Cover

Nils Mohl

MOGEL

Roman

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Nils Mohl

Nils Mohl, geboren 1971, lebt mit der Familie in seiner Heimatstadt Hamburg. Zuletzt erschienen die Romane «Es war einmal Indianerland», ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis, und «Stadtrandritter». Beide handeln wie «MOGEL» vom Erwachsenwerden – und haben sich für jedes Lesealter zwischen 14 und 104 bestens bewährt. Mehr unter: www.nilsmohl.de

Über dieses Buch

Ein Partykeller in der Reihenhaussiedlung. Vier Jungs, die Bierpong spielen. Dann der durchgeknallte Einfall: Einer von ihnen wird sich für den Rest der Nacht als Mädchen verkleiden. Und so ziehen sie los – ins «ChackaBum!», in die Disco am Stadtrand. Und Miguel, der nun Miguela ist, freundet sich in seiner neuen Rolle mit dem Jungsschwarm seiner Schule an: Candy. Ihr Fast-Ex sorgt schließlich dafür, dass eine scheinbar lustige Idee völlig außer Kontrolle gerät …

 

«Der Hamburger Schriftsteller Nils Mohl schreibt auf wunderbar dichte und sprachgewandte Weise von der Zeit der Jugend.» NDR Kultur

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Lektorat Christiane Steen

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt, nach einem Entwurf von Raphael Schils

(Illustration: Raphael Schils)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-21537-7 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-53121-5

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-53121-5

einmal mehr, und immer – für Anni

supersuper g.!!! vollschnuller in tanke findet dich zum vernaschen. so was von. wooohu!

Samstag, 21:01

16

Es fehlen noch einige Monate, bis ich 16 werde, und als wäre das nicht schon niederschmetternd genug, lungere ich also zu später Stunde auch noch in Tanke 2 herum, herausgeputzt als, Doppelpunkt: Mädchen. Hallo! Im Shop der Tankstelle! Mädchen-Make-up! Mädchenohrclips! Mädchen-Shorts, die direkt unter den Pobacken enden! Ausstaffiert mit wirklich allem Drum und Dran, bis hin zur poppigen Armbanduhr mit Glitzerziffernblatt, bis hin zum frühlingswiesenfrischen Mädchenduft, bis hin zum lässigen Schultertäschchen, darin sind sogar ein Kondom mit Ananasgeschmack und – Brüller – zwei Not-Tampons.

Ja-woll. Das ist offensichtlich das Großartigste, was dir die Vorstadt an Samstagabenden zu bieten hat, wenn du 15 bist – herzlich willkommen.

Immerhin: keine Pfennigabsätze. Immerhin!

Die Stöckelschuhe sahen krass nach Kinderstrich aus. Auf die Turnschuhslipper habe ich deshalb bestanden. Vertretbar bei meinen schlanken Füßen, das fällt gar nicht weiter auf. Aber die zu den bunten Dingern ziemlich gewagte schwarze Netzstrumpfhose geht womöglich doch zu sehr in Richtung Luder.

Der notgeile Spaten hinterm Tresen schielt mir auf den Hintern. Dreist und unverhohlen. Ich übertreibe nicht.

Er hat gesprungene Lippen, an seine schiefen Hauer ist ihm die Drahtschnur einer festen Klammer genietet, er trägt Papiermützchen und kriegt die Schielaugen einfach nicht los von meinem Heck.

Nimmt man den grenzdebilen Gesichtsausdruck dazu, sieht es aus, als hätte er kürzlich die Schule geschmissen und wäre mit dem Tragen eines Papiermützchens noch gut bedient.

Drüben auf der anderen Straßenseite feixen sie sich eins auf ihrem Posten im Dunkeln, während ich vorm Kühlregal stehe und Bierdosen mustere und Papiermützchen hinter mir bestimmt immer tiefer in abartig schmutzige Phantasien abdriftet, die unter Garantie was mit Nacktheit zu tun haben.

