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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Redaktion Stefanie Röders

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ISBN Printausgabe 978-3-499-26824-3 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-52641-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-52641-9

Vorwort

Wenn ich in der Weihnachtszeit meine Advents- und Weihnachtsdekoration aus den Kartons befreie, entdecke ich so manche Kostbarkeit. Da taucht sie wieder auf, die für einen Weihnachtsbaum so ungewöhnliche Frucht: eine gelbe, äußerst zerbrechliche Birne, die zwei Weltkriege überstanden hat und noch von meinen Urgroßeltern stammt. Ebenso der gelbe, auf einem roten Stuhl hockende Weihnachtsmann aus Gips. Eigentlich ziemlich hässlich, aber er findet alle Jahre wieder an unserem Weihnachtsbaum seinen Platz. Wenn ich aber das in Goldfolie eingehüllte kleine Päckchen sehe, danke ich noch nachträglich unserem Schutzengel. Bei unserem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest mangelte es meinem Mann und mir an Baumschmuck, und so wurden kurzerhand Streichholzschachteln mitsamt den darin befindlichen Streichhölzern in Folie gewickelt, mit einem Bändchen verziert und in den mit echten Kerzen geschmückten Weihnachtsbaum gehängt. Zur Erinnerung haben wir eines der Päckchen aufgehoben, und es schmückt jedes Jahr unseren Baum – natürlich inzwischen ohne Streichhölzer.

Und dann tauchen auch wieder die vielen kleinen Überraschungen vom letzten Jahr auf, an die ich nicht mehr gedacht habe. Kleine Dinge und Selbstgebasteltes, letztes Jahr an den Schleifen von Päckchen angebracht, entdecke ich neu und freue mich darüber.

Genau diese Freude stellt sich übrigens ein, wenn ich beim Sichten und Zusammenstellen der Weihnachtsgeschichten noch einmal Ihre Beiträge aus den vergangenen Jahren lese, von denen dann einige ihren Weg in den neuen Band der Weihnachtsgeschichten am Kamin finden.

Und da die Weihnachtszeit bekanntlich auch Vorlesezeit ist, sind in diesem Buch wieder einige Geschichten zu entdecken, an denen nicht nur die großen, sondern auch die kleinen Zuhörer ihren Spaß haben werden.

Ich wünsche Ihnen ein Weihnachtsfest mit viel Zeit zum Lesen, Vorlesen und Schreiben eigener Geschichten.

 

Barbara Mürmann

Der schwedische Weihnachtsbaum

Uwe Pohl

Über Nacht hatte es geschneit. Paul schätzte, dass es mindestens acht Zentimeter waren, als er aus dem Fenster des kleinen Holzhauses schaute. Die Büsche und Bäume sahen in der ersten Morgensonne wie überzuckert aus, und durch eine Lücke zwischen zwei großen Kiefern hatte er einen phantastischen Blick auf die See. Die vorgelagerten Felsen, von einem Gletscher während der letzten Eiszeit glattgeschliffen, waren ebenfalls zugeschneit. Aber die Dezembersonne hatte noch Kraft und hatte auf den Felsen schon einige Flecken vom Schnee befreit. Gestern Abend hatte es noch wie aus Kübeln geregnet, und er hatte Mühe gehabt, trotz des kräftigen Geländewagens durch den aufgeweichten Weg zum Holzhaus zu kommen. Aber als er und Jesper, sein Sohn, zu Bett gingen, war das Thermometer bereits wieder gefallen, und der Hagel prasselte auf das Dachfenster.

Mit der Fahrt von Hamburg hierher hatte es wunderbar geklappt. Die Fähre von Puttgarden nach Rödby fuhr pünktlich, und die Straßen nach Kopenhagen waren, weil es ein Wochentag war, nicht sehr voll. Als sie über die Öresundbrücke nach Malmö fuhren, genoss er die Aussicht. Es war das erste Mal, dass er die Brücke nutzte, und er war erstaunt, wie viel Zeit er gegenüber der Fahrt mit der Fähre sparte. Als sie in Roenneby ankamen, wurde es schon dunkel, und Regen setzte ein. In einem Supermarkt kauften sie noch schnell das Nötigste. Es waren nur noch ein paar Tage bis zum Weihnachtsfest, und das Innere des Marktes wurde mit Weihnachtsmusik beschallt. Überall blinkte und glitzerte es, und als Paul ein Paket mit Müsli aus einem Regal nahm, rief eine heisere Stimme: «Ho, ho, ho!» Sie waren froh, als sie wieder im Wagen saßen. Er jedenfalls, ob das bei Jesper mit seinen zwölf Jahren auch so war, wusste er nicht genau. Er trat aus der Haustür des gelben Holzhauses und nahm sich den Schneebesen, der an der Seite des Hauses stand. Gerade als er ansetzen wollte zu fegen, hörte er das Telefon klingeln und rannte in den Flur.

