft, seiner unehelichen Geburt und späten Taufe erfährt er soziale Geringschätzung. Aber er behauptet sich. Sein Bruder Raúl, der selbst die Schule als «Gefängnis» mit endlosem «Beten […] und der Furcht vor Gott» erlebt, erzählte: «Er beherrschte die Situation. […] jeden Tag kämpfte er. Er hatte einen sehr explosiven Charakter. Er forderte die Größten und Stärksten heraus, und wenn er geschlagen wurde, begann er am nächsten Tag von neuem. Er gab niemals auf.»[31] Aber er fällt auch durch seine Intelligenz und sein brillantes Gedächtnis auf. Schließlich raten die Brüder von «La Salle» den Eltern, Fidel auf das strenge und angesehene Jesuitenkolleg Dolores zu schicken.

«Ich hatte nie gute Noten in Mathematik, Grammatik und anderen Fächern, ausgenommen in Geschichte, ein Fach, das ich besonders mochte, und in Geographie.»[32] Er ist Tagesschüler und lebt wieder bei fremden Leuten. Weil er aber lieber im Internat wohnen will, provoziert er den Bruch mit der Gastfamilie: «Ich hatte genug von ihnen, und eines Tages […] sagte ich ihnen, sie sollten sich alle zum Teufel scheren, und schon konnte ich noch am selben Nachmittag in das Internat eintreten. Das war das […] ich weiß nicht wievielte Mal, dass ich es selbst in die Hand nehmen musste, um aus einer unangenehmen Situation herauszukommen. […] Von nun an wurde ich mein eigener Herr und regelte alle meine Probleme selbst, ohne Beistand durch jemanden anderen.»[33]

Seine körperlichen Energien konzentriert er vor allem auf Bergwanderungen. Auf langen Ausflügen erkundet er die Sierra Maestra, jenes vor den Toren der Stadt bis knapp 2000 Meter aufragende Gebirge mit seinen schwer zugänglichen Feuchtwäldern, von dem aus knapp 20 Jahre später seine Revolution ihren Siegeszug in die 1000 Kilometer entfernte Hauptstadt Havanna antreten wird. «Von uns allen […] war ich der […] Bergsteiger par excellence. Ich ahnte damals nicht, dass die Berge einmal eine so wichtige Rolle in meinem Leben spielen würden.»[34]

Im letzten Jahr auf dem Colegio Dolores «war ich einer der besten in meiner Klasse».[35] Seine Leistungen ermutigen die Eltern, Fidel auf die erste Schule des Landes zu schicken, das Jesuitenkolleg Belén (Bethlehem) in Havanna, wo er die Hochschulreife erwerben soll. Es ist die Eliteschule der Aristokratie und Bourgeoisie und gilt als Kaderschmiede für den konservativen politischen Nachwuchs auf der Insel. Im Oktober 1941 besteht er die Aufnahmeprüfung und verlässt den «wilden Osten» Kubas. Die Prüfung ist zugleich eine Art Testdurchlauf für politische Talente. Die Bewerber müssen eine zehnminütige freie Rede halten. Dabei hinterlässt Castro offenbar einen nachhaltigen Eindruck. Vom ersten Moment an erkennen die Jesuiten – wie sich Schulkameraden später erinnern werden – in ihm eine außergewöhnliche politische Führerbegabung. In den Augen seines Prüfers, Pater José Rubinos, dem Leiter der Betschule und «Ideologen» des Kollegs, entwickelt sich Fidel Castro bald zum intelligentesten Schüler und besten Sportler des Internats.[36]