Mit meiner Nacktheit. Vielleicht auch mit seiner.

Wenn der wüsste!

Die Combo da draußen kommt auf ihre Kosten. Die erleben jeder für sich gerade ein inneres Blumenfest. Wetten?

Ich schmecke Lippenstift auf der Zunge. Ich trage einen gepolsterten BH, ausgestopft mit Kosmetiktüchern. Mein Haar hat man mir im Nacken zu zwei Stummelzöpfchen frisiert, die von Zopfbändern mit Strassklimbim im Zaum gehalten werden.

Ich muss da jetzt durch, dass Papiermützchen über sein Tittenmagazin zu mir rüberlinst. Ich muss da durch, dass der Abend bislang keinen richtig glücklichen Verlauf für mich genommen hat. Andere Vorschläge?

Eben. Danke!

Ein Zwitschergeräusch ertönt.

Aus Reflex greife ich Richtung Hosentasche. Falsch. Da ist keine normale Hosentasche. Korrekt wäre es gewesen, das geschulterte Dings zu öffnen, in dem auch die Tampons herumrollen. Nicht ganz einfach mit den künstlichen Nägeln.

Ich kriege den Zipper nicht gleich zu fassen.

Ich achte nicht auf die Berieselungsmusik. Sie fällt mir erst auf, als draußen ein Auto mit kräftigem Wumms unter der Haube vorfährt. Es bremst scharf, das Motorgrummeln erstirbt – und erst dann höre ich wieder die Berieselungsmusik.

Inzwischen habe ich auch den Reißverschluss der Tasche geöffnet, schaue aufs Display. Eine alberne Kurznachricht von der anderen Straßenseite. Klar, ist das lustig. Für die.

Die Schiebetür des Shops geht.

17

Hengst. Mit Candy im Schlepp. Hengst hängen die Hemdspitzen lässig über der Hose. Vielleicht steht das Hemd oben weiter auf als nötig – um ca. einen Knopf zu viel. Den Vorwurf könntest du ihm machen. Aber willst du das?

Hengst hat Candy im Schlepp! Candys Haare sehen im grellen Licht des Tankstellenshops aus wie Honig. Und verdammt, die Haut. Dieser einzigartige toastbraune Teint.

Süß.

Und im Film würde jetzt eine Kaugummiblase vor Candys Mund prall werden und platzen, und Candy würde trotzdem kein bisschen doof dabei rüberkommen.

In echt ist es so, dass jetzt eine Kaugummiblase vor ihrem Mund prall wird und platzt und Candy dabei wie das einzige Mädchen in der Welt rüberkommt, das so etwas besser kann als im Film. Und das auch darf. Und überhaupt.

Peng!

Sie trägt so ein Flatterdings von Bluse, etwas ziemlich Transparentes, und darunter schmiegt sich, das sieht man gleich, etwas Knallenges an dies Kunstwerk von Körper.

Ich habe darüber nachgedacht. Es gibt im Schwimmbad diese Sammelumkleiden. Ich würde mich vermutlich dort bei den Mädchen mehrere Stunden freiwillig in einem der Schränke einschließen lassen, um sie einmal so zu sehen, wie Gott sie schuf. Ich würde mir ein Guckloch bohren.

Es wäre mir egal, wenn ich am Ende Wadenkrämpfe hätte und an den Schultern Stellen, die erst wund werden und dann anfangen zu nässen. Ich möchte es so formulieren: Der Gott, der sich Candy ausgedacht hat, ist ein verfluchtes Genie.

Candy geht in meiner neuen Schule eine Stufe über mir. Dazu fällt mir ein: Der Gott, der sich diese Konstellation ausgedacht hat, könnte an seinem Charakter noch feilen.