«Ja?», keuchte er atemlos ins Telefon.

«Paul», sagte seine Frau mit vorwurfsvoller Stimme, «du wolltest doch anrufen, wenn ihr angekommen seid. Ich hab mir schon Sorgen gemacht!»

Mist! Das hatte er total vergessen, und Jesper hatte auch nichts gesagt. Solveig, seine Frau, hatte es ihm noch extra auf den Weg mitgegeben: «Nicht vergessen: anrufen!»

Etwas Ähnliches war ihm schon einmal am Anfang ihrer Ehe passiert. Er war mit seinem Wagen unterwegs gewesen und hatte eine Panne gehabt. Solveig war damals total verzweifelt. Sie konnte zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt kein Deutsch, nur ihre Muttersprache, Schwedisch. Er hatte ihr nicht Bescheid gegeben, und sie hatte sich schwergetan bei den Telefonaten mit seinen Mitarbeitern, Freunden und der Polizei. Das war jetzt anders, sie konnte fließend Deutsch, aber trotzdem hätte er anrufen können.

Schnell erfand er eine, seiner Meinung nach, gute Ausrede und sagte kleinlaut: «Das Wetter war dermaßen schlecht, wir waren froh, hier heil angekommen zu sein, und da habe ich …!»

«Ich verzeihe dir, ich verzeihe dir wirklich», sagte Solveig, er merkte sogar am Telefon, dass sie grinste, «es kann nur besser werden. Aber ihr könntet mir eine große Freude machen, wenn ihr schon mal dort oben seid.»

Solveig war in der Provinz Blekinge geboren und hatte von ihren Eltern dieses Holzhaus in Schweden geerbt. Es lag in Korsanäs, einem kleinen Ort in der Nähe von Roenneby. Ganz in der Nähe war die Ostsee, auf die er jetzt schaute. Und so kam es, dass sie ihre meisten Sommerurlaube in Blekinge verbrachten. Sie verlebten hier auch bei ihren gelegentlichen Kurzurlauben immer schöne Zeiten. Auch Jesper fühlte sich in Schweden sehr wohl, war in Korsanäs groß geworden und hatte hier sogar schwimmen gelernt. Nur in diesem Jahr war es nicht möglich, Weihnachten in ihrem Ferienhaus zu verbringen, weil Solveig gleich nach den Feiertagen arbeiten musste. Sie war Krankenschwester und hatte ihren Dienst nicht tauschen können. So war er mit Jesper nach Blekinge nur aufgebrochen, um das Ferienhaus winterfest zu machen, danach wollten sie wieder zurück, um gemeinsam Weihnachten in Hamburg zu verbringen.

«Was für eine Freude können wir dir denn machen?», fragte Paul vorsichtig.

«Ihr könntet mir einen Weihnachtsbaum mitbringen. Wenn wir schon in Hamburg feiern, dann mit einem heimatlichen schwedischen Baum. Oder?»

«Wenn es weiter nichts ist», sagte Paul und schaute Jesper an, der inzwischen aufgestanden war und mitgehört hatte. Dieser nickte großzügig und machte mit den Fingern das Viktory-Zeichen.

Am nächsten Morgen war die Temperatur noch weiter gefallen, und es schneite heftig. Paul war mit Jesper unterwegs in einem kleinen Wäldchen. Die Bäume knackten und knisterten im Wind, denn gestern Abend hatte es geregnet, und die Zweige hatten sich durch das Gewicht des Eises nach unten gebogen. Paul und Jesper stapften durch den Wald und hatten die Köpfe gesenkt, um sich vor dem nassen Schnee zu schützen, bis sie zu einer kleinen Lichtung kamen. Dort, mitten auf diesem freien Fleck Erde, stand er. Prächtig gewachsen und nicht ganz zweieinhalb Meter hoch. Der ideale Baum, fand Paul und schaute zu Jesper rüber. Der hatte den Baum auch entdeckt und lief zu ihm hin.

«Der ist toll, den nehmen wir», rief er, «der ist auch nicht zu groß. Den kriegen wir prima auf das Auto gebunden!»

Als Paul mit der Säge näher kam, bemerkte er rund um den Baum kleine, zierliche Abdrücke von Schuhsohlen, wie von Kinderschuhen. Das mussten frische Spuren sein.

«Merkwürdig», sagte Paul und wies mit dem Finger auf die Abdrücke. Jesper schaute kurz hin und zuckte mit den Schultern.