Die Padres sind überzeugte Anhänger des faschistischen spanischen Diktators Francisco Franco – antikommunistisch, aber aus historischen Gründen ebenso antiamerikanisch eingestellt. Sie träumen davon, dem amerikanischen Wirtschaftsimperialismus und zunehmenden Einfluss der angelsächsischen Kultur in Lateinamerika eine Erneuerung der «Hispanidad» entgegenzusetzen und die traditionellen Bindungen des Kontinents mit Francos «neuem Spanien» wieder zu beleben. Zu den herausragenden historischen Figuren, die Castro und seinen Mitschülern im Unterricht nahe gebracht werden, gehören Julius Caesar, Simon Bolívar, Benito Mussolini, Francisco Franco und Antonio Primo de Rivera, der Gründer und geistige Vater der spanischen Falange, dessen Schriften Castro studieren muss. Aber die historische Figur, die Castro in Belén für sich entdecken und mit der er sich zeit seines Lebens identifizieren sollte, ist die des Freiheitskämpfers José Martí, in gewissem Sinne der George Washington Kubas. Beim Studium von dessen Schriften findet Castro die Wurzeln für seine spätere Bestimmung. Der mehrsprachige Literat und überzeugte Republikaner Martí trat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dafür ein, dass der Befreiungskampf gegen Spanien neben einem politischen Führungswechsel auch eine tief greifende soziale Revolution in der kolonialen Sklavenhaltergesellschaft, eine Agrarreform, Rassengleichheit und soziale Gerechtigkeit mit sich bringen müsse.

Martí war am 28. Januar 1853 in Havanna geboren worden und am 19. Mai 1895 zu Beginn des letzten, drei Jahre dauernden Unabhängigkeitskrieges im Alter von erst 42 Jahren bei Dos Ríos in Oriente gefallen. Die Stelle liegt nur etwa 40 Kilometer von der «Finca Mañacas» entfernt. Schon früh begehrt Martí gegen die spanische Herrschaft auf, gründet im Alter von fünfzehn Jahren die Zeitung «La Patria Libre» («Das freie Vaterland»), wird nach der Teilnahme an einem Aufstand für sechs Monate inhaftiert und wegen seiner aufrührerischen Schriften 1871 nach Spanien deportiert. Er lebt in Frankreich, Mexiko und Guatemala im Exil, kehrt aber schließlich zurück nach Kuba. 1892 zum Präsidenten des «Partido Revolucionario Cubano» («Kubanische Revolutionäre Partei») gewählt und erneut ins Exil verbannt, schlägt er sein Hauptquartier in New York auf, um von hier aus eine neuerliche Erhebung gegen die spanische Herrschaft auf Kuba zu planen.

Castro entdeckt manche Parallelen in seiner und Martís Lebensgeschichte, was mit der Zeit in ihm offenbar den Glauben reifen lässt, er sei zum Nachfolger Martís berufen: Beider Väter waren als Sergeanten der spanischen Armee während des Unabhängigkeitskrieges nach Kuba gekommen, der sich mit längeren Unterbrechungen über 30 Jahre von 1868 bis 1898 hinzog. José Martí wie auch Fidel Castro hatten – auch aus politischen Gründen – ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihren Vätern. Mit den Jahren sollten noch andere zufällige Gemeinsamkeiten hinzukommen: Wie Martí, so würde auch Castro seine Ehe der Politik opfern; wie Martí würde er einen Sohn haben; wie Martí sollte auch Castro Jahre später als Anführer eines Aufstandes auf der Isla de Pinos in Haft sitzen, vorzeitig entlassen werden und ins Exil gehen; wie Martí würde auch Castro zunächst ausgerechnet im Lande des Erzfeindes USA Gelder zur Unterstützung seines Freiheitskampfes sammeln; und wie Martí würde er eines Tages mit nur einer kleinen Schar Männer an der einsamen Südküste der Provinz Oriente landen und den bewaffneten Kampf aufnehmen. Wie Martí sollte er sich allerdings darin irren, dass es sogleich nach der Landung eine landesweite Erhebung zur Unterstützung der Revolutionäre geben würde. Und wie Martí, so sollte auch Castro trotzdem mit einer geradezu winzigen Streitmacht gegen eine übermächtige Armee den Sturz eines Regimes einleiten, das sich nur noch durch Terror gegen die Bevölkerung zu behaupten vermochte. Aber anders als Martí wird Castro überleben und sich auch nicht wie dessen Nachfolger um den Sieg betrügen lassen.

Dieser Betrug bestand darin, dass drei Jahre nach Martís Tod, als 1898 die Niederlage Spaniens näher rückte, die USA in das Kriegsgeschehen eingriffen, der Unabhängigkeitsbewegung ungebeten auf den letzten Metern ins Ziel halfen, um sie dann am 10. Dezember 1898 von der Unterzeichnung des Pariser Friedensabkommens auszusperren. Das ersehnte Recht auf die Selbstbestimmung Kubas wurde den Befreiungskämpfern von Washington nur eingeschränkt zugestanden.[37][38]