Aber man weiß ja: Genies sind Hochbegabte. Hochbegabte gelten nicht unbedingt als die Leichtesten im Umgang. Ich bin nicht hochbegabt. Ich bin vom Umgang her voll okay, schätze ich. Aber das reicht natürlich nicht aus dafür, dass dich ein Mädchen wie Candy registriert.

Dafür reichen die ersten Wochen nach den Sommerferien an der neuen Schule nicht. Dafür reicht es wahrscheinlich bis ans Schulende und bis zum Sankt Schießmichtodtag nicht.

Peng!

Dieses Geschöpf!

Erektionswürdig, ehrlich.

Vorsichtshalber bin ich im Gang mit Motoröl links und Keksen rechts verschwunden. Unnötig. Weder Candy noch Hengst nehmen erst einmal Notiz von mir. Auch als Mädchen errege ich offenbar kein großes Aufsehen, nicht auf Anhieb.

Ich kann das Knistertütchen, in dem der Duftbaum mit dem Kokosnussgeruch steckt, also wieder zurückhängen, neben die Billig-Schlüsselanhänger mit den Mini-Discokugeln.

Die Mini-Discokugeln gibt es in mehreren Farben, es gibt sie in Silber, Lila, Blau, Grün und Pink. Sie sind so groß wie Pingpong-Bälle. Sie sind unfassbar hässlich. Vorn hängt ein Exemplar in Silber, also entscheide ich mich für das. Und das dahinter in Lila muss ich auch mitnehmen. Unbedingt.

Hengst erledigt derweil das, was ich die ganze Zeit schon erledigen will. Er greift ein paar Dosen.

Schon ist er an der Kasse.

Der Tankstellentyp sagt: «Gleich noch ins ChackaBum!, was?» Hengst bejaht mit einem Kopfnicken. Er zahlt aber noch nicht. Mit galanter Geste lässt er mich vor, als ich mit meinen Dosen und den Schlüsselanhängern andackle.

Candy nimmt das Kaugummisortiment in Augenschein. Hengst legt ihr die Hand auf die Taille.

Flachleger-Lächeln.

Sein richtiger Name ist lustigerweise Henning Gockler. Man fragt sich bei Kenntnis dieser Sachlage, warum sein Spitzname nicht einfach Gockel geworden ist – was eins a passen würde. Aber vielleicht hat der gute Henning ja befürchtet, dass ihm genau dieses Schicksal blühen könnte.

Er nennt sich sogar selbst mittlerweile Hengst, wenn ich das richtig mitbekommen habe.

Pfosten!

Candy ist eine Abkürzung. Und wäre ich Hengst und wäre wie er schon mit der Schule durch und ich würde mir das Mädchen von meiner Ex-Schule aussuchen können, das ich will, ich wäre gleich auf Candy gekommen. Viola, Patrice-Marie und die dusselige Trix hätte ich mir, anders als Hengst, wenn die Gerüchte stimmen, geschenkt.

Candy ist es einfach.

Ihre Erektionswürdigkeit in allen Ehren, aber die alles entscheidende Sonderausstattung: der Humor, soweit ich das aus meiner Warte beurteilen kann.

Ich stand letzte Woche in der Schulcafeteria nicht weit hinter ihr, und beim Bestellen hat sie gesagt: «Was ich brauche, ist jetzt ein Petit Four – und ich töte dafür!»

In der Cafeteria gibt es Herzhaftes wie Gemüseburger und Bioschnitzelbrötchen und Vollkornknusperstangen. Es gibt auch Obstspieße Müslivariationen Milchreis. Es gibt Verrücktheiten wie Schokomilch und manchmal staubtrockene Himbeermuffins.

Es war so ein Manchmal-Tag, und Candy deutete auf den letzten Bröckel-Muffin und sagte ihren Petit-Four-Satz.

Petit Fours sind, um es einmal emotionslos zu sagen, Pralinengebäck. Es sind farbenfroh verzierte Würfelchen, mit Creme und Marzipan gefüllt. Es sind auf edlem Biskuitteig errichtete Prunkstücke der Konditoreikunst.