«Den nehmen wir», bestimmte Jesper, «und keinen anderen.» Er schaute sich um. «Es ist ja auch kein besserer da.»

Als Paul die Säge ansetzte, meinte er ein leises Jammern zu hören, als wenn ein Kind weinte. Er horchte noch ein Weilchen, aber es war nur das Knistern der Bäume und der leichte Wind zu vernehmen. Er musste sich wohl verhört haben, dachte er und schaute zu Jesper. Aber der guckte nur gleichmütig. Paul setzte wieder an und sägte, bis der Baum sanft zu Seite fiel. Sie brachten ihn zum Haus und legten ihn dort ab.

Während Jesper drinnen aufräumte, vernagelte Paul die Fensterläden, denn im letzten Jahr hatte es in der Gegend mehrere Einbrüche gegeben. Als sie mit allem fertig waren, hörte es auf zu schneien, und der Himmel über der See wurde sternenklar. Sie gingen zeitig zu Bett, denn morgen in der Früh sollte es wieder nach Hamburg zurückgehen.

Als Paul am nächsten Morgen zu der dem Wald zugewandten Seite des Hauses ging, um den Baum zu holen, war dieser nicht da. Schlicht und einfach weg. Er umrundete das gesamte Ferienhaus, aber der Baum war nicht zu finden. Erst als er zur Sauna schaute, die fast in dem Wäldchen stand, sah er ihn. Irgendjemand hatte ihn dorthin getragen oder gezogen. Schleifspuren waren im noch frischen Schnee zu sehen und seltsamerweise auch wieder mehrere kleine Fußabdrücke. Er schnappte sich den Baum, zog ihn zum Auto und zurrte ihn an der Dachreling des Wagens fest. Jesper hatte inzwischen die Hütte abgeschlossen und stieg zu ihm ins Auto. Sie fuhren den Feldweg entlang, und Paul schaute seitlich aus dem Fenster. Ihm war so, als ob aus dem angrenzenden Dickicht kleine, knorrige, faltige Gesichter schauten. Aber als er die Hauptstraße erreicht hatte, war das schon wieder vergessen, und Jesper hatte auch nichts gesagt.

Am Abend kamen sie zu Hause an, und Solveig war von dem Weihnachtsbaum ganz begeistert.

«Wo habt ihr den denn geschlagen?», wollte sie wissen, und als Paul es ihr erzählte, erblasste sie. Die gesamte Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen.

«Das hättet ihr nicht machen dürfen,» flüsterte sie, «nicht dort.»

«Wieso?», fragte Paul. «Das Wäldchen gehört doch zu unserem Grund, und dort können wir schlagen, was wir wollen. Da brauchen wir niemanden zu fragen.»

«Das stimmt zwar», flüsterte Solveig weiter, «aber an dieser Stelle, in der Mitte dieser Lichtung, ist der Versammlungsplatz der Trolle, ganz Korsanäs weiß das.»

Paul winkte ab: «Quatsch, Trolle gibt’s doch überhaupt nicht. Und wenn, dann haben sie jetzt eben keinen Baum mehr und müssen sich einen neuen suchen.»

Für ihn war die Sache damit erledigt, doch er musste an die Gesichter am Feldweg denken. Jesper schaute ihn schräg an, sagte aber nichts.

Am Morgen des Heiligen Abends schaute Paul nach dem Weihnachtsbaum. Er lag unter dem Dach ihres Carports. Das Eis und der Schnee waren abgetaut, und der Baum glänzte in nassem Grün. Und roch immer noch herrlich nach Wald. Paul befestigte den Tannenbaumständer, schraubte ihn fest und trug den Baum dann in das Wohnzimmer. Doch die Zimmerdecke war mit ihren immerhin zweieinhalb Metern Höhe zu niedrig für den Baum. Die Spitze bog sich und drohte abzubrechen. Mist, wir hatten ihn doch ausgemessen, dachte er. Er schraubte alles wieder auseinander und sägte draußen mindestens dreißig Zentimeter ab. Dann trug er den Baum wieder in die gute Stube. Wunderbar, diesmal passte er.

Solveig hatte schon den Baumschmuck vom Dachboden geholt. «Dann kannst du ja heute Nachmittag alles schmücken», sagte sie lächelnd und klopfte Paul liebevoll auf die Schulter, weil sie wusste, dass er das gern machte. Ganz akribisch hängte er stets einen Lamettafaden nach dem anderen an die Zweige. Und wehe, jemand kritisierte die Anordnung des Schmuckes!

