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Zlatko Paković
Die gemeinsame Asche

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Zlatko Paković

Die gemeinsame Asche

Antiroman

Aus dem Serbischen von

Mascha Dabić

Herausgegeben von

Nellie und Roumen Evert

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Die editionBalkan im Dittrich Verlag
ist eine Gemeinschaftsproduktion mit
CULTURCOmedien

Die Übersetzung dieses Buches wurde unterstützt von:

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DIESES BUCH ERSCHEINT MIT FREUNDLICHER UNTERSTÜTZUNG DES MINISTERIUMS FÜR KULTUR DER REPUBLIK SERBIEN

Bibliografische Information der Deutschen

ISBN 978-3-943941-23-4

Inhalt

Erster Teil

Die Alte Welt

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

Zweiter Teil

Die Neue Welt

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

Erster Teil

DIE ALTE WELT

I

als er noch kein Sohn war, als sein Vater noch kein Vater war, als Vaters Vater noch kein Vater war, und so weiter ins Unendliche, bis zu einem ungeborenen Jemand

II

Der Sohn erlaubt seinem erotisch-touristischen Abenteuer keine Priorität vor dem Sterben des Vaters, also unternimmt er gegenwärtig alles in seiner Macht Stehende, um so bald als möglich in Vaters Nähe zu sein, bevor Vater seine Seele aushaucht.

Die Nachricht, hingekritzelt auf eine flache Schokobonbonschachtel der Marke »Kallirrhoë«, legt er unter das Kopfkissen seiner Reisegefährtin (seiner zukünftigen Frau, der Mutter seiner zukünftigen Tochter), ohne sie zu wecken, ohne ihren Sommerurlaub zu stören … er packt seine Sachen, verlässt leise das Hotelzimmer, macht sich auf den Weg zum Inselflughafen.

III

Reglos blickt Vater durchs Fenster. Dahinter, draußen, geschieht nichts. Vater betrachtet (scheinbar) eine spannende Szene. Der Sohn legt lautlos die Zeitung auf den Nachtkasten und starrt in die himmlische Leere, in der Vater Vorgänge sieht. Er wird nie wieder lesen – denkt der Sohn. Seine Erinnerung geht beflissen ins Vergessen über, zunächst wie ein Unterseeboot, dann wie ein unterirdischer Fluss, der niemals das Tageslicht erblickt hat. Nicht Vater verschwindet, es verschwindet земной шар, die Erdkugel, es verschwindet sein Sohn, er löst sich auf, als hätte er niemals existiert.

IV

Die Lider öffnen sich über Vaters Augen, als der Sohn ihn ruft, der Sohn erblickt Vaters blicklose Augen.

Der Sohn sagt: »Vater«, und die Augen öffnen sich auf Anhieb. Sie sind starr, der Sohn nimmt an, dass sie nichts sehen, oder dass Vater nicht sieht, was seine Augen betrachten.

Versteht Vater, was der Sohn zu ihm sagt, fühlt er etwas, hat er Schmerzen, hat er Schmerzen – das fragt sich der Sohn, während er zum Vater spricht, sofern er es überhaupt wagt zu sprechen.

Die Augen sind aus demselben Material wie das Gehirn. Das sichtbare Gehirn – das weiß der Sohn. Was registriert das Gehirn, dessen blicklose Augen eine Gehirn-Insel in einem Blut-Meer sind?

V

Vater haucht seine Seele aus. Der Sohn spürt Erleichterung, und dann – Trauer. Die unerwartete Abfolge widersprüchlicher Gefühle war auch dem Vater bekannt – denkt der Sohn. Das ist der Trost, mit dem er sich selbst bestraft!

Zwischen den Stimmungen: Erleichterung und Trauer (diese setzt Ströme unkontrollierter Erinnerungen in Bewegung), erstreckt sich, undeutlich, Gleichgültigkeit, eine gewisse Leere – daran denkt der Sohn auch.

Erinnerte Szenen1,2,3 treten dem Sohn aus dem Vergessen heraus vor die Augen. Bilder der Erinnerung, verwurzelt im Augenlicht. Denn Vergessen ist nicht Verschwinden, sondern Verstecken.

1 Die hohle Innenfläche von Vaters rechter Hand – geschützt durch eine Kette aus vier gestauchten, knotigen Fingern, abgeschirmt durch den Damm des anliegenden Daumens – nahm den erbrochenen Inhalt auf: das halbverdaute Frühstück des Sohnes. Als der Bus, mit dem sie fahren, stehen bleibt, verwandelt der Vater durch eine furiose tektonische Erschütterung die Gebirgslandschaft seiner Hand in eine diluviale Ebene und lässt den erbrochenen See aus Schlamm in die nächste Mülltonne gleiten.