Wenn Stinkreiche eine Gartenfete schmeißen, geht der Butler mit so einem zierlichen Gestelldings rum, das man Etagere nennt, weil es auf mehreren Ebenen Tellerchen hat, einen größeren unten und kleinere oben. Und auf diesen Tellerchen liegen dann: Petit Fours.

Mein Vater arbeitet in einem Laden, der Tisch-Accessoires des Luxussegments vertreibt. Und zwar international. Wer einen Tortenheber im Wert einer Eishockey-Ausrüstung braucht, kann sich vertrauensvoll an dieses Unternehmen wenden.

Ich stelle mir vor, Candy kennt Etageren von zu Hause. Und man muss sich natürlich die hängebackige Cafeteriamutter in der Kittelschürze dazu vorstellen. Und man muss vielleicht selbst den traurigen Bröckel-Muffin gesehen haben.

Petit Four.

Wenn man mich fragt: super g.

Würde es ein Klatschmagazin für die schillernde Welt der Vorstadt geben – Candy und Hengst wären das Paar! Titelseite jede zweite Woche, ganz groß.

«Ausweis?»

Papiermützchens Quakstimme.

Dreck.

Doppeldreck! Ich kann ja wohl schlecht meinen Miguel-Dos-Santos-in-Klammern-15-Ausweis zücken.

Und jetzt?

18

Und jetzt schaut Hengst zu mir. Und ich denke, so gucken also Typen, die es nicht nötig haben, davon zu träumen, sich in Schwimmbadschränken zu verrenken und die Haut dort wund zu scheuern. Ich denke, he, guck mich nicht so an!

Unsereins wäre froh, nur einmal im Leben durch ein winziges Loch die leibhaftigen Formen der Vollkommenheit zu studieren, nur einmal nach einem Streifen toastbrauner Haut zu luschern – für Hengst ist es Alltag, diese Haut zu streicheln und abzulecken, wenn es ihn überkommt. Einer wie er behandelt Haut wie diese am Strand sachverständig mit Lotionen, für einen wie ihn ist das Leben immer würzig. Ich denke, Aalrotz, heiliger – was ist das denn für ein glitschiger Blick?

Schon erstaunlich andererseits.

Ich drehe an dem klunkerigen Ring, den ich trage. Kann es sein, dass ich selbst in diesem erbarmungslosen Licht nicht auffliege? Kann es sein, dass der Typ die eine Hand an Candys Taille hat und bereit wäre, mir die andere sofort noch ganz woanders hinzuschieben?

Er sagt: «Ich will mich ja nicht einmischen, aber wenn hier jemand Hilfe braucht …?!»

Er deutet auf sich. Was wohl so viel heißen soll wie: Huhu, hier steht ein gutaussehender Held, der Mädchen in Not rettet. Präziser: Na du, mein verschrecktes Püppchen, keine Angst, du weißt doch, ich bin Dämonenjäger, ich regele das. Himmel mich einfach an!

Und wie finde ich das? Haarsträubend, ekelhaft, ein klein bisschen rührend und echt lustig – schwer zu sagen, in welcher Reihenfolge.

Papiermützchen weiß jetzt, dass Hengst mit meinem Geld das Bier für mich kaufen würde, also könnte Papiermützchen mir die Büchsen auch eigentlich gleich so verkaufen. Aber er hat wohl verdrängt, welche Freude ihm mein knackiger Po verschafft hat, und gibt sich stumpf und steinherzig – so stumpf und steinherzig wie verrohte Tankstellenpächter, die Aushilfskräften das Tragen von Papiermützchen verordnen.

Mann, Mann, sieht diese Kappe dämlich aus!

Hengst kauft dann tatsächlich das Bier für mich. Die Schlüsselanhänger kaufe ich selbst. Wir regeln das mit dem Rückgeld. Ich kann es nicht leiden, wie Hengst auf die Mini-Discokugeln gafft dabei. Und Candy?