Nach dem Mittagsschläfchen ging Paul ins Wohnzimmer, um mit dem Schmücken zu beginnen. Starr vor Schreck blieb er in der Tür stehen. Die Tanne ragte bis an die Wohnzimmerdecke, die Spitze war abgeknickt und bog sich mindestens einen halben Meter in das Zimmer hinein.

«O Gott», rief Paul so laut, dass Solveig im Eiltempo herbeikam und dann auch vor Schreck stehen blieb.

«Wie kann das sein? Du hast ihn doch vorhin gekürzt, und da passte er wunderbar!»

«Ich weiß», murrte Paul, packte den Baum, legte ihn mit Mühe hin, holte die Säge von draußen und begann ihn zu kürzen. «Den werden wir schon hinkriegen.»

Schön passend gemacht, stellte er ihn wieder auf und ging dann mit seiner Frau in die Küche. Sie hatte dort eine Tüte mit goldenen Kerzenhaltern und Kerzen bereitgelegt.

«Wir werden den schönsten Baum der Straße haben», sagte sie, «und wenn er heute Abend noch fertig geschmückt sein soll, dann müssen wir uns beeilen. Ich helfe dir – wenn du mich lässt.»

Mit diesen Worten ging sie ins Wohnzimmer. Paul hörte, wie sie aufschrie, und dachte, sie wäre gefallen und hätte sich verletzt. Aber sie stand, genau wie er vorhin, in der Tür, zeigte nach oben und schüttelte den Kopf.

«Das kann nicht sein! Schau dir das an. Um Himmels willen.»

Der Baum war in der kurzen Zeit mindestens mehrere Meter gewachsen und schlängelte sich an der gesamten Zimmerdecke entlang. Aber jetzt in diesem Moment, wo sie im Raum waren, schien es, als wüchse er nicht weiter.

Jesper hatte das ganze Tohuwabohu gehört und war neugierig ins Zimmer gekommen. Zögernd fragte er: «Könnte es sein, dass der Baum verhext ist, weil er aus dem Trollwald kommt?»

Paul schüttelte energisch den Kopf. «So ein Blödsinn. Das ist bestimmt ein genmanipulierter Baum!» Aber natürlich erinnerte er sich gut an die Flüsterstimme im Wald und die Fußspuren direkt beim Baum … Solveig hatte bei Jespers Worten genickt und holte ein dickes Telefonbuch, «Svensk Telefonboken» stand darauf.

«Wen willst du denn anrufen?», fragte Paul. «Den Förster? Der weiß das auch nicht. Der lacht dich höchstens aus.»

Solveig sagte aber nichts, wählte, jemand meldete sich, und Solveig sagte etwas auf Schwedisch. Dann lauschte sie, nickte ein paarmal und schrieb sich etwas auf. Sie bedankte sich bei ihrem Gesprächspartner und legte auf.

«Und», fragte Paul, «was hat der Förster gesagt?»

«Förster?» Solveig schüttelte den Kopf. «Ich habe in Stockholm angerufen. Beim Beauftragten für Trolle und Elfen.»

Paul grinste, nur Jesper schaute seine Mutter ernsthaft an. Sie zeigte ihnen, was sie sich während des Telefonats notiert hatte:

Wie kannst du es wagen,

Den Baum hier abzuschlagen?

Dieser Baum, so wie es soll,

gehört immer dem Troll.

Sollt’ er jemals wieder stehen,

wird er in die Höhe gehen.

Soll er sich nicht regen,

musst du ihn legen.

Bringst du ihn zurück,

wächst er weiter, zu deinem Glück.

Und so kam es, dass sie den Baum nochmals kürzten, ihn in das Wohnzimmer auf den Boden legten und ihn schmückten. Geschenke unter den Baum legen, das ging ja nun nicht. Sie legten sie eben davor.

Da klingelte es an der Tür, und Frau Haferkamp, die Nachbarin, wollte ein frohes Fest wünschen. Sie eilte gleich ins Wohnzimmer und starrte irritiert den Weihnachtsbaum an.

«Ah ja», sagte sie, «wie nett. Warum nicht! Ist das in Schweden so Sitte? Wusste ich gar nicht.»

Es dauerte etwas, bis Paul sie hinauskomplimentiert hatte, aber dann konnten sie endlich Weihnachten feiern. Es wurde ein schönes Fest. Solveig hatte sich mit der Zubereitung des Weihnachtsessens selbst übertroffen. Alle saßen sie glücklich, satt und müde vor ihrem liegenden Tannenbaum und ließen es sich gutgehen. Bis Jesper vorsichtig fragte: «Ich habe ja noch Ferien. Wollen wir den Baum wieder zurückbringen? An die Stelle, an die er gehört?»

Paul stimmte zu. Gleich nach dem zweiten Feiertag entfernten sie den Baumschmuck, banden den Baum aufs Auto und fuhren los. Solveig musste arbeiten und konnte nicht mitfahren. Und wenn sie so richtig überlegte, wollte sie eigentlich auch nicht.

Frau Haferkamp stand vor ihrer Haustür und sagte: «Können sie den Baum wieder zurückgeben? Das ist ja prima, da sparen sie sich ja das Entsorgen. Und ich dachte, sie werfen den aus dem Fenster, wie in der Ikea-Werbung.»

Am späten Nachmittag kamen Paul und Jesper in Korsanäs an. Hier war Tauwetter, und der Feldweg zum Haus war fast unpassierbar. Das Haus machte einen traurigen und unbewohnten Eindruck, von den Bäumen rundherum tropfte es nass herunter. Sie nahmen den fast neuen Weihnachtsbaum vom Autodach und schleppten ihn in den Wald. Vom Schnee war nichts mehr zu sehen. Sie beide hatten Mühe, über den matschigen Waldboden zu kommen. Aber irgendwann erreichten sie die Lichtung. Das dünne Stammende des Baumes, den Paul dort geschlagen hatte, ragte noch aus dem Boden. Gleich daneben gruben sie ein Loch, stellten den ehemaligen Weihnachtsbaum hinein und stampften rundherum die Erde fest. Sie betrachteten ihr Werk und machten sich schließlich auf den Weg zurück zum Auto.

Paul meinte, rundherum ein Getuschel und Gemurmel zu hören wie «Prima!», «Klasse!», «Sehr gut!». Sobald er aber stehen blieb, war es still in dem Wäldchen. Nur ein leises Rauschen vom Wind in den Bäumen war zu hören. Doch wenn sie weitergingen, flüsterten wieder die vielen dünnen Stimmchen.

Jesper hatte sie diesmal auch gehört. «Trolle», sagte er, «das sind Trolle, oder?»

Paul antwortete nichts.

Im März verbrachte die ganze Familie die Osterferien in Blekinge. Solveig hatte Lust auf Wandern, und so kamen sie auch an die besagte Lichtung. Staunend blieben sie stehen. Der Baum, ihr Weihnachtsbaum, hatte bereits eine stattliche, aber noch normale Höhe erreicht, und an einem Ast dicht unter der Spitze schaukelte eine vergessene rote Weihnachtskugel im Wind.

Das nächste Weihnachtsfest verbrachten sie wieder im Holzhaus. Aber diesmal mit einem gekauften Weihnachtsbaum aus Deutschland – vermutlich! Das weiß man ja nicht immer so genau. Es könnte ja auch einer aus Dänemark, Polen oder vielleicht auch Schweden gewesen sein …

Der Weihnachtsschlitten

Christian Metzner

Ilse Rogalla geht an diesem 24. Dezember gegen Mittag zu ihrem Briefkasten und vermutet nicht, dass sie dort etwas Außergewöhnliches finden wird. Neben Weihnachtskarten ist ein gepolsterter Umschlag ohne Absender dabei. Beim Hinaufgehen im Treppenhaus fühlt sie am Kuvert, dass ein Buch darin steckt. Im Wohnzimmer öffnet sie es, holt eine kleine Karte und wirklich ein in Packpapier eingewickeltes Buch heraus. Die Karte ist weiß, es steht nicht viel darauf:

Liebe Ilse, anbei sende ich Dir mein Poesiealbum. Nach vielen Jahren bitte ich Dich endlich um Verzeihung. Gruß, Ingrid.

Darunter steht eine Handynummer, sonst nichts. Mit zitternden Händen reißt Ilse das Packpapier weg, und es kommt das vergilbte Poesiealbum zum Vorschein. Ihre Augen weiten sich beim Anblick des kleinen alten Bändchens vor Staunen und vor Entsetzen, langsam lässt sie sich in den Sessel sinken. Erinnerungen an Weihnachten 1944 kommen wieder auf, die sie in den vergangenen siebzig Jahren erfolgreich verdrängt hat. Hastig überblättert sie alle Einträge. Sie sieht Gedichte, gemalte wie eingeklebte Bilder, bis sie ihren Beitrag erblickt – es ist der letzte. Nie im Leben hätte sie gedacht, jemals wieder das zu sehen, was so nett, so lieb und so gut gemeint war und doch eine Katastrophe nach sich zog. Die vormals dunkle Tinte ist mittlerweile hell und die ehemals farbenfrohe Buntstift-Zeichnung des Schlittens verblasst. Ganz im Gegensatz zu ihrer Erinnerung in diesem Moment.