Sie hat zu viel Klasse, um sich für mich zu einem Lass- die-Finger-von-meinem-Typen-Augenaufschlag durchzuringen. Ich nuschle Hengst etwas zu. Einen knappen Dank. Ich muss mich darauf konzentrieren, die Stimme zu drosseln, nur zu hauchen, wie ich das vorhin auf die Schnelle trainiert habe. Ich sage: «Die Schlüsselanhänger sind Spielzeuge für die Piepmatze meiner Tante. Echte Tanzsittiche hat die.»

Die Tante, an die ich denke, gibt es nicht mehr – und mir ist schon Lustigeres eingefallen. Hengst grinst trotzdem. Ich habe ihm den Ball auf den Punkt gelegt. «Nice! Mit Vögeln kann man viel Spaß haben», sagt er, «superschick!»

Dann rauscht er mit Candy ab. Der Held.

Sie rauschen zusammen ab.

Sie mit Hengst, Hengst mit ihr – was für Bilder! Eine schnittige Karre, deren Scheinwerfer aufblitzen, die anfährt und ins Dunkel einer lauen Augustnacht prescht – hinfort aus dem elektrischen Beleuchtungswahnsinn rund um die einsamen Zapfsäulen von Tanke 2.

Mich lassen sie mit Papiermützchen zurück, natürlich. Mich brauchen sie da nicht in ihrem wilden Abenteuerfilm voll lodernder Romantik und packender Action.

Sie fahren 2,5 Kilometer weiter ins ChackaBum! Ich gehe 25 Meter zur Hauptstraße vor, auf der null Komma null Verkehr herrscht, überquere die Fahrbahn und ernte für meine Bier-Hol-Aktion den verdienten Applaus.

«Mi-gue-la!», skandiert ein Chor. «Sha-na-na-na-na!»

Sie schütteln wie Tattergreise aus dem Trinkerheim die Hände vor der Brust und reißen die Arme dann synchron mit lautem Oooooh! in die Luft.

Da ist sie, die Combo: Flo Da Ho, Silvester und Dimi D. In ihrem Rücken liegt die Wache der Freiwilligen Feuerwehr.

Über uns funkeln Sterne wie Katzenaugen.

Am Boden zaubern die Laternen in regelmäßigen Abständen Raureifkreise aus hellem Licht auf den dunklen Asphalt.

Das ist die Vorstadt. Ruhe und Frieden. Backsteinhäuser. Ziegeldächer. Knorzige Bäume, die am Ende des Sommers noch in vollem Laub stehen. Reihenhaussiedlungen und Garagen. Saubere Bürgersteige und tadellose Fahrradwege.

Neuland für uns alle. Bis vor ein paar Wochen habe ich auch noch am Stadtrand in den Plattenbaukästen gelebt. Praktisch Tür an Tür mit Silvester, Dimi und Flo. Stadtrand und Vorstadt liegen nur einen Steinwurf weit auseinander, es trennen sie Welten.

«Bier», fordert Flo sachlich.

Ich öffne meine Tüte. Wir setzen uns auf einen hohen Zaun aus Holzlatten, reißen die kühlen Büchsen auf. Ich nehme einen kräftigen Jungsschluck und schüttle mich. Ich sage: «Vielleicht habe ich Ersatz für die kaputten Pingpong-Bälle, wir könnten gleich im Haus noch eine Runde spielen.»

Flo wischt sich über den neuerdings kahlen Schädel. Er zupft an dem Kinnbärtchen, das er sich seit ein paar Monaten züchtet. «Die Stimme», sagt er, «du musst auf die Stimme achten, Pussy.»

Ich sage besser nichts dazu. Silvester linst zu mir hin. Er lenkt ab: «Für einen Stehpinkler bist du der Wahnsinn in der Rolle. Das ist nicht nur die Verkleidung.»