Ilse schließt die Augen und sieht sich als Kind, wie sie die Zeichnung am Küchentisch im Hause ihrer Eltern anfertigt. Sie kann das Knistern des Feuers im Herd hören, sogar das brennende Holz kann sie riechen. Sofort schlägt sie die Augen wieder auf und hat den geschmückten Weihnachtsbaum vor sich. Sie will, aber sie kann sich dem Sog der Erinnerung nicht entziehen, und unweigerlich wird sie zurückgezogen in die Vergangenheit. Ilse ist wieder in ihrem Geburtsort Jedwabno oder Gedwangen, wie er damals hieß. Sie ist wieder das achtjährige Mädchen und freut sich auf die nahende Weihnacht. Die ostpreußische Landschaft ist tief verschneit und nahezu einsam. Der Krieg hat die idyllische Heimat bislang verschont, und die Menschen bereiten sich auf Weihnachten vor. Ab und zu hört man aus der Ferne vereinzelt ein grollendes Donnern von Kanonen, und hier und da reden Erwachsene von Gefahr. Aber Ilse fühlt sich sicher, weil sie ihren Eltern vertraut, und die sagen, es bestehe kein Grund zur Beunruhigung. Ihr Vater ist einer der wenigen Männer, die nicht als Soldat eingezogen wurden. Außer ihm gibt es im Kreis Neidenburg keinen Elektrikermeister mehr. Deswegen gilt er als unabkömmlich, und die Familie hat noch etwas Landwirtschaft, was in Zeiten schlechter Versorgung zur Lebensmittelerzeugung beiträgt.

Ausgerechnet in der Weihnachtszeit haben ihre Eltern Ilse verboten, in den Pferdestall zu gehen, dabei liebt sie die Pferde so sehr. Das Verbot wurde mit der Drohung unterstrichen, dass Weihnachten ausfällt, wenn sie es dennoch tut. Die kleine Ilse hat dafür nur eine Erklärung: Irgendwo im Stall müssen die Weihnachtsgeschenke versteckt sein. Das Unerlaubte ruft eine große Neugier hervor, der das Mädchen nicht lange standhalten kann. Als der Vater am Tag darauf in den Nachbarort muss, weil eine Stromleitung unterbrochen ist, und die Mutter zu ihrer Schwester geht, um beim Backen zu helfen, schleicht sich Ilse in den Stall. Dort streichelt sie das Pferd, es ist ein stämmiger, gutmütiger Kaltblüter-Schimmel, der schnaubend sein Heu frisst, während er Dampf aus seinen Nüstern bläst. Mit dem anderen Pferd ist ihr Vater unterwegs. Sie blickt sich um und sieht voller Überraschung einen riesigen Schlitten, der nicht ihnen gehört. Er hat zwei Sitzbänke, dahinter noch eine große Fläche für Gepäck, auf der dicke Decken liegen, die sich wölben wie kleine Berge.

Vorsichtig nähert sich Ilse dem Schlitten, klettert hinauf, zieht eine Decke beiseite und sieht sehr viele Geschenke: die große Puppenstube, die sie sich wünscht, daneben zwei schöne Blechautos zum Aufziehen, die auf dem Wunschzettel ihres Bruders stehen, und sogar zwei Dosen mit Schokolade. Sie entdeckt Schatullen aus feinem Leder und aus edlem polierten Holz mit Schmuck im Innern, eine Pelzmütze, dahinter mehrere neue Koffer, in einem liegt Bettwäsche und eine Kiste Wein, eine kleine Zigarrenschachtel und vieles mehr.

Später hat Ilse ein schlechtes Gewissen, aber ihre Eltern merken es nicht. Nach der Rückkehr sind sie guter Stimmung und haben sogar noch etwas mitgebracht. Mama wickelt aus einem Tuch zerbrochene Plätzchen, die sich nicht mehr für den Gabentisch eignen und die Ilse und ihr Bruder schon vorher naschen dürfen. Papa hat ein großes Stück geräucherten Speck dabei, weil er auf dem Heimweg noch Bauer Neumann die Stallbeleuchtung repariert hat, der sich mit dem Speck erkenntlich gezeigt hat. Am Abend ist die Familie in der Küche versammelt, ein gemütlicher Ort, an dem sich ein großer Teil des Familienlebens abspielt. An der Wand über dem Herd hängen schwere gusseiserne Pfannen, daneben ist das Regal mit den Tellern und Suppentöpfen und quer durch den Raum verläuft das Ofenrohr. Sie sitzen am viereckigen Holztisch. Während der kleine Bruder die ausgesonderten Kekse mampft und der Vater den Speck in Scheiben schneidet, bereitet die Mutter eine Suppe zu.

Sie unterhalten sich darüber, wo sie den Weihnachtsbaum schlagen sollen, aber Ilse bekommt das Gespräch nicht mit. Abwesend knackt sie Nüsse und denkt an den Schlitten. Sie hat nur eine Erklärung: Das muss der Schlitten des Weihnachtsmanns sein, der ihn dort geparkt hat, um einige Tage später Kinder und Erwachsene zu beschenken. Ihre Eltern sind in den Plan eingeweiht, vielleicht sogar heimliche Helfer des Weihnachtsmanns. Deswegen brauchen sie auch keine Angst vor der nahenden Front zu haben, denn die Freunde des Weihnachtsmanns müssen sich vor nichts fürchten. Ilse ist fasziniert. Aber natürlich hätte die Achtjährige nie ein Wort darüber verloren, sie will ja nicht ihr Geheimnis verraten. Also schweigt sie.

Doch zwei Tage später bekommt sie von ihrer besten Freundin Ingrid das Poesiealbum mit der Bitte, etwas hineinzuschreiben. Spontan zeichnet sie den Schlitten im Stall mit all den Geschenken und schreibt noch ein Gedicht darunter:

In unserem Stall steht ein Schlitten,

den hat der Weihnachtsmann dorthin geritten.

Darin sind Geschenke für Groß und Klein,

und eins davon ist mein.

Für die Großen Schmuck und Gold,

das, was ich nicht sagen sollt.

Schokolade, Zigarren und Wein,

das muss am Heiligabend so sein.

Ich bitt’ Dich bis Weihnacht’ zu schweigen,

bedeck’ das Geheime mit Tannenzweigen.

Aufgeregt gibt sie das Poesiealbum unter der Bedingung zurück, dass Ingrid es vor Weihnachten niemandem zeigen darf. Ingrid verspricht es feierlich.

 

Ilse schreckt auf und merkt, dass es schon fast dunkel ist. Sie sitzt wieder in ihrem Wohnzimmer. Wie lange sie in Gedanken in ihrer Kindheit war, weiß sie nicht. Langsam steht sie auf, geht zum Weihnachtsbaum und zündet die Kerzen an. Der Raum erstrahlt festlich, Ilses Stimmung aber spiegelt das nicht wider. Unruhig geht sie auf und ab. Zahllose Fragen kommen wieder auf. Irgendjemandem musste ihre Freundin das Album gezeigt haben. Irgendjemand musste erkannt haben, was der bepackte Schlitten wirklich bedeutet hatte. Abermals fällt Ilses Blick auf das Poesiealbum. Sie blättert, sie betrachtet erneut ihre Zeichnung. Auf dem Gepäckteil des Schlittens sind neben Geschenkpaketen auch mehrere Koffer abgebildet. Irgendein Erwachsender musste aus der Zeichnung den Schluss gezogen haben, dass die Familie Rogalla fliehen wollte – heimlich fliehen!

Im Dezember 1944 war die Rote Armee längst vor Ostpreußen in Stellung gegangen, und es war nur eine Frage von Tagen, wann sie zuschlagen würde. Bald sollte der schreckliche Krieg auch Deutschland überrollen, das Land, von dem er ausgegangen war. Die rücksichtslose Nazi-Führung hatte die Evakuierung Ostpreußens bei Strafe verboten. Ilses Eltern aber hatten die Situation erfasst und heimlich die Flucht vorbereitet. Aber jemand hatte den Plan verraten. Am Tag vor Weihnachten war die Polizei gekommen, hatte den Schlitten samt Inhalt und Pferden konfisziert und Ilses Vater mitgenommen. Er wurde zur Wehrmacht eingezogen, in den sinnlosen Krieg geschickt und war erst acht Jahre später wiedergekommen, ausgezehrt, dürr und hohlwangig. Ilse hatte ihn zuerst gar nicht erkannt, er ist nie mehr derselbe gewesen. Erst Mitte Januar hatte sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder zusammen mit Millionen von anderen Menschen fliehen können, als es fast zu spät gewesen ist. Zu Fuß ging es bei dreißig Grad minus durch Schneestürme, und sie wären beinahe umgekommen.

 

Entschlossen nimmt Ilse die Karte mit der Handynummer in die Hand. Es ist dieselbe Hand, die damals den Schlitten zeichnete, jetzt ist sie faltig, hat Altersflecken, die Venen sind sichtbar. Ilse ruft Ingrid an. Zum ersten Mal in ihrem Leben wird sie über den Weihnachtsschlitten reden.