Dimi nickt stumm.

Flo sagt: «Wir können nicht zurück in die Bude, du musst dein Talent noch ein bisschen, wie sagt man, …?»

«… entfalten», hilft Silvester aus.

Ich mache, so gut es geht, gute Miene zu den Blödeleien. Ich mache dabei sogar mit. Ich rekapituliere aus meiner Sicht die Ereignisse in Tanke 2, ziehe über Papiermützchen her. Ich mogele bei seinem Aussehen. Spreche von Akne quattro stagioni und deute an, dass er mindestens schon kurz davor war, sich live den Riemen zu ledern, als wir allein waren. «Oberdusel, dass gerade noch rechtzeitig wer aufgekreuzt ist, bevor er sich den Stift anspitzen konnte», sage ich.

So kommt schließlich die Rede auf Hengst und Candy. Ich lasse durchblicken, dass ich Candy kenne. Silvester erkundigt sich: «Wo ist die jetzt hin mit dem Typen – ins ChackaBum!

Flo quetscht seine Bierbüchse zu Klump. Ihm hat es die Karre von Hengst angetan. Die knallgelbe Farbe. Er mag die markanten Ralleystreifen. Er meint, das zieht: «Guck dir die Maus doch an. Ist die Maus porno oder ist die porno? Auf die Ferne war die so was von porno. Definitiv. Alles wegen der Karre! Mir ist die neulich schon mal aufgefallen.»

«Wer, Candy?»

Flo schnaubt.

«Die Karre, Pussy!»

Dimi senkt seine von dichtem, dunklem Pony verdeckte Stirn und tippt. Unsere Geräte zwitschern. Py-witt. Py-witt. Die Kurznachricht lautet: candy? erektionswürdig!

Flo klopft sich auf die Schenkel.

Die Vokabel hat Dimi von mir geklaut. Ich maule ihn an deshalb. Als Antwort kommt ein provozierender Rülpser.

19

Flo springt vom Zaun. Er will jetzt ins ChackaBum!. Er sagt, heute haben wir die einmalige Chance, weil der Türsteher da für Puppen nicht so streng ist.

Die Zaunlatte, auf der er gesessen hat, vibriert noch nach. Ich fächle mir extra mädchenhaft die Rülpserluft vor der Nase weg. Flo und Dimi sind schon 16, bis Mitternacht klappt es bei denen mit dem Reinkommen in die Disco auf alle Fälle. Silvester allerdings ist sogar noch jünger als ich, 14. Erst nächsten Monat wird er 15, sieht aber älter aus.

Ich weiß nicht.

Ich wäre jetzt gern wieder der, der ich immer bin. Miguel, der in Läden wie das ChackaBum! nicht reinkommt. Der für einen Spaß zu haben ist – es aber ungern auf die Spitze treibt.

Es muss sich nicht rumsprechen, dass ich an Wochenenden als Mädchen um die Häuser ziehe. Das wäre der Tod. Ich war letzte Woche bei den Leichtathleten zum Probetraining. Ich wollte da eigentlich wieder hin.

Flo schnaubt erneut.

Ich spendiere ihm mein Bier, von dem ich nur den einen Schluck getrunken habe. Er wischt mit dem Ärmel das bisschen Lippenstift am Rand ab, sehr gründlich. Er beschließt: «Bis Mitternacht bleibt’s du Miguela! Ihr Pussys, wir ziehen ins ChackaBum!

Ich bin zu gut für diese Welt, findet meine Mutter. Das stimmt aber nicht. Ich habe kranke Spannerphantasien. Ich bin kein Heiliger. Ich bin für mein Alter ziemlich Durchschnitt alles in allem, um mal ehrlich Bilanz zu ziehen.

Ich denke viel an Sex. Sex spielt eine große Rolle in meinem Leben. Wenn es nach mir geht, könnte die Sache sogar noch eine viel größere Rolle in meinem Leben spielen.