Auf dem Weihnachtsmarkt

Annegret Kitzmann

Jedes Jahr muss ich eine schwere Entscheidung treffen: Auf welchem Weihnachtsmarkt möchte ich meine Waren verkaufen? Kleine Weihnachtsmärkte machen mir mehr Spaß, weil sie persönlicher sind, haben aber den Nachteil, dass sie oft nur an einem Wochenende stattfinden oder bestenfalls an allen vier Adventswochenenden. Daher hatte ich mich dieses Jahr für einen Weihnachtsmarkt in der Großstadt entschieden. Er ist seit Ende November jeden Tag ab zehn Uhr morgens geöffnet. Allerdings sind die Standpreise entsprechend hoch. Ich hoffte jedoch, dass der Verkauf das locker wieder einspielen würde. Doch zunächst sah es nicht danach aus, das Wetter spielte nicht mit.

Ich verkaufe an meinem Stand wunderschönen Krimskrams. Lustige Handpuppen in verschiedenen Größen, kleine Bäumchen, aus Draht und Glas gefertigt, wunderschöne Gefäße für Teelichter in verschiedenen Farben und Formen und Spiegel, die ich in meiner Freizeit mit Buntglasrahmen verziere. Und genau diese Spiegel wurden heute zu meinem Glück.

Ich saß gemütlich in meiner Hütte und versuchte, mich gepflegt zu langweilen. Es war einfach nichts los, ich hatte meine Waren schon dreimal abgestaubt und die Puppen sechsmal umsortiert. Da sah ich aus dem Augenwinkel etwas bei meinen Spiegeln fliegen, konnte jedoch auch bei genauerem Hinsehen nichts erkennen und dachte mir, ich hätte mich getäuscht. Doch da, wieder etwas, diesmal war ich mir sicher. Aus dem Augenwinkel sah ich kurz darauf etwas im Sturzflug auf die Puppen zufliegen und mitten in sie hinein. Tatsächlich, etwas zappelte in einer Mauspuppe herum. Ein kleiner Vogel, der sich verflogen hat, war meine Vermutung. Vorsichtig nahm ich die Puppe hoch und steckte die Hand langsam hinein, damit sich der arme Vogel nicht noch mehr erschreckte.

«Hey, pass auf, du machst meine Flügel kaputt», hörte ich ein zartes, aber sehr energisches Stimmchen aus der Puppe. Vor Schreck ließ ich selbige fallen, zum Glück nur auf den Tisch. «Aua!», tönte es empört aus der Puppe. Ich unterdrückte den Impuls, laut loszuschreien, nahm die Puppe wieder in die Hand und hob vorsichtig den Stoff an. Ein kleines Etwas krabbelte heraus. Zuerst sah ich nur zwei dünne Beinchen, dann folgte der Rest des Körpers. Vor mir stand, ja, was eigentlich?

«Wer bist du?», fragte ich.

«Magie», bekam ich prompt als Antwort, und das kleine Wesen flog zu mir auf Augenhöhe. «Magarete nach meiner Mutter, Annelise nach meiner Oma, Gertrud nach meiner anderen Oma, Ingrid nach meiner einen Tante und Edeltraut nach der anderen. Kurz: Magie.»

Ich lachte und staunte. «Gut, dass die Anfangsbuchstaben so schön zusammenpassen, da hätte auch sonst was rauskommen können. Aber was bist du denn jetzt? So eine Art Wichtel?»

Offensichtlich hatte ich sie beleidigt, denn sie wurde wütend und rot im Gesicht, was aber niedlich aussah. «Ich? So ein dummer, fetter Wichtel, der nichts anderes macht als arbeiten, arbeiten, arbeiten?»

«Entschuldigung», murmelte ich, doch sie schien mir gar nicht zuzuhören. «Ich bin eine Elfe, und nicht irgendeine, sondern eine …»

«Eine Weihnachtselfe?», fiel ich ihr ins Wort.

«Woher weißt du das denn? Bist wohl doch nicht so doof, wie du aussiehst?»

Ja, woher wusste ich das wohl? Sie bediente, so war mir mittlerweile aufgefallen, einfach jedes Klischee einer Weihnachtselfe, wie ich sie aus Filmen kannte. Sie war rund fünfzehn Zentimeter groß, trug grüne Schuhe an ihren Füßen, die vorne spitz zuliefen, daran hing jeweils eine rote Bommel. Die Beine waren nackt. Es folgte ein gebauschtes, rot-grünes, kurzes Kleid, auf dem kleine Mistelzweige zu erkennen waren, sowie als Krönung eine grüne Weihnachtsmütze mit weißer Bommel und Aufschlag. Als hätte das noch nicht gereicht, zierten ihre zarten Flügel kleine Schneeflocken. Wie kam ich da bloß auf Weihnachtselfe?