Ich habe Sex nur mit mir selbst.

Ich bin ein elender Sprücheklopfer. In Bestform gehöre ich – vielleicht, vielleicht – da wirklich zu den Begabteren meiner Altersklasse. Hart antrainiert. Ich mache mir beim Fernsehen Notizen. Lese sogar freiwillig Bücher, zum Teil auch welche ohne bunte Bilder. Okay, ein gebrauchter Gag.

Ich habe jedenfalls mehr Bücher, als ich aufzählen kann.

Ich merke mir Worte wie Petit Four.

Ich schaffe es trotzdem nicht, Flo zu widersprechen. Und Silvester denkt sich schon Regeln aus: «Regel 1: Wir halten Abstand von Miguel, damit er nicht in Schwierigkeiten kommt. Auffliegen wäre peinlich. Regel 2: Wenn er in Schwierigkeiten kommt, tun wir alles, um ihn rauszuboxen. Regel 3: Küsst ihn vor Mitternacht ein Typ, ist das Spiel sofort aus.»

Ich protestiere mau. «Klingt ja märchenhaft», sage ich, «erklärt mir nur noch mal schnell den Witz dahinter.»

Flo verpasst mir eine Schelle in den Nacken. «Was der Witz dahinter ist? Ist doch gefickt wie gebumst, Miguela.»

Ich weiß nicht, was er meint. Ich reibe mir unter den Stummelzöpfen, da, wo seine Hand eben hingeklatscht ist, den zwiebelnden Nacken. «Flo, so geht man nicht mit Mädchen um», sage ich.

Er guckt verwirrt. «Du hast deine alten Kumpel heute ziemlich verarscht, wir brauchen so etwas wie …»

Es rattert leer hinter Flos Stirn. Aus den finstersten Tiefen seines Schädels morst er ein schwaches SOS in die Runde. Dimi kratzt sich an der Schläfe. Silvester wagt sich behutsam vor. Er fragt: «Wir brauchen so etwas wie … eine Geste? Ein Zeichen der Demut?»

Silvester schaut.

Flo schaut.

Flo schaut noch immer sehr glasig in die Welt hinaus.

«Was auch immer», sagt er schließlich erwachend, «Nullchance jedenfalls für einen Protest, ein fettes Nullchance!»

Oh, Junge.

«Komm, Flo.»

«Komm, Flo», äfft er mich nach.

«Ihr hattet euren Spaß», sage ich, «wir können auch noch ins Sportlerheim. Da ist heute Leichtathletikfete.»

«Leichtathletikfete. Dä-dä-dä-dä-däää.»

«Ich gehe so nicht in die Disco!»

«So? Es ist aber nicht an dir, mein Freund, Forderungen zu stellen», sagt er, «Schluss, aus, Reihenhaus. Du hast uns verarscht!»

Mir ist obermulmig bei der Sache. Da ist dieser eckige Backstein im Magen, der verrutscht – und eine Menge Tierchen asseln sofort darunter hervor, stieben panisch auseinander.

«Verarscht? Ich habe niemanden verarscht.»

«Pussy! Du hast gedacht, du kommst mit einem Spaziergang zur Tanke da raus?»

Bettelnd suche ich Augenkontakt zu Silvester. Ich hebe meine von Farbe verklebten Wimpern, so gut es eben geht: Sind wir noch Kumpel wie früher? Vergessen? Wir kennen uns schon unser ganzes kurzes Leben lang. Vergessen? Wir vier haben alle denselben albernen Zwitscherton für Kurznachrichten?

Er blickt durch mich hindurch.

Wir waren die zwei aus dem Südturm des Einkaufszentrums. Dimi und Flo waren die aus dem Nordturm. Die aus dem Südturm haben es nach der Grundschule aufs Gymnasium geschafft. Die aus dem Nordturm nicht. Hey, Sil!

Du, ich.

Das beste Becherpong-Team weit und breit.